Was reg ich mich auf?! - Urban Priol - E-Book

Was reg ich mich auf?! E-Book

Urban Priol

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Beschreibung

Von der Rechtschreibreform zur gendergerechten Sprache, von der Vogelgrippe zu den Metamorphosen des Covid, vom Vermummungsverbot in Zeiten der Startbahn West zur Maskenpflicht in Zeiten der Pipeline Ost - was haben wir nicht schon alles überstanden! Bei seiner satirischen Zeitreise durch unsere immer bunter werdende Republik setzt Urban Priol auf Humor statt Alarmismus. Gemeinsam mit Helmut Kohl betrat er die Bühne des politischen Kabaretts, seitdem knöpft er sich alle Regierenden bis zur Ampel vor. Priol teilt Einblicke hinter die Kulissen des Fernsehens und Einsichten über das Weltgeschehen: scharfzüngig, pointiert und überraschend optimistisch.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungEin Wort vor dem WortPrologRespekt, los!Fröhlicher FatalismusVom Taxi zur BühneKohl und KohleBombenstimmung statt BombenalarmAuf der SchafweideCongratulations! You cracked the bone!Das regelt der MarktGrenzen der SatireÜberyl war TschernobylIns Bockshorn gejagtDie Mauer fälltAn der Hand ins WunderlandPersönlichkeiten der GeschichteKochsmühle oder: Wie es zu Tilt! kamVaffanculo!Autos mit ErfahrungAutonome BevormundungSchwarze KatzeDer Genosse der BosseGroßer kleiner MannRot-grüne BenchmarksGrüner RotweinAlter Wein in alten SchläuchenDer Todesscheitel aus EschbornKoch und Bilfinger Berger – it’s a match!Pakt über den AndenRückrücktrittePazifist in GummistiefelnLohnnäbenkoschtenGrüne IdeenRussisches RouletteWahlabend mit Don PromilloVogelgrippeBenimmregeln für TaxlerIrrgarten BerlinSommermärchenEin bayerischer ProblembärKönigsmord in Wildbad KreuthAlles muss rausSatire-Revival beim ZDFIn die AnstaltZensur im Öffentlich-Rechtlichen?Aschenputtel beim Ball der KönigeDie KlimakanzlerinLa plus grande catastropheKredite für NinjasGeburtstagssause im KanzleramtBerühmte unvollendete Sätze der WeltgeschichteTiger & EnteDie Möwenpick-ParteiUngeliebte GeiselFernsehrätlichesAsche auf euer HauptDer Teufel war’sDeutsch-polnische IrritationenDer verstörte TramperWie werden wir ihn los?Der LügenbaronDas »C« im NamenDer Fall Otto Wiesheu – Blaupause für schwarze Spezl-PolitikBrüsseler SpitzenFukushimaStuttgart 21Whatever it takesJugend an die Urne!GroKo, no!Stalins FaustBILD mir deine Meinung!Besorgte BürgerDer Apfel fällt nicht weit vom StammBöses ErwachenErnsthaft, Genossen?Jod-S-11-KörnchenCorona-ChaosBahnfahren mit CoronaVom Regen in die TraufeVerschwörungsgeschwurbelDie Weiten im UrlaubAlltagsrassismusAmpelgehampelGlückliche Tölpel

Über dieses Buch

Von der Rechtschreibreform zur gendergerechten Sprache, von der Vogelgrippe zu den Metamorphosen des Covid, vom Vermummungsverbot in Zeiten der Startbahn West zur Maskenpflicht in Zeiten der Pipeline Ost – was haben wir nicht schon alles überstanden! Bei seiner satirischen Zeitreise durch unsere immer bunter werdende Republik setzt Urban Priol auf Humor statt Alarmismus. Gemeinsam mit Helmut Kohl betrat er die Bühne des politischen Kabaretts, seitdem knöpft er sich alle Regierenden bis zur Ampel vor. Priol teilt Einblicke hinter die Kulissen des Fernsehens und Einsichten über das Weltgeschehen: scharfzüngig, pointiert und überraschend optimistisch.

Über den Autor

Seit 40 Jahren steht Urban Priol auf der Bühne, seit Jahrzehnten ist er präsent in Funk und Fernsehen, u. a. im SCHEIBENWISCHER, der ZDF Sendung NEUES AUS DER ANSTALT und seinem satirischen Jahresrückblick TILT!. Er wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem DEUTSCHEN KLEINKUNSTPREIS, tourt mit Soloprogrammen und ist Namenspate eines Asteroiden. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, lebt er in Aschaffenburg, wo er eine Kleinkunstbühne betreibt, das Kabarett im Hofgarten.

URBAN PRIOL

WAS REG ICH MICH AUF?!

Ein Boomer holt aus

Mit Zeichnungen von Greser & Lenz

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Co-Autorin: Dr. Navina Lamminger

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Illustrationen im Innenteil: Greser & Lenz

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Einband-/Umschlagmotiv: © michael palm; @palmpictures

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4856-8

luebbe-life.de

luebbe.de

lesejury.de

Für Giulia

Ein Wort vor dem Wort

Seit über 40 Jahren stehe ich nun auf der Bühne. Im Oktober 1982 ging es los, als ich damals, gemeinsam mit Helmut Kohl, anfing, Kabarett zu machen. Nach quälend langen 16 Jahren mit ihm wurde ich oft gefragt: »Herr Priol, was machen Sie denn jetzt, wo der Kohl weg ist?«

Ich sagte nur: »Och, kommt was anderes. Da gibt es genügend Stoff.«

Es kam Gerhard Schröder – und es gab genügend Stoff. Sieben Jahre dauerte es, bis sein Vorhang fiel. Wieder wurde ich gefragt: »Herr Priol, was machen Sie denn jetzt, wo der Schröder weg ist?«

Ich sagte wieder: »Och, kommt was anderes. Der Stoff geht uns nicht aus.«

Es kam Angela Merkel – und der Stoff ging uns wieder nicht aus. Erneut vergingen 16 lähmende Jahre. Nach ihrem längst überfälligen Abgang wurde ich natürlich wieder gefragt: »Was machen Sie denn jetzt, wo die Merkel weg ist.«

Und ich sagte wieder: »Och …«

Nun also die Ampel. Sollte ich nach ihrem Ende gefragt werden: »Herr Priol, jetzt, wo der Scholz weg ist, was machen Sie denn nun?«

Dann sage ich: »Weiter. Immer weiter.«

Ich hoffe sehr, dass mich beim »Immer weiter« meines kabarettistischen Wirkens eine Frau weiterhin so unterstützt, wie sie das in all den letzten Jahren tat: Frau Dr. (darauf legt sie so viel Wert wie ein Weißer Hai auf seinen abendlichen Snack, denn der Titel wurde ehrlich durch ihre eigene geistige Arbeit erworben und nicht aus einem CSU-Trödelshop herausgeramscht. Außerdem liebt sie Haie) Navina Lamminger. Sie ist als Dramaturgin meiner Bühnen- und Fernsehprogramme seit Langem meine kreativ-geistige Sparring-Partnerin und hat als Co-Autorin wesentlich zu diesem Buch beigetragen. Vielen Dank, liebe Navina, ohne dich wären die folgenden Seiten nicht möglich gewesen!

Prolog

Im Akropolis oder: Tempus fugit

»Yamas!«, prostete mir meine vor Erleichterung strahlende Co-Autorin zu. »Ein Hoch auf Corona!«, prostete ich zurück, als wir die Ouzo-Stamperl in der Taverne Akropolis in Konstanz hoben. Wir waren in entspannter Feierlaune: Schließlich hatten wir nach ausgiebiger und konzertierter Beratung beschlossen, den Abgabetermin für unser geplantes Buch, der uns ein bisschen auf den Magen gedrückt hatte, nach hinten zu verschieben. Uns mehr Zeit zu gönnen. Sechs Wochen schienen dann doch etwas knapp zu sein, um ein Buch zu verfassen, zumal ich mit den Nachwirkungen einer Corona-Erkrankung zu kämpfen hatte. Außerdem war das Wetter an diesem Frühfrühlingstag im März 2022 wirklich arg schön und verhieß einen traumhaften Frühling.

Gut, zugegeben, ursprünglich hatten wir mehr Zeit gehabt. Aber wie der Teufel es will, gab es immer andere wichtige Dinge zu erledigen.

»›Geist braucht die Gunst der Schschtunde‹, das wusste schon Shakespeare«, dozierte Navina zu späterer Stunde im Akropolis, mit erhobenem Zeigefinger, wenn auch sprachlich schon etwas unsicher, um unserem Aufschub eine weitere solide Begründung hinzuzufügen.

»So ist es! Yamas!«, pflichtete ich bei und bestellte bei der charmanten Kellnerin die nächste Runde. »Kein Druck!«, meinte ich: »Ich mache jetzt erst mal ein paar Tage nichts.«

Mein Gegenüber war leicht irritiert: »Aber das hast du doch gestern schon gemacht. Und vorgestern auch.«

»Na ja, ich bin eben nicht ganz fertig geworden mit dem Nichtstun …«

Oh, es war ein berauschender Abend mit Ouzo, Tsatsiki und griechischem Wein. Wie erleichtert wir waren: Der Abgabetermin lag wenig bedrohlich in weiter Ferne, und ein halbes Jahr schien eine Ewigkeit zu sein. Ja, ein halbes Jahr schien eine Ewigkeit zu sein, vor einem halben Jahr. Und nun, nach einem großartigen Sommer und mit genauso viel oder wenig Manuskript wie vor sechs Monaten, stehen wir da und fragen uns: »Wo nur, um Himmels willen, ist die Zeit geblieben?«

Respekt, los!

»Sagen sie mal, Herr Piroll, wie wird man eigentlich Kabarettist?«, das ist eine mir oft gestellte Frage. Nun, was mir als dafür nötiges Talent schon in die Wiege gelegt wurde, ist die absolut und vollständig fehlende Ehrfurcht vor Obrigkeiten und Autoritäten, seien sie nun kirchlicher oder weltlicher Art. Das brockte mir schon in meiner Jugend einigen Ärger ein.

Da war meine Aufmüpfigkeit im Unterricht beispielsweise, als deren Folge es unzählige Strafarbeiten hagelte. Nein, nicht Strafarbeiten, so durfte man sie im Zuge der sanften Pädagogik in den frühen 70er Jahren nicht mehr nennen, es waren »Übungsaufgaben«. Den Sinn der strafaufgabenbedingten Übung, fünfmal die Geschichte vom Fischer und seiner Frau abschreiben zu müssen, erschloss sich mir nicht. Nach dem dritten analog in voller Länge abgeschriebenen Text, einem analogen Copy & Paste gewissermaßen, sehnte ich mich nach dem zum Butt verzauberten Prinzen, um mit einem seufzenden »Manntje, Manntje« und irgendwas mit »in der See« und einer Frau namens Ilsebill, die nie das machte, was ihr Mann, ein passionierter Angler wollen willte. Oder willen wollte. Oder so ähnlich. Das immer wiederkehrende »Manntje, Manntje«-Flehen des Fischers ersetzte ich beim Abschreiben schon nach der ersten Kopierung durch ein »wdh« oder »siehe oben«, was mir nach Abgabe der Übungsaufgabe zur Strafe ein zwanzigmaliges Abschreiben des »Manntje, Manntje« einbrachte.

So ging sanfte Pädagogik in der Umsetzung der Ideale der 68er während der sozialliberalen Ära. Der freie Geist war allerdings in der Frühphase bei manch antiquiertem Leerkörper entweder noch nicht angekommen oder wurde von diesem schlicht ignoriert beziehungsweise bewusst verweigert. Seitdem esse ich, wann immer sich mir als Fischliebhaber die Gelegenheit bietet, bevorzugt einen Butt und spreche vor dem Verspeisen in einer Art Tischgebet: »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See. Mine Fru die Ilsebill will nich so, as ik wohl will. Amen!«

Danach schmeckt mir der Plattfisch besonders gut, gerade, wenn ich daran denke, wie viele Tage ich wohl damit hätte verbringen müssen, den Butt von Günter Grass als Übungsaufgabe abschreiben zu müssen …

Nach dem Abitur 1980 folgte die nächste obrigkeitliche Herausforderung: die Bundeswehr. Irgendetwas in mir weigerte sich, kaum war ich als Sanitätssoldat zur Grundausbildung angetreten, die seltsamen Zeichen auf den Schulterklappen der Vorgesetzten, also die Portepees der Offiziere, auswendig zu lernen, um die sie Tragenden standes- und ordnungsgemäß begrüßen zu können. Eichenlaub und quergestellte Quadrate, silber- oder goldfarbene Hieroglyphen, je nach Anzahl oder Winkel waren es wohl Unter- oder Ober- oder Stabsoffiziere beziehungsweise Majore, Hauptmänner, Obristen oder Generale, aber all das zu lernen war mir zu blöd, ich begrüßte sie im Kasernenalltag stets höflich mit einem donnernden »Guten Morgen!«, was natürlich, wie ich erfahren durfte, ein Kardinalfehler war und mir genauso viele Rügen einbrachte wie die Respektlosigkeit während meiner Schulzeit. Was hätte ich aber auch machen sollen, wenn mir ein hochaufgeschossener Offizier entgegenkam, von dem ich gar nicht wissen konnte, welchen Dienstgrad er besaß? Ihn bitten, sich etwas zu bücken, damit ich erspähen konnte, was er auf seinen Schulterklappen trug, deren Sinn zu verstehen ich mich ohnehin weigerte?

Nach der Grundausbildung im westerwaldhinterwäldlerischen Rennerod wurde ich als Truppenarztschreiber in eine Sanitätseinheit in Stadtallendorf versetzt, eine dörfliche Schönheit in Nordhessen. Die Aufgabe des Truppenarztschreibers bestand darin, das aufzuschreiben, was der Truppenarzt in der Schreibstube als Befund des truppenärztlich untersuchten Patienten, also Rekruten, dem Truppenarztschreiber diktierte. Natürlich hatte auch der Truppenarzt einen Dienstgrad, den er auf der Schulter trug. »Dr. Truppenarzthauptmann« oder so ähnlich.

Zehn Stunden Truppenarztschreiberdasein in der Truppenarztschreiberstube konnten bei zwei zu beschreibenden Rekrutenpatientenbefunden täglich sehr langweilig sein. Kein Problem, dachte ich mir, ich nehme mir ein Buch, beispielsweise Doktor Schiwago, und schmökere einfach in der freien Zeit fröhlich vor mich hin. Dachte ich. Schon kam die nächste Rüge: Das Lesen fachfremder Literatur während der Dienstzeit war verboten. Bleistifte zu spitzen und Dienstvorschriften auswendig zu lernen war hingegen erlaubt.

Während der 20-minütigen Frühstückspause im Aufenthaltsraum durfte man auch lesen. Eines Morgens saß ich da und blätterte im Spiegel, las über die bevorstehende Reagan’sche Aufrüstungsorgie in den USA und dachte mir: Du musst hier weg. Ich blätterte versonnen, als plötzlich ein olivgrünes Männlein im Türrahmen stand, das, wie sich herausstellen sollte, der Standortkommandeur auf Kontrollgang war. Ich nahm ihn kurz zur Kenntnis, nickte ihm freundlich zu und begrüßte ihn mit: »Guten Morgen!«

Schlagartig wurde mir klar, dass die höflich-joviale Begrüßung keine gute Idee war. Sein Gesicht nahm eine dunkelrote Färbung an, seine Halsschlagadern begannen wild zu pulsieren, bevor es aus ihm dezibeldonnernd herausquoll: »Nehmen Sie Haltung an, Mann! Begrüßen Sie mich gefälligst standesgemäß! Wissen Sie nicht, wer ich bin?!«

Als Erstes deutete er auf sein aufgesticktes Namensschild, ich entzifferte etwas, das für mich wie »Mömmelmann« oder »Mümmelmann« aussah, was mich schon wieder zum inneren Grinsen brachte. Dann beugte er sich kurz herab und tippte auf seine Schulterklappe. Da war viel Lametta. In Gold. In diesem Moment hätte ich gern einen Telefonjoker gehabt. Ich riet einfach den Dienstgrad, natürlich lag ich falsch, und wurde donnernd aus einer mittlerweile ins Dunkelviolette changierenden Standortkommandeursvisage eines Besseren belehrt: »Wenn jemand wie ich, auch in Ihrer Pause, den Raum betritt, dann haben Sie aufzustehen, Haltung einzunehmen und ordnungsgemäß zu grüßen! Der Gruß, Hand an die Schläfe, ist in jeder nur erdenklichen Situation auszuführen!«

»Jawoll, Herr Standortkommandeur!«, antwortete ich. Damit zeigte er sich zufrieden und zog grummelnd-grunzend ab. Die Gelegenheit zur Rache sollte einige Tage später kommen, als mir mein Truppenarzt mitteilte, der Standortkommandeur komme heute vorbei, da solle außer ihm niemand zugegen sein, er werde mich wieder hereinrufen, wenn die Untersuchung vorbei sei.

»Was hat er denn?«, fragte ich neugierig. Ach, nur das Übliche, meinte der Truppenarzt. Blutbild, Urin und so. Ich legte mich auf die Lauer. Der Standortkommandeur entschwand in die Sanitätseinheitstoilette, um einen Plastikbecher mit seinem Urin zu befüllen, kaum wollte er über den Flur in das Untersuchungszimmer entschwinden, sprang ich hinter der mich bis dahin verbergenden Türzarge hervor, machte Männchen und begrüßte ihn pflichtgemäß, rechte Hand an der Schläfe: »Guten Morgen, Herr Standortkommandeur!«

Ob er nun Oberstleutnant oder Generalmajor war, das wusste ich immer noch nicht, aber er musste seinen uringefüllten Plastikbecher von der rechten in die linke Hand manövrieren, um ordnungsgemäß mit der Hand an seiner Schläfe zurückgrüßen zu können. In tarnolivfarbener Ganzkörperunterwäsche. Welch eine Genugtuung für sein Gepumpe im frühstücklichen Aufenthaltsraum!

Mir war klar, dass meiner militärischen Laufbahn keine große Zukunft beschieden war, und so verweigerte ich nach drei gähnend langweiligen Wochen als Truppenarztschreiber den Kriegsdienst. Kaum einer aus dem Freundeskreis verstand das, meinten doch alle, Sani, das sei doch der coolste Job bei der Bundeswehr überhaupt. Aber ich wollte nicht mehr. Zu viele Widersprüche, der Kalte Krieg, die atomare Aufrüstung, der Kadavergehorsam – das war nichts für mich.

Nach erfolgreich bestandener Gewissensprüfung begann ich meinen Zivildienst beim Malteser Hilfsdienst in Aschaffenburg. Offizielle Bezeichnung: »Rettungshelfer«. Also Fahrer oder Beifahrer auf einem Rettungswagen. Bevor die spannende Zeit beginnen konnte, musste ich einen 14-tägigen Schulungskurs in Passau absolvieren. Verblüfft blickte ich dort den Getränkeautomaten an, der im Wesentlichen mit den verschiedensten Biersorten bestückt war, an denen sich die Krankenwagenbesatzungen in der Mittagspause genüsslich labten. Klar, zu dieser Zeit galt Bier in Bayern noch als Grundnahrungsmittel. Gewissermaßen eine leichte Droge. Wohl eher eine Einstiegsdroge.

Der leichtfertige Umgang mit Alkohol sollte mir bei einem späteren Rettungseinsatz gewahr werden. Morgens um halb sieben wurden wir zu einem Arbeitsunfall in ein nahe gelegenes Werk gerufen, in dem eine neue Montagehalle entstehen sollte. Eine Betonplatte war auf den Unterschenkel eines Mitarbeiters gestürzt. Der Notarzt stellte beim Verunglückten Alkoholgeruch fest, die Platte war mangelhaft befestigt, der Plattenbefestiger zeigte ebenfalls deutliche Ausfallerscheinungen, ebenso wie der Kranführer, der die Platte seinem Bestimmungsort hätte zuführen sollen. Seitdem hat sich im Arbeitsschutz doch einiges verändert …

Bevor ich meinen täglichen Dienst im Rettungswagen antreten konnte, stand noch ein Praktikum in einer privaten Klinik an. Zivildienstleistende waren dort sehr begehrt, da man die unangenehmen Arbeiten auf sie abwälzen konnte. Bettpfannen ausleeren und Betten neu beziehen waren für den späteren täglichen Rettungsalltag aber eher weniger hilfreich.

Um neun Uhr morgens gab es eine 20-minütige Frühstückspause. Am ersten Tag stellte ich mich kurz vor und schnappte mir ein Brötchen. Mich trafen verwunderte Blicke der mich umringenden Krankenschwestern. Ich wurde barsch darauf hingewiesen, dass man mit dem Frühstück erst dann beginnen dürfe, wenn die Oberschwester zugegen war, um die Frühstückstafel zu eröffnen. Strenge Regeln. Ich wartete und hoffte, dass sie nicht auch Schulterklappen trug und ich ihren Dienstrang bestimmen müsste.

Einige Tage später, ich verzichtete meist auf das straff geführte Frühstücksregiment, begegnete ich auf dem Flur dem Chefarzt. Ich passierte ihn, nickte freundlich und wünschte einen »Guten Morgen«. Doch ich kam nicht weit. Ein scharfer Pfiff ließ mich anhalten, ich drehte mich um und sah den mich zu ihm zitierenden Finger des Halbgottes in Weiß. Er belehrte mich: »Wenn Sie in diesem Haus dem Chefarzt begegnen, dann haben Sie gefälligst stehenzubleiben, Haltung anzunehmen und ordnungsgemäß zu grüßen: ›Guten Morgen, Herr Doktor Chefarzt!‹ – haben wir uns verstanden?«

Mir dämmerte, dass der militärische Kommisston wohl auch außerhalb der Bundeswehr üblich zu sein schien. Ich erwiderte, dass ich die Truppe in der Hoffnung verlassen hätte, einen weniger autoritär-hierarchischen Umgangston bei der täglichen Arbeit zu finden. Er beschied mich knapp: »Wissen Sie, junger Mann, ich habe gewisse Kategorien, nach denen ich Menschen beurteile: An drittletzter Stelle kommen für mich die Alkoholabhängigen, an vorletzter Stelle die Rauschgiftsüchtigen und an letzter Stelle die Kriegsdienstverweigerer. Guten Tag!«

Da fiel selbst mir nichts mehr ein, und ich machte mich sogleich ans Säubern der Bettpfannen.

Fröhlicher Fatalismus

Nach dem Zivildienst begann ich, Englisch und Geschichte auf Lehramt zu studieren, dazu Russisch im Nebenfach, denn schon in der Schule hatten mich Sprachen sehr interessiert. Erste Klasse Gymnasium, los ging es mit Latein. Humanistische Ausbildung. In den ersten Tagen hatten wir noch keine Ahnung davon, wie schwierig dieses blöde Latein noch werden sollte. Am Anfang stand der zu lernende Satz: »Puella saltat.« Ein Mädchen, das tanzt. Easy, dachten wir da noch. Wenn das so weitergeht mit dem Lateinischen, wovor hatten die alle eigentlich immer solch eine Angst, von wegen: »Oh ja, Latein, da wirst du erst mal sehen, wie schön es doch in der Volksschule war.« Hm.

»Puella saltat.« Na und? Okay, danach kamen dann Gerundium und Gerundivum, Futur II, Partizip Präsens Passiv, Plusquamperfekt und diverse andere Scheußlichkeiten hinzu. Aber beim tanzenden Mädchen wussten wir das ja noch nicht. So lateinisch gestählt konnten wir die anderen zu erlernenden Fremdsprachen gelassen-fröhlich in Angriff nehmen: Im Ernst Klett Verlag ereilte uns in der 7. Klasse zunächst einmal Englisch. Es gab die Wahlmöglichkeiten, das Buch auf Leihe aus der Lernmittelfreiheit der Schulbibliothek oder im freien Verkauf zu erwerben. Natürlich gab es nur einige wenige Exemplare in der Schulbibliothek, weshalb die Möglichkeiten der Lernmittelfreiheit recht rasch erschöpft waren. So bescherte man dem Ernst Klett Verlag gezwungenermaßen einen kleinen Zuschuss.

Im Englischen tanzte zu Beginn zwar kein Mädchen, also keine Puella, die erste Übung hatte aber trotzdem mit einer jungen Frau zu tun. Sie hieß Maud. Und Maud hatte einen Hund. Das erschloss sich uns aus dem ersten Übungssatz, zumal Hund und Mädchen im Bild über dem Übungssatz zu sehen waren. Das war im Grunde ähnlich einfach wie das tanzende Mädchen im Lateinischen. Bevor es mit dem Erlernen des »Ti-Äidsch« für manche in noch ungeahnte Abgründe gehen sollte. »Here comes Maud. Maud has a dog.« Da hatten wir schon was gelernt. Eine Maud, die des Weges kam und die sogar noch einen Hund besaß. Jahrzehnte später kam ein bayerischer Hund des Weges und wollte uns die Maut bringen. Unsere Maud hatte im Übrigen nicht nur einen Hund, sie hatte auch noch ein Fenster, das sie sogar zu öffnen imstande war. Denn der zweite Lernsatz lautete: »Look, a window. Maud opens a window.«

Danach kam, in der 9. Klasse, Französisch dazu. Das theoretische Erlernen der Sprache war verbunden mit einem späteren Schüleraustausch bei Gasteltern in Frankreich – für die Völkerverständigung. Das wollten seit 1963 Adenauer und de Gaulle im Élysée-Vertrag, der gerade erst sein 60-jähriges Jubiläum hatte. Also sollten wir Frankreich, den ehemaligen Erbfeind, jetzt mögen. In den Études Francaises, unserer gymnasialen Lernlektüre, wurde uns allerdings nicht unbedingt Appetit auf unser Nachbarland gemacht. Die uns im Buch begrüßenden Gasteltern, Madame und Monsieur Leroc, waren stets schlecht gelaunt, was sicherlich darin begründet lag, dass Familie Leroc aus der Normandie stammte und das Wetter dort immer schlecht war. Ich kann mich jedenfalls nur an Pfützen im Lehrbuch erinnern. Jahrzehnte später sah ich den großartigen Film Willkommen bei den Sch’tis und wusste sofort: Genauso wie im Schulbuch damals, wie in den Études. Immer hat es geregnet, also, zumindest in den ersten Übungssätzen. Während bei uns Sommer, Freibad, Frohsinn und Baggersee angesagt waren.

Was sollte das dann für ein Anreiz sein, nach Frankreich zu reisen, bei den Verheißungen: »Il pleût. La rue est grise et triste. Monsieur Leroc porte son imperméable. Madame Leroc porte son parapluie.« Das war das erste Bild, das wir von unserem Schüleraustauschland hatten: Es ist grau. Es regnet. Monsieur Leroc trägt einen hässlichen Übergangsmantel, und seine Frau trägt ihm seinen Regenschirm hinterher. Und dann wurde er natürlich auch noch krank: »Monsieur Leroc est au lit. Il est malade.« Die arme Socke. »Il a la grippe. Madame Leroc arrive. Elle apporte une lettre et des journaux.« Wie ein Hündchen apportiert sie ihm Brief und Zeitungen, nachdem sie seinen Regenschirm noch brav in den Ständer gestellt hatte? Da waren damals schon die Mädchen in unserer Klasse auf den Zinnen.

Nach den Études Francaises und der Grammar School English wurde ich dann zu Beginn meines Russisch-Studiums am Institut für Slawistik gleich mit der Lebensrealität konfrontiert. Im russischen Lehrbuch für Anfänger lautete der erste zu lernende Übungssatz zwischen den orangefarben gehaltenen Buchdeckelseiten: »Eto Anna. Anna kranovtschik po perevodi.« Unter der karikaturhaft vor einem Plattenbau festgehaltenen drallen, in einem übergroßen Overall steckenden Mannsfrau stand die Übersetzung, das, worauf es wohl im erweiterten Arbeiter- und Bauernparadies ankam: »Das ist Anna. Anna ist Kranführerin.« Das war weit weg von der heimeligen Maud-Hund-Fenster-Welt und der Familie Leroc mit der sich für ihren Mann aufopfernden Gattin.

Trotzdem blieb ich bei meinem Russisch-Studium. Zumindest vorübergehend. Zuvor hatte ich mich für das Fach Geografie eingeschrieben, doch merkte ich recht schnell, dass ich dort nicht alt werden würde. Ich erinnere mich noch genau, wie ich in der Vorlesung »Einführung in die Geografie« saß. Der Professor, der mit seiner schneidigen Cordkniebundhose und dem Karohemd aussah, als hätte er gerade den Watzmann bestiegen, begrüßte uns verschüchterte Erstsemester mit den Worten:

»Guten Morgen! Ich bin irritiert. Was, bitte, machen die ganzen Frauen hier? Verehrte Damen! Warum wollen Sie in der Erde rumwühlen und sich Ihre Finger schmutzig machen? Das ist Männerarbeit. Nutzen Sie doch besser Ihre Talente sinnvoll. Bleiben Sie zu Hause, kümmern Sie sich um den Nachwuchs, und kochen Sie etwas Schönes!«

Als wir mit unserem Professor auf Exkursion im Werdenfelser Land waren – der praktische Teil eines Proseminars –, kündigte er am Abend an, dass wir am nächsten Morgen um halb fünf unseren Tag starten würden. Halb fünf! Keiner von uns nahm ihn ernst, immerhin hatte er mit uns Becher um Becher gezecht und dabei eine erstaunliche Trinkfestigkeit an den Tag, also besser gesagt an die Nacht gelegt. Entspannt krochen wir, ordentlich angeheitert, nachts um eins in unsere Zelte, in der festen Überzeugung, morgens nicht allzu früh aufstehen zu müssen. Welch ein Irrtum! Wir hatten die Rechnung ohne unseren Professor gemacht. Punkt halb fünf stand er, gewaschen, rasiert und angezogen, vor unseren Zelten mit einer Trompete und weckte uns mit den Worten: »Auf, auf, ihr Hasen, hört ihr nicht die Tagwacht blasen!«

Während sich die Mehrheit mit »Hase« angesprochen fühlte und sich verschlafen aus ihren Zelten schälte, drehten sich einige wenige einfach wieder um und pfiffen auf den Spinner. Was Professor Eisenherz natürlich mit aller Härte bestrafte. »Disziplin hat oberste Priorität. Und die haben Sie, verehrte Herrschaften, offensichtlich nicht. Packen Sie Ihre Sachen, und fahren Sie nach Hause. Den Schein können Sie selbstverständlich vergessen.«

Schon wieder wurde klar: Auch das war kein Ambiente, in dem ich gedeihen würde. So sattelte ich bereits nach einem Semester auf Lehramt um, auch wenn mir von allen prophezeit wurde: »Um Gottes willen, warum willst du Lehrer werden? Damit findest du niemals nie einen Job, da landest du eh auf der Straße, da brauchst du auch gar nicht studieren. Lern lieber was Gescheites.«

Komisch, entgegen aller Schwarzmalerei waren wenige Jahre später Lehrer begehrt wie nie zuvor. Kein Wunder, dass es zu einem Mangel kam – von uns ergriff tatsächlich fast niemand den Lehrberuf. Während der eine die Knopffabrik seiner Eltern übernahm, tauchte die andere in die Tiefkühltortendynastie ihrer Familie ein, eine weitere wurde erfolgreiche Tantra-Masseurin. Die gleiche düstere, jobarme Zukunft wurde kurz darauf BWLern und Ingenieuren vorhergesagt – wenig später waren sie gesuchte Mangelware. Sollte ich der Jugend einen Tipp geben dürfen, dann den: Studiert das, von dem man euch prophezeit, dass ihr damit garantiert keinen Job finden werdet – damit seid ihr immer auf der sicheren Seite.

Aber, mal ganz ehrlich, das Studium damals kann man mit dem heutigen auch wirklich nicht vergleichen. Das waren schon andere Zeiten, in den Achtzigern, vor der auf Effizienz getrimmten Bologna-Reform. Eine tolle Idee, mit der man Anfang der Nullerjahre das Hochschulwesen revolutionieren wollte. Gefördert und gepusht von der Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), deren Chefin die Bildung zu ihrer ellenlangen Liste von »Chefsachen« hinzugefügt hatte, die allesamt scheitern sollten. Bologna, gepaart mit der »Exzellenzinitiative«, ein Meisterwerk einer selbsternannten Mastermindin, die 2012 stolz verkündete: »Bologna ist eine europäische Erfolgsgeschichte!«

Diese Meinung hatte Frau Schavan exklusiv für sich. Alte Abschlüsse wie Magister und Diplom wichen dem Bachelor, der schon nach sechs Semestern Turbo-Studium zu erreichen war. In drei Jahren. Nach dieser Zeit wussten wir an der Uni gerade mal, welche Mittel- und Hauptseminare wir belegen wollten. Zuvor war Frau Schavan schon eine glühende Verfechterin des »Turbo-Abiturs« gewesen, der völlig überhastet und unbedacht eingeführten verkürzten Gymnasialzeit, die die zu Beschulenden schon nach der 12. Klasse zur Hochschulreife führen sollte. Eine »Erfolgsgeschichte«, die nach wenigen Jahren wieder klammheimlich beerdigt wurde, von G8 wurde wieder auf G9 umgestellt. Unzählige G8-Versuchskaninchen werden es ihr gedankt haben.

Unsere Bologna-Effizienz damals konnte sich sehen lassen: Unser Leibgericht in der WG waren »Spaghetti à la Bolognese«, wenn es schneller gehen musste, auch gern mal die Fertigpackung Mirácoli von Kraft. So gestärkt hauten wir uns in verrauchten Kneipen die Nächte mit reichlich Bier und endlosen Diskussionen um die Ohren, flirteten mit Helga, Gabi, Elke und wie sie sonst noch alle hießen und hingen morgens übernächtigt um elf in der ersten Vorlesung. Trotzdem oder auch gerade deswegen eigneten wir uns gewisse Fähigkeiten an. Argumentieren beispielsweise. Denken. Wissenslücken schauspielerisch gekonnt kaschieren, eine Fähigkeit, die man heute bei manch einer politischen Führungskraft wiederfindet: sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit. Und Flirten, das lernten wir eben auch.

In Amerika regierte damals Ronald Reagan, an dem man sehen konnte, dass eine fundierte schauspielerische Ausbildung nicht von Nachteil ist, wenn man ein Amt bekleidet, in dem man seinem Publikum rund um die Uhr etwas vorspielen muss, um es bei Laune zu halten. Reagan, der durch cineastische Highlights wie Bedtime for Bonzo aufgefallen war, ein Film, in dem ein neben ihm agierender Schimpanse dessen Talent bei Weitem übertraf, sorgte auch als Präsident für unvergessene Momente. So etwa, als er in einer Pressekonferenz aus Jux ankündigte: »Die Bombardierung Russlands beginnt in fünf Minuten!«

Welch ein Glück, dass es damals noch keine sozialen Medien gab, weil Bill Gates noch mit der Anmietung einer passenden Garage für sein – heute würde man sagen – »Start-up« beschäftigt war.

Ronald Reagan, der POTUS, kurz für »President of the United States« – was für ein Name für den mächtigsten Mann der Welt. Die noch mächtigere Frau dahinter, Nancy, die ihm wie Madame Leroc alles Mögliche hinterhertragen musste, heißt im Amtsterminus FLOTUS, also »First Lady of the United States«. Potus & Flotus – das klingt doch nicht staatsmännisch. Das hat eher etwas von »Lolek & Bolek«, »Pat & Patachon« oder »Tim & Struppi«.

Uns prägte in dieser Zeit ein gewisser fröhlicher Fatalismus. Das Damoklesschwert einer möglichen atomaren Eskalation schwebte beständig über uns. Das wiederum machte uns das Studium leichter. Wir waren entspannt, weil uns allen klar war: Egal, was wir machen – die Welt geht sowieso unter. Wahrscheinlich schmeißt der Reagan die Atombombe, dann muss der Russe sich wehren und schmeißt sie auch. Auf uns, natürlich. Wir sahen uns, der Begriff war noch nicht erfunden, schon als eine Art »Letzte Generation«. »No future«, keine Zukunft, das war unsere Grundhaltung. Nicht nur wegen der Atombombe.

Es regnet? Oh, Gott, ja, und zwar sauer. Heute regnet es gar nicht mehr, dafür war in den 80ern der Regen sauer und hat dafür gesorgt, dass der Wald stirbt; den es seltsamerweise in Teilen dennoch heute noch gibt. Dafür sind heute vier von fünf Bäumen krank, weil der Wald sauer ist, dass es nicht mehr regnet, und die Dürre den Borkenkäfer explosionsartig sich vermehren lässt. Für uns war damals klar: Der Wald wird sauer und stirbt, und dann machen die gestorbenen Robben das Ozonloch über Tschernobyl so groß, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt. Warum also sollten wir uns da morgens um acht an der Uni in eine Vorlesung quälen?

Außerdem, sollte die Welt wider Erwarten doch nicht untergehen und ich als ehemaliger Langzeitstudent später tatsächlich keinen Job finden, hatte ich einen Plan B: Ich würde Taxi fahren. Um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hatte ich damit schon parallel zu meinem Studium begonnen.

Vom Taxi zur Bühne

»Zentrale Löhergraben Acht« – »Fünfnull Stand Freihof«, antwortete ich. »Fünfnull fährt«, quäkte es mir an einem Oktobertag 1982 aus dem Lautsprecher meines Taxis entgegen. Ich wollte gerade den Rückwärtsgang in meinem Mercedes 240 Diesel einlegen, als aus dem Radio eine Meldung knarzte, die mich schockerstarrt innehalten ließ. Wie angefroren krampfte sich meine Faust um den schmucklosen Knauf der automatischen Schaltkulisse: Bundeskanzler Helmut Schmidt war durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden, der neue Kanzler hieß Helmut Kohl. Ausgerechnet Birne. Damit war die 13 Jahre währende sozialliberale Ära zu Ende.

Nicht, dass der von der FDP-Clique um Genscher weggeputschte Helmut Schmidt für uns die große Offenbarung gewesen wäre, im Gegenteil. Mit hunderttausend Gleichgesinnten gingen wir gegen dessen Politik 1981 auf die Straße, vehement wetternd und Parolen schmetternd gegen Aufrüstung und den Nato-Doppelbeschluss. Wie irre, dass wir uns heute, 40 Jahre später, wieder in einem Konflikt mit Russland befinden. Wobei es einen großen Unterschied gibt zu früher. Damals war das Böse für uns der Westen. Wir skandierten »Ami go home«, »Petting statt Pershing« und »Sonne statt Reagan«. Der Spiegel druckte auf dem Cover ein Bild von Ronald Reagan mit Reißzähnen, die wie Atomraketen aussahen. Und heute? Hockt der Feind im Osten. Nie, nie, nie hätte ich gedacht, dass ich meinem politisch stark nach rechts tendierenden Ausbilder bei der Bundeswehr einmal recht geben müsste, der im »Staatsbürgerlichen Unterricht« polterte: »Poldaten, der Ruppe itter Peind.« Man muss wissen, er konnte kein »s« sprechen.

Nun also Kohl. Der Schock saß tief, aber die Pflicht rief, ich musste ja meinen Fahrgast abholen. Wie ich die wenigen hundert Meter zum Löhergraben Acht zurücklegte, ist mir noch heute ein Rätsel, doch irgendwie kam ich an. Dort erwartete mich bereits ungeduldig eine in einen beigefarbenen Blazer gehüllte, mit Schulterpolstern zu einem imposanten Kasten aufgebaute ältere Dame, deren Haare zu einer nicht besonders modernen, aber sicherlich pflegeleichten Kurzhaarfrisur getrimmt waren.

»Endlich sind Sie da!«, schnaubte sie mir entgegen. Ich entschuldigte mich pflichtbewusst, obwohl ich doch eigentlich gar nichts falsch gemacht hatte, und stammelte etwas von herumlaufenden Birnen auf dem Freihof. So bin ich, so war ich schon immer. Macht mir eine Frau einen Vorwurf, fühle ich mich sogleich schuldig. Egal, wie wenig berechtigt oder weit hergeholt dieser Vorwurf auch sein mag – ich frage mich sofort, was ICH falsch gemacht habe, und auch, wenn mir überhaupt nichts einfällt, was ich falsch gemacht haben könnte, bin ich mir trotzdem ganz sicher, dass ich etwas falsch gemacht habe. In einer späteren Beziehung habe ich mir mal ein T-Shirt bedrucken lassen: »Schuldiger der Woche«.

Ich habe eine Art vorprogrammiertes schlechtes Gewissen, den sogenannten »Priol’schen Reflex«, der automatisch anspringt, sobald mich eine Frau wegen irgendetwas angeht. Manchmal reicht da schon ein gekränkter Blick oder die schnippische Antwort auf die Frage: »Ist irgendetwas?« – »Nein, es ist nichts.« Dieser spontane Schuldkomplex, den habe ich nur bei Frauen, bei Männern fehlt er mir. Irgendwas muss da in meiner Kindheit gewesen sein, mit meiner Mutter oder dem Meerschweinchen, das ich mit irgendetwas Falschem gefüttert habe, oder den Hamstern, denen ich im Frühling auf dem Rasen im Garten ein bisschen Natur gönnen wollte, die aber danach verschwunden waren, weil sie sich, dank des fehlenden Käfigbodens, nicht am satten Rasengrün labten, sondern sich durch dieses in die Freiheit gebohrt hatten. Oder lag das mit dem Schuldkomplex vielleicht an … ach, was weiß ich. Meine Schulddrüsenüberfunktion ist jedenfalls allzeit aktiviert.

Im Taxi hatte es sich die silbergrauviolett (eine beliebte Haarfarbe damals) ondulierte Dame gerade auf der Rückbank bequem gemacht, als es auch schon aus ihr herausplatzte: »Haben Sie gehört, der Helmut Kohl ist neuer Kanzler.« Mir entfuhr ein knarzendes »Ja … hab ich.«

»Gott sei Dank sind wir diese langhaarigen linken Terroristen mit dem Helmut Schmidt endlich los, gell? Jetzt wird alles besser. Obwohl, um den Schmidt ist’s eigentlich schon schad. Aber der war halt einfach in der falschen Partei.«

So. Das war das Sahnehäubchen auf der Hiobsbotschaft. Oder der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Meine Hände verkrampften sich am ausladenden Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervortraten. Da geriet etwas in mir in Bewegung.

Politische Sauereien, wie der Genscher-Lambsdorff-Putsch, hatten mich bereits als junger Mensch auf die Palme gebracht. Was mich dabei immer wurmte, war meine Machtlosigkeit, das Gefühl, nichts oder zumindest wenig bewirken zu können. Doch ich erkannte bereits früh, dass ich eine Waffe, ein Talent besaß: Ich war der geborene Hofnarr. Das zeigte sich schon in der Schule, insbesondere beim Sportunterricht. Hochsprung beispielsweise. Furchtbar. Einmal rammte sich mir die Eisenstange, über die es zu springen galt, schmerzhaft ins Kreuz. Mein Turnlehrer versuchte noch, mich mit einer Art frühzeitlichen Negativmotivation anzuspornen: »Kommst auf Latte, kriegst schon Finf!« Ich lief dann immer an der zu überspringenden Eisenstange vorbei, in der Hoffnung, ihn so austricksen zu können, da ich die Latte ja nicht berührte. Hat mir im Zeugnis aber nichts gebracht. Ich war der Einzige mit einer Sechs. Später stand dort nur noch: »Hat teilgenommen«. Während andere schon den »Fosbury« sprangen, blieb ich der Flop.

Und auch sonst: Ich war immer schlecht in Sport. Bis heute. Stellt sich mir auf einer Radtour ein Hügel in den Weg, fahre ich lieber einen zehn Kilometer langen Umweg, als dass ich mich der unsinnigen Quälerei des Hochfahrens stelle. Auch mein heißgeliebtes E-Bike hat im Grunde daran wenig geändert.

Schon damals konnte ich also mit meiner sportlichen Leistung meine Mitschüler und vor allen Dingen meine Mitschülerinnen nicht wirklich beeindrucken. Daher musste ich mich auf anderen Feldern beweisen. Humor konnte ich. Also wurde ich zum Klassenclown. Ständig nahm ich Politiker auf die Schippe, sehr zur Freude meiner Umwelt. Und ich merkte: Auch wenn ich nur wenig direkten Einfluss auf die Politik hatte, so konnte ich sie zumindest durch den Kakao ziehen. Und damit sogar manchmal die Mädels beeindrucken.

Und nun, hier im Taxi, mit der triumphierenden lilablassblau getönten Dame auf dem Rücksitz, dem Prototyp der ewig bürgerlichen Unions-Wählerin, reifte in mir der Gedanke: Ich würde von nun an alles tun, um die Regierungszeit dieser übergewichtigen Comicfigur mit der seltsam verschatteten eckigen Brille so kurz wie möglich zu halten. Mit dem scharfen Schwert des Spottes würde ich die Unfähigkeit dieses Scheinriesen entlarven. Ein paar Witze, und dann wäre Helmut Kohl Geschichte. So stellte ich mir die Wirkmacht des Kabaretts damals vor. Gott, was waren wir in unserem jugendlichen Sturm und Drang naiv.

An diesem Tag im Oktober fasste ich den Entschluss, mich fortan ernsthaft als Kabarettist zu versuchen. Durch eine glückliche Fügung sollte ich nur einen Monat später die Chance bekommen, mich auch realiter auf der Bühne beweisen zu dürfen.

Kohl und Kohle

Während meines Zivildienstes beim Malteser Hilfsdienst erheiterte ich in der Wache auch meine Kollegen mit kurzen parodistischen Einlagen. Dort lernte ich Klaus Staab kennen, der hauptberuflich als Sanitäter arbeitete, nebenbei aber auch als Liedermacher auftrat. Gemeinsam mit Norbert Meidhof und Reinhard Paczesny bildete er das Trio »Die drei Musiktiere«.