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MAN DENKT, ANDERE ZU LIEBEN SEI DAS SCHWIERIGSTE, VIEL SCHWIERIGER IST ES JEDOCH ZUZULASSEN, SELBST GELIEBT ZU WERDEN
Für Willow Kingsley bedeutet Freiheit alles - immer unterwegs, ohne festes Zuhause. Doch als sie für einen Sommer nach Honey Creek zurückkehrt und ihr Wohnmobil auf dem Grundstück von Theo Langford parkt, gerät alles ins Wanken. Willow wirbelt das Leben ihres mürrischen Nachbarn komplett durcheinander, während sie selbst merkt, wie schwer es ist, die Fassade aufrechtzuerhalten, mit der sie sonst anderen Menschen begegnet. Theo erkennt bald, dass sich hinter ihrem Lächeln eine tiefe Traurigkeit und Gefühle verbergen, die er selbst nur zu gut kennt. Doch kann Willow alles, was sie sich aufgebaut hat, hinter sich lassen, um bei Theo endlich sie selbst zu sein?
»Brittainy Cherry hat sich mit ihrem wunderschönen Schreibstil in mein Herz geschlichen. Sie findet immer den richtigen Grad zwischen Humor, Ernsthaftigkeit und Marmeladenglasmomenten. Es gibt kein Buch von ihr, das ich nicht mag.« @MAGIEHINTERDENZEILEN
Band 3 der PROBLEMS-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy Cherry
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Prolog
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Epilog
Bonuskapitel
Dank
Die Autorin
Die Romane von Brittainy Cherry bei LYX
Triggerwarnung
Impressum
Brittainy Cherry
Was wir leise hofften
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katia Liebig
Für Willow Kingsley war Freiheit schon immer das Allerwichtigste – ohne ein festes Zuhause und ständig unterwegs mit ihrem Wohnmobil, so hat sie sich ihr Leben vorgestellt. Aber als sie für einen Sommer nach Honey Creek zurückkehrt und einen Stellplatz auf dem Grundstück von Theo Langford findet, ändert sich alles. Wirbelwind Willow stellt den Alltag ihres mürrischen Nachbarn vom ersten Augenblick an völlig auf den Kopf. Ihre unbändige Energie fordert Theo heraus und bringt ihn immer wieder aus der Fassung. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto schwerer fällt es ihr, die Fassade aufrechtzuerhalten, mit der sie sonst anderen Menschen begegnet. Theo erkennt bald, dass sich hinter ihrem Lächeln eine tiefe Traurigkeit und Gefühle verbergen, die er selbst nur zu gut kennt – aber auch, dass er sich der Anziehungskraft, die Willow auf ihn ausübt, nicht länger entziehen kann. Allerdings ist Willows Vergangenheit in Honey Creek geprägt von Schuldgefühlen, die alles zwischen ihnen auf die Probe stellen. Sie muss sich entscheiden: Kann sie für den Mann, bei dem sie zum ersten Mal seit Langem sie selbst sein kann, ihr ganzes Leben umkrempeln?
Liebe Leser:innen,
Diese Geschichte erzählt von zwei Menschen, die sich ineinander verlieben. Es ist eine moderne Liebesgeschichte mit viel Herz, aber auch ernsten Gesprächen und Gedanken über persönliches Wachstum und Leid.
Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dass Teile dieser Geschichte einigen von euch sehr nahegehen könnten.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis
Eure Brittainy und euer LYX-Verlag
Für J, meinen Angler:
meinen bislang besten Fang.
Für die kleinen Vögel, die immerzu fliegen, weil sie Angst haben zu fallen:
Möget ihr einen sicheren Ort finden, an dem ihr landen könnt.
WILLOW
Zehn Jahre alt
Honey Creek, Illinois
Mai
Es war Hähnchenfrikadellen-Donnerstag in der Schule. Ich liebte die Hähnchenfriko-Donnerstage, denn die Dame an der Ausgabe gab uns immer noch Cheesy Bosco Sticks dazu, und ich bekam sogar noch einen extra, weil ich ihr mal gesagt hatte, dass ich ihr Haarnetz mochte und ihre grünen Augen sehr hübsch fand. Meine eigenen waren langweilig braun. Braune Augen hatte jeder, aber nur wenige hatten grüne Augen.
In meinem nächsten Leben wollte ich auch grüne Augen haben.
»Okay, Klasse, wir gehen jetzt zum Mittagessen in die Mensa, wo uns heute besondere Gäste erwarten«, erklärte Mrs Robinson und erhob sich hinter ihrem Pult. Wir stellten uns auf, und ich durfte Line Leader sein. Als Line Leader bekamen wir jedes Mal einen Stern, den wir auf das Namensschild auf unserem Tisch kleben durften, und ich hatte schon so viele, dass ich für einen weiteren Sticker kaum noch Platz finden würde.
Dad sagte immer, dass ich deshalb so gut Sterne sammeln konnte, weil ich selbst ein Stern war, aber er war ohnehin der Ansicht, dass meine beiden Schwestern und ich die klügsten Mädchen auf der ganzen Welt waren.
Auf dem Weg in die Mensa erklärte mir meine beste Freundin Anna detailliert, warum Delphine ihrer Meinung nach die besten Tiere der Welt seien, und ich hörte ihr aufmerksam zu, denn genau das taten beste Freundinnen.
»Meinst du, wir können einen Babydelphin als Haustier haben, wenn wir älter sind?«, fragte Anna und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, wobei sie das pinkfarbene Scrunchie benutzte, das ich ihr letzte Woche zum Geburtstag geschenkt hatte. Es hatte sogar einen kleinen Delphinanhänger. Ich nannte Anna immer Phins, weil sie so auf Delphine stand, und sie nannte mich Otto, weil ich Otter liebte.
»Klar. Wir kaufen uns ein Haus am Wasser, dann können wir Delphine und Otter halten«, sagte ich.
Anna und ich hatten wahnsinnig viel gemeinsam, also hatten wir vor ein paar Monaten beschlossen, dass wir, statt zu heiraten und Kinder zu bekommen, lieber zwei Häuser direkt nebeneinander bauen und dort jede Menge Tiere halten wollten, aber erst, nachdem wir ausgiebig die Welt bereist hatten. Ricky, der Blödmann in unserer Klasse, meinte, wir würden als einsame Katzenladys enden, doch ich bezweifelte, dass man mit Katzen wirklich einsam sein konnte.
Außerdem waren Tiere meist viel angenehmer als Menschen. Menschen brachten dich manchmal zum Weinen, Tiere nie.
Abgesehen von Ms Hollows Hund Mikey, der mich mal in den Knöchel gebissen hatte, als ich die Straße runtergelaufen war. Aber das war nicht Mikeys Schuld. Er war einfach ein bisschen zu aufgeregt. Ich war auch schon mal so aufgeregt gewesen, dass ich sogar geweint hatte. Vielleicht war es also so, dass Menschen weinten, wenn sie zu aufgeregt waren, und Tiere dann eben zubissen.
Wir hatten eben alle unsere Probleme.
Meine älteste Schwester Avery allerdings, die weinte nie. Sie war viel tougher als ich und meine andere Schwester Yara. Einmal bekam ich mit, wie Dad zu Avery gesagt hatte, dass es in Ordnung sei, hin und wieder zu weinen, aber sie hatte ihm widersprochen.
Vielleicht weinte ich einfach genug für uns beide. Avery nannte mich immer eine Heulsuse. Aber so war das eben mit meinem Herzen – es empfand immer wahnsinnig viel, egal, wie sehr ich mich auch zu verhindern bemühte, dass es all die großen und kleinen Dinge empfand.
In der Sekunde, in der meine Klasse die Mensa betrat, blieben meine Füße wie festgeklebt am Boden stehen. Die anderen hinter mir drängelten sich mit strahlenden Gesichtern an mir vorbei und liefen zu der Überraschung, die dort auf uns wartete.
Doch mir drehte es den Magen um, und Tränen brannten in meinen Augen.
Ich griff nach dem Ärmel meines Shirts und hielt mich daran fest, während ich mich im Raum umsah. Sogar Phins sprintete los zu ihrer Mama und umarmte sie. Dann drehte sie sich traurig zu mir um und winkte mich zu sich, aber ich wollte nicht.
Mrs Lane sah mich stirnrunzelnd an und wandte den Blick dann hastig wieder ab. Wahrscheinlich war sie immer noch wütend auf mich, weil ich Anna dazu überredet hatte, einen Baum hochzuklettern, von dem sie dann hinuntergefallen war. Sie hatte mit drei Stichen genäht werden müssen. Ich hatte mich schrecklich gefühlt, und Mrs Lane hatte mich mächtig angezählt und mir gesagt, dass ich viel zu wild für ihre Anna sei.
Manchmal schalt sie mich wie meine Mama, aber sie war nicht meine Mama.
Ich hatte keine Mama.
Bevor ich mich zu Mrs Robinson umdrehen und sie fragen konnte, ob ich aufs Klo gehen durfte, um dort alleine zu weinen, blickte ich nach links und entdeckte meinen Dad mit einem Strauß Blumen in der Hand und einer pinken Fliege um den Hals.
Dad hasste Pink, aber er hatte die Fliege bestimmt für mich umgebunden, denn ich hatte sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt.
Und wieder wollte ich weinen.
Ich rannte los, schlang die Arme um ihn und weinte, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Wie konnte ich nur gleichzeitig glücklich und traurig sein? Wie konnte ich so froh sein, einen Dad zu haben, und so traurig, weil ich keine Mama hatte?
Ich hasste den Muttertag.
»Es ist okay, Willow. Alles ist gut«, versicherte Dad mir, zog mich fest in seine Arme und ließ mich in sein Hemd schluchzen, während ich mich an ihn klammerte wie an den Himmel. Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen, und er ließ mich. Er ließ mich immer in seinen Armen weinen. Irgendwann lockerte er seine Umarmung ein wenig und kniete sich vor mich hin. Er wischte mir die Tränen von den Wangen und strich mir die wirren hellbraunen Locken hinter die Ohren. »Willst du von hier verschwinden und den Rest des Tages blaumachen?«, fragte er.
Ich weinte noch ein bisschen weiter und nickte.
»Okay«, sagte er und hob mich hoch. Ich schmiegte den Kopf in seine Halsbeuge und schloss die Augen, während er zu Mrs Robinson hinüberging und ihr erklärte, dass er mich mitnehmen würde.
Dann drückte er mir einen Kuss auf die Wange und trug mich nach draußen. »Weißt du, wie groß meine Liebe für dich ist, Vögelchen?«, flüsterte er, während er die Hintertür seines Autos öffnete und mich auf die Rückbank setzte.
»Größer als der Himmel«, antwortete ich.
»Und tiefer als das Meer«, ergänzte er und küsste mich auf die Stirn.
Dann schloss er die Tür und stieg ein.
Bevor er losfuhr, rief ich: »Dad?«
»Ja, mein Schatz?«
»Schicke Fliege.«
Er lächelte mir im Rückspiegel zu und nickte. »Danke, mein Schatz. Finde ich auch. Ich weiß, der Tag heute war schwer für dich, und ich weiß, dass du gerade viele Dinge gleichzeitig empfindest, aber weißt du, was?«
»Was?«
»Es wird dir wieder besser gehen, Willow Rose. Versprochen.«
Ich atmete tief ein und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, während ich seine Worte wiederholte. »Es wird mir wieder besser gehen.«
THEO
Zwölf Jahre alt
Westin Lake, Wisconsin
August
»Aber ich w-will nicht b-bei P-P-PaPa und Grandma bleiben«, sagte ich zu meiner Mutter, die mich am Arm zum Haus meiner Großeltern schleifte. Sie lief so schnell, dass ich immer wieder über meine eigenen Füße stolperte, und jedes Mal, wenn das passierte, fuhr meine Mutter mich an, ich solle aufhören, mich wie ein kleines Kind zu benehmen, und gehen wie ein normaler Mensch. Doch sie zog und zerrte so brutal an mir herum, dass es mir kaum möglich war, normal zu gehen. Außerdem war es dunkel draußen.
Und ich hasste die Dunkelheit, denn ich hatte furchtbare Angst im Dunkeln.
Es fühlte sich an, als würden die Bäume und ihre Schatten mich verfolgen, während wir zwischen ihnen hindurchliefen. Und die nächtlichen Geräusche des Waldes machten es nur noch schlimmer.
Ich umklammerte den Griff meines Koffers noch fester.
Normalerweise brauchte ich meinen Koffer nur, wenn PaPa mit mir zum Angeln an einen der zahlreichen Seen in Wisconsin fuhr. Jeden Sommer fuhren wir woandershin, um so viele unterschiedliche Seen kennenzulernen wie möglich. Ich packte immer meine Lieblingsbücher ein und PaPa seine Lieblingszigarren.
Aber an diesem Abend fuhren wir nicht zum Angeln.
Mom war wütend auf mich, das spürte ich an der Art, wie sie mich durch den Wald zu PaPas und Grandmas Haus zerrte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich tun konnte, was ich wollte, sie war trotzdem wütend auf mich. Dabei wollte ich sie immer nur glücklich machen. Warum gelang es mir einfach nicht, sie glücklich zu machen?
»Das ist mir egal, Theo«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Sie schien eigentlich immer zu weinen, und ich hasste es, dass sie immer weinte. Denn ich wollte doch nur, dass es ihr gut ging. Dass es uns gut ging. Doch immer, wenn ich versuchte, das Richtige zu tun, schien ich sie am Ende erst recht traurig zu machen. Dabei gab ich mir alle Mühe, nichts zu tun, worüber sie sich ärgern musste. Ich erledigte meine Hausaufgaben und schrieb gute Noten. Ich pflückte ihr im Wald Blumen und stellte sie ihr auf den Nachttisch. Ich hörte mir ihre Lieblingssongs an. Manchmal, wenn ich sah, welches Buch sie gerade las, las ich es ebenfalls, damit wir etwas gemeinsam hatten. Und ich sagte ihr, dass ich sie lieb hatte.
Doch sie sagte mir nie, dass sie mich lieb hatte.
Sie sagte immer nur, dass ich meinem Dad furchtbar ähnlich sah. Ich hatte ihn nie kennengelernt, aber ich hasste es, so auszusehen wie der Mann, der Mom wehgetan hatte. Wenn ich ihr ähnlicher gesehen hätte als ihm, hätte sie mich vielleicht ein bisschen lieber gehabt.
Als wir bei meinen Großeltern ankamen, kam Grandma heraus und schaltete das Verandalicht an.
»Was ist hier los, Christina?«, fragte sie meine Mom besorgt. So sehr, wie ich meinem Vater ähnelte, den ich nie kennengelernt hatte, so sehr ähnelte Mom Grandma. Das Einzige, was sie und ich gemeinsam zu haben schienen, waren unsere Augen. Die blauen Augen lagen in der Familie.
»Ich verschwinde«, sagte Mom und straffte die Schultern.
PaPa kam mit einem Stapel Holz auf dem Arm aus dem Garten. »Was ist hier los?«, fragte auch er.
»Ich kann das nicht mehr. Ich will ihn nicht«, sagte Mom weinend. »Ich hasse ihn.«
Und mit ihn meinte sie mich.
Sie hasste mich.
»Sei still«, befahl PaPa und rümpfte die Nase, bevor er zu mir trat und meine Hand nahm. »Sprich nicht so vor Theo.«
»Er soll es ruhig wissen! Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn«, schluchzte sie. Dann drehte sie sich zu mir um und kniff die Augen zusammen. »Du hast mir mein Leben kaputtgemacht. Alles Gute, das ich je hatte, ist am Tag deiner Geburt gestorben«, sagte sie.
Meine Brust brannte, und mir wurde so übel, dass ich mich fast übergeben musste.
Ich weinte und spürte, wie ich am ganzen Körper zu zittern anfing, während mein Magen sich immer fester zusammenzog. Ich musste ins Badezimmer. Ich musste mich übergeben. Ich musste hören, dass meine Mom mich lieb hatte.
Warum liebt sie mich nicht?
Wie hätte ich ihr ein besserer Sohn sein können?
PaPa schüttelte den Kopf und zog mich hinter sich. Er baute sich vor meiner Mom auf und sagte: »Wage es ja nicht, noch einmal vor dem Jungen so zu sprechen, sonst wirst du nie wieder mit ihm sprechen.«
»Gut«, sagte Mom. »Ich will auch nie wieder mit ihm sprechen. Ich wünschte, ich hätte ihn nie bekommen.«
Sie spuckte mir vor die Füße, und in ihren Augen lag nichts als Finsternis.
»Das muss er sich nicht länger anhören. Übernimm du Christina, ich kümmere mich um Theo«, sagte PaPa zu Grandma und zog mich hinter das Haus.
Lange standen wir dicht beieinander auf dem Steg und blickten auf den See hinaus. Der Himmel legte sich schlafen, und aus PaPas und Grandmas Haus drang kein einziges Geräusch. Vor etwa einer Stunde hatte meine Mutter beschlossen, dass sie nicht länger meine Mutter sein wollte.
Sie war mit einem Typen auf dessen Motorrad davongebraust, weil sie mich nie wirklich gewollt hatte. Grandma hatte Mom angeschrien und sie angefleht zu bleiben. Sie hatte ihr gesagt, wie sehr ich sie brauchte, und das stimmte auch. Ich liebte meine Großeltern, brauchte aber auch meine Mom.
Nur schien sie mich nicht zu brauchen.
Grandma sagte immer, dass es nicht Mom war, die diese verletzenden Dinge zu mir sagte, sondern die Drogen, die sie nahm und die dafür sorgten, dass sie nicht länger sie selbst war. Grandma und PaPa versuchten mich immer zu trösten, wenn Mom nicht lieb zu mir war. Sicher, sie liebte mich, aber offenbar mochte sie mich nicht besonders. Meist fühlte es sich so an, als liebte sie mich nur, weil die Gesellschaft es von ihr erwartete.
Als Mom gekreischt hatte, dass sie mich besser hätte abtreiben sollen, hatte es mir das Herz gebrochen. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass man sein Herz tatsächlich brechen spüren konnte, doch ich spürte es in meiner Brust – eine plötzliche Enge.
Ich hörte, wie das Motorrad davonfuhr, und war mir sicher, dass Mom hintendrauf saß.
Ich biss ich mir so fest in die Wange, dass ich Blut schmecken konnte. Aber das war mir egal. Im Grunde war mir so ziemlich alles egal. Alle paar Minuten drückte PaPa meine Hand, fast so, als wollte er mich daran erinnern zu atmen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass man vergessen konnte zu atmen, bis Gott mir eine Mutter gegeben hatte, die mich nicht wollte.
»Es ist okay, Theo. Wir kriegen das hin«, sagte PaPa, und seine Stimme klang tief und rostig von den ganzen Zigarren und Zigaretten, die er immer rauchte. In den letzten Stunden hatte er sich keine angezündet, aber ich konnte den Rauch in seiner Kleidung riechen. Früher hatte ich es immer gehasst, aber jetzt roch es nach zu Hause.
»Ihr beide kommt besser wieder rein.« Grandma kam die wenigen Stufen von der Veranda hinunter und winkte uns von der untersten Stufe aus zu sich. Grandma liebte viele Dinge, doch Make-up war ihr größtes Hobby. Heute Nachmittag jedoch hatte sie sich kein bisschen geschminkt.
»Wir kommen in einer Minute«, rief PaPa.
»Seht zu, dass ihr es schneller schafft«, antwortete sie, bevor sie sich umdrehte und wieder hineinging.
PaPa drückte noch einmal meine Hand.
Atmen.
Ich atmete ein.
»Ich will n-n-nicht wieder da rein«, stotterte ich leise. Noch eine Sache, die meine Mom an mir hasste – mein Stottern.
»Ich auch nicht«, sagte PaPa und strich mit der Hand über seinen weißen Bart. Letztes Jahr hatten ein paar Kinder in unserer kleinen Stadt PaPa irrtümlich für den Weihnachtsmann gehalten und ihn gefragt, ob sie sich auf seinen Schoß setzen durften. Er hatte einfach mitgespielt. Sie hatten ihm erzählt, was sie sich zu Weihnachten wünschten, und er hatte dafür gesorgt, dass sie genau das auch bekamen. So war PaPa. In vielen Dingen glich er tatsächlich dem Weihnachtsmann, und immer, wenn ich bei ihm und Grandma war, fühlte ich mich wie in der Weihnachtswerkstatt. Es gab immer Kekse, Liebe und alles, was ich mir nur wünschen konnte.
PaPa schob beide Hände in die Taschen seiner Stoffhose. Er blickte aufs Wasser hinaus und sagte: »Dann lass uns nicht wieder reingehen.«
Verwirrt sah ich zu ihm hoch. »Aber Grandma …«
»Grandma wird auch eine Weile ohne uns auskommen. Sie wird wissen, wo wir sind.«
»Und wo gehen wir hin?«
Er wies mit dem Kinn auf sein Angelboot. »Hab letzte Woche draußen im See ein paar Barsche und Blaue Sonnenbarsche gefangen. Wir könnten rausfahren. Und vielleicht kann ich dir später sogar zusammen Fisch braten.«
Ich lächelte ein bisschen.
Dabei hatte ich gar nicht gewusst, dass ich das überhaupt noch konnte.
»Was meinst du, Theo? Willst du mit mir angeln fahren?«, fragte er.
Ich nickte, und wir gingen zu seinem Boot. Nachdem ich unsere Angeln aus dem Schuppen geholt hatte, stieg ich ein, und PaPa folgte mir. Er löste das Boot vom Steg, trat ans Steuer, und weg waren wir.
Wir sprachen nicht, während wir durch die Wellen schnitten und mir das Wasser ins Gesicht spritzte, und auch nicht, als wir anhielten und unsere Angeln auswarfen. Für mich war es okay, nicht zu sprechen. Ich mochte es, abends zu angeln, wenn alles ganz still war.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, doch ich tat so, als hätte ich Seewasser ins Gesicht bekommen. Immer wieder rieb ich mir die Augen und schniefte, doch PaPa sagte nichts. Er ließ mich einfach fühlen, was ich fühlen musste.
Wir angelten, bis der Himmel komplett eingeschlafen war, und dann angelten wir noch ein bisschen weiter.
Wir fingen sechs Barsche und vierzehn Blaue Sonnenbarsche. PaPa sagte, dass er stolz auf mich war, aber er wäre sowieso stolz auf mich gewesen, ob ich einen Fisch gefangen hätte oder nicht. Als wir wieder zurück waren, nahmen wir die Fische aus, und er briet sie für mich, um zwei Uhr in der Nacht. Grandma wachte auf und aß mit uns, und dann gab sie mir einen Kuss auf die Stirn, räumte die Küche auf und wünschte uns eine gute Nacht.
PaPa schickte mich ins Bett, und ich fragte ihn, ob ich das Licht anlassen durfte. In letzter Zeit schlief ich nicht gern im Dunkeln. Ich fühlte mich nicht sicher, wenn es dunkel war. Er sagte Ja und zog einen Stuhl an mein Bett.
»Ich bleibe hier sitzen, bis du eingeschlafen bist«, versprach er.
»Schon okay. Es geht mir gut.«
»Nein«, sagte er. »Es geht dir nicht gut. Und das ist okay.« Er reichte mir seine Hand, und ich legte meine hinein. »Und es ist auch okay zu weinen. Ich weine auch manchmal.«
Die Tränen kamen zurück. Ich fühlte mich nicht wirklich wie ein Mann, weil ich schon wieder weinte, aber PaPa weinte auch, und er war der männlichste Mann, den ich kannte. Er angelte, hackte Holz und weinte manchmal auch.
Deshalb fühlte ich mich ein bisschen besser, auch wenn mein Herz immer noch traurig war.
»PaPa?«
»Ja, Theo?«
»Du kannst das Licht ausmachen, wenn du heute Nacht bei mir bleibst.«
»In Ordnung.«
Er schaltete das Licht aus, kam zurück und nahm wieder meine Hand. Ich war immer noch traurig. Ich wollte, dass meine Mom zurückkam, war mir aber ziemlich sicher, dass sie das nicht tun würde. Meinen Vater hatte ich nie gesehen, und jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich auch meine Mutter nie wiedersehen würde. Was mich noch trauriger machte. Aber ich hatte meine Großeltern, Molly und Harry Langford, und die beiden waren meine besten Freunde. Ich hatte nicht viele Freunde, weil ich manchmal über meine eigenen Worte stolperte. Außerdem war ich klein und pummelig. Viele der Kinder in meinem Alter ärgerten mich wegen meines Aussehens und meines Stotterns, also hatte ich irgendwann aufgehört, nach Freunden zu suchen.
Stattdessen ging ich lieber mit PaPa angeln. Manchmal half ich Grandma auch dabei, Sauerteigbrot zu backen, das die beiden auf dem Bauernmarkt verkauften, und in ihrem kleinen Restaurant, dem Fisherman’s Loaf. PaPa meinte, dass ich das Fisherman’s Loaf eines Tages übernehmen könnte, und ich freute mich schon darauf, denn ich wusste, dass ich ihn nicht enttäuschen würde.
»Theo?«
»Ja, PaPa?« Ich gähnte.
»Dein Wert bemisst sich nicht daran, wie viele Menschen dich verlassen. Vergiss das nicht. Deine Mom … mein kleines Mädchen … kämpft schon sehr, sehr lange gegen ihre Dämonen. Ihre Entscheidung zu gehen hatte nichts mit dir zu tun, okay?«
Aber warum war ich nicht gut genug, um sie bei mir zu halten?
Doch das sagte ich nicht laut.
»Ich hab dich lieb, Junge. Irgendwann wird es dir wieder besser gehen.«
Ja, dachte ich, auch wenn ich es noch nicht ganz glaubte. Ich wusste nicht, wann ich es glauben würde, aber ich hoffte sehr, dass es stimmte.
Irgendwann würde es mir wieder besser gehen.
THEO
Gegenwart
Zweiunddreißig Jahre alt
»Sieben Dollar?« Julia Ripton schlug die Hände vor der Brust zusammen, als hätte ich ihr gerade eröffnet, dass ihr Hund bei einem tragischen Unfall gestorben war. »Soll das ein Witz sein? Das ist Wucher.«
»Das ist ein fairer Preis«, erklärte ich von der anderen Seite des Marktstands. Meine Großeltern und ich führten diesen Stand nun schon seit über zehn Jahren neben dem Familienrestaurant, das nun schon seit über vierzig Jahren existierte, doch irgendwie schien Julia Ripton jede Woche neu über unsere Preise zu erschrecken. Zugegeben, wir hatten den Preis für unser Sauerteigbrot vor ein paar Wochen um fünfzig Cents erhöht, aber schließlich war alles teurer geworden. Sieben Dollar für ein handgebackenes Sauerteigbrot mit Rosmarin und Cheddar war vollkommen angebracht.
»Patty verkauft ihres für fünf«, sagte Julia und rieb sich das Kinn. »Und zwei sogar für neun.«
»Dann sollten Sie Ihr Brot einfach dort kaufen«, erwiderte ich trocken, denn ich hatte kein Interesse, mit ihr zu verhandeln. Dieses Hin und Her hatten wir erst letzte Woche wegen der fünfzig Cent Preiserhöhung durchgemacht. Und in der Woche davor. Außerdem hatte ich in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, weil ich weit länger draußen auf dem Wasser gewesen war, als ich hätte sein sollen.
Das Letzte, was ich nach einer fast fanglosen Nacht brauchte, war Julia Ripton, die sich über den Brotpreis beschwerte. Meine Großeltern waren wahre Profis im Umgang mit anderen Menschen, aber verdammt … ich hasste Menschen. Sie waren mir einfach zu … menschlich. Ich zog es vor, für mich zu bleiben, doch leider ließen sich keine Rechnungen damit bezahlen, dass ich vierundzwanzig Stunden am Tag draußen in meinem Boot hockte. Ich musste arbeiten.
»Ihre Einstellung gefällt mir nicht, Theo. Wo ist Ihre Großmutter? Ich wette, Molly würde mir ein gutes Angebot machen«, sagte Julia.
Womit sie vermutlich recht hatte. Grandma führte unser kleines Geschäft genau so, wie man es von einem familiengeführten Unternehmen in einer kleinen Stadt erwarten würde – als wäre es eine Wohltätigkeitsorganisation. In den beiden Wochen, in denen ich mit einer Grippe im Bett gelegen und Grandma mit PaPa den Marktstand und das Restaurant übernommen hatte, hatten wir es irgendwie geschafft, weniger einzunehmen als auszugeben. Die beiden hatten buchstäblich Geld verschenkt, weil irgendwer angeblich seine Stromrechnung nicht bezahlen konnte. PaPa war sogar losgezogen und hatte diesen Leuten ihren Wocheneinkauf ins Haus geliefert.
Verflixte Mr und Mrs Weihnachtsmann.
»Julia, hinter Ihnen warten zahlreiche weitere Kunden. Entweder Sie nehmen das Brot, oder Sie gehen zu Patty«, sagte ich und sah auf die Schlange, die sich hinter ihr gebildet hatte. Wir würden problemlos all unsere Ware loswerden, so wie jede Woche. Und trotz des Gezeters, das Julia gerade veranstaltete, würde auch sie unser Brot kaufen, denn wir wussten beide, wie Pattys Sauerteigbrot schmeckte. Selbst Trockenfutter war vermutlich weicher als dieses Zeug.
»Also gut«, murmelte sie und zog ihre Geldbörse heraus. »Aber langsam wird es wirklich lächerlich. Alles wird teurer, nur unsere Gehälter bleiben, wie sie sind. Es ist wirklich eine Schande.« Dann blickte sie auf die Brote. »Geben Sie mir zwei. Eins mit Rosmarin, eins mit Apfel-Zimt – oh, und ein Glas von Mollys Honig. Und zwei Pfund Barsch.«
»Das macht vierzig Dollar.«
»Vierzig Dollar?!«, rief sie und schnappte nach Luft. »Soll das ein Witz sein? Das ist Wucher!«
Ich seufzte.
Runde zwei.
»Bezahl oder geh weiter«, schimpfte Dale, der hinter ihr in der Schlange stand. Er arbeitete in der Autowerkstatt und war der größte Stinkstiefel der Stadt – nach mir. Aber Dale stand mir in nichts nach, und schon deshalb mochte ich ihn. Er war etwa Mitte sechzig und ließ sich von niemandem etwas gefallen. Auch nicht von Julia Ripton und ihrem ständigem Gejammer. »Wir haben hier keine Zeit für dieses Rumgeheule. Also verzieh dich, oder gib dem Jungen sein verdammtes Geld.«
Julia wirbelte zu Dale herum und schnappte schockiert nach Luft. »Oh, beiß mich doch, Dale Stone.«
»Hab ich schon. Hat mir nicht geschmeckt«, erwiderte er knapp.
Fast hätte ich gegrinst, doch ich war zu desinteressiert, um mir die Mühe zu machen.
Es ging doch nichts über ein geschiedenes Paar hintereinander in der Schlange.
Genervt gab Julia mir das Geld, sammelte ihre Einkäufe zusammen und marschierte wutschnaubend davon.
»Kann immer noch nicht glauben, dass ich dreißig Jahre lang mit dieser Frau verheiratet war«, sagte Dale, als er an meinen Verkaufstisch trat. »In meinen Albträumen hör ich sie immer noch zetern.« Er nickte knapp. »Habt ihr noch Barsch und Blaue Sonnenbarsche?«
»Jepp.«
»Dann gib mir jeweils drei Pfund von beidem. Und zwei Brote.«
Ich rechnete alles zusammen, und er zahlte, ohne zu zögern. Ja, er gab mir sogar noch zehn Dollar Trinkgeld. Ich nickte stumm, um mich zu bedanken. Er nickte zurück und ging.
Menschen wie Dale waren mir die liebsten. Er blieb für sich, und wenn jemand ihn verärgerte, erklärte er ihm oder ihr, sie sollten sich verpissen, und dann kümmerte er sich wieder um seinen eigenen Kram. Kein Wunder, dass er und Julia nicht miteinander ausgekommen waren, denn es war praktisch ihr Beruf, sich um die Angelegenheiten aller anderen Leute um sie herum zu kümmern, nur nicht um ihren eigenen.
Am Ende des Nachmittags hatte ich alles verkauft, was wir im Angebot gehabt hatten. Was mich nicht überraschte. Ich war ganz sicher nicht reich, aber wir drei konnten gut von den Marktverkäufen und unserem Kleinstadtrestaurant leben. Ein paar Leute meinten, ich sollte in eine größere Stadt ziehen, wo ich mehr Geld verdienen könnte, aber ich brauchte nicht viel. Ich hatte ein Dach über dem Kopf und ein Boot an meinem Steg – was wollte ich mehr? Die Dinge, nach denen andere Leute sich sehnten, interessierten mich nicht. Ich wollte weder Geld noch Ruhm – verdammt, ich wollte nicht mal Freunde. Ich wollte einfach nur meine Ruhe.
Als alles verkauft war, packte ich meinen Stand zusammen, warf die Sachen auf die Ladefläche meines Yukon und ging zur Fahrertür, um zu meinen Großeltern rüberzufahren. Als ich jedoch um den Wagen herumtrat, sah ich eine vertraute Gestalt, von der ich wünschte, sie wäre mir nicht so vertraut, an der Karosserie lehnen.
Noch bevor sie den Mund öffnen konnte, hatte ich bereits mit dem Gespräch abgeschlossen, in das sie mich jeden Moment hineinzerren würde.
»Kaitlin«, sagte ich und nickte ihr zu, während ich auf die Fahrertür zusteuerte.
Sie antwortete mir mit ihrem warmen Lächeln und strich sich mit der Hand durch die rotblonden Haare. Definitiv nicht die Haarfarbe, mit der sie zur Welt gekommen war, aber Kaitlin konnte ein paar Dinge sehr gut. Haare färben stand ganz oben auf ihrer Liste. »Hey du. Du hast nicht zurückgerufen.«
»Ach wirklich?«
»Lust, ne Kleinigkeit essen zu gehen?«
»Nein.« Ich griff nach meiner Tür, um sie zu öffnen, doch sie stellte sich davor, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen. »Ich habe noch jede Menge zu erledigen, Kaitlin.«
Sie zog einen Schmollmund. »Du fehlst mir, Theo.«
»Nun, daran hättest du denken sollen, bevor du fremdgegangen bist.«
Kaitlin und ich waren nicht lange zusammen gewesen, und ich hätte mich gar nicht erst mit ihr einlassen sollen. Ich war nicht an einer Beziehung interessiert, doch meine Großeltern waren fest davon überzeugt, dass ich einsam sterben würde, wenn ich nicht auf den Markt drängte. Aber selbst das hatte ich nicht getan. Allein zu sterben klang gar nicht so übel, und wenn man es recht bedachte, starben wir doch am Ende alle allein. Jeder von uns ging allein ins nächste Leben hinüber.
Es war Grandma gewesen, die Kaitlin meine Nummer gegeben und ihr versichert hatte, dass ich mit ihr ausgehen würde.
Und ich hatte nicht mal die Eier gehabt, sie abzuweisen, also waren wir ein paar Monate lang miteinander ausgegangen. Wenn ich die Zeit hätte zurückdrehen können, hätte ich Kaitlin gesagt, sie solle meine Nummer löschen. Ihre hatte ich bereits gelöscht.
Kaitlins Schmollen gewann noch an Dramatik. »Es war nur ein einziges Mal, und es zählt nicht mal wirklich als Fremdgehen, Theo.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du hast mit meinem Cousin geschlafen.«
»Das ist keine große Sache. Peter schläft mit jeder.«
Als ob das die Sache besser machen würde.
»Du hast mich ja nicht rangelassen. Wir haben uns noch nicht mal geküsst. Weißt du, es geht das Gerücht um, dass du noch Jungfrau bist. Ich versuche bloß, den Leuten das Gegenteil zu beweisen.«
Eine Sekunde lang starrte ich sie mit leerem Blick an.
Dann öffnete ich wortlos die Fahrertür, stieg ein und zog sie hinter mir zu.
Als ich bei meinen Großeltern ankam, saßen sie hinten auf ihrer Veranda. Grandma mit einem Glas Wein, PaPa in seinem Rollstuhl, in dem er nun seit etwa einem Jahr saß. In letzter Zeit hatte er deutlich abgebaut, und das war furchtbar mitanzusehen. Er konnte das Haus kaum noch verlassen, und die beiden hatten sogar eine Pflegekraft eingestellt, die sich um ihn kümmerte.
Mein Großvater würde bald sterben.
Das war die grausamste Wahrheit, der ich mich je hatte stellen müssen. Das Schlimmste am Erwachsenwerden war, mitansehen zu müssen, wie deine Helden älter wurden.
Wir hatten nie offen über PaPas Gesundheitszustand gesprochen, doch ich ging davon aus, dass uns allen bewusst war, wohin die Reise ging. Er war neunzig Jahre alt und hatte ein großartiges Leben gehabt. Wir alle wussten, dass er nicht mehr viele Jahre vor sich hatte – und dennoch betete ich, dass ihm mehr Zeit blieb.
Doch meine Großeltern ließen sich von dem, was sie erwartete, keine Angst einjagen. Als ich dort ankam, saßen sie auf ihrer Veranda und kicherten wie zwei frischverliebte Teenager. Aber die beiden hatten sich immer schon so verhalten. Vielleicht hatte es mich deshalb nicht getroffen, als die Sache mit Kaitlin in die Brüche ging. Ich hatte nie so mit ihr gelacht. Sie fand einfach nur, dass wir zusammen gut aussahen, und das war mir ein bisschen zu oberflächlich. Zumal ich das deutliche Gefühl hatte, sie und ihre Freundinnen wollten auf ihrer Bucket List bloß die »zweiunddreißig Jahre alte Jungfer« abhaken.
Ich bereitete das Abendessen zu, und wir setzten uns wie jeden Abend zusammen an den Tisch im Esszimmer. PaPa redete über Baseball, und Grandma fragte, ob ich am Sonntag mit ihr zur Messe gehen wollte. Sie fragte jedes Mal, aber ich ging nie mit. Was nicht daran lag, dass ich nicht an Gott glaubte oder so, auch wenn er mich manchmal echt wütend machte, aber ich glaubte einfach nicht, dass ich ihn in einer Kirche finden würde. Ich würde ihn immer auf dem Wasser finden, umgeben von der Natur.
»Vergiss nicht, Theo, morgen kommt meine Freundin zu Besuch. Hast du immer noch Platz für sie?«
»Jepp«, erwiderte ich knapp. Meine Großeltern wohnten in einem winzigen Haus mit zwei Schlafzimmern – weil sie es so wollten. Seit Jahren versuchte ich sie davon zu überzeugen, ihr Haus auszubauen, aber sie mochten es so, wie es war. Ich selbst hatte damals in ihrem Gästezimmer geschlafen, das aber nun von PaPas Pflegerin beansprucht wurde.
Also hatte ich mein Gästezimmer angeboten – und damit meine ich, dass Grandma ihrer Freundin gesagt hatte, sie könne bei mir unterkommen, ohne mich vorher zu fragen. Ich hasste die Vorstellung, konnte mich aber nicht beschweren. Meine Großeltern hatten mich damals aufgenommen und sich um mich gekümmert; das Mindeste, was ich tun konnte, war also, eine von ihren Freundinnen den Sommer über bei mir wohnen zu lassen.
Die beiden wollten in ein paar Wochen ihren Hochzeitstag mit einer großen Party feiern, und Grandma erzählte ständig davon, dass ihre Freundin herkommen und alles für sie organisieren wollte. Die Party würde ebenfalls bei mir stattfinden, und es würden jede Menge Leute kommen, denn meine Großeltern waren wahnsinnig gut darin, mit allen Freundschaft zu schließen, die ihnen über den Weg liefen. Das Motto lautete Alice im Wunderland – die Lieblingsgeschichte meiner Großmutter. PaPa hatte zugestimmt, denn was immer Grandma wollte, bekam sie auch. So war es schon immer gewesen. Und Grandma wollte immer verrückte, farbenfrohe Feste. Sie hatte sogar erklärt, dass ihre und PaPas Trauerfeiern auf keinen Fall wie eine Trauerfeier aussehen sollten. »Jede Menge Farben und Musik«, hatte sie gesagt. »Und Whiskey«, hatte PaPa hinzugefügt.
Alles, was mit Molly Langford zu tun hatte, war bunt und lebendig. Vor allem ihre Party zum Hochzeitstag.
Und mir graute schon davor.
Noch mehr aber graute mir davor, den gesamten Sommer hindurch eine andere Person im Haus zu haben. Wie gesagt, ich mochte es, allein zu sein.
Vor ein paar Jahren, als Grandma ihre Schwester in Chicago besucht hatte, hatte sie im Häkelkurs Freundschaft mit einer anderen Frau geschlossen. Seitdem hatten die beiden sich regelmäßig geschrieben. Wie typisch für meine Großmutter, noch mit Ende achtzig eine neue Freundin zu finden. Und ebendiese Freundin hatte sie nun eingeladen, den Sommer hier zu verbringen.
Den. Ganzen. Verdammten. Sommer.
Und ihre Freundin hatte Ja gesagt.
Was bedeutete, dass ich die nächsten drei Monate mit einer alten Dame verbringen würde, die noch handschriftliche Briefe verschickte, als wäre es das Normalste von der Welt. Nicht schlecht, pensioniert zu sein und seine Sommer dort verbringen zu können, wo man wollte.
Hoffentlich war sie keine Labertasche.
Ich verfügte weder über die Zeit noch über die Energie, mir anzuhören, wie eine alte Frau über Häkelmuster und Seifenopern laberte, und hoffte inständig, dass sie den Großteil ihrer Zeit bei Grandma und PaPa verbringen und mittags um drei schlafen gehen würde, sodass wir uns so gut wie nie über den Weg liefen. Das wäre die beste Variante.
Und die schlechteste?
Laber, laber, laber …
Nach dem Abendessen tat ich, was ich in den Sommermonaten immer tat: Ich schnappte mir meine Angelausrüstung und hockte bis spät in der Nacht in meinem Boot. Zusätzlich hatte ich auch immer ein Buch dabei, für den Fall, dass keine Fische kamen. Und am nächsten Abend tat ich das Gleiche. Ich mochte mein Leben. Es war nicht viel, aber es war einfach.
Es war still.
Und ich liebte die Stille.
Als Kind hatte ich mich oft einsam gefühlt. Ich hatte keine Freunde gehabt und war ständig geärgert worden, was dazu führte, dass ich mich auf zwei Dinge konzentrierte: Angeln und Lesen. Manchmal las ich Bücher übers Angeln. Selbst als Erwachsener blieb ich meistens für mich. Als Jugendlicher hatte ich viel Zeit im Fitnessstudio verbracht, um Muskeln aufzubauen, denn wenn du stark genug warst, um dich zu wehren, wurdest du nicht so schnell zusammengeschlagen. Mein Großvater hatte oft mit mir geschimpft, weil ich mich ständig prügelte, aber als ich ihm schließlich gestand, warum das so oft vorkam, meldete er mich bei einem Karatekurs an.
Seit Jahren hatte ich mich nicht mehr behaupten müssen, und ich dankte meinen Muskeln dafür. Trotzdem fiel es mir nach wie vor schwer, irgendeine Verbindung zu den Leuten in der Stadt aufzubauen, vor allem zu denen, die so taten, als hätten sie mich früher nicht mies behandelt – Männer wie Frauen. Es war schon verwunderlich, wie viele Leute an Gedächtnisschwund litten, wenn es darum ging, wie sie andere behandelt hatten.
Ob sie sich, wenn sie auf dem Markt zu mir kamen und einen Preisnachlass für den Lachs haben wollten, noch daran erinnerten, wie sie in der Schule meinen Kopf in die Kloschüssel gehalten hatten? Oder wie sie mich die ganze Highschool hindurch St-t-t-totter-Theo genannt hatten, während sie jetzt tatsächlich den Nerv hatten, mich zu fragen, ob ich mit ihnen ausgehen wollte? Eines jedenfalls musste ich Kaitlin zugutehalten: Sie hatte mich nie geärgert. Aber sie hatte mit meinem Cousin geschlafen, was mir reichte, um mich aus ihrem Leben zurückzuziehen.
Aber im Grunde spielte das alles keine Rolle, denn ich war nicht länger der verängstigte kleine Junge, und ich war auch nicht daran interessiert, mich zu verlieben. Denn ich hatte meine große Liebe bereits gefunden.
Auf dem Wasser.
In meinem Boot.
Mit einem Buch in der Hand.
Und einer Angelschnur im Wasser.
Alles lief prima, bis ich gegen zwei Uhr morgens, ganz in der Nähe meines Bootes, ein lautes Platschen hörte.
THEO
Was zum Teufel war das?
Ich stellte mich hin, legte mein Buch auf den Sitz und sah mich suchend um. Da ich um diese späte Stunde immer allein auf dem Wasser war, wusste ich, dass es kein anderer Angler gewesen sein konnte. Und auch nicht der angebliche Riesenkalmar Mumford, dessen Legende am Lagerfeuer erzählt wurde, als ich noch klein war.
Es hatte so geklungen, als ob etwas ins Wasser gefallen wäre.
Ich schaltete die Scheinwerfer an und suchte die Stelle, an der die Wellen stärker sein würden als sonst. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ein erneutes Platschen hörte.
Nicht etwas war ins Wasser gefallen.
Sondern jemand.
Ohne zu zögern, gab ich Gas und fuhr in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Wenn jemand mitten in der Nacht Hilfe brauchte, würde ich ganz sicher nicht wegsehen, zumal es vermutlich irgendwer von der Highschool war, der oder die betrunken irgendeinen Unsinn angestellt hatte. So was passierte ziemlich oft in Westin Lake, wenn das Wetter endlich wieder besser wurde. Alkohol und Dummköpfe.
Als ich mich dem Areal näherte, drosselte ich das Tempo und sah eine Gestalt im Wasser treiben.
»Himmel«, murmelte ich leise, bevor ich rief: »Hey, alles in Ordnung?«
Keine Antwort. Langsam tuckerte ich näher heran, um die Gestalt besser erkennen zu können. Der runde Hintern einer splitternackten Frau schaute aus dem Wasser. Offenbar war heute nicht nur der Mond voll.
Ihr Kopf war unter Wasser, und sie rührte sich nicht. Hastig beugte ich mich hinunter und machte mich daran, sie aus dem Wasser zu ziehen. Als ich sie umdrehte, sah ich eine fette Platzwunde an ihrer Stirn, und als ich mich umblickte, fiel mir das Seil an einem Baum oben auf der Klippe ins Auge. »Diese verfluchten Teenager«, knurrte ich. Wie oft hatte ich dieses Seil schon abgeschnitten, weil es wegen der Felsen unter Wasser zu gefährlich war, von dort aus in den Westin Lake zu springen. Ich hatte es sogar mehrfach bei den Gemeindeversammlungen angesprochen, aber leider interessierte sich niemand dafür, was ich zu sagen hatte.
Ich zog die Frau ins Boot, wobei ich selbst komplett unter Wasser geriet, und suchte nach einem Puls. Ihr Herz schlug noch, Gott sei Dank. Trotzdem sah sie nicht gut aus.
Also begann ich, für den Fall, dass sie Wasser in die Lungen bekommen hatte, mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung. Und zum Glück fing sie schon bald an, das Wasser wieder hervorzuhusten. Ich rollte sie auf die Seite, wobei ich mir alle Mühe gab, sie möglichst nicht an Körperstellen zu berühren, die als unantastbar angesehen werden könnten, während sie langsam wieder zu Bewusstsein kam.
Sie hustete weiter und rang nach Luft, bevor sie leise aufstöhnte und sich mit der Hand an die Stirn fasste. »Au«, murmelte sie leise und setzte sich ein wenig auf. »Wo bin ich?«
»In meinem Boot.«
Was ausreichte, um ihr einen gigantischen Schreck einzujagen. Beim Klang meiner Stimme zuckte sie heftig zusammen, und als sie sich zu mir umdrehte, stand ihr Panik ins Gesicht geschrieben. »Wer bist du?« Sie blickte sich um und stellte offenbar fest, dass sie sich allein mit mir in einem Boot mitten auf dem See befand. Morgens um zwei. In fast völliger Dunkelheit. Was sich, um fair zu sein, insgesamt nicht besonders rosig ausnahm.
Das Boot schwankte ein wenig, als sie sich hinzustellen versuchte – bis ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie nichts anhatte.
»Ich bin nackt!«, rief sie, und ihre Stimme hallte übers Wasser.
Ich wandte mich ab, um ihr ein wenig Privatsphäre zu geben.
»Das bist du«, erwiderte ich trocken. »Und nur, damit das klar ist, ich habe dir die Klamotten nicht ausgezogen. Du hattest keine an, als du da draußen im Wasser getrieben bist.«
»Oh Gott, mein Kopf«, stöhnte sie. »Was ist passiert?«
»Ich gehe davon aus, du wolltest vom Rocky Pier runterspringen. Aber der Sprung ist verdammt gefährlich. Als Kind hab ich dabei mal einen Zahn verloren und mir an einem der Felsen ziemlich heftig den Kopf gestoßen.« Ich ging zu meiner Sporttasche hinüber, in der ich immer eine Garnitur trockener Klamotten und ein Handtuch aufbewahrte, für den Fall, dass ich ins Wasser fiel.
»Hier«, sagte ich, immer noch ohne sie anzusehen, während ich ihr Handtuch, Jogginghose und Sweatshirt hinhielt. »Das kannst du überziehen.«
»Danke«, sagte sie leise, und ihre Stimme klang, als wäre sie in Honig getaucht. Schockierend süß. Irgendwie klang sie selbst dann noch süß, wenn sie schrie.
Wer zur Hölle war diese Frau?
Ich sprang schon mein ganzes Leben in den Westin Lake, doch ich hatte sie noch nie gesehen. Auch kannte ich jeden einzelnen Bewohner dieser Stadt, und alle kannten mich. Doch wie sie die Augen aufgerissen hatte, als unsere Blicke sich trafen, waren wir einander vollkommen fremd.
Ich gab ihr Zeit, sich anzuziehen, und sie gab mir Bescheid, als sie fertig war.
Als ich mich wieder zu ihr umdrehte, lächelte sie unbehaglich. Sie war immer noch nervös, und das vollkommen zu Recht, doch ihr Kopf musste echt wehtun, so wie sie sich immer wieder an die Stirn fasste.
»Das muss wahrscheinlich genäht werden«, sagte ich und trat ans Steuer. »Wo wohnst du?«
»In Big Bird«, antwortete sie.
»Du wohnst … in Big Bird?«
Sie nickte. »Ja.«
Ich seufzte und massierte meine Nasenwurzel. So hatte ich mir meinen Abend ganz sicher nicht vorgestellt. »Wahrscheinlich hast du auch eine Gehirnerschütterung. Die Arztpraxis hier öffnet erst wieder nach dem langen Wochenende, und …«
»Nein, nein«, sagte sie und drückte sich das Handtuch, mit dem sie sich abgetrocknet hatte, an die Stirn. »Big Bird ist mein Wohnmobil. Mein Vater nennt mich immer sein kleines Vögelchen, deshalb dachte ich, es wäre witzig, meinen umgebauten Schulbus Big Bird, großer Vogel, zu nennen, und … au …«, stöhnte sie, als sie ihre Stirn ein wenig zu fest berührte.
Wohnmobil? Big Bird?
Was?
»Lass mich mal sehen«, sagte ich und trat zu ihr.
Sie zögerte. »Du bist kein Serienmörder, oder?«
»Wenn ich einer wäre, würdest du dann aus dem Boot springen?«
Sie sah sich um und kniff die Augen zusammen. »Nein. Das Wasser ist furchtbar kalt, und ich will deine Klamotten nicht nass machen.«
Die Frau war echt ne Marke.
»Sorry, dass du meine« – sie zeigte auf ihren Körper – »privaten Teile gesehen hast.«
»Keine Sorge, ich habe mich mehr darauf konzentriert, dich nicht sterben zu lassen, als deinen Körper abzuchecken.«
Sie stemmte lächelnd eine Hand in die Hüfte. »Das war sehr unserienmörderhaft von dir. Wie heißt du?«
»Theo.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich bin Willow.«
Ich blinzelte. »Okay.«
Es war das erste Mal, dass ich ihre Lippen genauer betrachtete, abgesehen von meinem Versuch, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Das erste Mal, dass ich sie wirklich ansah. Sie war eine schöne Frau, vielleicht die schönste, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Sie hatte dunkle schokoladenbraune Augen, wunderschöne braune Haut und ein Lächeln, das aussah, als wäre es im Himmel erschaffen worden. Ihr Haar war klitschnass, aber lang, und ich konnte die Locken darin sehen.
Sie lächelte immer noch.
Es war ein gutes Lächeln.
Ich erwiderte es nicht. Ich war zu gleichgültig, um zu lächeln.
»Setz dich hin und halt dich fest. Wir sollten zusehen, dass wir deine Wunde genäht kriegen«, knurrte ich ungehalten, weil meine Einsamkeit ein so abruptes Ende genommen hatte. Wie unverschämt von ihr, während der Stunden, die ich allein für mich sein konnte, beinahe zu sterben.
Zu Hause schaltete ich alle Lampen an, und als wir ins Wohnzimmer traten, sammelte ich hastig die Kleidungsstücke und Bierflaschen ein, die überall verteilt waren.
Willow setzte sich in meinen Fernsehsessel und machte es sich gemütlich. Sie wirkte wie eine Frau, die es sich überall gemütlich machen konnte, wohin auch immer ihre Füße sie hintrugen. Allerdings wirkte sie auch wie eine Frau, deren Füße sich nie lange am selben Ort aufhielten. In dieser Hinsicht waren wir grundverschieden. Sie wirkte wie jemand, der ständig von einem Ort zum nächsten zog. Ich stand eher darauf, zu bleiben, wo ich war.
»Lass mich rasch die nassen Klamotten ausziehen, dann flicke ich dich zusammen.«
Nachdem ich mich in meinem Schlafzimmer abgetrocknet und mir ebenfalls Jogginghose und Sweatshirt übergestreift hatte, nahm ich ein paar Sachen aus meinem Erste-Hilfe-Kasten und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Willow immer noch im Sessel saß.
Sie richtete sich ein wenig auf, kam mir mit dem Oberkörper entgegen und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Weißt du, wie man näht?«
»Klar. Ich hatte einen guten Lehrer.«
Sie beugte sich noch weiter vor. »Na dann, bitte, flick mich wieder zusammen.«
Wollte sie nicht noch mehr Fragen stellen? Meine Fresse, die Frau war eindeutig nicht die hellste Kerze auf der Torte. Zu ihrem Glück war ich kein Serienkiller oder so was, aber sich einfach so von mir mit nach Hause nehmen und die Stirn nähen zu lassen war ehrlich verrückt. Ihr Gefahrenradar musste komplett ausgeschaltet sein. Sie war in mein Haus marschiert, als wären wir alte Freunde.
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich. Nachdem ich ihre Wunde ein wenig gesäubert hatte, begann ich zu nähen, während sie mit geschlossenen Augen dasaß.
»Also, Theodore …«
»Theo«, korrigierte ich. »Einfach Theo.«
»Also, Einfach Theo«, setzte sie erneut an. »Erzähl mal, welcher war der schlimmste Tag in deinem Leben?«
Ich schnaubte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich bin an einem tiefgründigen Gespräch nicht interessiert.«
»Ich hasse oberflächliche Gespräche.«
»Ich rede generell nicht gern.«
»Bist du antisozial?«
»So könnte man es auch nennen.«
»Ich bin sozial-sozial.«
»Was für eine Überraschung«, sagte ich spöttisch. Auch wenn sie wirklich schön aussah, wünschte ich, sie würde aufhören zu reden. Ich kam immer noch nicht darüber hinweg, wie dumm sie gewesen war, nachts um zwei in den verdammten See zu springen. »Du hättest bei diesem Sprung sterben können«, schimpfte ich, denn ich konnte diesen Gedanken nicht länger für mich behalten. Was seltsam war, denn ich hatte eigentlich nie ein Problem damit, meine Gedanken für mich zu behalten.
»Ach.« Sie zuckte mit den Schultern. »Irgendwann sterben wir alle.«
»Kein Grund, nachzuhelfen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und neigte leicht den Kopf. »Ich mag’s halt schnell.«
Ich schob ihren Kopf in die richtige Position zurück. Diese verdammte Frau.Was genau hatte sie vor? Sie hielt ihren Blick weiter auf mich gerichtet, was mir extrem unangenehm war. Jedes Mal, wenn sie mich so anstarrte, wurde mir ein wenig schwindelig. Ihr Blick gefiel mir nicht. Sie sah aus, als wollte sie all meine verschlossenen Seiten lesen.
»Du bleibst lieber für dich, oder?«, fragte sie.
»Jepp.«
»Bist du nicht einsam?«
»Nie.«
»Was ist passiert, dass du lieber allein bist?«
»Nichts.«
»Doch, irgendetwas ist passiert.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich sehe es in deinen Augen.«
Ich verlagerte mein Gewicht ein wenig nach hinten und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Und wie genau sehen meine Augen aus?«
»Ein bisschen traurig.«
»Du weißt einen Scheiß über mich«, knurrte ich und spürte, wie das Unbehagen in mir wuchs.
Willow blieb ruhig. »Man muss nichts über einen anderen Menschen wissen, um traurige Augen zu erkennen.«
»Was zum Teufel hast du eigentlich allein und nackt da draußen gemacht, hm?«, fuhr ich sie an, denn ich war wütend, weil sie mich zu durchschauen glaubte. Wütend, weil es sich tatsächlich so anfühlte, als könnte sie mich durchschauen. »Hast du eine Ahnung, wie gefährlich es ist, als Frau um diese Uhrzeit allein da draußen zu sein? Dir hätte alles Mögliche passieren können.«
»Ja, aber die Gelegenheit konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
»Welche Gelegenheit?«
»Im Licht des Vollmonds zu baden und seine Energie aufzusaugen, bevor ich zu ihm hinaufheule.«
Shit.
Ich nähte offenbar gerade eine Hexe zusammen.
Ich schwieg. Sie stellte mir noch weitere Fragen, die ich jedoch ignorierte. Ich wollte nicht mit ihr sprechen und morgens um kurz vor drei auch mit niemand anderem. Ich wollte in meinem Boot sitzen oder im Bett liegen und lesen. Das war’s, was ich wollte, mehr nicht.
Doch stattdessen hockte ich hier und nähte die Wunde einer Frau, die den verfluchten Mond anheulte.
»Das war dumm und gefährlich«, knurrte ich. Aus irgendeinem Grund machte ihre quirlige Art mich fuchsteufelswild. Sie tat wahrhaftig so, als hätte sie da draußen nicht sterben können. »Du hättest da draußen sterben können.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Bin ich aber nicht.«
»Aber nur, weil ich dich gefunden habe«, erwiderte ich.
»Ja, du hast mich gefunden.«
Sie sagte es so nüchtern, als hätte es niemals den geringsten Zweifel daran gegeben, dass ich sie finden würde.
»Aber wenn ich dich nicht gefunden hätte«, drängte ich.
»Aber du hast mich gefunden«, erwiderte sie.
Ich verdrehte die Augen. »Lass mich raten, du gehörst zu den Menschen, für die das Glas immer halb voll ist.«