Was uns bleibt, ist jetzt - Ella Cornelsen - E-Book
SONDERANGEBOT

Was uns bleibt, ist jetzt E-Book

Ella Cornelsen

0,0
9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Selbst wenn wir alles vergessen, bleibt uns noch die Liebe

Vier ungleiche Geschwister finden nach langer Zeit wieder in ihrem Elternhaus zusammen: Sie müssen sich um ihre demente Mutter kümmern, während der Vater nach einem Sturz im Krankenhaus liegt. Fünf Tage nähern sie sich einander an und graben in Erinnerungen, wobei Familiengeheimnisse ans Licht kommen, die jahrzehntelang verschwiegen wurden. Was zum Beispiel hat es auf sich, mit dem Satz „man muss vergessen können", den das Geschwisterquartett schon während der Kindheit ständig von der Mutter hörte? Und was ist damals, 1976, als das Familienleben aus den Fugen geriet, wirklich passiert?

Inspiriert von ihrer eigenen Geschichte erzählt Ella Cornelsen davon, wie eine Familie auch in schwierigen Zeiten zusammenhalten kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 424

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch:

Vier ungleiche Geschwister finden nach langer Zeit wieder in ihrem Elternhaus zusammen: Sie müssen sich um ihre demente Mutter kümmern, während der Vater nach einem Sturz im Krankenhaus liegt. Fünf Tage nähern sie sich einander an und graben in Erinnerungen, wobei Familiengeheimnisse ans Licht kommen, die jahrzehntelang verschwiegen wurden. Was zum Beispiel hat es auf sich, mit dem Satz »Man muss vergessen können«, den das Geschwisterquartett schon während der Kindheit ständig von der Mutter hörte? Und was ist damals, 1976, als das Familienleben aus den Fugen geriet, wirklich passiert?

Autorin:

Ella Cornelsen, geboren 1958, ist mit mehreren Geschwistern aufgewachsen und hat in Tübingen studiert. Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt heute mit ihrer Familie in Stuttgart, wo sie auch in Sachen Kultur als Botschafterin unterwegs ist. Sie schreibt von Kind auf aus Leidenschaft, malt, singt und macht Musik. Ella Cornelsen ist gern in der Natur unterwegs, liebt alte Bäume, weite Landschaften, tropische Regenwälder und bunte Vögel. »Was uns bleibt, ist jetzt« ist ihr erster Roman im Limes Verlag. 

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

ELLA CORNELSEN

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2021 by Ella Cornelsen

© 2021 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Abdruck des Zitats von Erich Kästner mit freundlicher Genehmigung des Atrium Verlags: © Atrium Verlag AG, Zürich 2021

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Shutterstock.com (Msnty studioX; MyStocks)

©Summer_Candy/Shutterstock

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27867-0V003

www.limes-verlag.de

Für meine Mutter – auch wenn sie dieses Buch nicht mehr lesen kann

»Es gibt Erinnerungen, die man, wie einen Schatz in Kriegszeiten, so gut vergräbt, dass man selber sie nicht wiederfindet.«

Erich Kästner

Dienstag, 1. November 2016

»Maman! Maman, wo bist du?«

Mutter ist weg. Ich weiß es, noch bevor ich in alle Räume sehe.

Vom Brandgeruch bin ich wach geworden. Bin aus dem Bett geschossen. Die Treppe hochgerannt. Im Flur steht die Haustür offen. Aus der angelehnten Küchentür dringt Rauch. Die ganze Küche ist voller Qualm. Er kommt vom Herd. Genauer gesagt aus dem Backofen. Dort kokelt irgendetwas im Römertopf, ich kann nicht sehen, was. Es stinkt nach verbranntem Stoff. Als ich die Tür zur Bratröhre einen Spalt aufziehe, schießt innen eine Stichflamme empor. Ich schalte den Backofen aus. Kippe einen Topf mit Wasser in die Bratröhre. Schütte mehrmals Wasser nach, bis das Feuer tot ist. Ich schnappe mir zwei Topflappen und hole den Römertopf aus dem Backofen. Mehrere, fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannte gefaltete Stoffstücke liegen darin übereinander. Geschirrtücher. Maman, die Frühaufsteherin, hat Geschirrtuchbraten gemacht, so wie sie früher in aller Herrgottsfrühe, wenn wir Kinder noch geschlafen haben, ihre Sonntagsbraten angesetzt und in die Röhre geschoben hat, wo sie dann bis zum Mittag bei kleiner Hitze gar geworden sind.

Jetzt stehe ich im Flur mit der offenen Haustür. Heißt das, dass Mutter weg ist? Ja, sage ich zu mir, das heißt es. Nachdem Maman ihren Braten auf den Weg gebracht hat, hat sie sich selbst auf den Weg gemacht und ist in den Morgen des ersten Novembers hinausgewandert. Ganz allein, ohne dass Ate, Severin, Vinzenz und ich etwas gemerkt haben. Ich stecke den Kopf aus der Tür, blicke nach rechts und links. Feiertagsstille, niemand ist unterwegs. Die Welt sieht aus wie ein verblichenes Schwarz-Weiß-Foto, eine müde, steinalte Welt, fertig mit allem und sich selbst.

Mein Gott! Nachdem ich die Küche gerettet habe, muss ich Maman retten.

Leben kommt in mich, ich mache kehrt, galoppiere die Treppe wieder hinunter ins Untergeschoss, um die anderen zu wecken. Nur meinen Sohn Rouven, der im Gästezimmer in der Einliegerwohnung übernachtet, lasse ich schlafen.

Vinzenz und Diana liegen eng umschlungen im Bett. Ich traue mich nicht, Vinz wach zu rütteln. So wie er da liegt, ist er nicht mein Bruder, sondern der Partner seiner Freundin, und ich darf ihn nicht berühren, nirgendwo, nicht einmal an der Schulter oder am Arm. Daher beschränke ich mich darauf zu verkünden: »Maman ist weg!«

Vinz fährt herum, reibt sich die Augen und sieht mich entgeistert an.

»Nach was riecht es hier?«, fragt er und setzt sich auf.

»Maman hat Geschirrtuchbraten gemacht, und jetzt ist sie verschwunden.«

»Ach du liebes Lottchen!« Vinz schwingt die Beine aus dem Bett. Beine, die zu lang sind für alles. Für das Bett, für jedes Bett, für die blaue Schlafanzughose, die er trägt, für alle Hosen. Vinz ist der Größte von uns Geschwistern, der Spätgeborene, der erst spät aufgehört hat zu wachsen.

»Verschwunden?«, fragt er mit gerunzelter Stirn. »Bist du sicher?«

Severin im Nachbarzimmer grunzt: »Schau mal auf dem Klo.«

Ich renne wieder nach oben. Ich sehe auf dem Klo nach. Maman ist nicht auf dem Klo. Sie ist nicht im Schlafzimmer und auch sonst nirgends im Haus. Mittlerweile stehen Ate, Severin und Vinz in ihren Pyjamas im Flur. Verschlafen.

»Scheiße!«, sagt Ate zu Severin. »Wir haben gestern Nacht vergessen abzuschließen.«

»Ich dachte, du machst es«, sagt Severin.

»Ich dachte, du.«

»Ihr alter Trenchcoat fehlt«, ich deute auf die Garderobe. Dort hängt nur ihre neue dunkelblaue Daunenjacke.

»Ach du liebes Lottchen«, entfährt es Vinz wieder. Als würde er erst jetzt realisieren, dass Maman tatsächlich weg ist.

»Weit kann sie nicht sein«, meint Ate nüchtern, »so ungern, wie sie läuft.«

»Sie läuft nur ungern, wenn andere wollen, dass sie läuft«, sagt Vinz. »Sie hat sich in den Kopf gesetzt, nicht zu wollen, was andere wollen. Das ist die einzige Freiheit, die ihr Kopf noch hat. Wenn andere nicht wollen, dass sie läuft, kann sie laufen wie eine frisch aufgezogene Uhr.«

»Auch ohne Gehwagen?«, fragt Ate.

Mamans Gehwagen steht brav neben der Garderobe.

»Auch ohne Gehwagen«, sagt Vinz.

»Was jetzt?«, frage ich.

»Wir suchen rund ums Haus.«

»Im Schlafanzug, ja?«

Wir jagen die Treppe hinunter in unsere alten Kinderzimmer.

Dienstag, 25. Oktober 2016

Angefangen hat es eine Woche zuvor.

Vinzenz hatte einen Rundruf gemacht. Wie jeden Dienstag hatte er unsere Eltern in ihrem Haus in Möckingen angerufen. Sie sind fünfundachtzig und sechsundachtzig, in dem Alter, in dem es für einen Menschen unsicher wird, dass der nächste Tag endet wie der letzte, dass man abends genauso zu Bett geht, wie man morgens aufgestanden ist, und dass man am nächsten Morgen wieder so aufsteht, wie man abends zuvor schlafen gegangen ist. Unsere Mutter ist seit einigen Jahren dabei, ihr Gedächtnis zu verlieren, und hat sich zu der immer größer werdenden Gemeinde der Vergesslichen gesellt, eine Gemeinde, die nicht weiß, dass es sie gibt, und in der keiner vom anderen weiß. Abgesehen von ihrem Vergessen ist meine Mutter von robuster körperlicher Konstitution, ihr Herz eine unverwüstliche Maschine, die wahrscheinlich auch noch nach ihrem Ableben weitertuckern wird. Mein Vater dagegen wird von Tag zu Tag gebrechlicher, sein Gedächtnis allerdings ist vollkommen intakt, und deswegen hat er bis dato meine Mutter gepflegt. Pflege oder was sich so nennt, bleibt immer an denen hängen, die noch bei klarem Verstand sind, die die Uhr lesen und ein Telefon bedienen können, die einen Herd ein- und zur richtigen Zeit wieder ausschalten können. Fürsorge bleibt an denen hängen, die wissen, wo in der Küche Salz und Zucker stehen, wo Salz und Zucker im Supermarkt stehen und welches der Weg zum Supermarkt ist, selbst wenn sie so schlecht zu Fuß sind, dass sie diesen Weg kaum mehr zurücklegen können. Mein Vater sorgte dafür, dass Lebensmittel im Haus waren und Essen auf den Tisch kam; er stellte unsere Mutter unter die Dusche – wenigstens gelegentlich – und begleitete sie sehr regelmäßig zur Toilette. Er wusch ihre Wäsche und sagte zu ihr, wenn sie mitten in der Nacht aufstand, um zu frühstücken oder wegzugehen: Liebling, leg dich wieder hin. (Er sagt jetzt oft Liebling zu ihr, viel häufiger, als er es früher getan hat.)

Wir telefonierten jeden Tag mit meinen Eltern in dem großen Haus in Möckingen, um uns zu vergewissern, dass alles beim Alten war, dass unsere Eltern sich dort bewegten, wie sie sich immer bewegt hatten, auch wenn sie es jetzt langsamer taten als früher. Wir wechselten uns ab mit dem Telefondienst, Sonntag und Mittwoch Severin, Montag und Donnerstag ich, Dienstag, Freitag und Samstag Vinzenz. Vinz ist Vaters Lieblingssohn. Severin ist Mutters Lieblingssohn. Ich bin niemandes Lieblingstochter. So wenig, wie Ate jemandes Lieblingstochter ist. Wir sind nur Töchter und uns als solche immer ein bisschen überflüssig vorgekommen – uns brauchte es nicht unbedingt. Ate, die Älteste von uns, ist 1958 geboren, ich kam sechs Jahre nach ihr; es war eine Zeit, in der Eltern nur auf Söhne stolz waren, darauf, dass diese es geschafft hatten, als Jungs zur Welt zu kommen. Vielleicht waren sie auch auf sich selbst stolz, darauf, dass es ihnen gelungen war, Stammhalter zu produzieren, die einst den Namen weitertragen würden: Severin, Sandwich-Kind zwischen Ate und mir, und Vinzenz, Nesthäkchen und Nachzügler in der Geschwisterreihe. Auch wenn ich niemandes Lieblingstochter, sondern nur Tochter war, rief ich, ebenso wie meine Brüder, die Lieblingssöhne, meine Eltern zweimal in der Woche an. Ate rief nicht an. Oder doch kaum jemals. Nicht die Eltern, selten jemanden von uns Geschwistern.

Als ich Vinz vergangenen Dienstag gegen Mittag auf meiner Mailbox hatte (»Melde dich bitte bei mir, es ist dringend!«), wusste ich sofort, dass etwas passiert war. Vinzenz hatte bei seinem Anruf wohl unsere Mutter, aber nicht unseren Vater erreicht. Unsere Mutter lallte Konfuses, ehe sie den Telefonhörer nicht richtig auf die Gabel legte, und so fuhr Vinzenz, der es von seinem Wohnsitz in Karlsruhe aus weniger weit hat als wir anderen, nach Möckingen zu unserem Elternhaus, wo er unseren Vater in der Küche auf dem Fußboden kauernd vorfand, unfähig, wieder auf die Beine zu kommen – mutmaßlich mit einem Oberschenkelhalsbruch. Er rief eine Ambulanz, die feststellte, dass der mutmaßliche Oberschenkelhalsbruch ein tatsächlicher war, und Vater in die Notaufnahme des Kreiskrankenhauses brachte. Dann kümmerte sich Vinzenz um unsere Mutter. Er verständigte zuerst Severin und dann mich.

Er berichtete mir, dass Vater im Lauf des Tages operiert und der Bruch mit zwei Schrauben zusammengefügt werden sollte.

»Ich schaue später noch einmal nach ihm«, versprach er. Dann fragte er, ob ich Ates Nummer hätte.

Ich scrollte in den Kontakten meines Handys, fand zwei Mobilnummern und gab ihm beide. Es war ein halbes Jahr her, dass ich mit Ate telefoniert hatte.

»Probier’s mal«, sagte ich, »keine Ahnung, ob sie nicht vielleicht schon wieder eine neue hat.«

»Wir müssen jetzt zusammenhelfen«, sagte Vinz, »wir müssen zusammenhalten, wann kannst du nach Möckingen kommen?« Vinz redet oft vom Zusammenhalten, seine Stimme bekommt einen eindringlichen, ja beschwörenden Ton dabei, als hätte er uns Geschwistern eine wichtige Erkenntnis voraus. »Wir müssen überlegen, was wir mit Maman machen.«

»Wie wäre es mit Kurzzeitpflege?«, schlug ich vor. »Sankt-Anna-Stift?« Das Möckinger Alten- und Pflegeheim mit dem markanten Turm, das früher ein Heim für schwererziehbare Jungs und noch viel früher ein Benediktinerkloster gewesen war. Dort hatten wir Mutter schon einmal für eine halbe Woche untergebracht, als Vater in die Klinik hatte einrücken müssen wegen Herzkammerflimmern.

»Ich habe dort angefragt«, erklärte Vinz, »sie haben derzeit keinen Platz. Ich kann die Woche freinehmen.«

Ich wunderte mich, wie schnell Vinz bereit war, in unserem Elternhaus die Stellung zu halten. Er ist zu jung, um so viel Zeit zu haben, mehr als wir anderen Geschwister, die schon auf ein langes Berufsleben zurückblicken. Gleichzeitig war ich dankbar für Vinz’ Altruismus, der mir ermöglichte, alles zu Ende zu bringen, was auf meinem Wochenplan stand. Im Wesentlichen war das eine Konferenz mit Flying Carpet, dem Veranstalter, bei dem ich als Reisebegleiterin arbeite, sowie meine beiden Englischkurse an der Volkshochschule mittwochabends, weshalb ich, sagte ich Vinz, erst Donnerstag kommen könnte. Ich habe einen einundzwanzigjährigen Sohn aus zweiter Ehe. Ich bin zweimal geschieden. Ich habe einen aufreibenden Job. Und außerdem noch einen. Ich habe keine Zeit. Auch in dieser Woche hatte ich keine. Ich hatte zu tun.

Vinz brummte. Es kam dann doch raus, dass auch er nicht unbegrenzt über Zeit verfügte.

»Wie lange kannst du bleiben?«, fragte er. »Ich muss am zweiten November wieder antreten.«

Vinzenz’ Spielplan ist unregelmäßig. Samstag und Sonntag sind häufig belegt bei ihm. Sein Auftritt in einem Berliner Kabarett sei abgesagt worden, erklärte er, sodass er an diesem letzten Oktober-Wochenende, das infolge des Feiertags Allerheiligen ein langes war, spielfrei hatte. Eine in diesem Fall glückliche Fügung, betonte er.

Ich überlegte. »Ich könnte bis nächste Woche Mittwoch bleiben, notfalls bis Donnerstag«, sagte ich, »maximal. Von Freitag bis Sonntag bin ich …« Ich wusste noch nicht, wo ich von Freitag bis Sonntag sein würde, mochte mich aber nicht auf so lange Zeit festlegen.

Doch der Umfang meines Angebots genügte, um Vinzenz’ Laune aufzuhellen. »Okay«, sagte er, »das hört sich gut an, das ist doch was. Vielleicht ist Paps bis dahin wieder aus der Klinik. Allerdings – einfacher wird es dann wohl kaum.« Er seufzte. »Severin kann ebenfalls ab Donnerstag kommen und bis Allerheiligen bleiben, wenn Gretchen für ihn im Restaurant übernimmt. Und Ate …«, seine Stimme endete ratlos im Nichts, bevor er fortfuhr: »Bei Ate, du kennst das ja, weiß man eh nie …«

Ich nickte wortlos, was Vinzenz durchs Telefon nicht sehen konnte. Nein, bei Ate, der Künstlerseele, wusste man nie. Bei Familienfesten war nie klar, ob sie kommen würde oder nicht. Sie schneite irgendwann herein, immer zur Unzeit, nie zur Zeit, nach dem Kaffee, während des Abendessens, um dann ebenso unversehens, wie sie aufgetaucht war, wieder zu verschwinden, zu einer Ausstellungseröffnung, einer Finissage, einem Workshop oder Ferienkurs, bei dem sie Lernwillige ins Aktzeichnen oder den Umgang mit Gouache und Eitempera einführte. Ein paarmal brachte sie zu unseren Familientreffen ihren jeweiligen Freund mit, es war jedes Mal ein neuer. Was mitunter daran lag, dass der alte mittlerweile gestorben war. Der eine, ein notorischer Raucher, an einem Herzinfarkt, der andere, der exzessivem Weißweingenuss zugetan und viel älter gewesen war als sie, an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das erfuhren wir zwischen den Zeilen, manchmal über fünf Ecken (von denen Ate selbst keine war, sie redete nicht gern darüber). Ate redete überhaupt wenig über die Männer, die sie hatte oder verloren hatte. Außer den Lebensgefährten, die der Tod hinweggerafft hatte, war das noch Bruno, der stumme Bruno aus Berlin, einer, der nie ein Wort redete. Auch Bruno, der Ate ein, zwei Mal begleitet hatte, war wieder weggeblieben. Und schließlich hatte es da noch Rico gegeben, Ates ersten Freund, dessen Auftauchen unser Familienleben während unserer Jugendjahre einen Sommer lang aufgemischt und aus den Angeln gehoben hatte. Als er verschwunden war, war eine Weile nichts mehr wie vorher gewesen.

Donnerstag, 27. Oktober 2016

1

An jenem Nachmittag machte ich mich mit meinem Peugeot auf den Weg.

Es roch nach Regen. Bis dahin war es ein so trockener Oktober gewesen. Ein Oktober mit Sonne, Sonne, Sonne und etwas Wind. Der Wind kam noch aus dem Sommer und raschelte mit dem Laub, das die Trockenheit hart und knusprig gemacht hatte. Nur die Spinnen mit ihren Silberfäden nähten bereits am Herbst und überzogen die Welt mit einem Netz aus Nostalgie. Ohne zu trauern, begann das Jahr, sich zu vergessen.

Bevor ich losfuhr, hatte ich zu Hause in Stuttgart alles hinter mich gebracht, was ich hinter mich bringen musste, die Konferenz von Flying Carpet und meinen Englisch-Unterricht, den ich in den Herbst- und Wintermonaten erteile, um mein Gehalt aufzubessern,ich hatte Schreibkram erledigt und den Haushalt in Ordnung gebracht. Ich hatte meinem Sohn Rouven von dem Malheur seines Großvaters erzählt. Rouven tat der Unfall leid. Er liebt seine Großeltern; insbesondere Grandmaman, die so viel mit ihm unternommen hat, wenn er als Junge bei ihr in Ferien war, ist ihm ans Herz gewachsen. Rouven, der eine Ausbildung am Theater macht, hatte über das lange Wochenende freibekommen. Er wollte seine Freundin Sara in Köln besuchen und vielleicht auf dem Rückweg in Möckingen vorbeikommen.

Ich fuhr vor sechzehn Uhr in Stuttgart los, um noch unbehelligt aus der Stadt zu gelangen. Aber überall, wo ich hinkam, war der Stau schon da. Donnerstagnachmittagstau. Im Stau bei Uppingen lernte ich einen Mann kennen. Er stand mit seinem Auto (Marke Volvo oder Skoda, irgendetwas Nordisches) in der Schlange auf der anderen Seite. Typisch, die Männer, die ich kennenlerne und die dann manchmal meine Männer werden, stehen immer auf der anderen Seite.

Cornelius, meinem ersten Mann, fiel ein, dass er schwul war, nachdem wir ein paar Jahre glücklichen und nicht eben spärlichen Sex gehabt hatten.

Martin, mein zweiter Mann, Rouvens Vater, wohnte in dem Hochhaus am Stuttgarter Stadtrand, in dem ich damals eine Zweizimmerwohnung hatte, auf dem gleichen Stock wie ich. Er war Landtagsabgeordneter einer Partei, die ich nicht mochte. An Martin Heitkamp gefiel mir lange Zeit nichts außer seinem Namen, ehe ich eines Nachmittags beim Nachhausekommen zusammen mit ihm im Fahrstuhl stecken blieb.

Vor und zwischen meinen beiden Ehen tat ich mich mit Männern zusammen, die in einer Bar auf der anderen Seite der Theke oder in meiner Branche in einem anderen Servicebereich arbeiteten. Eineinhalb Jahre lang war ich mit Felix, einem Busfahrer aus München, befreundet, ein paar Monate mit Maurizio, dem Restaurantmanager eines großen Hotels in Palermo. Immer wieder bei all diesen Beziehungen habe ich versucht, die Seite zu wechseln oder doch bis zur Mitte zu gehen; die Betreffenden kamen mir entgegen, aber nie besonders weit.

Der Mann, der am Nachmittag des 27. Oktobers auf der anderen Straßenseite in der Gegenrichtung und mir genau gegenüber im Stau stand, hatte den Arm in das offene Wagenfenster gelegt und den Kopf in die linke Hand gestützt. Er hatte eine kleine Tätowierung auf dem Unterarm, ich erkannte das Wort Jazz. Ich mag keine Tätowierungen, auch keine kleinen. Ich mag Jazz, aber nicht als Tattoo auf dem Unterarm. Noch lieber als Jazz mag ich Blues. Der Mann im Stau auf der anderen Straßenseite hörte Jazz. Es war »Autumn Leaves«.

»Du bist hübsch«, rief er mir zu, und dann fragte er mich, ob ich ihm meine Handynummer geben würde. Ich grinste und schüttelte den Kopf. Er grinste auch, ein lausbubenhaftes, zugleich sanftes Grinsen, mehr ein Lächeln. Er hatte langes braunes, von einem Mittelscheitel geteiltes Haar und sah furchtbar jung aus – aber auf eine Art, wie die jungen Männer aussahen, als ich selbst jung war.

»Sei nicht so«, schmeichelte er, »gib mir deine Nummer.«

»Ja, vor allem.« Ich musste lachen. Und dachte plötzlich: Warum eigentlich nicht. Seine Beharrlichkeit schmeichelte mir. Und dann war da eine klitzekleine Regung in mir, die Angst, später etwas bedauern zu müssen. Der Mann gefiel mir, und ich würde ihn nie wiederfinden, wenn ich ihn jetzt abblitzen ließe.

Im Stau ging es nicht weiter. Aber mit dem Wetter ging es weiter. Dicke Regentropfen fielen, die ersten seit mehreren Wochen.

Seit Martin Leine gezogen hat, lebe ich mit meinem Sohn Rouven allein in einer Wohnung, die zu groß ist für uns beide. Ich schlafe in einem Bett, das ebenfalls zu groß für mich ist; selbst meine Träume verlieren sich darin. Ich träume von meinen Reisen, Städtetouren in Deutschland und Italien, manchmal einem Mittelamerika-Trip. Ich träume von meinen Reiseteilnehmern, begüterten Amerikanern, die meist interessiert und unkompliziert sind, manchmal aber weder das eine noch das andere. Dann verfolgen mich ihre Beschwerden, die beleidigten Klagen, das Jammern auf hohem Niveau zuweilen noch lange, nachdem eine Reise zu Ende ist.

Wenn ich nach Hause komme, ist Rouven manchmal da, oft aber auch nicht. Ich genieße es, dass mein Sohn noch bei mir wohnt, weiß aber, dass es sich dabei um eine Frist handelt, die täglich schrumpft. Rouven soll die Lücke des nicht vorhandenen Mannes in meinem Leben nicht ausfüllen. Eines Tages wird er weggehen, wie ich einst selbst weggegangen bin aus meinem Elternhaus in Möckingen; er wird ein Zuhause haben, das nicht meines ist. Wie werde ich dann all die Räume mit Leben füllen? Ein einziges schlagendes Herz ist zu wenig dafür.

Ist Rouven bei meiner Rückkehr von einer Reise nicht daheim, dann nehme ich seinen zukünftigen Abschied vorweg und übe. Ich drehe die Heizungen hoch und lasse mir ein warmes Bad in die Wanne im Badezimmer ein, das ich mit bunten sizilianischen Fliesen von De Simone verschönert habe. Ich trinke heißen Tee aus bunten Mittelamerika-Tassen und lege feurige Musik in den CD-Player. Tassen, Tee und Töne wirken beruhigend auf mich und verhindern, dass ich mir in meinem Heim verlorener vorkomme als unterwegs auf Reisen.

2

Der Regen duftete nach sich selbst und war wie Erlösung. Wie Segen. Schon immer habe ich mir vorgestellt, dass Segen etwas Flüssiges ist. Kein Wunder, dass sich der Begriff auf das Wort Regen reimt. Auch der Stau hatte sich verflüssigt und aufgelöst. Der Mann mit dem Jazz-Tattoo auf dem Arm war in seine Richtung weitergefahren, mit meiner Mobilfunknummer in seinen Handykontakten, ich fuhr weiter in Richtung Möckingen. Ich hörte Radio, SWR 1 Hitparade. Die Moderatorin mit der Stimme, bei der man immer meint, sie hätte Schnupfen, kündigte »Love Of My Life« von Queenan. Während der Titel gespielt wurde, stellte ich mir vor, wie es wäre, mit dem fremden Mann ins Bett zu gehen, wie sich seine Hände auf meinen Hüften, auf meiner Brust anfühlen würden. Ich lachte vor mich hin. Sein Gesicht war sanft und freundlich. Dann vergaß ich ihn. Als ich Möckingen erreichte, kam mir die Begegnung mit ihm irreal vor, sodass ich nicht wusste, ob ich sie mir vielleicht nur eingebildet hatte.

Mittlerweile war es Abend. Herbst, diese Jahreszeit, die ein Geheimnis aus sich macht, die das Verschwinden übt, das Sich-Auflösen in Dunkelheit und Nebelschleiern. Der Regen hatte Dächer und Straßenbeläge schwarz lackiert. Bevor ich zur Möckinger Familienvilla auf dem Berg fuhr, stattete ich Vater im Krankenhaus einen Besuch ab. Ich mag keine Krankenhäuser. Ich mag diese Fabriken nicht, in denen am Fließband Menschen auf Tische gelegt, mit Ersatzteilen versehen und repariert werden wie kaputte Maschinen; Fabriken, in denen alles durchgetaktet ist und statt der Zeit die Zeiger von Uhren regieren.

Das Kreiskrankenhaus stand hell erleuchtet jenseits des Stadtparks von Möckingen. Es steht schon sehr lange da. Ein Kasten voller Neonlicht, welches die Gebrechen von Menschen bescheint, die davon träumen, woanders gesund zu werden als da, wo sie jetzt sind.

Vater lag in der Unfallchirurgie im Seitentrakt des zweiten Stocks. Zimmer 208. Die schwere Massivholztür ging nach außen auf. Im Zimmer standen zwei Betten, und ich sah nicht gleich, in welchem Vater lag. Schließlich erkannte ich ihn an den Augen. Er hob die Hand. Er lächelte. Er sagte nichts.

Vater redet nie viel mit mir. Als könnte man mit einer Tochter, die ständig auf Achse ist, nicht über einen stationären Alltag reden. Aber wenn ich genau nachdenke, hat er schon, als ich noch Kind und still und friedlich zu Hause war, wenig mit mir geredet und noch weniger gefragt. Die einzigen Fragen, die ich ihn, an mich gerichtet, je fragen hörte, waren: »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?« Und: »Mädle, wann machst du Examen?«

Auch Ate und Severin fragte er so, nur Vinzenz nicht, dem stellte er andere Fragen. Von ihm wollte er wissen, wie es ihm mit seiner Ausbildung, mit seinem Beruf ging, wie ihm dieses oder jenes Buch gefiel, was er von dem und jenem Politiker hielt. Ich war oft eifersüchtig auf Vinz, der Vaters Aufmerksamkeit hatte oder doch eine andere Art von Aufmerksamkeit, als wir drei Älteren sie je von ihm bekamen.

An diesem Abend redete Vater noch weniger mit mir als sonst. Vielleicht fehlten ihm die Worte, vielleicht war er immer noch benommen von der Operation und konnte nicht, vielleicht konnte er nur die Hände heben und lächeln. Weil er nicht viel redete, redete ich mit ihm. Stellte ihm, der mich kaum je etwas gefragt hat, Fragen. Ich fragte ihn, ob er Schmerzen habe. Ob er schon rausdürfe, versucht habe zu gehen. Er schüttelte den Kopf, verneinte beides.

»Das wird schon wieder, Paps«, sagte ich und wusste nicht, ob ich damit ihm oder vor allem mir selbst Mut machen wollte. Ich fand, dass meine Stimme hätte zuversichtlicher klingen können, als sie es tat. Dabei hoffte ich wirklich, dass es wieder würde. Um seinet- und unserer Mutter willen. Um unseret- und meinetwillen, ja, darum auch, ich machte mir nichts vor. Ich mochte mir nicht vorstellen, was würde, wenn es nicht mehr würde. Vinzenz, Severin, Ate und ich, wir alle haben unser Leben, und es ist ein Leben fernab von Möckingen und unserem Elternhaus. Ich nahm Paps’ Hand und streichelte sie.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, obwohl ich gar nicht wusste, ob er sich welche machte. Ich fragte ihn, ob er was brauche.

Er sagte, er brauche nichts. Er wurde plötzlich gesprächiger. Deutete auf einen Stapel Bücher auf dem Nachttisch, Vinzenz habe ihm die gebracht. Er erging sich in der Negativkritik eines Buches von Hanns-Josef Ortheil, was mich wunderte, denn normalerweise fand er alles, was von Vinz kam, gut.

»Felix, qui potuit rerum cognoscere causas«[1], sagte Paps. Ich wusste nicht, was das hieß. Paps hat einen Latein-Spleen; als Sohn eines altsprachlichen Gymnasiallehrers, in dessen Fußstapfen er nie trat, lag er uns Kindern zeit unserer Jugend mit der Notwendigkeit einer humanistischen Bildung in den Ohren und garnierte seine Appelle mit lateinischen Aphorismen, von denen ich nur eine behalten habe: Non scholae, sed vitae discimus.[2]

Dass Paps so kurz nach seiner OP lateinische Sprichwörter zitierte, nahm ich als ein Zeichen, dass er den Eingriff samt Narkose gut überstanden hatte.

Ich schielte auf meine Armbanduhr und hoffte, dass Paps es nicht merkte. Obwohl ich noch nicht einmal wusste, ob ihm etwas daran lag, dass ich da war. Ich fragte ihn, ob er und Maman meine Ansichtskarte bekommen hätten, die ich ihnen vor etwa einem Monat während einer Reiseveranstaltung aus Paestum geschrieben hatte. Er nickte, sagte »Letzten Freitag, drei Wochen nachdem sie abgestempelt wurde« und fügte hinzu, es grenze an ein Wunder, wenn überhaupt mal eine Karte aus Italien in Deutschland ankäme. Ich lachte, er beließ es bei einem Lächeln. Er erinnerte sich, dass es fast sechzig Jahre her war, dass er selbst die Tempel von Paestum besucht hatte, mit Maman damals und Ate in ihrem Bauch. »Im Mai 1958.«

Ich fragte ihn nach dieser Reise, und er kam ins Erzählen. Dass er damals einen schwarzen VW Käfer mit zweigeteiltem Rückfenster gekauft hatte, den er nach der Reise wieder abstoßen wollte, wozu es dann nie gekommen war. Dass es damals noch keine Autobahn gab und Maman auf der Fahrt über die Alpenpässe gen Süden permanent übel war.

Schließlich fiel mir nichts mehr ein, was ich ihn noch hätte fragen können. Ich gähnte. Nach einer halben Stunde verabschiedete ich mich, schmatzte Paps einen Kuss auf die Wange.

»Hoffentlich kommt ihr mit Maman klar«, sagte Paps, und dass das eine schwere Aufgabe sei, wir würden das sicher bald merken, der Teufel stecke da im Detail. Er sagte nicht, welcher Teufel, welches Detail. Erst jetzt glomm etwas wie Beunruhigung in seinen Augen auf, Beunruhigung, ob wir, seine Kinder, es zusammen hinkriegen würden, Maman zu versorgen, etwas, das er sonst alleine schaffte. Beladen mit seinen Grüßen an Vinzenz, Maman und Severin (in dieser Reihenfolge), fädelte ich mich durch das Gewirr der Krankenhausgänge. Mit jedem Schritt in Richtung Ausgang wich die Bedrückung.

[1]Glücklich, wer die Ursache der Dinge zu erkennen vermochte.

[2]Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben.

3

Früher war nicht alles besser, aber alles anders. In unserer Kindheit und bis vor einigen Jahren war Paps das, was man einen Patriarchen, noch mehr, was man einen Pascha nennt. Genau genommen waren die drei P-Worte Synonyme für ein und dasselbe. In unserer Kindheit war Paps das Familienoberhaupt, als welches ihm Beachtung, häusliche Bedienung und die besten Bissen am Tisch zustanden. Maman war dazu da, ihn zu beachten, zu bedienen, ihm die besten Bissen zu kredenzen und dafür zu sorgen, dass wir Kinder dasselbe taten. Sie sorgte auch dafür, dass wir die Dinge sahen, wie sie sie sah: nämlich dass Paps auf die Sonderbehandlung, mit der er gehätschelt wurde, unbedingten Anspruch hatte. Weil er nämlich für uns alle die Brötchen verdiente mit seinem aufreibenden Job, der damals noch nicht so hieß, sondern ein Beruf war – einer, den Paps nie gewollt, aber schließlich ergriffen und auszuüben begonnen hatte, als Maman nach der Hochzeit zur Unzeit mit Ate schwanger geworden war. Paps, der künstlerisches Talent hatte, wurde Textilingenieur, nachdem seine Eltern die Profession des Malers als brotlose Kunst abgetan und stattdessen die Losung ausgegeben hatten: Kleider braucht man immer. In seinem Unternehmen diente er sich hoch bis zum Abteilungsleiter und prüfte dafür an sechs, später an fünf Tagen der Woche acht Stunden lang die Elastizität von aus Kunststoff gewonnenen Strickgarnen, Nylon und Polyester. Wenn er von der Arbeit kam, war er fertig mit Chemiefasern, der Welt und sich selbst. Mit Haushaltsdingen fing er zeit seines Arbeitslebens nie an, auch nicht am Wochenende, das war, ebenso wie das, was man Kindererziehung nannte, die Domäne von Maman. Früher gab es eine genaue Rollenverteilung zwischen unseren Eltern, die beinhaltete, dass mein Vater Wohnzimmersessel von innen, Küchen und Waschküchen nur von außen kannte. Meiner Mutter oblag die Aufgabe, nach der Arbeit in der Firma die Hausschuhe vor ihn hinzustellen und Probleme von ihm fernzuhalten.

Seit meine Mutter begonnen hat, sich von ihrem Gedächtnis zu verabschieden, hat sich diese Rollenverteilung geändert, und zwar radikal. Mein Vater, der früher aufgeschmissen gewesen wäre, wenn er sich ein Ei hätte kochen müssen, lernte Herd, Backofen und eine Waschmaschine bedienen; er wurde Hausfrau und beschwerte sich darüber, weil er keine sein wollte. Auf seine alten Tage wollte er nicht noch einmal einen Job machen, den er nicht gewählt hatte. Wir Kinder waren dankbar, dass er es dennoch tat, auch wenn er sich beschwerte; wir waren dankbar, dass alles weiterging, wie es bisher gegangen war, dass alles im Lot oder doch im Gleichgewicht blieb, auch wenn wir wussten, dass es ein labiles Gleichgewicht war, das jederzeit aus der Balance geraten und in sich zusammenfallen konnte wie ein versehentlich angestoßenes Haus aus Bierdeckeln. Nicht unsere demente Mutter war der labile Teil dieses Bierdeckelhauses, sondern unser Vater mit seinem Bluthochdruck, seinen Herzproblemen, seinem Verdruss; wir zitterten davor, dass sein Körper eines Tages ebenso wie das Gedächtnis unserer Mutter keine Lust mehr hätte mitzuspielen, seine Dienste aufkündigen und ihn im Stich lassen würde.

4

Unsere Familienvilla liegt am Hang. Auf dem Haustürschild unser Name: Fröhlich.

Fröhlich, so hießen wir, Maman und Paps, Ate, Severin, Vinzenz und ich. Fröhlich, das war nicht nur unser Familienname, sondern auch der Name des Hauses, das wir bewohnten: Villa Fröhlich. Fröhlich, das war unser Familienprogramm. Wir hießen nicht nur so, sondern wir waren, wie wir hießen, gut gelaunt, fröhlich, wir waren aufgeräumt wie die Familienvilla, in der unsere Mutter mit ihrem Ordnungssinn das Zepter schwang. Bei uns war alles in Ordnung. Unsere Eltern setzten alles daran, uns Kinder in einer heilen Welt aufwachsen zu lassen, wir alle spürten das und hielten den Glauben an die heile Welt und die damit verbundene Fröhlichkeit so hoch wie möglich, wir trugen jeder auf seine Weise dazu bei, sie hochzuhalten, und wir taten es sehr lange. Bis zum Frühsommer 1976. Ich war damals gerade zwölf geworden, Severin war sechzehn, Ate siebzehneinhalb. In jenem Jahr kam alles zusammen. Severin geriet in schlechte Gesellschaft, Ate verliebte sich in Rico, einen Jungen, der unseren Eltern nicht gefiel, und Maman war zum fünften Mal schwanger. Alles geschah auf einmal. Am Ende jenes Sommers war die Fröhlichkeit eine Worthülse, die vergessen in einer Ecke der nicht mehr ganz so ordentlich aufgeräumten Wohnung lag. Nur der sechsjährige Vinzenz und ich versuchten zuweilen, sie von dort wieder in unseren Alltag zurückzuholen und mit Leben zu füllen. Ich spielte mit Vinz Kaspertheater und lauschte seinen vergnügten Gluckerlauten, wenn ich etwas Lustiges gesagt hatte. Ich genoss es, wenn er sich ausschüttete vor Lachen. Außer Vinz lachte niemand in jener Zeit. Severin lief mit verbissenem, Ate mit verheultem, Maman mit verhärmtem Gesicht herum. Ich selbst wusste nicht, mit was für einem Gesicht ich all den anderen Gesichtern begegnen sollte, und Paps war zu müde, um überhaupt ein Gesicht zu machen, wenn er abends aus der Firma kam. Den ganzen Winter blieb das so. Erst als Ate im folgenden Sommer, sofort nach dem Abitur, auf Nimmerwiedersehen verschwand, wurde es allmählich wieder besser. Ein Satz von Maman ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben. »Man muss vergessen können«, sagte sie. Sie sagte den Satz sehr oft. Und wir vergaßen. Wir vergaßen das Jahr 1976 und wurden wieder fröhlich.

5

Ich hatte den Peugeot am Straßenrand vor der Villa abgestellt und mein Gepäck ausgeladen. Jetzt stand ich vor der Haustür. Zu faul, den Hausschlüssel an meinem Schlüsselbund zu suchen, drückte ich auf die Klingel. Vinzenz öffnete mir. Vinzenz, der größte von uns Geschwistern, der große Junge mit dunklem Lockenschopf und Augen wie Kohlenstückchen. Schon in der Schule und später an der Uni liefen ihm die Frauen in Scharen hinterher, aber Vinz schien es nicht zu merken. Alle wundern sich, dass er mit seinen sechsundvierzig Jahren immer noch nicht in festen Händen ist. Erschien Ate, wenn sie bei Familienfesten auftauchte, jedes Mal mit einem anderen Mann, so brachte Vinz selten jemanden mit, nur ein paarmal war er mit Diana gekommen, einer jungen Frau von zerbrechlicher Schönheit, ebenso dunkelhaarig wie er, mit einer Tätowierung im Ausschnitt und unendlich langen Gliedern, langen Fingern und langen Zehen. Ein Model, in deren Gegenwart ich schüchtern wurde, obwohl ich nie schüchtern war. Sie wirkte wie ein Stern, der neben Vinz aufgegangen war, und Vinz hatte nur Augen für diesen Stern. Diana hatte Vinz nur zwei, drei Mal begleitet, danach kam er wieder allein, und dabei war es geblieben. Er hatte nie ein Wort über den augenscheinlich wieder erloschenen Stern an seiner Seite verloren und auch sonst über keine andere Frau.

Vinz beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Wange. »Willkommen, große Ida«, sagte er.

»Hallo, kleiner Vinz.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streichelte seinen Lockenschopf. Die Mähne unter meiner Hand fühlte sich weich und seidig an, wie früher, als Vinzenz kleiner als ich und sein Haar Kinderhaar gewesen war. Heute ist er so groß, dass er nicht in Konfektionskleidung passt, sondern Übergrößen trägt.

»Zimmerbelegungsplan wie früher«, meldete Vinz, nachdem ich meine Lederjacke auf einen Bügel an der Garderobe gehängt hatte.

Mein Koffer polterte auf der Treppe hinter mir her ins Untergeschoss, wo unsere ehemaligen Kinderzimmer liegen, alle in einer Reihe Richtung Süden, alle gleich groß. Wenigstens was die Kinderzimmergröße anging, ließen unsere Eltern Gerechtigkeit unter uns Geschwistern walten, wenn sie schon ihre Vorlieben so unterschiedlich an uns verteilten. Ich warf einen Blick in die beiden mittleren Zimmer. Im einen stand der blaue Schalenkoffer von Vinzenz, im anderen hatte Severin seine Sachen ausgebreitet. Ich nahm das Linke, mein früheres Mädchenzimmer. Ich würde hier übernachten, nicht nur eine oder eine halbe Nacht wie sonst, wenn es bei Familienfesten manchmal spät wurde, sondern mehrere Nächte am Stück, vielleicht eine ganze Woche lang.

Ich ließ den Blick im Zimmer schweifen. Der Raum wirkte unpersönlich, entkernt. In der Regalwand, in der früher meine Mädchenbücher dicht an dicht gesteckt hatten, standen Blumenvasen und ein bunt bemaltes Holzpferd. Nur zwei verblichene Elvis-Plakate über dem Bett erinnerten noch daran, dass dies einmal mein Zimmer gewesen war. An den unteren Rand des größeren Posters stand mit schwarzem Filzstift gekritzelt: Für Ida, die Fröhliche, von Harry. Als Mädchen war ich Elvis-Fan, Harry war mein Fan, später mein Freund. Darüber hinaus, dass ich Elvis-Verehrerin war, war ich »Ida, die Fröhliche«. Einige Zeit nachdem wir in unserer Familie wieder geworden waren, wie wir hießen, war mir in der Schule dieser Spitzname zugefallen. Ich mochte ihn lieber als meinen Vornamen, für den ich mich früher geniert hatte, weil er mir altmodisch und verschroben vorkam. Ich verdanke ihn meiner Großmutter Ida, die am gleichen Tag starb, an dem ich geboren worden war. Ich weiß nicht, warum meine Eltern Ate auf den Namen Beate tauften. Ich weiß nicht, warum sie uns Mädchen Namen mit so wenigen Buchstaben gaben, während sie ihre Söhne mit mehrsilbigen pittoresken Namen von Heiligen ausstatteten.

Maman saß oben im Esszimmer. Wir nennen Mutter Maman, weil sie Sprachen liebt, insbesondere Französisch. Mein Faible für Sprachen, mein gutes Sprachgefühl habe ich von Maman. Bis vor einigen Jahren, als ihr Gedächtnis sie zu verlassen begann, frischte Maman ihre Schulkenntnisse stetig an der Volkshochschule auf und lernte sogar ein bisschen Holländisch, um sich bei unseren Familienurlauben in Zandvoort verständigen zu können. Vor allem aber besuchte sie Französischkurse. Sie war frankophil, sie war Frankreich-Fan, so wie ich selbst Elvis-Fan und Harry mein Fan war, sie liebte Frankreich, Froonkroisch, die Normandie, Burgund mit seinem weiten, hohen Himmel, Gegenden, die Paps mit ihr und Vinz bereiste, nachdem wir drei Älteren aus dem Haus waren.

Am Abend meiner Ankunft begrüßte mich Maman in ihrer Lieblingssprache.

»Bonsoir, Madame«, sagte sie mit kehliger Stimme, »d’ou venez vous?«

Sie trug einen roten Nylonpullover und eine beige Nylonhose, die sie bis über den Busen hochgezogen hatte. Produkte aus Vaters früherer Firma. Sie hatte zwei Halstücher um, die sie vorne geknotet hatte, ein rot-blau kariertes und ein rosafarbenes. Manchmal trägt sie auch zwei Hosen übereinander. Oder zwei Armbanduhren am Handgelenk.

»Damit du dir die Zeit aussuchen kannst oder falls eine stehen bleibt«, sagt Vinz dann.

Ich umarmte Maman, stützte mein Kinn auf ihren Kopf mit dem schütteren grauen Haar. Haar, das schon eine Weile nicht mehr gekämmt worden war, das nach Haar roch und nach nichts sonst, nicht nach Shampoo oder Spülung.

»Hallo, Mami«, sagte ich liebevoll. »Woher ich komme? Direkt aus Stuttgart. Und du kannst ruhig Du zu mir sagen.«

»Wie überaus freundlichst«, sagte Maman, »Idamaus, liebes Kindeldingsbums. Ist niemand, der so viel pustet. Meinst Feinstein liebel?«

»Davon gehe ich zum jetzigen Zeitpunkt mal aus«, antwortete ich und streichelte ihre Wange.

Ich ging in die Küche, um Severin zu begrüßen. Severin kochte. Er kocht immer. Er ist von Beruf Koch und kocht auch in seiner Freizeit. Er sagt, sein Beruf sei sein Hobby und sein Hobby sei sein Beruf. Severin führt, anders als Ate, Vinz und ich, ein gutbürgerliches Leben, zu dem auch sein Bauchansatz unter der Kochschürze gehört. Er führt als Einziger von uns vieren eine Ehe, die nach dreißig Jahren offenbar immer noch eine ist, und zusammen mit seiner Ehefrau ein Restaurant an einem See im Schwäbischen Wald. Seine Frau hört auf den Namen Gretchen, eine noch verschrobenere, altmodischere Wortschöpfung als mein eigener Rufname. Severin und Gretchen haben drei Kinder, die alle denselben Vater und dieselbe Mutter haben, alle erwachsen und alle was geworden sind.

Severin pfiff, während er am Herd hantierte. Er pfeift oft beim Kochen. Vielleicht pfeift er, weil er beim Kochen nicht Gitarre spielen kann. Severin spielt E-Gitarre, seit er vierzehn ist, und hat bis heute seinen Platz in verschiedenen Rockbands, obgleich er sein Talent nie anders denn als Hobby ausgeübt hat. Als Jugendlicher bespielte er die Schulschwoofs am Albert-Lotzing-Gymnasium, die damals noch »Ball« hießen, und trat an Wochenenden im Irish Pub in Möckingen auf. Wenn er nicht Gitarre spielt, hat er etwas Behäbiges, Gesetztes, obwohl er groß ist. Nicht ganz so groß wie Vinzenz, aber doch so groß, dass ich mich auch bei ihm auf die Zehenspitzen stellen musste, um ihn auf die Wange zu küssen. Die Wange duftete. Mein älterer Bruder liebt Rasierwasser. Nie hat ein Mann frischer geduftet als Severin. Auch sein kurzes Haar duftete. Severin ist brünett wie Vinzenz; die beiden haben die Haarfarbe unserer Mutter geerbt, während Ate und ich blond sind, wie Paps es früher war.

»Was gibt es, Bruderherz?« Ich steckte die Nase in eine Kasserolle, in der etwas schmorte. Es duftete köstlich. Fleisch in einer roten Sauce. Ich wusste nicht, was für ein Fleisch. Ich kenne mich da nicht aus. Ich bin keine Köchin. Ich koche nicht gern. So wenig, wie Paps gern kocht. Ich esse nur gern.

»Tajine«, erklärte Severin, »ein marokkanisches Schmorgericht aus Rindfleisch.«

»Das ist aber nicht vegetarisch«, neckte ich ihn. »Schon gar nicht vegan.« Manchmal legt Severin beim Kochen vom einen auf den anderen Tag einen Schalter um und den Ehrgeiz an den Tag, nicht nur auf Fleisch, sondern auch auf alle anderen tierischen Produkte zu verzichten. Er kreiert dann Mahlzeiten mit fremdländischen Zutaten und Namen, die ich nie zuvor gehört habe, Quinoa mit Avocadocreme, Romanesco-Pfanne mit Fregola, Teriyaki-Tofu mit Chicorée, Harissa-Minz-Suppe und Tomaten-Bulgur.

»Kennt ihr den?«, fragte Vinzenz und schlug mit einem Geschirrtuch nach etwas, vielleicht einer Fliege. »Warum können Veganer kein Hühnchen essen?«

Severin und ich zuckten die Schultern.

»Wegen dem Ei innen drin«, grinste Vinzenz.

Beim Abendessen saßen wir so wie früher, jeder an dem Platz am runden Tisch, an dem er als Kind gesessen hatte. Wir dachten nicht darüber nach, warum wir so saßen. Gewohnheiten sind langlebig. Auch Maman saß an ihrem früheren Platz. Paps’ Stuhl gegenüber von ihr war leer.

Ich hatte Maman eine karierte Stoffserviette vorne in den Ausschnitt gesteckt und über ihren Pullover gebreitet. Ihr das Fleisch und den Salat klein geschnitten. Sie aß nur mit der Gabel, benutzte kein Messer, um die Happen auf das Besteck zu bekommen. Sie schob das Couscous mit der Gabel so lange in der roten Sauce auf dem Teller hin und her, bis es als Matsch über dessen Rand fiel. Ich musste mich zwingen, nicht dauernd hinzusehen.

»Hast du Ate erreicht?«, fragte ich Vinzenz.

Vinz nickte.

»Wo hast du sie erwischt?«

»Weiß nicht.« Vinz zuckte die Achseln. »Hamburg. Berlin.«

»Kommt sie?«

Er zuckte wieder mit den Schultern.

»Tja, wenn man das wüsste.«

Unsere Mutter hatte ihre Gabel auf den Teller gelegt, blickte vor sich hin und brabbelte Unverständliches.

»Abrakadabra«, sagte Vinz, »habt ihr gewusst, dass sie inkontinent ist?«

»Wer, doch nicht Ate?«

»Nein, Mutter. Sie braucht Windeln.«

»Das ist gar nicht wahr«, Maman hob plötzlich den Kopf. »Mitnichten windelstwahr. Schwindelwahr. Du schwindelst unwahr. Schlagelwupps windelwandelweich. Loixlux mindelwindelwuchs.«

»Da läuft Maman gleich zu ihrer Höchstform auf, wenn sie sich zu Unrecht gebrandmarkt fühlt«, stellte Vinz fest.

»Wir müssen jemanden organisieren, der für sie sorgt«, sagte ich.

»Sorge reicht nicht mehr, sie braucht Pflege«, sagte Severin im Ton eines Predigers. »Der Papst kann das in Zukunft auf keinen Fall mehr machen.«

Severin nennt unseren Vater den Papst. Manchmal tut es auch Vinzenz. Ich glaube sogar, es war Vinzenz, der damit anfing, als er den aufmüpfigen sechzehnjährigen Severin einmal schimpfen hörte: »Paps benimmt sich wie der Papst.« Fortan fügte Vinz der Anrede unseres Vaters noch diesen einen kleinen Buchstaben hinzu, der aus Paps einen Pontifex Maximus machte. Meine Brüder spielen sich den Titel »Papst« für unseren Vater zuweilen zu wie einen Pingpongball, wenn sie sich über unseren Vater amüsieren. Dort am Abendbrottisch amüsierten sie sich nicht, aus Severins Worten klang Kritik; schon lange machte er keinen Hehl mehr aus seiner Meinung, dass sich Paps mit der Fürsorge für Maman übernahm, stieß aber bei Paps damit auf taube Ohren.

»Natürlich kann Paps nicht so weitermachen wie bisher, wenn er aus der Klinik kommt«, sagte Vinz. »Ich habe einen Sozialdienst angerufen. Am Samstag kommt eine Mitarbeiterin, dann wird sich zeigen, wie wir unseren Vater in Zukunft daran hindern können, alles selbst in die Hand zu nehmen.«

»Allerselbst allerliebst Handschuh Mugelwupps«, plapperte Maman. »Zeig ii, lass mii, laisse moi, Zuckerwupps ssississ wiegelriegel mucks. Mucksmucksmucks simbel feist.« Ein paar Augenblicke füllte nur ihr Selbstgespräch den Raum. Wir kannten diese Monologe, die nirgends anfangen und kein Ende nehmen, Silben, halbe Sätze, ohne Punkt und Komma sinnlos aneinandergereiht in einem bäuerisch-altertümlichen schwäbischen Dialekt, den Maman früher nicht gesprochen hatte. Dazu bewegten sich ihre Finger auf dem Tisch, Finger, die in jüngeren Jahren stets etwas zu tun gehabt hatten und jetzt, da sie es nicht mehr hatten, nicht still halten konnten.

Ich spießte Fleischstücke auf Mamans Gabel und gab sie Maman in die Hand. Ich mochte die Gabel nicht zu Mamans Mund führen, ich mochte sie nicht füttern. Ich wollte Maman nicht behandeln wie ein Kind, nie und nimmer wollte ich das, sie war doch meine Mutter, selbst wenn sie sich hundertmal wie ein Kind verhielt.

6

Nach dem Abwasch prüfte Vinz, ob die Haustür abgeschlossen war. Schärfte uns ein, ebenfalls darauf zu achten.

»Mutter begibt sich manchmal auf Wanderschaft, und wenn man nicht aufpasst, endet der Ausflug nicht an der Haustür«, sagte er. »Insbesondere nachts tut sie das.«

Ich stöhnte. Das Theater mit den Schlüsseln. Für die Türen zum Klo und den Badezimmern gab es schon länger keine mehr. Maman hatte sich mehrfach eingeschlossen und hinterher die Tür nicht mehr aufbekommen, sodass man einen Schlüsseldienst holen und gleichzeitig Mutter beruhigen musste, die mutmaßte, nicht sie selbst, sondern jemand anders habe sie eingesperrt. Seit Paps die Schlüssel eingesackt hat, klopfen wir von außen an die Tür, bevor wir das Örtchen aufsuchen, um niemanden, der gerade eine Sitzung hält, in Verlegenheit zu bringen.

»Wie wäre es mit einem Glühwein?«, fragte Vinz.

Obwohl es noch Oktober war, tranken wir den ersten Glühwein aus den alten Tassen mit aufgedruckten Weihnachtsmotiven, von denen keine wie die andere war; Geschenke vom Weltspartag, Gewinne von Tombolas, Mitbringsel von Reisen oder Tassen, die man auf dem Weihnachtsmarkt beim Glühweintrinken mit Pfand hatte hinterlegen müssen und nicht zurückgegeben hatte. Tassen mit Elchen und Nikoläusen, mit Schneeflocken auf rotem Grund, mit Sternen, abermals mit Elchen oder mit Teddys, die dicke Schals umhatten.

Ende Oktober, der richtige Zeitpunkt für den ersten Glühwein.

Mutter war nach einer Tasse betrunken. Sie lallte und verlangte nach mehr.

»Früher hast du mehr vertragen, alte Süffelnase«, sagte Vinz und schenkte ihr nach. »Oder weniger gesoffen, jedenfalls warst du nie betrunken.«

»Fast nie«, rutschte es mir heraus. Vinz warf mir einen erstaunten Blick zu. »Wann denn?«

»An dem Abend, nachdem Severin von einem Auto angefahren worden ist«, sagte ich widerwillig. Am liebsten hätte ich meinen Satz zurückgenommen. Ich mochte nicht in Mamans Anwesenheit davon erzählen, wie ich sie einmal betrunken überrascht hatte.

»Ist nicht so wichtig«, sagte ich verlegen.

»Ssssoffen«, meldete sich Maman zu Wort, »sssoffen, dassississachtmannich …«

»Stimmt«, sagte Vinz diplomatisch, »besoffen sagt man nicht, das ist man bloß. – Wann war das mit Severins Unfall?«, wollte er wissen.

»Ich war zehn, glaube ich«, sagte Severin. »Oder bin ich mit zehn von der Friedhofsmauer gestürzt und habe mir den Kiefer gebrochen?«

»Nein, das war später«, entgegnete Vinzenz, »da war ich schon längst geboren, daran kann ich mich noch erinnern. – Was war es noch mal, das du bei dem Autounfall gebrochen hast?«

»Beide Knöchel«, sagte Severin.

Wir grinsten.

Als Junge brach sich Severin ständig irgendwas. Er fiel vom Kirschbaum im Garten und brach sich den Arm. Er lieferte sich Fahrradrennen mit seinem Freund Christoph, stürzte und brach sich das Schlüsselbein. Er machte im Freibad einen Salto vom Fünfmeterbrett, schlug bäuchlings im Wasser auf und brach sich drei Rippen. Er war ein Draufgänger, der gefährlich lebte. Manchmal aber hatte er auch einfach nur Pech. So wie damals an dem Tag, als ihn das Auto anfuhr.

»Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt damals«, sagte ich.

Ich weiß noch, wie an jenem Tag zur Mittagszeit eine Ambulanz mit Blaulicht vor der Tür gehalten hat, und sehe Maman vor mir, wie sie aus dem Haus stürzt mit ihrem dicken Bauch, in dem sie Vinzenz trägt, Ate und ich hinter ihr her, ich sehe ihre rasch abgeworfene Schürze, die sich in der Berberitzenhecke verfängt. Die Haustür fällt zu, und während Mutter samt ihrem Babybauch in den größeren Bauch der Ambulanz taucht und mit Severin davonfährt, stehen Ate und ich ohne Hausschlüssel da. Ate nimmt die Schürze von der Hecke und mich an der Hand. Ate ist elfeinhalb, ich werde bald sechs. Ates Hand um meine fühlt sich tröstlich an. Wir gehen hinters Haus und schauen durchs Terrassenfenster ins Esszimmer, wo der Tisch gedeckt ist und in unseren Tellern ein Gemüseeintopf dampft, der orangerot und sehr gelberübig aussieht.

Ein Gedanke lässt mich nicht in Ruhe. »Muss Severin sterben?«, frage ich und bemühe mich, die Tränen zurückzuhalten. (Schon damals war Severin mein Held.) Ate schüttelt heftig den Kopf.

»Bestimmt nicht«, sagt sie und macht dabei ein Gesicht, als wüsste sie nicht genau, wie bestimmt es nicht stimmt.

Maman kommt am Spätnachmittag zurück, allein, ohne Severin, in Tränen aufgelöst.

Sie schließt die Haustür auf, ohne Ate und mich zu beachten. Wir trotten hinter ihr her ins Esszimmer, wo sie sich an den Tisch setzt, auf dem das kalt gewordene Mittagessen steht. Sie legt das Gesicht in ihre Hände und weint in ihren Teller.

»Wo ist Severin?«, frage ich leise und zupfe an ihrem dunkelblauen Nylonärmel.

Maman antwortet nicht, sondern weint noch viel mehr. Die Tränen tropfen zwischen ihren Fingern hindurch in den Eintopf.

Ate und ich werfen uns einen ängstlichen Blick zu, wir befürchten das Schlimmste.

»Ist er tot?«, frage ich schließlich kaum hörbar und schmiege mich an sie.

Maman wimmert. Schließlich, nach einer Zeit, die uns wie eine Ewigkeit vorkommt, schüttelt sie den Kopf und schluchzt: »Nein, aber er musste im Krankenhaus bleiben.«

»Gott sei Dank«, entfährt es Ate, während Maman wieder angefangen hat zu weinen. Sie hält inne und wirft Ate einen empörten Blick zu. »Gott sei Dank? Gott sei Dank muss er im Krankenhaus bleiben?«, fragt sie. »Wie kannst du das sagen?«

Ich habe mich später oft gefragt, wie sie Ate so missverstehen konnte, wie sie falsch verstehen konnte, was sogar ich selbst mit meinen knapp sechs Jahren richtig verstand, und ob es einfach die Angst um Severin, ihren Lieblingssohn, war, die sie so reagieren ließ. Maman war ängstlich, überängstlich, und wenn es um Severin ging, der gefährlich lebte, war sie noch ängstlicher. An diesem Abend redete sie nicht mehr mit Ate und mir, sagte uns nicht einmal Gute Nacht. Weil ich nicht schlafen konnte, stand ich noch einmal auf. Ich fand Maman vor der Hausbar sitzend, mit rot geränderten Augen und einer gedrungenen Flasche auf ihrem dicken Bauch. »Cognac«, entzifferte ich das Wort auf dem Etikett mit meinen gerade erworbenen Lesekenntnissen. Maman fragte mit schwerer Zunge, was ich hier suche, und schickte mich fort. Mir war klar, dass sie betrunken war, jedoch ahnte ich nicht, wie peinlich es ihr gewesen sein muss, dass ich sie in diesem Zustand überraschte. Damals beschloss ich, sie nicht mehr zu mögen, hielt aber nicht lange durch, sondern verzieh ihr. Ich liebte Maman, ich wollte, dass sie mich liebte, und sie konnte ja auch ganz anders sein. Sie konnte ein prima Kumpel sein, mir, ihrer Tochter, auch wenn ich nicht ihre Lieblingstochter war.

Als Rouven gerade geboren war und ich mit einer Brustentzündung und vierzig Grad Fieber das Bett hütete, kam Maman mit dem Auto angefahren und half mir. Wenig später hatte ich das, was man eine postnatale Depression nennt, alles wurde mir zu viel, ich sah nicht mehr über den Rand eines einzigen Tages hinaus. Wieder kam Maman, um mich zu unterstützen. Sie ging mit Rouven spazieren und fütterte ihn. Sie stand nachts auf, um ihm das Fläschchen zu geben, damit ich durchschlafen konnte. Sie schrubbte meinen Hausflur und schickte mich ins Kino.