Was Sie dachten, NIEMALS über CHINA wissen zu wollen - Martina Bölck - E-Book

Was Sie dachten, NIEMALS über CHINA wissen zu wollen E-Book

Martina Bölck

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Beschreibung

Wollten Sie schon immer mal wissen, wann die Chinesen eigentlich gelb wurden und welche Rolle Konfuzius heutzutage spielt? Oder interessiert es sie mehr, wie sich chinesische Eltern den idealen Schwiegersohn vorstellen, wie junge Chinesinnen schmollen, worüber man beim Smalltalk so redet und wie ein Leben ohne Google, Facebook und Co. funktioniert? Dieses Buch gibt Ihnen 55 Puzzleteile an die Hand, mit denen Sie Ihr Bild von China ergänzen können. Dabei werden Sie entdecken, dass das bevölkerungsreichste Land der Welt manchmal ganz anders ist, als man es sich vorstellt.

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Fernreisen fanden in der Kindheit von Martina Bölck eher im Kopf statt. Die Realität hieß Niederbayern, Schwarzwald oder Mecklenburg. Dass Reisen lebensveränderndes Potenzial haben kann, entdeckte sie zum ersten Mal mit 18 auf einer Interrailtour mit der besten Freundin durch Italien und Frankreich. Nach dem Studium (Germanistik und Psychologie) folgten längere Auslandsaufenthalte, ein halbes Jahr Buenos Aires, drei Monate Istanbul. Und schließlich fünf Jahre China. Dort versuchte sie, chinesischen Studierenden die deutsche Sprache und Kultur näherzubringen, fuhr in den Semesterferien kreuz und quer durchs Land – und lernte dabei auch viel über sich selbst. Seither reist sie immer wieder mal nach China, lernt weiterhin eifrig Schriftzeichen und beschäftigt sich in Vorträgen, Radiosendungen und Artikeln mit dem Land. Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit sind: alternative Lebensentwürfe jenseits von Konsum und Hektik, Lebensgeschichten von interessanten Frauen und die reizvollen Unwägbarkeiten interkultureller Begegnungen. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Hamburg.

MARTINA BÖLCK

Was Sie dachten

NIEMALS

über

CHINA

wissen zu wollen

55 süßsaure Einblickein ein Land mit vielen Menschen

© Conbook Medien GmbH, Neuss, 2022

Alle Rechte vorbehalten.

www.conbook-verlag.de

Einbandgestaltung: Weiß-Freiburg GmbH, Grafik und

Buchgestaltung unter Verwendung der Motive von Erena.Wilson/

Shutterstock.com

Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe

Druck und Verarbeitung: Multiprint, Bulgarien

Die in diesem Buch dargestellten Zusammenhänge, Erlebnisse und Thesen entstammen den Erfahrungen und/oder der Fantasie der Autorin und/oder geben ihre Sicht der Ereignisse wieder. Die genannten Fakten wurden mit größtmöglicher Sorgfalt recherchiert, eine Garantie für Richtigkeit und Vollständigkeit können aber weder der Verlag noch die Autorin übernehmen. LeserInnenmeinungen gerne an [email protected].

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INHALT

Vorwort

1. Menschen aus dem Ausland sind in China eine seltene Spezies

2. Beim Plaudern wird es in China schnell privat

3. Sind Menschen in China rücksichtslos oder höflich? Beides!

4. Selbst die anonymste Wohnsiedlung hat in China noch etwas Heimeliges

5. Ein gut geknüpftes Beziehungsnetz hilft in China in jeder Lebenslage

6. Freundschaften in China sind schön, manchmal aber auch ganz schön anstrengend

7. Im gesprochenen Chinesisch sind Läuse und Löwen schwer zu unterscheiden

8. In China bringen Fledermäuse Glück und 520 ist eine Liebeserklärung

9. In China dreht sich alles ums Essen

10. Wer sich vegetarisch ernährt, muss in China nicht auf Pekingente verzichten

11. In China kommen die meisten Götter ganz gut miteinander aus

12. Geld und Erfolg machen das Christentum in China attraktiv – und verdächtig

13. Für die Unterhaltung der Ahnen wird in China umfassend gesorgt

14. Seit wann sind »die Chinesen« eigentlich gelb?

15. Chinesinnen wünschen sich hohe Nasen und eine Haut wie Tofu

16. Die Revolution macht in China auch vor Klos nicht Halt

17. In China spuckt und rotzt man der Gesundheit zuliebe

18. Wie der chinesische Staat seine Bürgerinnen und Bürger zu besseren Menschen machen will

19. Ein Leben ohne Google und Co.? China macht’s möglich!

20. Der häufigste Rausch in China ist der Kaufrausch

21. In China ist nichts so sicher wie die Unsicherheit

22. Der Liebe zum chinesischen Vaterland muss manchmal ein bisschen nachgeholfen werden

23. »Konfuzius hat gesagt …« – wie der alte Philosoph in China wiederbelebt wird

24. China und Japan sollte man nicht in einen Topf werfen

25. Im chinesischen Fernsehen kämpfen die Kommunisten weiter – unterbrochen von Werbepausen

26. Auch Deutschland hat einen Beitrag zur chinesischen Fernsehkultur geleistet

27. Die meisten chinesischen Männer halten sich für Loser

– Warum Sie immer wieder nach China reisen sollten

28. Junge Chinesinnen beherrschen die Kunst des Schmollens

29. Bei den Frauenbildern haben Chinesinnen die Qual der Wahl

30. In China ist Kindesliebe Gesetz

31. Chinesische Eltern wissen, was gut für ihr Kind ist. Glauben sie.

32.Ode an die Freude ist in China eine Fernsehserie

33. Die chinesische Weltliteratur ist im Westen noch nicht angekommen

34. Der gesellschaftliche Wandel in China macht an der Schlafzimmertür nicht halt

35. In China ist der Familienstand keine Privatangelegenheit

36. Das Frühlingsfest ist in China keineswegs nur Friede-Freude-jiaozi

37. In China feiert man Christmas beim Karaoke

38. Chinesische Hochzeitsfotos sind ein Stresstest für die Beziehung

39. Warum man eine chinesische Hochzeitstorte nicht unbedingt essen sollte

40. Chinesinnen lassen sich nach einer Geburt erst einmal richtig verwöhnen

41. Großeltern ersetzen in China die Kita – oder gleich die Eltern

42. In China legt sich die Familie gern mit auf die Couch

43. Heißes Wasser und Rückwärtsgehen gehören in China zu den lebensverlängernden Maßnahmen

44. Öffentliches Schlafen ist in China an der Tagesordnung

45. Chinesische Schulkinder sind auf Hochleistung getrimmt

46. Chinesische Schriftzeichen sind faszinierend, nervig und ein schönes Hobby

47. Ums Auswendiglernen kommt man in China nicht herum

48. Die Kunst des Kopierens hat in China Tradition

49. Chinesische Reisegruppen haben wenig Zeit und brauchen heißes Wasser

50. In China liebt man den Rummel – auch auf heiligen Bergen

51. Solange sie singen und tanzen, sind nationale Minderheiten in China beliebt

52. Neue Altstadtviertel verschönern Chinas Städte

53. In China hat man ein Faible für Zahlen und Rankings

54. In China kann man mit vier Silben eine Geschichte erzählen

55. Eine List anzuwenden ist in China ein Zeichen von Intelligenz

VORWORT

Als mein Mann und ich uns 2002 entschlossen, nach China zu gehen, passte unser Wissen über dieses Land auf vier kleine Notizzettel. Als wir uns ein Jahr später auf den Weg machten, wussten wir schon etwas mehr. Ich unterrichtete in Beijing an einer chinesischen Universität Germanistikstudierende in deutscher Sprache und Landeskunde. Am meisten lernte ich jedoch selbst. In den Semesterferien hatten wir wochenlang Zeit, durch das Land zu reisen und auch das China außerhalb der großen Städte kennenzulernen. Aus den ursprünglich geplanten zwei Jahren im Ausland wurden schließlich fünf. Seither hat mich China nicht mehr losgelassen. Ich habe ein Buch über die Zeit dort geschrieben, bin mehrmals wieder hingefahren, habe in Artikeln und Vorträgen über das Land berichtet, mich mit der Geschichte der Deutschen in China beschäftigt und mich in die Philosophie vertieft. Nicht zuletzt ist mir das Land wegen der Menschen, mit denen ich dort Freundschaft schließen konnte, ans Herz gewachsen.

»Nach einer Woche in einem Land kann man viel erzählen«, meinte einmal eine Bekannte, »aber man versteht eigentlich nichts. Nach fünf Jahren weiß man so viel, dass man sich kein Urteil mehr zutraut.« Ich finde, das stimmt. Je tiefer man in ein Land eintaucht, desto vielfältiger, widersprüchlicher und dadurch auch interessanter erscheint es. Das gilt generell, umso mehr aber für ein Land, das so groß ist und sich in den letzten Jahrzehnten so stark verändert hat wie China.

Dieses Buch ist denn auch nicht als »Gebrauchsanweisung« gedacht oder als Buch über »die Chinesen«. Es will vielmehr die Vorstellungen von China um 55 Puzzleteile aus den unterschiedlichsten Bereichen ergänzen, Neugier wecken und dazu anregen, sich selbst ein Bild zu machen.

1Umgang mit Fremden

MENSCHEN AUS DEMAUSLAND SIND INCHINA EINE SELTENESPEZIES

Wer aus dem westlichen Ausland kommt und in China unterwegs ist, fällt auf. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Wobei der Grad des Aufsehens variiert. In abgelegenen ländlichen Gebieten erzeugt man möglicherweise Menschenaufläufe, in Städten wird man vielleicht nur angestarrt, in Metropolen oder Tourismusgebieten kann man sich einbilden, in der Menge unterzugehen. Aber selbst in Beijing kann es passieren, dass plötzlich ein kleines Mädchen mit dem Finger auf einen zeigt und laut ruft: »Mama, waiguoren! Ausländer!«

Was daran liegt, dass Menschen aus dem Ausland eine sehr seltene Spezies sind. In ganz China leben nur etwa 800.000 von ihnen, meist in den Metropolen, das sind nicht einmal 0,06 Prozent der Bevölkerung! Durch die Corona-Pandemie dürften es noch weniger geworden sein. (Zum Vergleich: In Deutschland leben elf Millionen, das sind 13 Prozent der Bevölkerung.) Die meisten Menschen in China kennen diese Raritäten nur aus dem Fernsehen. Wenn also irgendwo im Hinterland jemand die seltene Gelegenheit hat, ein lebendes, frei herumlaufendes Exemplar zu erblicken, dann muss die Gelegenheit genutzt und am besten gleich durch ein Beweis-Selfie mit ihm dokumentiert werden. Während man in Deutschland tendenziell dazu neigt, Fremde zu ignorieren, hat man in China deutlich weniger Probleme, Neugier zu zeigen. Das kann anstrengend sein, aber diese freundliche Zudringlichkeit macht es auch einfach, zumindest oberflächlich in Kontakt zu kommen – was vor nicht allzu langer Zeit kaum denkbar war. Noch bis in die 1980er Jahre hinein waren Kontakte mit Menschen aus dem Ausland grundsätzlich verdächtig und wurden streng überwacht. Heute wird ihnen überall »Hällo!« hinterhergerufen, »Hällo, welcome to China«. Stolze Eltern schicken ihre Kinder vor, damit diese ihre Englischkenntnisse zeigen können. »How are you?« Verfügen die Fremden wenigstens über rudimentäre chinesische Sprachkenntnisse, bekommen sie schnell Gelegenheit, diese zu üben. Wobei sich das Gegenüber in der Regel große Mühe gibt, auch aus stockendem Gestammel Sinn zu rekonstruieren.

Und dann gibt es noch die ganz, ganz wenigen Fremden, die perfekt Chinesisch sprechen und damit als besonders seltene Exemplare ihrer Spezies landesweite Berühmtheit erlangt haben. Allen voran der Kanadier Da Shan, mit bürgerlichem Namen Mark Rowswell. Er wurde bekannt, als er Ende der 1980er Jahre, während seines Studiums an der Beijing Universität, zum ersten Mal mit einem Sketch bei der CCTV-Neujahrsgala (siehe Kapitel 36) auftrat. Angeblich spricht er besser Mandarin als viele Einheimische. Inzwischen machte er sich als Comedian einen Namen, übernahm Rollen in Fernsehserien und Theaterstücken und lächelt in traditioneller chinesischer Kleidung von zahlreichen Sprachlehrbüchern. Bei den Olympischen Spielen 2008 durfte er sogar eine kurze Strecke die Fackel tragen.

Dank der neuen sozialen Medien braucht man jedoch heutzutage keine Neujahrsgala mehr, um populär zu werden. Thomas Derksen hatte als fröhlicher dicker Deutscher namens Afu Millionen von Followern im chinesischen Netz. Während Da Shan oft im langen Gewand eines alten chinesischen Gelehrten auftritt, schlüpfte Afu ohne Berührungsängste in die verschiedensten Verkleidungen und parodierte humorvoll chinesische Stereotypen und das Alltagsleben mit seiner chinesischen Familie in Shanghai. Damit wurden er und seine Frau, die der kreative Kopf hinter den Videos ist, zu (nicht nur) lokalen Berühmtheiten. Als Kulturvermittler durfte Afu auch schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2018 auf einer Chinareise begleiten. In Deutschland kann man einige seiner Videos auf YouTube sehen, außerdem hat er zwei Bücher über seine Erlebnisse geschrieben: Und täglich grüßt der Tigervater. Als deutscher Schwiegersohn in China (2019) und Kartoffelbrei mit Stäbchen. Drei Chinesen, fünf Länder, sieben Tage (2021) über eine Europareise mit Frau und Schwiegereltern. Mittlerweile ist Afu sehr viel schlanker geworden und seine Videos kommen »seriöser« daher. Doch es ist ihm – wie auch Da Shan – weiterhin wichtig, Brücken zu bauen und sowohl dem Heimatland als auch der Wahlheimat etwas von der jeweils anderen Seite zu vermitteln.

Diese seltenen Exemplare verdanken ihren Erfolg der Tatsache, dass sie Ausländer sind. Und es auch bleiben. Wie all die anderen, egal wie lange sie schon in China leben und arbeiten. Wer in eine einheimische Familie eingeheiratet hat und enge chinesische Freundinnen und Freunde besitzt, kann das im privaten Umfeld vielleicht manchmal vergessen. Aber egal wie gut man sich in China auskennt und wie vertraut und heimisch man sich fühlt, sobald man auf die Straße geht und all die Blicke auf sich gerichtet fühlt, ist man wieder eine Fremde oder ein Fremder, bestenfalls ein Gast. »Welcome to China!«

Aber

Die beschriebene freundliche Neugier bezieht sich vorwiegend auf Weiße aus dem westlichen Ausland. Schwarze, vor allem aus Afrika, haben sehr viel stärker mit Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen, wie sich u. a. in rassistischen Vorfällen im Frühjahr 2020 in Guangzhou zeigte, nachdem mehrere Nigerianer positiv auf Corona getestet worden waren. Während man im restlichen China kaum auf Schwarze trifft, hat sich im südchinesischen Guangzhou seit Ende der 1990er Jahre die größte afrikanische Community Asiens angesiedelt. Die meisten leben vom Handel. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 20.000 (offiziell) und dem Zehnfachen, da viele nach dem Ablauf ihres Visums untertauchen.

2Small Talk

BEIM PLAUDERNWIRD ES IN CHINASCHNELL PRIVAT

Wer erkennbar fremd ist, kommt, wie gesagt, schnell ins Gespräch. Vor allem lange Zugfahrten, wenn man sich ohnehin langweilt, eng beieinandersitzt und die Zeit herumkriegen muss, bieten sich für eine Plauderei an. Für Chinesischlernende sind diese Small-Talk-Situationen ideal, weil eigentlich immer dasselbe gefragt wird, sodass sie mit der Zeit die Antworten perfektionieren und probeweise variieren können. Die Themen weichen dabei etwas von einem unverbindlichen Gespräch in Deutschland ab. Wie alt man ist, will das Gegenüber oft wissen, ob man verheiratet ist und Kinder hat. Und wenn ja, wie viele. Wer sich als kinderlos outet, kann übrigens durchaus mit einem verständnisvollen Nicken rechnen. Ja, ja, Kinder machen Mühe und kosten viel Geld. Die nächste Frage ist dann meist schon, welchen Beruf man hat und wie viel man verdient. Wer hier keine Lust hat, ehrlich zu antworten, sollte sich vorher schon eine Antwort überlegen und zum Beispiel das durchschnittliche Einkommen eines höheren Angestellten nennen. Natürlich kommt auch oft die Frage, wie einem China gefällt. Die Antwort lautet grundsätzlich: gut. Als Belege können das leckere Essen, die schönen Landschaften, die netten Menschen oder auch die grandiosen Zugverbindungen herhalten. Selbst wenn das Gegenüber dann über China oder die Stadt, in der man sich gerade aufhält, schimpfen sollte, ist Zustimmung nicht unbedingt erwünscht. Ein lockeres Gespräch ist nicht der Ort für politische Diskussionen oder gar besserwisserische Ratschläge. Politik ist generell ein sensibles Thema, vor allem die drei T (Tibet, Taiwan und Tian’anmen-Massaker) sollte man lieber vermeiden. Dafür darf man sich jedoch gerne auch nach dem Alter, den Kindern und dem Verdienst erkundigen.

Die allererste Frage ist natürlich fast immer, woher man kommt. Deutsche haben hier ausnahmsweise Glück, ihr Land hat in China einen guten Ruf. Die Deutschen gelten als ehrlich, fleißig, gewissenhaft, pünktlich, wenn auch als etwas ernst und humorlos, die üblichen Klischees eben. Auch die Tatsache, dass Deutschland auf Chinesisch Deguo heißt, wobei de das Zeichen für »Tugend« ist, »Tugendland« also, mag einen gewissen Einfluss auf die Einstellung dem Land gegenüber haben. Taxifahrer kommen gern auf deutsche Automarken zu sprechen, Fußball ist ein weiterer Anknüpfungspunkt. Erstaunlich viele kennen sich in der deutschen Bundesliga aus (die in China übertragen wird), bis hin zu den Namen einzelner Spieler. Manchmal kommt das Gespräch auch auf die deutsche Geschichte, die Teilung, die Wiedervereinigung. Man wird dafür gelobt, dass Deutschland sich – anders als Japan (siehe Kapitel 24) – für seine Kriegsverbrechen entschuldigt hat.

Wer irgendwann keine Lust mehr hat, die immer gleichen Stereotype zu hören oder sich weder mit Autos noch Fußball auskennt, kann einfach behaupten, beispielsweise aus Island zu kommen. Dann ist das Gespräch meist beendet, denn wer weiß schon etwas über Island?

3Umgangsformen

SIND MENSCHEN INCHINA RÜCKSICHTSLOSODER HOFLICH? BEIDES!

Das Bild vom geheimnisvoll lächelnden, überaus höflichen Chinesen, der sich lieber umbringen würde, als seinem Gegenüber eine unangenehme Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wird in Europa allmählich vom Bild des rüpelhaften, rücksichtslosen, spuckenden, lauten Bewohners der Volksrepublik verdrängt. Wer in China gereist ist, kennt es: Menschen, die ohne Rücksicht auf Aussteigende in die U-Bahn stürmen, beim Schlangestehen schubsen und sich vordrängeln, ihren Müll einfach auf die Straße werfen, Servicekräfte herrisch anfahren und dergleichen unangenehme Verhaltensweisen mehr an den Tag legen. Auf der anderen Seite erlebt man auch immer wieder überwältigende Großzügigkeit und rücksichtsvolle Freundlichkeit. Man wird eingeladen und herumgeführt, beschenkt und mit Komplimenten überhäuft. Ja, was denn nun?

Der Widerspruch erklärt sich daraus, dass Höflichkeit in China keine feste Größe ist, sondern ein Rollenverhalten, das vom Gegenüber und von der Situation abhängt. Ein chinesischer Bekannter hat es einmal so erklärt: Man stelle sich einen Punkt vor und drum herum drei Kreise. Der innere Kreis steht für die Familie und die wirklich nahen Freundinnen und Freunde. Hier muss man nicht unbedingt höflich sein. Viele finden es eher befremdlich, dass man in Deutschland ständig »Danke« und »Bitte« sagt, sogar in der Familie. Das klingt in ihren Ohren sehr förmlich. »Jetzt bedank dich doch nicht dauernd, wir sind doch Freunde!«, bekommt man zu hören. In diesem inneren Kreis kann man ehrlich zueinander sein und auch mal derbe Späße treiben. Zu Leuten aus dem äußeren Kreis, die man nicht kennt und mit denen man nichts weiter zu tun hat, muss man auch nicht höflich sein. Das erklärt das Verhalten im öffentlichen Raum. Schwierig und kompliziert wird es im zweiten Kreis, zu dem die weniger engen Freundinnen und Freunde, Bekannte und Bekannte von Bekannten, Leute aus der Nachbarschaft, Geschäftspartner, Kolleginnen etc. zählen. Hier gelten die Konzepte der chinesischen Höflichkeit: Man gibt sich bescheiden und zurückhaltend, macht Komplimente, ist großzügig, kämpft im Restaurant um die Rechnung, verteilt Geschenke, achtet darauf, dass niemand sein Gesicht verliert, stellt Harmonie her, lehnt etwas nicht direkt ab, übersieht taktvoll Fettnäpfchen, in die andere treten, und äußert seine Meinung nicht unverblümt.

Doch die Höflichkeitsvorstellungen erschließen sich Menschen aus dem westlichen Kulturkreis nicht immer unmittelbar, einige Fragen bleiben offen. Warum finden Studierende es angeblich unhöflich, nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben (es könnte ja ein schlechtes Licht auf die didaktischen Fähigkeiten der Lehrkraft werfen), halten es aber für unproblematisch, sich im Unterricht mit ihrem Smartphone zu beschäftigen oder sich gleich über den Tisch zu legen und einzuschlafen? Warum sagen Bekannte nicht direkt, dass sie eine Einladung nicht annehmen können oder wollen und lassen einen stattdessen am Partyabend lieber allein mit dem vorbereiteten Essen zu Hause sitzen? Oder kommen eine halbe Stunde zu früh, wenn man sich gerade noch umziehen und frisch machen will? Wie soll man herausbekommen, was jemand wirklich denkt? Und wie soll man damit umgehen, immer wieder überschwänglich für seine Sprachkenntnisse gelobt zu werden, nachdem man lediglich ni hao (»Hallo, Guten Tag«) gestammelt hat? Warum brechen nach einem schönen Essen im Restaurant alle plötzlich auf, obwohl man es sich doch jetzt gemütlich machen und plaudern könnte? Und nicht zuletzt: Was soll man bloß mit all den furchtbar kitschigen Geschenken anfangen, die man bei jeder Gelegenheit bekommt?

Praxistipp

Zu den Regeln chinesischer Höflichkeit gibt es viele interkulturelle Ratgeber, deshalb müssen sie an dieser Stelle nicht im Einzelnen aufgeführt werden. Wichtig ist generell, nicht nur auf den Inhalt des Gesagten, sondern auch auf den Kontext und auf nonverbale Signale zu achten. Wenn jemand auf einen Vorschlag mit »Ich denke darüber nach« reagiert, ist es relativ wahrscheinlich, dass er nicht davon begeistert ist. Auch Kritik sollte man vorsichtig formulieren (als Vorschlag, als »kleine« Änderung), es gibt sicher auch etwas zu loben. Hier ecken Deutsche nicht nur in China oft an. Das Wichtigste ist eine grundlegend zugewandte, interessierte und lernbereite Haltung. Dann wird einem auch manche Ungeschicklichkeit verziehen.

4Wohnformen

SELBST DIE ANONYMSTEWOHNSIEDLUNG HATIN CHINA NOCH ETWASHEIMELIGES

Hochhäuser über Hochhäuser, 17-stöckig und höher, in allen Stadien der Fertigstellung – die meisten chinesischen Städte sind von neu gebauten Apartmentsiedlungen umzingelt. In der Stadtmitte kann man sich manchmal des Gefühls nicht erwehren, von einer mächtigen Armee belagert zu werden, die langsam, aber unaufhaltsam vorrückt. Nähert man sich den Siedlungen, werden Unterschiede erkennbar. Die scheinbar so gleichförmigen, anonymen Bauten bilden Gruppen, die sich voneinander durch ein bestimmtes Bauelement, einen Farbton oder eine besondere Dachkonstruktion unterscheiden. Kommt man noch näher heran, stellt man fest, dass jede dieser Gruppen von einer Mauer umgeben ist. Die Zufahrtsstraßen werden von Schlagbäumen geschützt, Wachleute kontrollieren den Einlass, für Tore braucht man eine Karte oder einen Zahlencode. Wer es dennoch zuwege bringt, in das Innere der Siedlung zu gelangen, findet sich in einer eigenen Welt wieder. Kleine Geschäfte für den täglichen Bedarf, Restaurants und Imbissbuden, vielleicht ein Teich mit Seerosen und Ruhebänken, auf denen Senioren sitzen und miteinander plaudern, Sportgeräte, ein hübscher Platz, auf dem sich in der Dämmerung Tai-Chi- und Tanzgruppen treffen. Die Ausstattung ist von der Wohngegend und dem Preis der Wohnungen abhängig. Bei uns assoziiert man Plattenbauten und Hochhäuser oft mit sozialen Brennpunkten, in China sind diese Apartmentsiedlungen begehrte Wohnviertel für die Mittelschicht.

Der Gegensatz von innen und außen, von dem bei der Höflichkeit schon die Rede war (siehe Kapitel 3), hat eine Entsprechung in der Bauweise. Häuser, die sich mit ihrem »Gesicht«, mit Fenstern, Türen und Balkonen, der Straße zuwenden, sind keineswegs so selbstverständlich, wie man es aus Europa kennt. In vielen chinesischen Altstädten sind nur die lebhaften Geschäftsstraßen auf diese Weise angelegt, in den Wohnvierteln dazwischen verschließen sich die Häuser oft zu den Straßen hin. Die alten Gassen in Beijing sind von Mauern gesäumt, mit Pforten, die in das Innere führen, zu einem Innenhof, zu Gebäuden, in denen früher eine Großfamilie mit ihren Bediensteten ein abgeschirmtes Leben führen konnte. »Gestern Nacht schaute ich auf eine Stadt in China hinab, sagte der Mond. Meine Strahlen beschienen die langen, nackten Mauern, die die Straßen bilden; da und dort war ein Tor, aber es war verschlossen! Was kümmert einen Chinesen die Welt da draußen?«, schrieb Hans Christian Andersen 1864 in seinem Bilderbuch ohne Bilder.

In der Mao-Zeit wurde dann bis in die 1980er Jahre hinein die Arbeitsgemeinschaft, danwei, zur wichtigsten sozialen Einheit. Jede Fabrik, aber auch z. B. jede Klinik oder Universitätsfakultät war eine solche danwei. Sie verwaltete und kontrollierte ihre Mitglieder, versorgte sie mit Arbeit und Wohnraum, kümmerte sich um die Kinderbetreuung und die Krankenversorgung, stiftete Ehen und organisierte Freizeitveranstaltungen. Man gehörte ihr in der Regel ein Leben lang an und identifizierte sich mit ihr. Die Betriebe bauten Werkhaussiedlungen für ihre Angehörigen, aus der Einheit von Wohnen und Arbeiten entstanden dorfähnliche Minigemeinschaften. Noch heute gibt es in den Städten diese Siedlungen, auch sie von Mauern umgeben, Reihen von mittlerweile etwas heruntergekommenen fünf- bis sechsstöckigen Gebäuden mit kleinen Wohnungen. Wer dort lebt, kennt seine Nachbarinnen und Nachbarn oft schon jahrzehntelang, man hat zusammen gearbeitet und sich beim Älterwerden zugesehen.

Heute ist die danwei zwar noch Verwaltungseinheit, hat aber längst ihre umfassende Bedeutung verloren. Die Zeiten lebenslanger Arbeitsplatzgarantien sind vorbei, die Zwangsverpflichtung auf einen Betrieb ebenso, die Gesellschaft ist flexibler und mobiler geworden. Man wohnt nicht mehr dort, wo man arbeitet, sondern nimmt lange Wege vom Stadtrand zum Arbeitsplatz in Kauf, dafür ist man auch nicht mehr der umfassenden sozialen Kontrolle der danwei ausgesetzt.

Doch auch die anonymen Apartmentsiedlungen, die um die Städte herum wachsen, lassen sich als Fortführung einer Bautradition sehen, die in der Abgrenzung gegenüber dem Außen versucht, nach innen eine Art von Gemeinschaft und Identität aufrechtzuerhalten. Etwas Heimeliges eben.

Harte Fakten

Chinas Städte sind in den letzten Jahrzehnten extrem gewachsen. Noch 1978 lebten nur knapp 18 Prozent der Bevölkerung in Städten, 2005 waren es rund 42 Prozent, inzwischen sind es fast 64 Prozent (über 900 Millionen Menschen). Die Städte explodierten dementsprechend. Zwischen 1990 und 2020 vervielfachte sich die Einwohnerzahl aller Städte, in Beijing stieg sie von 5,5 auf 19 Millionen, in Shanghai verdreifachte sie sich nahezu von 7,8 auf 21,9 Millionen. Teilweise noch extremer ist die Entwicklung in kleineren Städten wie dem »Weihnachtsdorf« Yiwu in der Provinz Zhejiang (siehe Kapitel 37). 2020 lebten dort 1,48 Millionen Menschen, rund zehnmal so viele wie 30 Jahre vorher.

5Soziale Beziehungen

EIN GUT GEKNÜPFTESBEZIEHUNGSNETZ HILFTIN CHINA IN JEDERLEBENSLAGE

Sie suchen einen neuen Job oder eine neue Wohnung? Sie brauchen zeitnah einen Termin bei einem guten Arzt, sind in einen Autounfall verwickelt oder müssen ein Zugticket während des Frühlingsfestes besorgen? Ihre Tochter benötigt einen Praktikumsplatz, und ihr Sohn sollte mit 30 allmählich eine Frau finden? Wer sich in China einer Schwierigkeit gegenübersieht, wird normalerweise als Erstes zum Telefon greifen und einen Bekannten anrufen, der weiterhelfen kann oder eine Bekannte hat, die eine Schwester hat, deren Schwiegermutter jemanden kennt, der Beziehungen hat. Guanxi heißt das Zauberwort, das chinesische Sesam-öffne-dich. Im Wörterbuch ist es simpel mit »Verbindung, Beziehung« übersetzt, aber die Bedeutung ist wesentlich vielschichtiger und schwankt zwischen Freundschaftsdienst, Vetternwirtschaft, Networking und Korruption, zwischen hilfsbereit und kriminell. Durch guanxi kann man an Dinge kommen, die man sonst nicht bekommen würde, und guanxi kann dazu führen, dass man Dinge für jemanden tun muss, die man eigentlich nicht tun möchte. Durch guanxi werden Menschen auf Posten gesetzt, für die sie nicht qualifiziert sind und auf denen sie keiner haben will. Es kann aber auch Türen öffnen, Projekte voranbringen oder sie überhaupt erst ermöglichen. Der guanxi