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Ein schmerzhaft schöner Roman über das Aufwachsen zweier Schwarzer Mädchen in einem zerrütteten Land
Die Schwestern Ezra und Cinthy Kindred wachsen wohlbehütet in Salt Point an der Ostküste der USA auf. Sie verbringen die Tage mit ihrer gemeinsamen besten Freundin Ruby, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass jemals etwas zwischen ihnen stehen könnte. Doch als im Sommer 1957 die Rufe nach Freiheit und Gleichberechtigung der Schwarzen Bevölkerung nach Salt Point dringen, verschiebt sich etwas in der Gemeinschaft. Denn plötzlich werden die Kindreds, eine der einzigen beiden Schwarzen Familien im Ort, von den anderen Bewohnern als Bedrohung angesehen. Ezra und Cinthy müssen all ihre Hoffnung und ihren Mut zusammennehmen, um sich dem Hass, der das ganze Land überflutet, entgegenzustellen
Mit einer Sprache, die so gewaltig ist und dabei von einer einzigartig klaren Zärtlichkeit, lässt uns Rachel Eliza Griffiths ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte nachspüren. Eine Geschichte aus der Vergangenheit, die aktueller jedoch kaum sein könnte.
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Seitenzahl: 487
Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Schwestern Ezra und Cinthy Kindred wachsen wohlbehütet in Salt Point an der Ostküste der USA auf. Sie verbringen die Tage mit ihrer gemeinsamen besten Freundin Ruby, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass jemals etwas zwischen ihnen stehen könnte. Doch als im Sommer 1957 die Rufe nach Freiheit und Gleichberechtigung der Schwarzen Bevölkerung nach Salt Point dringen, verschiebt sich etwas in der Gemeinschaft. Denn plötzlich werden die Kindreds, eine der einzigen beiden Schwarzen Familien im Ort, von den anderen Bewohnern als Bedrohung angesehen. Ezra und Cinthy müssen all ihre Hoffnung und ihren Mut zusammennehmen, um sich dem Hass, der das ganze Land überflutet, entgegenzustellen.
Mit einer Sprache, die so gewaltig ist und dabei von einer einzigartig klaren Zärtlichkeit, lässt uns Rachel Eliza Griffiths ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte nachspüren. Eine Geschichte aus der Vergangenheit, die aktueller jedoch kaum sein könnte.
Rachel Eliza Griffiths ist Künstlerin, Dichterin und Autorin. Für ihre Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Ihre Texte wurden in The New York Times, The New Yorker, The Paris Review und The Georgia Review veröffentlicht. Was ihr uns versprochen habt ist ihr Debütroman.
»Ein atemberaubendes und eindrucksvolles Porträt über Liebe, Stolz und Überleben.« Kirkus Reviews
»Die Schilderung von Isolation und Verletzlichkeit der Familien wirkt nur allzu real, ebenso Griffiths’ Darstellung, wie Würde und Widerstandskraft über Generationen hinweg weitergegeben werden.« Publishers Weekly
www.penguin-verlag.de
RACHEL ELIZA GRIFFITHS
ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch
von Jasmin Humburg
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Promise bei Random House, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2023 by Rachel Eliza Griffiths
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
Umschlagabbildung: arcangel / Sybille Sterk
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32075-1V001
www.penguin-verlag.de
Für meine Eltern
Michele Antoinette Pray-Griffiths
Norman Dwight Griffiths
»Wie könnte ich nicht ihr Leben erwidern
mit meinem, wo sie mich mit ihrem rettete?
Und wie könnte ich nicht, umgeben vom Licht
ihres Leids, meine Bestimmung darin finden?«
Natasha Trethewey
»Echte Götter fordern Blut.«
Zora Neale Hurston
Der letzte Tag der Ferien markierte stets das Ende der Zeit, die Ezra und ich am meisten liebten. Nicht Zeit im Sinne von tickenden Uhren und klingelnden Weckern; wir wussten, dass diese Art von Zeit keinen wirklichen Anfang und kein Ende hatte. Mit Zeit meinten wir ein Glücksgefühl, eine unbeschwerte Freude, die unsere Tage und Träume acht glorreiche Wochen lang mit ihren warmen, sonnengebräunten Armen umfing, bis unsere Lehrer wieder in unser Leben traten und unsere Eltern sich an ihre Regeln in Bezug auf Schuhe, Sauberkeit, Vokabeltests und Hausaufgaben erinnerten.
Wir beteten inbrünstig, dass die Luft noch so lang wie möglich mild bleiben möge, vielleicht sogar bis Mitte Oktober, sodass wir ein Stück unserer sommerlichen Freiheit behalten konnten, um in der Landschaft umherzustreifen, die wir kannten und liebten. Wir waren noch nicht groß, aber selbst die Erwachsenen konnten sehen, dass wir bald nicht mehr klein sein würden.
Wir trauerten um das Ende des Sommers und trafen Vorhersagen über den Herbst und uns selbst. Dabei zählten wir die verschiedenen Dinge auf, die den Sommer echter machten als den Rest des Jahres. Es war die einzige Zeit, in der wir kurze Hosen und bauchfreie Tops tragen konnten und sich unsere Mutter nur wenig daran störte. Ezra und ich durften beinahe überall herumspazieren – während der anderen Jahreszeiten mussten wir schon um Erlaubnis fragen, wenn wir nur zum Hafenbecken im Dorf gehen wollten. Und das Essen! Was wir alles essen durften! Im Sommer ließ Mama bei Salz und Zucker fünfe gerade sein. Es kam uns jeden Tag so vor, als würden wir von der Speisekarte unserer Träume bestellen – frischer Mais, Eisbecher, geschnittene Tomaten mit grobem Salz und Pfeffer, kalter Hummer, RootBeer Floats, Wassermelone, Austern, Krebs- und Krabbensalate, frittiertes Hühnchen, selbst gemachtes Zitronen- oder Himbeersorbet, gegrillte Pfirsiche, Kartoffelsalat und rotes Wassereis.
Im Sommer blühten die Wildblumen, sogar auf dem Dorfplatz. Den Platz mit einem kleinen Teich in der Mitte und ein paar Bänken hatte irgendein toter Amtsträger früher für eine gute Idee gehalten. Und es hätte ein ganz charmanter Ort sein können, wäre da nicht das Meer gewesen. Nur wenige Schritte vom Dorfplatz entfernt, am Ende der engen Hauptstraße, befand sich ein schmaler, glänzender Pier, an dem immer viel los war.
Gott schaute in Richtung Wasser.
Eine einsame Kirche, St. Mary Star of the Sea, ragte so hoch auf, dass sie während der wunderschönen Sommergewitter zahlreiche Blitze anzog. In die groben Türen waren Fische, Delfine, Engel, Pilger und geplagte Heilige geschnitzt. Das Meer verhöhnte die salzverkrusteten Glocken, die zu jeder Stunde schlugen, während die Dorfbewohner gegen das Klatschen der Wellen anbeteten.
Zu der Kirche gehörte ein gepflegter öffentlicher Garten mit gesprenkelten Bänken und einer Steinstatue der Heiligen Jungfrau, die jedes Jahr neu gestrichen wurde. Der Winter riss die Farbe vom Gesicht der Madonna und hinterließ einen schuppigen alten Stein, der an etwas Primitives erinnerte. Die Dorfbewohner dachten nie daran, die Statue abzudecken, wenn sich Eis und Schnee ankündigten. Stattdessen schienen sie merkwürdig stolz auf das zu sein, was die Elemente der Mutter Gottes antaten.
Unsere Eltern trauten dem Dorf nicht. Nie gingen wir zum Beten oder an Feiertagen in die Kirche St. Mary Star of the Sea. Mama und Daddy hatten jahrelang betont, dass wir nur nach Salt Point in Maine gezogen waren, weil mein Vater hier eine gute Stelle gefunden hatte. Er war Lehrer. Unsere Eltern hatten ein Stück Land kaufen können, das sonst niemand haben wollte, weiter im Hinterland, abseits der Küste.
Doch ich wusste, dass es auch andere Gründe gab. Nach der Geburt meiner großen Schwester Ezra wollten meine Eltern Damascus gegen einen Ort eintauschen, an dem niemand von der Tragödie der Familie Kindred wusste.
In Salt Point würde keiner meinen Vater an die Ambitionen seiner Großeltern erinnern. Niemand würde den Verlust von Daddys linkem Arm hinterfragen, weil es hier im Dorf Fischer gab, die wussten, was es hieß, Beine, Arme, Glauben und Augenlicht zu verlieren. Die tollkühne Jugend meines Vaters irgendwo im Süden würde in Neuengland niemanden interessieren, und man würde diese auch nicht mit der Tatsache in Verbindung bringen, dass er Wut und Ärger jeglicher Art umging.
Daddy glaubte, dass sich ein Mann Gnade und Würde mit dem eigenen Leben verdienen musste. Er lehnte die Vorstellung an einen unbekannten Vater ab, der ihm nie erschienen war, außer im schlimmsten Höllenfeuer. Womöglich wusste Daddy nicht, wie er nach einem solchen Vater suchen sollte, weil er seinen eigenen nie gekannt hatte. Daddy musste nach seinem eigenen Gesicht suchen. Doch er blieb unentschlossen, wenn es um Himmel oder Auferstehung ging. Dort, wo wir lebten, wären wir im sonntäglichen Gottesdienst keine gern gesehenen Gäste gewesen.
Es vergingen ganze Jahre, in denen sich mein Vater weigerte, vor einem Gott niederzuknien, der ihm seinen Arm und seinen jüngeren Bruder genommen hatte, über den er nie sprach. Wir hörten den Namen unseres Onkels nur, wenn mein Vater sich durch die eigenen Schreie aus seinen Albträumen riss. Unsere Mutter sagte, Daddy gebe sich die Schuld, auch wenn jeder andere die Tragödie als Dummheit verbuchen würde. Nur zwischen den Seiten der Bücher, die er liebte und unterrichtete, war mein Vater frei von Angst.
Abgesehen von der Kirche setzte sich das Dorf aus unvollständigen, asymmetrischen Häuserreihen zusammen, hinter denen man sich kleine Gärten mit frei laufenden Hühnern, bunt schillernden Hähnen, an Pflöcke gebundenen Ziegen, durchhängenden Wäscheleinen und kargen Gemüsebeeten teilte. Am anderen Ende der Hauptstraße, in einiger Entfernung zu St. Mary Star of the Sea, befand sich eine weitere Gruppe wichtiger Gebäude – die Bar, der Schönheitssalon und ein kleiner Komplex mit vermieteten Büros. Gegenüber von diesen ausgeblichenen Bauten gab es eine freie Fläche, die sich samstags in einen Wochenmarkt verwandelte. Im Sommer wurde die Fläche manchmal für Jahrmärkte, Antiquitätenbörsen und einen Wanderzirkus genutzt, zu dem eine sagenhafte Freakshow gehörte. Wurde die Fläche nicht gerade vermietet, fuhren dort Jugendliche Autorennen und machten finstere Gesichter, in dem Bewusstsein, dass sie höchstwahrscheinlich alle irgendwann miteinander verheiratet sein würden.
Hinter dem leeren Grundstück krümmte sich das Land wie ein knochiger Finger in Richtung Meer. Dieser wilde Boden war Asche und Kies. Abseits der Hauptstraße und der Kirche brachte die raue Luft das wahre Gesicht der Dorfbewohner zum Vorschein. Es war der ideale Ort für Picknicks, Liebespaare, Kinderspiele, Streitgespräche und einsame Stunden des beherzten Angelns und Trinkens. An der Spitze der Landzunge stand ein gedrungener Leuchtturm aus Beton, der nicht mehr in Betrieb war. Schiefe Bäume, vom Meereswind nach hinten gepustet, säumten das Felsufer. Die hinterhältige Landschaft warnte niemanden vor ihren steilen Klippen, was meine Eltern von Anfang an nervös machte.
Dort, wo wir wohnten, war das Land kaum weicher, aber umso verlassener. Unser Zuhause an der Clove Road lag mitten in den Wäldern, die zu den höchsten Steilklippen führten, und wirkte durch den Teich und die kurvigen Anhöhen ein wenig absonderlich. Jenseits unseres Hauses, noch weiter oben, lag das karge Gelände von Ezras und meiner Schule, an der mein Vater unterrichtete und die von einem Mann namens Benedict Hobart gegründet worden war.
In früheren Zeiten hatte das Anwesen bereits eine opulente Privatresidenz, ein Mönchskloster, ein Nonnenkloster, eine Nervenheilanstalt, ein Kinderheim und ein Militärkrankenhaus verkörpert. Alle Kinder des Dorfes, auf die bei den häuslichen Pflichten verzichtet werden konnte, gingen hier kostenlos zur Schule.
• • •
Als mein Vater an der Hobart angestellt wurde, hatten viele Dorfbewohner etwas dagegen. Ihnen missfiel der Gedanke, ein Schwarzer solle in der Nähe ihrer Familien wohnen und ihre Kinder unterrichten. Als sie merkten, dass mein Vater für sich bleiben und keinerlei Integration einfordern würde, die über einen knappen Gruß am Lenkrad seines Wagens hinausging, ließ man uns in Ruhe.
Im Jahr 1957 waren wir eine von zwei Schwarzen Familien, die am Rande des Dorfes wohnten. Die andere Schwarze Familie, die Junketts, waren unsere einzigen wirklichen Nachbarn und Freunde.
Caesar und Irene Junkett und ihre vier Kinder, Ernest, Lindy und die Zwillinge Rosemary und Empire, waren nach Salt Point gezogen, als ich neun Jahre alt war. Unsere Familien freundeten sich durch die warme Vertrautheit der Südstaaten miteinander an. Meine Eltern waren in Damascus geboren, einer kaum integrierten Gemeinde mitten in Sussex County, Delaware. Die Junketts stammten aus einem Ort namens Royal, tief im ländlichen Teil Virginias. Beide Orte rühmten sich mit einer Lebensfreude, die wir Kinder nur anhand der Geschichten verstehen konnten, die erzählt oder nicht erzählt wurden, und die uns zeigten, was es hieß, jene üppigen, handgeschnitzten Wiegen der Kindheit hinter sich zu lassen. Mr Junkett, den wir Mr Caesar nannten, hatte einen Job als leitender Schulhausmeister an der Hobart angenommen. Mr Caesar sprach oft über die Entscheidung, in den Norden umzusiedeln, und erklärte, dass er vermutlich nicht so viel hätte verdienen können, wenn er, wie sein Vater, in den Südstaaten geblieben wäre. Ein weiterer Grund, wie Mr Caesar sagte, war die Tatsache, dass die weißen Männer im Norden umgänglicher waren als die weißen Männer im Süden, und ihn und seine Familie eher in Ruhe ließen.
Einige Dorfbewohner mutmaßten, dass die Anstellung von meinem Vater und Mr Junkett etwas mit Mr Benedict Hobarts Ruf als Betrüger und Gewerkschaftsgegner zu tun hatte. Da wir im nördlichsten Teil des Landes lebten, gab es hier keine Organisationen für Schwarze, die bei Problemen rund um Lohn und Arbeit helfen konnten. Selbst wenn es etwas Derartiges gegeben hätte, wäre mein Vater wahrscheinlich nicht beigetreten. Er neigte dazu, alles zu meiden, was sein Bedürfnis nach Ruhe, Logik und Ordnung gefährdete. Ich fand es ironisch, dass er glaubte, Salt Point könne ein Ort sein, der diese Dinge für uns bereithielt.
Unter den gegebenen Umständen hielten mein Vater und Mr Caesar sich gewissenhaft fern von allem, was Aufmerksamkeit erregen könnte. Wenn Mr Caesar verärgert war, nannte er Salt Point eine sundown town, eine Sonnenuntergangsstadt, und obwohl ich nie nachfragte, was das bedeutete, wusste ich, dass es nichts Gutes sein konnte. Der Drang der Menschen, ihrem eigenen Rechtsempfinden Geltung zu verschaffen, verwandelte jedes noch so kleine Missverständnis in eine Bedrohung, untermauert von der sichtbaren Munition, die ein Teil des täglichen Lebens war. Mr Caesar lachte dröhnend, weil die Fischer in unserem Dorf eine Angel in der einen und eine Schrotflinte in der anderen Hand trugen. Und Miss Irene, Mr Caesars Frau, rollte mit den Augen, weil die Frauen im Dorf mit den Pistolen ihrer Großmütter zum Bäcker gingen. Dann erklärte sie uns Kindern, dass die Weißen sich ständig einreden mussten, in Gefahr zu schweben, um ihr eigenes Leben aufzuwerten. Hier oben können denen höchstens Vögel und Bären und Felsen gefährlich werden, sagte sie einmal abfällig schnalzend. Die mussten nie drüber nachdenken, wie sich die Bäume in unserer Heimat fühlen, wenn unsere Leichen an ihren Ästen baumeln.
Die Bewohner von Salt Point hatten tatsächlich Angst vor der Welt da draußen. Die meisten von ihnen waren hier geboren und würden hier sterben, ohne sich jemals weiter als dreißig oder vierzig Kilometer von den Häusern entfernt zu haben, in denen ihre Familien seit Generationen aufeinander hockten.
So war es in Salt Point lange gewesen. Doch im Spätsommer 1957 veränderte sich etwas. Als in den Nachrichten aus anderen Ecken Amerikas von Kämpfen um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für Schwarze berichtet wurde, beunruhigte unsere Anwesenheit die Dorfbewohner immer mehr. Gleichzeitig hielten erwachsene Männer inne, um Ezra, gerade fünfzehn, und mich, dreizehn, in unseren kurzen Hosen zu beäugen. Mr Caesar und mein Vater sorgten dafür, dass unsere Familien bei Anbruch der Dunkelheit zu Hause hinter verschlossenen Türen saßen.
• • •
Am nächsten Tag würde die Schule wieder losgehen, und meine Schwester und ich genossen unser letztes Mittagessen in Freiheit. Beim Essen fiel mir auf, dass Ezras Blick immer wieder zur Küchenuhr glitt. Ich wusste, dass ihre Verschwiegenheit etwas mit ihrer besten und einzigen Freundin Ruby zu tun hatte, denn so war es immer. Ruby war weiß, aber arm, wodurch sie nicht viel mehr Ansehen genoss als wir.
Ich folgte Ezra nach oben in ihr Zimmer und bettelte darum, mitkommen zu dürfen, da ich selbst kein Letzter-Tag-der-Ferien-Abenteuer geplant hatte. Die missliche Lage der kleinen Schwestern dieser Welt.
Seufzend nahm Ezra meine Hand und zog mich durch unser gemeinsames Bad in mein eigenes Zimmer.
»Wir haben was vor«, sagte Ezra.
»Was denn?«
»Dann mach schon, Cinthy. Zieh dir ein Kleid an und beeil dich. Trödel nicht so rum.« Sie ließ meinen Namen wie eine Schlange über ihre Zunge zischeln, statt ihn so sanft auszusprechen, wie Mama es immer tat, weil sie mich nach ihren Lieblingsblumen benannte hatte – Hyazinthen.
»Es ist heiß. Ich will Shorts anziehen.«
»Kleid«, sagte Ezra in einem tiefen, nicht verhandelbaren Ton, während sie mich anstarrte und versuchte, ihr wirres Haar zu einem dicken Zopf zu flechten, der zwischen ihren Schulterblättern herabhing.
Mit einem weiteren Seufzer ließ sich Ezra auf ein ausgewaschenes Kissen plumpsen, das auf der Sitzbank vor meinem großen Fenster lag. »Zieh ein Kleid an oder bleib hier und les eins von deinen gigantischen Büchern. Ist mir egal.«
»Lies«, sagte ich. »Lies eins deiner Bücher.«
Vor dem Fenster sah ich die leuchtend grünen Blätter meiner geliebten Eiche, die mein Zimmer zum Schimmern brachten, als wären wir in einem Unterwasserraum mit geblümter Tapete.
Gegenüber stand ein verkohltes Haus etwas abseits der Straße, die schwarze Front eingebettet im wilden Gras wie ein verrottender Schädel. Wir hatten als Kinder nie ein Baumhaus gehabt, aber ich empfand es als großes Glück, ein Spukhaus zu haben.
Von meinem Zimmer aus konnte ich weiß-grüne Flügel über dem Schmetterlingsstrauch schweben sehen, der den früheren Eingang zu dem zerstörten Haus fast völlig versperrte. Die Veranda und die Haustür waren rußige Haufen aus Holz und Putz, in denen wir manchmal Katzenbabys oder Schlangen entdeckten, oder plötzlich das vor uns sahen, was wir wirklich fürchteten – den Geist der Frau, die ihr Haus absichtlich in Brand gesteckt hatte, eine Geistermutter, die sich weigerte, die Welt zu verlassen, bis sie wieder mit ihren drei Töchtern vereint war. Die Mädchen, gefangen im Rauch, waren in ihren Nachthemden an der Seite des Hauses hinuntergeklettert. Es war niemand aus der Familie mehr übrig, um von der Tragödie zu berichten, die sich lange vor unserer Ankunft zugetragen hatte. Obwohl wir nie etwas mit der Geschichte zu tun gehabt hatten, krönte das Dorf uns trotzdem zu Geistern. Man nannte meine Schwester und mich Nachtgestalten, ruhelose Niggermädchen, denen Flammen, Rauch, nicht einmal der Tod etwas anhaben konnten. Diese Vorstellung erlaubte es den Dorfbewohnern, durch uns hindurchzusehen. Wir konnten für alles verantwortlich gemacht werden. Wir erbten die Furcht des Dorfes vor dem Unerklärlichen. Einige der Älteren, die nichts auf Hörensagen und Ausschmückungen gaben, behaupteten, die Mädchen hätten es nie lebendig aus dem Haus geschafft und wären verbrannt. Anderen Gerüchten zufolge waren sie entweder von der Steilküste ins Meer gestürzt oder, auf der Flucht vor dem Wahnsinn ihrer Mutter, lichterloh brennend über die schmale Clove Road gekrochen, bevor sie in unserem Teich ertranken.
• • •
Auch wenn ich damit riskierte, dass Ezra ihre Meinung änderte und mich wieder auslud, weil ich so kindische Sachen machte, rutschte ich das Treppengeländer hinunter. Meine Schwester erinnerte mich gern daran, dass sie in meinem Alter nicht so unreif gewesen war. Natürlich musste ich sie dann daran erinnern, dass ich nur wusste, wie man das Treppengeländer hinunterrutschte, weil sie es mir beigebracht hatte. Obwohl ich erst dreizehn war, war ich schon so groß wie sie.
Ezra, barfuß und mit ihren Ledersandalen in der Hand, stieg mit leichten Schritten die Vordertreppe hinunter, wobei sie die Stellen mied, an denen uns das Holz verraten würde. Die Hintertreppe führte direkt in die Küche, also war uns dieser Weg versperrt.
Wenn Mama uns anderen Leuten vorstellte – eigentlich immer Fremde, da wir außer den Junketts keine Freunde im Dorf oder irgendwo sonst hatten –, kommentierten sie sofort unsere Größe. »Deine Mädchen sind groß gewachsen«, sagten sie dann, als würden sie laut aus der Zeitung vorlesen und verkünden, dass man an diesem milden, sonnigen Tag mit vereinzelten Regenschauern rechnen müsse.
Meine Schwester und ich wussten nicht, von wem wir unsere Größe geerbt hatten. Im Gegensatz zu anderen hatten wir keine gerahmten Fotos von unseren Verwandten an der Wand oder auf dem Kaminsims. Anstelle von Familienbildern bewahrte mein Vater glatte Steine oder Vogelschädel als spirituelle Wegbegleiter auf seinem Schreibtisch auf. Immer wenn unsere Großmutter Mama darum bat, Bilder von uns für das Familienalbum zu schicken, lehnte Mama ab. Obwohl mir der Gedanke an eine Großmutter gefiel, die sich über Bilder von meiner Schwester und mir freute, verstand ich doch, dass es für meine Mutter unerträglich schmerzhaft war, sich vorzustellen, diese Frau könne uns besitzen, und sei es nur in Form von Fotografien.
Ginny, die nicht Mutter oder Großmutter genannt werden wollte, rief Mama immer noch an und versuchte, zu ihr durchzudringen, egal, wie oft wir schon gehört hatten, dass Mama ihr mit leiser Stimme sagte, sie solle uns in Ruhe lassen. Wenn Mama sich bei Daddy über unser wildes Benehmen beschwerte, hatte ich manchmal das Gefühl, es ging dabei eher um das, was zwischen ihr und Ginny nicht stimmte. Tatsächlich hatte unser Ungehorsam wenig mit dem zu tun, was wirklich im Argen lag.
• • •
Mama und Daddy schirmten unser Haus absichtlich vor unserer Vergangenheit ab. Wann immer Ez und ich Fragen zu unserer Größe oder unseren Verwandten stellten, wurden wir ignoriert, das Thema gewechselt oder es wurde darüber hinweggeredet.
Als wir durch das Wohnzimmer schlichen, konnten wir Mama singen hören; eine langsame Ballade tönte aus dem Radio, das auf der Fensterbank über der Küchenspüle stand. Ich hielt inne, denn ich liebte Sam Cooke. Wenn er »You Send Me« sang, war ich wie verzaubert. Ich folgte dem Schatten meiner Schwester und dachte an Mama in unserer sonnenhellen Küche, die braunen Arme hochgestreckt, eine Schürze um die Taille gebunden. Sie hatte sicher ein Gemüsemesser oder einen Holzlöffel in der einen Hand. In der anderen einen eisgekühlten Drink. Ihre Finger waren kalt von dem Glas, in dem die Eiswürfel mit Whisky oder Scotch verschmolzen. Wenn Mama unruhig war, nahm sie gern etwas »Medizin«, wie sie es nannte, und sie schien jeden Tag unruhig zu sein. Ich wusste, dass die Fehde mit meiner Großmutter ein Grund für ihre Traurigkeit war.
Sam Cookes Stimme bestrich unsere Wände mit Honig. Außerdem half sie Mama dabei, sich in einen versteckten Raum in ihrem Inneren zurückzuziehen, den sie nur erreichen konnte, wenn sie getrunken hatte.
Doch heute würde Mama nicht in diesen inneren Raum gehen. Stattdessen würde sie an ihrem wässrigen Drink nippen und dann zu Limonade wechseln, sobald sie mit dem Kochen fertig war. Sie bereitete das besondere Letzter-Tag-der-Ferien-Abendessen zu, das es gab, seit wir kleine Mädchen waren. Es war eine Tradition, auf die wir stolz waren und durch die wir uns geliebt fühlten.
An diesem Abend würden wir Schmorbraten mit Kartoffelpüree und Möhren essen, gewürzt mit frischen Kräutern – Thymian, Rosmarin, Salbei und Lavendel –, die Mama selbst angebaut und getrocknet hatte. Dazu ihre frisch gebackenen Brötchen, die oben gebräunt, aber innen ganz fluffig waren, mit Butter. Um auch den Beginn von Daddys neuem Schuljahr zu feiern, würde es einen Zitronenkuchen mit Glasur zum Nachtisch geben.
Ezra drehte sich an der Haustür um und sah mich böse an. »Ich glaube, ich sollte deinen lahmen Hintern besser nicht mitnehmen.«
Ich legte einen Finger an die Lippen, streckte ihr dann die Zunge raus und gab ihr einen kleinen Schubs, sodass sie auf der Veranda stand. Als ich die Tür hinter mir zuzog, rastete sie laut ein.
Wir rannten los, sausten vorbei an dem Spukhaus, das uns keine Angst machte. Neuerdings sagte Mama oft, wir sollten nicht mehr so viel rennen. Eine Dame nimmt sich Zeit, sagte sie. Ez und ich schauten uns dann schulterzuckend an. Wir sahen hier keine Damen außer Mama und Miss Irene, aber wir konnten unserer Mutter nicht verraten, dass wir längst beschlossen hatten, niemals Damen zu sein. Außerdem machte Rennen uns glücklich. Wir näherten uns den langen Schatten, wo der Wald in Steilküste überging, und krümmten uns vor Lachen. Als ich endlich wieder Luft bekam, richtete ich mich auf und betrachtete die Rückseite des Spukhauses, das aufgrund des immerwährenden Verfalls nie gleich aussah. Es war die Zerstörung, die uns daran faszinierte. Im Dach klaffte ein riesiges Loch, durch das ein ganzer Baum wuchs. Wie wir hatte auch das Spukhaus einen Willen und Weg gefunden, um sich von dem freizumachen, was andere denken könnten.
»Was auch immer wir heute hier machen, du musst nicht gleich losrennen und es weitererzählen«, sagte Ezra plötzlich zu mir.
»Wem sollte ich es denn erzählen?«
»Deine eigenen Geheimnisse scheinst du ja gut für dich behalten zu können, Cinthy«, sagte meine Schwester. »Aber wenn es um meine Geheimnisse geht, hast du dich nicht unter Kontrolle.«
»Na ja, das hier wird ja unser Geheimnis.«
Ez nickte und rollte mit den Augen. »Im Frühling, als wir unsere Perioden bekommen haben, haben Ruby und ich beschlossen, am letzten Ferientag diese Sache zu machen. Wir ändern daran nichts, nur weil du dabei bist.«
»Ruby geht morgen auch zur Schule?«
»Was soll das denn heißen?«
»Hat sie ein Stück Seife und Wasser aufgetrieben?«
»Cinthy! Ich wünschte, du würdest nicht so über sie reden. Du behandelst sie wie alle anderen hier.«
Manchmal kümmerte sich meine Schwester um Rubys Probleme wie um ihre eigenen. Ich musste Ez daran erinnern, dass die Probleme von weißen Mädchen nicht mit denen vergleichbar waren, die wir beide kannten. Das sagten Mama und Miss Irene immer.
Naiverweise dachte Ruby, dass es sich umgekehrt genauso verhielt. Die Probleme der einen gehörten uns allen. Das klang gut und könnte wahr sein, aber meine Schwester und ich wussten, dass es auch noch andere Wahrheiten gab.
Wenn uns jemand wie den letzten Dreck behandelte, war Ruby ebenfalls gekränkt. Wenn sie uns mit erhobenen Köpfen durch das Dorf laufen sah, wie Mama es uns beigebracht hatte, hielt Ruby ihren Kopf genauso hoch, ohne zu verstehen, dass es viele Menschen gab, die uns kopflos, leblos, traumlos sehen wollten.
Wenn Ruby versuchte, sich auf unsere Seite zu schlagen, konnte ich sie nicht leiden. Im Leben von Ruby Scaggs gab es wenige Regeln, und auch wenn ich sie für hinterhältig hielt, hatte sie eigentlich keinen guten Grund, es zu sein.
»Trägst du saubere Unterwäsche, Cinthy?«
Überrascht riss ich den Blick vom Spukhaus los.
»Ez, du weißt, Mama mag’s nicht, wenn wir böse Sachen machen.«
»Mama mag’s nicht … Herrgott! Warum denkst du überhaupt über Mama nach, wo ich dir doch gesagt hab, die Sache ist geheim. Ich versuch es dir zu erklären, Cinthy. Die Welt ist böse. Miss Irene sagt, wenn man das Böse kennt, so richtig kennt, dann ist das echte Weisheit.«
Ezra seufzte, und ich schämte mich. Es gab kaum etwas Schlimmeres als das Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Außer das Gefühl, meine Schwester könnte mich langweilig finden.
»Ruby wartet schon im Wald auf mich«, sagte sie.
»Wen kümmert dieses weiße Mädchen? Soll sie doch warten bis zum Tag des Jüngsten Gerichts«, sagte ich, eine Hand an der Hüfte, wie Lindy, das älteste Mädchen der Junketts. Eine Hand an der Hüfte war alles, was ich an Autorität vorzuweisen hatte.
Wann immer Mama oder Miss Irene aufgebracht waren, führten sie den Tag des Jüngsten Gerichts ins Feld und gingen dann weiter ihren Geschäften nach. Wenn ich eine Sache gelernt hatte, dann, dass der Tag des Jüngsten Gerichts den Schwarzen Frauen gehörte, die ihn treu heraufbeschworen, wenn die Welt an ihren Nerven zerrte und ihre Toleranz versiegen ließ. Unsere Großmutter schien ebenfalls ihr Recht auf den Tag des Jüngsten Gerichts einzufordern, denn ich hatte meine Mutter oft mit strenger Stimme am Telefon über genau dieses Thema reden hören: Mama, du hast kein Recht, über uns zu urteilen! Du wirst nie meine Richterin sein, und du weißt auch, warum.
Ich legte den Kopf schief und sog dichte, warme Luft in meine Lunge, bevor ich weiterredete. »Hey Schwesterherz, du Schildkröte. Willst du jetzt rennen oder nicht?«
»Ja«, sagte meine Schwester. Ihr Gesicht öffnete sich wie eine lächelnde Blüte, als sie losrannte und dabei rief: »Bin eh schneller als du!«
Wir stolperten durch den Wald am Rande unseres Grundstücks bis zu einem alten Trampelpfad, der von unserem Zuhause bis zu Rubys führte, und dann auf einen weiteren, mit Unkraut überwucherten Weg.
Wir hasteten durch das Gestrüpp, bis sich das Land weitete und wir auf einer Lichtung ankamen, wo uns der Wind ins Haar fuhr und ins Gesicht kniff, wo das gleißende Licht uns blendete. Es war halb eins, und der ganze Himmel strahlte.
Ruby wartete schon auf uns. Anstatt mit dem Wind zu kämpfen, hatte sie die Arme weit ausgestreckt, das Gesicht hielt sie der schonungslosen Sonne entgegen. Ihre Haare, so schwarz wie die ihrer Mutter, hatte sie zu einem festen Zopf hochgebunden, der mich an ein unruhiges Tier erinnerte. Offenbar hatte Ruby beschlossen, ihren Pony als Vorbereitung auf das neue Schuljahr selbst zu schneiden. Ein Fehler.
Ihre Eltern kümmerte es kaum, wann Ruby kam und ging, sofern sie nicht gerade ihre Hilfe im Haushalt brauchten oder ihr irgendeine Lektion erteilen wollten, die sie selbst in ihrer Jugend nicht verstanden hatten. Der Ruf der Familie Scaggs war schon lange vor der Ankunft meiner Familie beschmutzt gewesen. Wir kannten Ruby ungefähr so lange wie die Junketts, also seit vier Jahren. Als kleine Schwester von Ez, immer nach der Aufmerksamkeit meiner großen Schwester lechzend, hatte Ruby mich von Anfang an gestört.
In der heißen weißen Sonne sahen ihre Silhouetten fast wie Spiegelbilder aus. Ruby und Ezra hatten beide lange Hälse, und die geschmeidige Form ihrer Körper zeichnete sich unter dem Stoff der dünnen Kleider ab, die im Wind so an ihnen klebten, als wären die Mädchen gerade aus dem Meer gestiegen. Doch während Rubys wippender Pferdeschwanz blieb, wo er war, flogen Ezras knotige Haare aus dem langen, dichten Zopf und flatterten um ihren Kopf wie rötliche Schlangen, die sie gewaltsam in das mattblaue Himmelsfenster ziehen wollten.
Jetzt rannte Ezra auf Ruby zu. Sie fingen grundlos an zu lachen. Ich wollte Abstand halten, bis ich wusste, welches Spiel mich erwartete.
Mein Schatten lief mir voraus. Ich streckte die Arme aus, wie sie es taten, und hatte Sorge, der starke Wind könnte mich in die Luft heben. Staub flog unter mein Kleid, dann hoch in mein Gesicht. Ich leckte mir die Lippen, meine Zunge erspürte eine Schicht aus salzigen Sandkörnern. Einzelne Locken befreiten sich aus den geflochtenen Zöpfen auf beiden Seiten meines Kopfes. Die Sonne brannte auf meinen Mittelscheitel, der meinen Kopf in zwei Hälften teilte, auf mein dickes braunes Haar, das Mama jedes Wochenende sorgfältig einölte. Hier draußen schlugen die Enden meiner Zöpfe nach meinen Ohren.
Alles löste sich.
• • •
Wir stehen in einem Dreieck. Ruby und Ezra sehen mich an.
Ich beobachte, wie Ezra ihre Unterhose auszieht, und gebe dann auch meine an Ruby ab, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Da sonst nur Mama meine Wäsche berührt, scheint meine Unterhose jetzt an einem Ort zu sein, an den sie nicht gehört. Mir ist kühl, und gleichzeitig bin ich verschwitzt. Ich wackele leicht mit den Hüften, drehe meinen Körper, damit der Wind von der Seite kommt.
Ruby knüllt unsere Unterhosen zusammen und schiebt den klammen Stoffball in die Tasche ihres Kleides. Sie dreht den Kopf. Ihr schwarzer Pony sieht aus wie das Visier an einem schief sitzenden Gladiatorenhelm. Ihre Augen, tiefblau, sind dunkler als der blaue Himmel, der mir irgendwie größer vorkommt, jetzt, da ich meine weiße Baumwollunterhose ausgezogen habe.
Ruby setzt sich auf die heißen Felsen. Ezra setzt sich. Ich setze mich.
Ruby streckt die Beine in V-Form aus, und Ezra macht es ihr nach, schiebt und rutscht durch den Staub, bis einer ihrer Füße den von Ruby berührt. Sie wackelt genervt mit dem rechten Fuß, um mich zum Mitmachen zu bewegen.
Ich drücke mich ein Stück nach hinten, schürfe mir die Handflächen an den zerklüfteten Steinen auf. Meine Beine öffnen sich ebenfalls zu einem V. Ich richte meinen linken Fuß so aus, dass er am Fuß meiner Schwester lehnt. Mir wird klar, dass mein rechter Fuß an Rubys Fuß lehnen sollte. Ich will Rubys Füße nicht berühren. Sie trägt nicht einmal Schuhe.
Ich ziehe den Kopf ein, um Ez einen Blick zuzuwerfen, doch sie starrt nur zurück. Ich kann Mama in Gedanken schimpfen hören. Sie verdreht so sehr die Augen, dass sie nach hinten schauen kann. Hyacinth Kindred, was in Gottes Namen tust du da? Und wenn du darüber nachdenkst, was ich dazu sagen würde, dann weißt du vielleicht schon, dass du es lieber nicht tun solltest. Wo ist meine brave Tochter geblieben?
Zu Ezra sagt Mama so etwas nie, fragt sie nie, was sie sich gedacht hat, weil Ez sowieso handelt, ohne nachzudenken.
»Mach schon«, sagt Ezra. »Es ist heiß hier.«
Kraftvoll stoße ich mit der Sohle meiner Sandale gegen Rubys nackten Fuß und hoffe, dass es ihr wehtut.
»Ich fass kein weißes Mädchen an.«
»Dumme Kuh«, sagt Ruby.
»Rede nicht so mit meiner Schwester«, sagt Ezra sofort.
»Sie macht hier alles kaputt.« Unter uns sammelt sich die Hitze. Ich frage mich, ob Ameisen zwischen meine Beine und in mich hineinkrabbeln könnten. Ich sehe sie in einer dünnen schwarzen Straße marschieren, eifrig zwischen meinen Organen hindurch, an der schleimigen Bauchdecke entlang, dann durch die Kirche meines Herzens und schließlich durch den Halstunnel direkt in mein Gehirn, das in meiner Vorstellung mit Edelsteinen ausgelegt ist, wie eine Kathedrale. Wie viele Ameisen würden wohl in meinen Kopf passen? Dann stelle ich mir vor, Ameisen in die Toilette zu pinkeln, und fange beinahe an zu lachen.
Rubys und Ezras Gesichter haben sich in der Nachmittagssonne verdunkelt. Sie sind in ihre eigenen Gedanken versunken. Ich weiß nicht, worüber sie nachdenken, aber ich weiß, dass eine Strafe auf uns warten würde, wenn unsere Eltern davon wüssten. Mama und Daddy halten nicht viel von »Rohrstockliebe«, wie Miss Irene es nennt. Aber Rubys Papa, Mr Scaggs, hält viel von Prügel. Das tut er wirklich. Er schlägt Ruby und ihre Mutter immer, wenn er meint, sie wären glücklich und könnten auch ohne ihn leben.
»Kommt dichter ran«, sagt Ezra und beißt sich auf die Lippe.
Ruby grummelt und gehorcht.
Ich bringe meine Beine in Position und drücke mich nach vorn. Mein Bein streift Rubys Haut, die sich heiß anfühlt. Ich habe noch nie über ihre Haut nachgedacht, außer über die Tatsache, dass sie weiß ist.
Ich denke an Mama, was oft vorkommt, und an alles, was sie für uns tut. Um uns zu beschützen. Am frühen Abend, vor dem Essen, wird Mama uns die Haare waschen und für den ersten Schultag frisieren. Ich kann sie jetzt schon fragen hören, wo denn der Staub herkomme und warum meine Kopfhaut so schmutzig sei, ob ich den Verstand verloren und im Dreck gespielt hätte, nur um ihr noch mehr Arbeit zu machen. Frustriert wird sie mit dem Kamm an meinen Haarwurzeln ziehen. Meine Haare speichern den Schweiß, besonders wenn ich lange gespielt habe. Sie sagt wirr anstelle von kraus, als wüsste ich nicht, dass mein Haar, vor allem am Hinterkopf, undurchdringlich ist, wenn es feucht wird. Mama möchte unsere Haare hübsch machen, weil sie weiß, dass andere, vor allem weiße Menschen, ständig über unsere Haare nachdenken. Als Kind hatte Mama niemanden, der ihr mit den eigenen Haaren half, weil sie bei Ordensschwestern aufgewachsen ist. Daddy meint, es würde Mama aufregen, wenn wir zu viele Fragen über ihre Kindheit stellten. Das meiste davon hat Mama tief in ihrem Inneren vergraben, und wir sehen es höchstens kurz aufblitzen, wenn sie mit unserer Großmutter telefoniert oder sich mit einem Glas Whiskey pur und Sam Cooke in den Raum ihres Herzens zurückzieht.
Vielleicht wenden Ezra und ich uns deshalb so oft an Miss Irene und ihre Weisheit, die, wie sie sagt, von ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter stamme, die alle noch bei ihr seien. Sie bewahren etwas Mädchenhaftes in Miss Irene, während Mama unsere Großmutter bei jeder Gelegenheit abweist. Es ist schwer, die eigene Mutter nicht zu fragen, wer sie früher war, aber wir wissen, dass solche Fragen sie von uns wegtreiben könnten und sie dann womöglich nicht mehr mit uns teilen würde, was sie erschaffen hat, für sich selbst und uns, ihre Töchter.
• • •
Ruby lehnt sich zurück, als wäre sie es gewohnt, sich mit gespreizten Beinen und völlig schutzlos hinzulegen. Ihre Beine, die so sonnengebräunt sind wie unsere, werfen einen Schatten. Wo normalerweise die Unterhose zu sehen wäre, ist sie so blass, als würde ihr Geschlechtsteil zu einem anderen Mädchen gehören, mit feiner Haut und noch feinerem Benehmen, zerbrechlich und zu blauen Flecken neigend. Ich denke daran, wie oft ich Ruby verletzt sehe und wie lange es dauert, bis ihre Wunden verheilt sind, weil sie die Finger nicht vom Schorf lassen kann.
Wir machen Rubys Bewegungen nach, die sich hin und her gewälzt hat, um den Saum ihres Kleides mit festem Griff bis zum Bauchnabel hochzuziehen.
»Jetzt ihr«, befiehlt sie. Ihre Stimme schießt wie ein Pfeil nach oben in die Wolken, die sich gesammelt haben, um auf unsere enthüllten Körper hinunterzuschauen.
Unsere drei Vs formen einen eigenartigen Stern.
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Ezra sagt, sie werde zuerst hinsehen. Dann Ruby. Dann ich.
Der Wind hat sich gelegt, doch die prickelnde Luft fächelt mein Kleid noch immer über meinen Bauchnabel. Ich frage mich, ob Ruby und Ezra auch die Augen geschlossen haben oder ob sie nach oben starren, unzertrennlich von dem blauen Himmel, der sich gefühlt auch unter unseren Körpern befindet. Ich kann Mamas Stimme nicht mehr hören.
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Ezra verpasst mir einen Tritt. Die Seite ihrer Sandale ist hart. Ich bin dran. Ohne den Kopf zu bewegen, lasse ich die Augen nach links rollen, wo Ezra sich spreizt. Ihr Unterarm liegt wie ein Schutzschild über ihren Augen. Der grelle Nachmittag färbt ihren schlaffen Zopf dunkelrot. Die unter der Haut gespannten Wadenmuskeln verraten mir, dass sie sich gegen den Untergrund stemmt, sich für das Gesehenwerden wappnet. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meine Schwester das letzte Mal nackt gesehen habe. Allerdings gehört das, was wir hier tun, nicht zu den Dingen, bei denen jemand auf uns zeigen und Ekelhaft rufen würde, oder auch nur Sie waren nackt. Wir sind so nackt, wie es in der Entstehungsgeschichte geschrieben steht. So nackt, dass es Gott traurig macht.
Ich erschaudere, lasse den Blick zu Ruby wandern, die ihr Gesicht hinter beiden Händen versteckt.
Ihre Hände sehen aus wie eine fleischgewordene Tür – aufgeschrammte Fingerknöchel, bis zum rosafarbenen Nagelbett abgekaute Nägel, zerkratzte Haut. Im Türspalt zwischen Rubys Fingern sehe ich ein Auge aufblitzen. Ihr Blick ist nicht auf mich gerichtet, sondern gerade nach oben, so als läge sie unter einem Trümmerhaufen begraben.
Ezra und Ruby haben die dünne Haut dort unten mit den Fingern auseinandergezogen. Experiment, Streit, Spiel oder Gebet – ich weiß nicht, was wir zu gewinnen versuchen, worum wir bitten oder was wir uns selbst beweisen müssen.
Ich weiß, dass Ruby und Ezra das Gefühl von Scham langweilig finden. Die Lehrer und Lehrerinnen in der Schule nutzen es für ihre Zwecke. Zu Hause setzen Mama und Daddy es sogar gegen Ezra und mich ein, ohne es zu wollen. Ich weiß, dass meine Eltern uns zu anständigen Frauen erziehen wollen, und es ist ein seltsames Gefühl, zu denken, dass sie es falsch machen. Aber das tue ich. Mama lässt eine natürliche Sache wie etwas Schlechtes wirken, verbietet mir, mein eigenes Geschlechtsteil anzusehen oder zu berühren, außer ich sitze in der Badewanne und habe ein Stück Seife in der Hand.
Als ich Rubys Blöße betrachte, schäme ich mich für mein Hinsehen. Ich schäme mich für das, was Ruby und meine Schwester überhaupt dazu verleitet hat, so etwas zu tun. Wieder denke ich daran, wie sich ihr Gang nach ihrer ersten Periode im Frühling verändert hat. Ich beobachtete, wie ihre Augen funkelten, während sie über Schmerzen und Krämpfe klagten. Während sie die Hände auf die Stelle legten, die sie in absurd dramatischem Ton den Unterleib nannten. Sie jagten mich weg, wenn ich eines der wilden Spiele vorschlug, die sie früher so gemocht hatten. Sie behaupteten, dass ihr plötzliches Frausein es ihnen erlaube, ernsthaft über ihr zukünftiges Leben nachzudenken, weshalb sie nicht mehr wollten, dass ich ihnen überallhin folgte. Ich würde das alles erst verstehen, wenn ich mich ebenfalls verändert hätte.
Ich wünschte, Ezra würde etwas sagen. Sie muss bestätigen, dass wir für das, was wir tun, keine Strafe verdient haben, sondern es uns zusteht, es von uns erwartet wird. Die Wahrnehmung unserer Körper bringt mich fast zum Weinen – hinzusehen liefert keine Erklärung, aber ich spüre, dass es mehr bedeutet, als wir ahnen. Unsere Haut so nah an Rubys Haut weckt sowohl Angst als auch Verärgerung in mir. Ich will von Ezra hören, dass es ihr genauso geht. Ich will von ihr hören, dass unsere Beine besser sind, stärker, aber ich weiß, sie wird nichts sagen.
Sie hat mich heute mitgenommen, obwohl ich noch nicht zu bluten begonnen habe. Vielleicht weiß ich deswegen nicht, was genau ich sehe, warum ich hinschaue oder was daran so besonders sein soll. Ich frage mich, ob mir die ganze Sache genauso falsch vorkäme, wenn wir alle die gleiche Hautfarbe hätten. Aber Ezra und ich hätten niemals Lindy Junkett zu diesem Spiel herausgefordert.
Dann setzt sich Ruby plötzlich auf, wühlt in ihrer Tasche herum und drückt mir meine zerknitterte Unterhose in die Hand, bevor sie auch Ezra ihre hellgrüne zurückgibt. Ruby zieht ihre eigene zerschlissene Unterwäsche als Letzte an.
»Jungs machen schlimmere Sachen«, sagt sie mit einem durchdringenden Blick.
Wir gingen von der hohen Steilküste hinunter in den Wald, der unser Haus von der Lichtung trennte. Ruby und Ezra unterhielten sich leise, um uns herum das Sirren von Insekten. Mama würde sicher schon auf uns warten, da sie vor dem Abendessen mit unseren Haaren fertig sein wollte. Ich fragte mich, wie ich ihr in die Augen sehen sollte, ohne preiszugeben, dass ich etwas Beschämendes getan hatte und es sich nicht erklären ließ. Zweige zerkratzten meine Füße. In wenigen Wochen würden goldene Blätter durch die Luft wirbeln und zu Boden trudeln. Der schwache Geruch in den Wäldern würde explodieren, der warme Atem des Verfalls würde in eine würzige Rauchnote übergehen.
»Sie sind wirklich alle gleich«, sagte Ruby, als hätten wir sie mitten im Satz unterbrochen. Ihre Stimme klang gleichermaßen zufrieden und irritiert.
»Wir sind spät dran«, sagte ich zu meiner Schwester. Ich wollte nichts mehr von Rubys Ideen hören und hoffte, sie würde einfach den Mund halten.
»Wie kann das sein?«, fragte Ez, als hätte Ruby den ungesagten Satz mit ihr geteilt. »Wir beide sind doch die mit der verfluchten Periode.«
»Ihre sah auch verflucht aus«, sagte Ruby mit einem Kopfnicken in meine Richtung. »Sie blutet nicht wie wir. Noch nicht. Aber vielleicht ist das mit dem Bluten auch egal.«
»Ist nicht egal, wenn’s um Babys geht«, sagte Ezra. »Und wenn wir im Dorf sind und die Männer uns anglotzen, die uns sonst nie angeglotzt haben.«
»Stimmt«, sagte Ruby leise. »Wenn ich erst mal meinen Pilotenschein hab, will ich vielleicht auch ein Baby. Mindestens eins, damit ich nicht die Sklavin von irgendeinem Mann werde, das glaubt nämlich meine Ma. Die Frauen im Dorf behaupten, als Mutter ist man frei. Ich versteh das nicht ganz, aber die sagen das seit Jahren. Ma meint, sie ist nicht meine Sklavin und lässt mich ständig alles allein regeln.«
»Was meinst du mit Sklavin, Ruby?«, fragte Ezra mit finsterem Blick.
»Ma sagt, Papa behandelt sie wie eine Sklavin«, sagte sie. »Und da hat sie recht.«
»Du hast doch keine Ahnung, was ein Sklave ist«, sagte ich.
»Halt den Mund, Cinthy«, sagte Ruby. »Ich red doch gar nicht von Schwarzen. Ich red von Männern und Frauen. Du bist so schlau, aber manchmal verstehst du echt überhaupt nichts.«
»Wer soll denn ein Redneck wie dich ein Flugzeug fliegen lassen?«, stichelte Ezra.
Sie unterhielten sich weiter, ignorierten mich und Rubys Beleidigung. Normalerweise nahm Ezra mich vor Ruby in Schutz, aber die beiden waren zu sehr mit dem beschäftigt, was wir gerade getan hatten.
Ruby lachte laut und fröhlich. »Ich warte ganz bestimmt nicht, bis mir einer wie Papa die Erlaubnis gibt. Die Fliegerei muss man selbst in die Hand nehmen.«
»Träum weiter«, sagte Ezra. »Die lassen doch keine Mädchen fliegen. Wäre leichter für dich, ein Baby zu kriegen, als den Flugschein.«
»Ich will aber ein Flugzeug fliegen«, sagte Ruby mit so viel Nachdruck in der kratzigen Stimme, dass sie zu brechen drohte. Ich wusste, sie standen plötzlich kurz vor einer ihrer häufigen Meinungsverschiedenheiten. »Falls du nicht mehr so stur bist wie ’n Esel, wenn ich meinen Schein kriege, nehm ich dich als Erste mit.«
»Ha!«, rief Ezra. »Glaubst du, die lassen ein Schwarzes Mädchen in ein Flugzeug einsteigen, wenn wir nicht mal vorne im Bus sitzen dürfen?«
»Ich seh da kein Problem.«
»Natürlich nicht«, sagte ich leise.
»Verdammt noch mal«, platzte es aus Ruby heraus. »Keiner hat mit dir geredet.«
Ich wurde rot.
»Es muss noch einen anderen Grund geben, warum die Erwachsenen sich so benehmen. Das kann doch nicht alles nur wegen einem kleinen Pinkelloch sein«, sagte Ruby nachdenklich.
»Und was ist es dann?«, fragte ich. Nach diesem Tag hatte ich nicht vor, mich je wieder bei irgendetwas ausschließen zu lassen. Meiner Meinung nach hatte ich mir heute ein paar Rechte verdient, ob ich nun schon blutete oder nicht.
»Wissen die selbst nicht«, sagte Ezra. Es war offensichtlich, wie sehr sie sich über Erwachsene ärgerte. Sie schnalzte mit der Zunge, als würde sie die Säure einer Zitrone schmecken.
»Was wäre, wenn wir uns wie Jungs benehmen würden?«, fragte Ruby. »Mal ehrlich, Jungs spielen mit ihren Dingern, spritzen ihre Pisse auf alles, als hätten sie Feuerwehrschläuche in der Hand! Und nie gibt’s Ärger, weil’s ja bloß Jungs sind. Was wäre, wenn wir immer die Wahl hätten, so wie die?«
»Wer will schon wie eine Junge sein? Die können auch nicht alle tun und lassen, was sie wollen. Weiße Jungs, klar, aber was ist mit Schwarzen? Daddy sagt, wenn ein Schwarzer Junge kämpft, dann, weil er kämpfen muss, um nicht wegen irgendeiner Kleinigkeit getötet zu werden«, sagte ich. »Außerdem ist es öde, nur das zu wollen, was Jungs dürfen.«
Wir waren fast bei dem Pfad, der zur Rückseite des Spukhauses führte. Erleichtert stellte ich mir vor, wie wir uns von Ruby verabschieden, die Clove Road überqueren und die gestrichenen, ordentlich gefegten Stufen vor unserem Haus erreichen würden. Ich überlegte, ob ich Ruby vorher noch kräftig kneifen sollte. Mama würde es nicht gut finden, dass wir zu spät waren. Es musste schon später Nachmittag sein und es dauerte immer eine ganze Weile, uns die Haare zu machen und den Tisch zu decken.
»Glaubst du wirklich, wir haben die gleichen Möglichkeiten wie Jungs?«, fragte Ez und suchte in Rubys Blick nach der Antwort.
»Noch nicht«, sagte Ruby. »Eines Tages. Wenn wir Frauen sind.«
»Niemals«, sagte ich. »Das erlaubt keiner. Erst recht nicht unsere Mütter. Erst recht nicht deine Mutter, Ruby.«
»Deine Schwester hat nicht so über meine Ma zu reden.« Sie sagte es an Ezra gewandt und ignorierte mich. »Ich mein ja nur, ich hab das Recht, genauso frei zu sein wie ’n Junge. Ich werd mir meine Freiheit nehmen, ich will was Besseres haben als die Erwachsenen. Ich dachte, Freiheit wär auch für euch beide wichtig. Für eure Leute.«
Wenn Ruby mit uns über unsere Leute spricht, wenn sie verkündet, unsere Leute seien rechtschaffen und größtenteils gut aussehend, sie seien Königinnen und Könige gewesen, Hochleistungssportler und grandiose Unterhaltungskünstler, vermutlich die ersten Menschen, die auf der Erde wandelten, nachdem die Dinosaurier ausgestorben waren, ist unsere Antwort bloß ein Murmeln. Natürlich haben wir Bücher über Sklaverei und die Geschichte der weißen Angst gelesen. Was glaubt Ruby, wer sie ist? Wenn sie im Plauderton von Kampf und Regierung redet, wenn sie uns die Erlösung und den Aufstieg unserer Leute erklärt, ziehen wir uns zurück, pressen die Lippen zusammen, bis sie mit der Ansprache fertig ist und sich endlich wieder daran erinnert, dass sie weiß ist.
»Wie sieht denn diese Freiheit aus, mit der du dich angeblich so gut auskennst? Dein eigener Papa schlägt dich grün und blau, aber du schwafelst meiner Schwester und mir irgendwas von Freiheit vor. Wir wissen, wie es um unsere Bürgerrechte steht«, sagte Ezra. Ohne ein weiteres Wort warf sie den gespaltenen Ast nach Ruby, den sie seit einer Weile in der Hand hielt. Zischend flog er durch die Luft, bevor er neben Rubys Kopf gegen einen Baum prallte und im Giftefeu landete.
Ruby machte ein Geräusch wie eine Verwundete. Sie sprang auf Ezra zu, grub ihre Nägel in den nackten Arm meiner Schwester. Ich erstarrte, doch Ezra schüttelte sie einfach ab und sah sie an. Mit diesem Blick hatte sie schon andere Weiße abgestraft, aber nie Ruby.
»Weißt du, was los wäre, wenn ich eine weiße Frau packen würde, wie du mich gerade gepackt hast?«
»Plötzlich bin ich das weiße Mädchen? Was soll das?«
»Das ist keine Antwort«, sagte meine Schwester. »Das weißt du. Man muss nicht in diesem kleinen Kaff wohnen, um zu wissen, was ich meine.«
»Ich dachte, du hast mir immer die Wahrheit gesagt«, sagte Ruby. Sie hatte Tränen in den Augen, wie auch meine Schwester. Meine Augen brannten, weil dieser Moment so scheußlich und dennoch unausweichlich war. Mama, Miss Irene – sie hatten das hier schon lange vorhergesagt.
»Dein Papa, deine Ma, mein Daddy, meine Mama«, sagte Ezra. »Glaubst du wirklich, die liegen alle falsch?«
»Wir sind verschieden«, flehte Ruby. »Das war uns doch immer klar.«
Ezra rieb sich die Stelle am Arm, an der Ruby ihre Spuren hinterlassen hatte, und schüttelte verbittert den Kopf. »Sind wir nicht.«
»Aber wir haben doch eben gesehen-«
»Ruby, was hast du gesehen?«
»Ez, bitte.«
»Wir müssen gehen«, sagte ich.
Ezra gab mir mit einem Wink zu verstehen, ich solle ruhig sein. Aber ich spürte, dass das, was jetzt folgen würde, schon im letzten Frühling in Ezras Herz angekommen war. Sie hatte es mit sich herumgetragen, während Mama und Miss Irene sie ständig davor gewarnt hatten, weißen Mädchen zu vertrauen, die heranwachsen und als Frauen in einer gefährlichen, aber gleichzeitig sicheren Welt leben würden.
»Wir werden nicht zusammen alt. Das geht nicht. Du redest dir ein, dass wir die gleiche Art von Freiheit suchen, das gleiche Leben. Aber das tun wir nicht«, sagte Ezra vorsichtig. »Wir sind keine Schwestern. Ich hab schon eine Schwester.«
Ruby bewegte sich, als wollte sie Ezra angreifen, wurde jedoch von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. Vielleicht verstand Ruby es endlich, als ich neben Ezra trat und wir Schulter an Schulter vor ihr standen.
»Ich hab dich nie beschimpft oder so was«, sagte Ruby. »Ich hab dich immer beschützt. Sogar deine eingebildete Schwester. Und jetzt ist alles vorbei, weil ich weiß bin? Willst du das?«
»Wovor hast du mich beschützt? Du brauchst doch Schutz vor deinem eigenen Vater, Ruby«, sagte Ezra. »Und das weißt du.«
»Pa liebt mich«, sagte Ruby kleinlaut. Ihre Schultern zuckten.
Ich wusste, sie liebte Ez, vielleicht sogar mehr, als sie ihre eigene Mutter liebte. Aber Ruby Scaggs hatte noch nie eine Beleidigung auf sich sitzen lassen, nicht einmal im Namen der Liebe. »Noch ein Wort, Ez, und du kannst deine Zähne zum Abendbrot fressen.«
Doch ich wusste, Ruby würde nichts tun. Ihr Herz war, wie das meiner Schwester, so glatt gebrochen, dass es beiden den Atem raubte.
»Lass uns gehen«, sagte ich zu meiner Schwester und berührte ihren Arm. Wir standen am Waldrand im Schatten des zerstörten Hauses. »Mama ist bestimmt schon sauer.«
Ruby sah zu, wie die Schwestern davoneilten. Die beiden Gestalten verwandelten sich in Kleckse und wurden dann von der späten Nachmittagssonne verschluckt. Sie kehrte dem Platz, an dem Ez und Cinthy sie stehen gelassen hatten, den Rücken zu und folgte einem unmarkierten Pfad durch den Wald, der sie zurück zu den Steilklippen führen würde.
Ruby widerstand dem Drang zu weinen. War sie traurig, weil sie etwas in ihrer besten Freundin und in sich selbst erkannt hatte? Es fiel Ruby schwer, es zuzugeben, aber sie hatte gewusst, dass es einen Unterschied gab zwischen dem, was sie hatte, und dem, was die Schwestern hatten. Die ganze Welt hatte es den dreien versichert. Das Innere schien gleich, aber das Äußere war anders. Die Wahrheit lastete schwer auf ihr. Ruby war selten einsam, obwohl sie oft allein war. Sie kämpfte erneut mit den Tränen, stellte sich dann aber ihren Papa vor, der ständig weinte und der der einsamste Mensch war, den Ruby jemals gekannt hatte.
Jonah Reuben Scaggs, nach dem Ruby benannt war, war ein Mann, der noch immer so hager aussah wie die Jungen, die von den Eisenbahnbrücken ins Wasser sprangen, um Fische zu fangen, wenn sie hungrig waren und ihnen das Geld ausging. Ihr Vater konnte die Luft anhalten, selbst wenn er nicht unter Wasser war. Jahrelang hatte Ruby dabei zugesehen, wie er von der Brücke der Erinnerungen in den Trümmerhaufen seiner Vergangenheit sprang.
Die blonden Haare, beinahe weiß, standen ihm vom Kopf ab. Seine Augen waren blau, wie ein Lied, das zum Blues gehören will, doch seine Seele schaffte es nie, die richtigen Töne zu treffen. Heutzutage waren die Augen ihres Papas oft geschlossen. Wenn sie dann auf die schiefe Veranda ihrer Hütte trat, war er in Gedanken versunken, steckte tief in der Vergangenheit, wie ein Mann, der die Wege auf einer verzauberten Schatzkarte mit dem Finger nachzog. Die Vergangenheit spornte ihn an, am Leben zu bleiben. Er war auf der Suche nach dem einen Moment, in dem sein Leben in die Brüche gegangen war. Ruby hatte ihre eigene Karte entworfen, damit seine Angriffe sie nicht unvorbereitet trafen.
Als Ruby nun aus dem Wald kam und ihre Lichtung am Felsufer betrat, konnte sie den Rauch des Fleischgrills riechen. Ihr Vater war nicht zu Hause, aber er räucherte Schweinefleisch hinter der Hütte.
Rubys Papa mochte keine Diebe und ahnte nicht, dass Ruby inzwischen sehr gut darin war, Dinge zu stehlen. Als sie begriffen hatte, dass sie womöglich verhungern könnte, wenn sie sich auf ihre Mutter und ihren Vater verließ, hatte sie angefangen, die Dorfbewohner zu bestehlen. Damit hatte sie ihnen neuen Gesprächsstoff geliefert. Man ließ sich über die Trunkenheit ihres Vaters und die Träume ihrer Mutter aus. Und nun konnte man auch alles Mögliche über Ruby sagen, denn sie war schließlich kein kleines Kind mehr, das es nicht besser wusste. Man war der Meinung, Ruby habe es verdient, ein glückloses Produkt der Scaggs’schen Überheblichkeit zu sein.
Ruby presste die Hände an ihren Körper, während sie an Sommerabende und die letzten Nächte im August dachte, die für sie immer traurig rochen, weil sie wusste, dass sie bald zu Ende gehen würden.
Sie wollte endlose Tage in perfektem Sommerhimmelblau. Dann fiel es ihr leichter zu träumen, sich als Pilotin in ihrem eigenen Flugzeug durch die Lüfte jagen zu sehen.
Ruby überquerte den Vorhof aus hartem Lehm und schimpfte mit den Hunden ihres Vaters, die hungrig um sie herumwetzten. Ihr fiel ein, dass dieses Schuljahr ihr letztes sein würde. Seit dem Frühling hatte sie Sorge, in Salt Point kleben zu bleiben und gezwungenermaßen einen der sechs Johns aus ihrer Klasse heiraten zu müssen. Das war etwas, worüber Ez und Cinthy sich keine Gedanken machen mussten. Ruby hatte einmal in einer Zeitschrift ihrer Mutter gelesen, dass sich viele Frauen nach neuen Formen der Liebe sehnten und am Ende trotzdem Männer heirateten, die so waren wie ihre Väter. Als sie versucht hatte, Ezra davon zu erzählen, hatte die bloß die Stirn gerunzelt und gesagt, ihr Vater sei ein guter Mann, der ihr und Cinthy alles beibringe, was es über die Sterne, Anatomie, ägyptische Pyramiden und gute Menschenkenntnis zu wissen gebe.
Rubys Papa sah höchstens Sterne, wenn ihn jemand in der Bar bewusstlos schlug. Jonah Reuben Scaggs schenkte Ruby Sterne, die ihre Haut grün und violett färbten. Von ihm konnte Ruby nicht lernen, was einen anständigen Mann ausmachte.
Rubys Mutter tat nichts, außer zu verhindern, dass sie selbst bewusstlos geschlagen wurde. Wie ihr Mann fand auch Mrs Scaggs Zuflucht in der Vergangenheit. Seitdem sie vor vielen Jahren einmal auf dem Jahrmarkt zur Schönheitskönigin gekürt worden war, stolzierte Rubys Mutter noch immer mit dem Gefühl durch Salt Point, die Dörfler seien zu blöd, um ihre Krone zu sehen.
Als Mrs Scaggs noch glaubte, eine gute Mutter sein zu müssen, war sie überaus besorgt um Rubys Wohlbefinden gewesen. Damit hatte sie eine weitere Möglichkeit gefunden, ihren Mann zu ärgern. Als die Dorfbewohner ihre Tochter sahen und Dinge sagten wie »Das Kind sollte schon lesen können« wurde Mrs Scaggs jedoch bewusst, dass sie den Grund für Rubys schlechte Bildung bei sich selbst suchen musste.
Eines Nachmittags war Mrs Scaggs mit Ruby im Ort unterwegs, um Blumen zu kaufen und es alle wissen zu lassen, als sie Mr Hobart sah. Mr Hobart, in seinem maßgeschneiderten Anzug, nahm seinen Hut ab und tätschelte Rubys zerzaustes Haar. Er fragte, wie alt sie denn sei, und sie hatte sich schüchtern zu ihrer Mutter umgedreht, die stolz antwortete: »Sie ist acht oder neun.« Er betrachtete Mrs Scaggs aufmerksam und konnte ihre Krone sehen. Jedenfalls hoffte sie das. Stattdessen fragte er nur, ob Ruby schon lesen könne und ob sie gut darin sei. Mrs Scaggs blinzelte, als hätte ihr jemand Pfeffer in die Augen gestreut, und wartete ab, ob er der kleinen Ruby wohl einen Strauß Gänseblümchen kaufen würde. Sein Unbehagen entging ihr. Mit der Hand am Hut wünschte er Ruby und ihrer Mutter einen angenehmen Nachmittag und fügte noch hinzu, dass die Familie Scaggs aufgrund ihrer offensichtlich sehr ärmlichen Umstände dazu eingeladen sei, ihre Tochter auf seine Schule zu schicken, um ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
An diesem Nachmittag hatte Ruby den Stich gespürt, der durch den Körper ihrer Mutter ging.
Ruby erinnerte sich, wie ihre Ma sie vom Dorfplatz weggezerrt und den steinigen Weg zurück zur Hütte eingeschlagen hatte. Die frischen Blumen wurden in dem alten Einkaufsnetz ihrer Mutter platt gedrückt. Unwillkürlich nahm Ruby die ganzen Wildblumen am Wegesrand wahr – kostenlos –, während sich ihre Mutter über die Beleidigung des Mannes aufregte. »Er ist es, der arm dran ist, jawohl. Ein ganz armseliger Mann, wenn er denkt, er ist reich genug, um eine Frau mit Beleidigungen zu bezahlen, anstatt ihr echte Komplimente zu machen.«
»Wofür denn bezahlen?«, hatte Ruby ihre Mutter gefragt, deren Antwort eine Ohrfeige gewesen war.
Ruby hatte auf der Veranda gesessen, die Hand an der Wange, und dem wütenden Weinen ihrer Mutter gelauscht. Als Ruby schließlich die Hütte betreten hatte, cremte ihre Mutter gerade eifrig ihr Gesicht mit Pond’s Cold Cream ein und redete von gefährlichen Tränen, die den Teint einer Frau zerstören konnten. »Wenigstens wirst du auf eine gute Schule gehen«, hatte sie immer wieder zu ihrer Tochter gesagt und die zerrupften Blumen zwischen die Seiten eines ramponierten Buches gesteckt.
In Wahrheit konnte Ruby damals schon lesen. Aber die Texte, die ihr zur Verfügung standen, hatten sie abgeschreckt. In den Zeitschriften ihrer Mutter konnte sie keine Abenteuer, Gespenster, Kriege oder Märchen finden. Die einzigen Monster und Bösewichte, die Ruby je auf diesen Seiten gesehen hatte, waren bedrohlich große Wäscheberge, unglückliche Ehemänner, abgeplatzter roter Nagellack, Seidenstrümpfe mit fiesen Laufmaschen. Zu viele Regeln, die man befolgen musste, um eine andere zu sein, um jugendlich auszusehen, obwohl man schon über fünfzig war. Was Ruby jedoch tatsächlich verstörte, waren die Bilder von lächelnden Müttern und rotwangigen Babys, die so sicher umsorgt schienen, wie Ruby es nie erlebt hatte.
Mit acht oder neun Jahren rebellierte Ruby gegen die Glaubenssätze ihrer Mutter.
Sie wollte Abenteuer erleben, die nichts damit zu tun hatten, einem Mann köstliche Steaks zu servieren, während man selbst Diät hielt. Sie distanzierte sich von ihrer Mutter, die sie zwar lieb hatte, aber von der sie sich nicht gesehen fühlte. Obwohl es anfangs wehtat, wusste Ruby, dass sie nur so das Leben bekommen würde, das sie wollte. Wie auch immer es aussehen würde. Ruby überzeugte sich selbst davon, dass sie durch die Vernachlässigung ihrer Eltern mit einer besonderen Rüstung ausgestattet worden war. Sie ließ los, was sie nie besessen hatte, und genoss stattdessen ihre eigene Gesellschaft und die Schöpfung neuer Abenteuer.