Wegweiser zum Leseerfolg - Daniela Arnold - E-Book

Wegweiser zum Leseerfolg E-Book

Daniela Arnold

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Beschreibung

Lesen ist der Schlüssel zu Bildung, gesellschaftlicher Teilhabe und lebenslangem Lernen. Doch für viele Menschen bleibt diese grundlegende Fähigkeit eine Herausforderung. Warum fällt das Lesen so schwer und wie kann wirksame Unterstützung aussehen? Dieses Buch gibt fundierte Einblicke in die vielschichtigen Ursachen von Leseschwierigkeiten. Es beleuchtet die Rolle frühkindlicher Reflexe, der zentralen Hör- und Sehverarbeitung, des Gleichgewichts, der Körperchemie sowie sozial-emotionaler Faktoren. Darüber hinaus zeigt es auf, wie die gezielte Förderung von Basisfähigkeiten - von motorischen und sensorischen Kompetenzen bis hin zu Resilienz - nachhaltige Lernerfolge ermöglicht. Auf Grundlage von über 20 Jahren Erfahrung in der Lern- und Verhaltensförderung stellt die Autorin Mag. Daniela Arnold ein ganzheitliches Konzept vor, das Lesen zum Erfolgserlebnis werden lässt. Praktische Tipps, konkrete Übungen und flexibel einsetzbare Tools, wie die Web-App leamos, machen das Buch zu einem wertvollen Begleiter für die tägliche Förderpraxis. Ob in Schule, Therapie oder Familie - dieses Buch unterstützt Lehrkräfte, Eltern und Therapeut:innen dabei, Lese- und Lernkompetenzen gezielt zu stärken. Es ist ein praxisnaher Leitfaden für alle, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf dem Weg zu mehr Freude, Sicherheit und Selbstvertrauen im Lesen begleiten möchten - und damit deren Zukunft nachhaltig gestalten wollen.

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meine Familie

Ich bin zutiefst dankbar für meine Familie, der ich sehr viel von meiner Lebensenergie gewidmet habe und von der ich so reich beschenkt wurde und werde.

Die vielen Aufgaben und Wege des Lebens haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute sein darf.

Danke Georg, Viktoria, Sebastian und Katharina

Inhalt

LESEN, die wichtigste KULTURTECHNIK?

PROZESS des LESENS

Ablauf des Lesenlernens

Unterschiedliche Arten des Lesens

Lesenlernen in der Schule der Zukunft

FUNDAMENT aus der Vorschulzeit

LESESCHWÄCHE und andere Diagnosen

Leseerfolg bei Kindern und Erwachsenen

Legasthenie

Sprachkompetenz

AD(H)S

Autismus

LESESCHWÄCHE analysieren

Schwäche in den Lesefertigkeiten

Beobachtungen beim Lesevorgang

GANZHEITLICHE Leseförderung

Mosaik möglicher Ursachen

Motorische Basis

Sensorische Basis

Körper- und Biochemie

Sozial - emotionale Skills

SIMMO – Leseförderung über Bewegung

LESEN ÜBEN

Ideen, Tipps und Tricks

Lesen üben im engeren Sinn

Beispiele erfolgreicher Leseförderung

Lesehund

Leseförderung mit Medien

lea

mos -

Online Lesetraining

SPIELE als Belohnung

QUELLEN

LEGENDE

Motorische Basiskompetenzen, frühkindliche Reflexe

Gleichgewicht

Sehverarbeitung

Geruch

Spüren und Fühlen

Hör- und Sprachverarbeitung

Motorik, Koordination und Rhythmik

Körper-/Biochemie

Sozial-emotionale Skills und weitere wichtige Bereiche.

Wie erkennt man Probleme in diesem Bereich? Beobachtungsansätze im Alltag

Was kann ich morgen tun? Veränderungen im Umfeld oder Verständnis für die Problematik sind sofort wirkende Maßnahmen.

Förderansätze, um an den Ursachen zu arbeiten.

Tipps und Tricks

Anregungen mit hohem Spaßfaktor.

LESEN, die wichtigste KULTURTECHNIK?

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Lesen ist das Erkennen, Verstehen und Deuten von geschriebenen oder gedruckten Zeichen und Wörtern.

Poetischer ausgedrückt ist Lesen ist das Auffinden, Aufnehmen und Auslegen von Zeichen, die ein anderer zu einer anderen Zeit hinterlassen hat. Der Lesende nimmt die Spur des anderen auf und interpretiert was die Zeichen ihm sagen. Die Ausführungen des anderen kann der Lesende durch den Lesevorgang in sich selbst aufnehmen. Lesen ist eine Form von Berührung durch Gedanken, Vorstellungen und Ideen. Berühren kann auch alles, was zwischen den Zeilen zu erkennen ist. Ein Buch zu Hand zu nehmen ist zudem mit einer sinnlichen Berührung verbunden. Der Lesende kann sich von den Zeichen, die ein anderer formuliert hat, berühren lassen.

Lesen ist die zentrale Grundlage für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn und das zunehmend essenzielle selbstständige, lebenslange Lernen. In diesem Buch geht es um individuelle Problembereiche und nicht um die Defizite in der Bildungspolitik bzw. der Schulorganisation.

Mangelnde Lesekompetenz erhöht das Risiko, sowohl beruflich als auch gesellschaftlich in der Teilhabe eingeschränkt zu sein. Gut entwickelte Lesefähigkeiten sind entscheidend, um Informationen gezielt zu erfassen, kritisch zu hinterfragen, Fakten von Meinungen zu unterscheiden und Fake News zu erkennen.

Aus meiner über 20-jährigen Erfahrung in der Begleitung von Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen habe ich eine ganzheitliche Sicht auf die grundlegenden Voraussetzungen für eine gute Lesekompetenz entwickelt. Wo liegen die Hindernisse oder Bremsklötze, die eine Potentialentfaltung der Kinder verhindern.

Da das Lesen im Gegensatz zur Sprachverarbeitung keine genetisch angelegte Fähigkeit des Menschen ist, gibt es keine Region im Gehirn, die sich ausschließlich auf den Lesevorgang spezialisiert hat. Um den Leselernprozess erfolgreich zu absolvieren, müssen mehrere Gehirnregionen synchronisiert zusammenarbeiten und teilweise sogar recycelt werden. Daher erfordert das Lesenlernen ein, in seiner Gesamtheit, gut entwickeltes Gehirn.

Die sechs Jahre vorschulischer Entwicklung bereiten das Gehirn intensiv auf den Leselernprozess vor. In dieser Zeit werden sensorische und motorische Vorläuferfertigkeiten in der realen 3D-Welt trainiert. Die Vernetzung der einzelnen Gehirnregionen wird aufgebaut und die Zusammenarbeit der verschiedenen Netzwerke synchronisiert und effizienter gestaltet.

Defizite in der Funktionalität der Sinnesorgane und den motorischen Fähigkeiten bedeuten einen körperlichen Mehraufwand beim Lernen. In der Folge kann dies zu geringeren Bildungschancen führen. Eine frühzeitige pädagogische, therapeutische oder medizinische Intervention ist entscheidend, um diese Hindernisse auszugleichen.

Erfolgreiche Schulprojekte zeigen, dass in der Schule ein Schlüssel das Verhältnis von „aufwendigen“ Kindern zu Pädagoginnen ist. Ich nenne diese Kinder „aufwendig“, weil es das Wort „zuwendig“ nicht gibt. Manche Kinder benötigen mehr Zuwendung, egal welche Diagnose oder welche Probleme sie haben. Sie sind aufwendiger, weil man sich über sie Gedanken machen muss und der Lernvorgang nicht „wie von alleine läuft“.

Fast 30% der Österreicher über 16 Jahren sind funktionale Analphabeten (PIAAC Studie 2024). Migration spielt laut Experten dabei eine untergeordnete Rolle. Obwohl der Leseförderung seit Jahren eine wichtige Rolle zugeordnet wird, hat sich die Anzahl der leseschwachen Erwachsenen gegenüber 2012 fast verdoppelt. Die bisher gesetzten Maßnahmen in der Leseförderung scheinen nicht ausreichend wirksam zu sein. Unsere Gesellschaft steht an der Schwelle eines neuen Zeitalters, in dem Künstliche Intelligenz zunehmend unseren Alltag prägen wird und wir benötigen dringend eine gute Förderung der Lesekompetenz. Dies wirft die entscheidende Frage auf, wie Kinder optimal auf ihre Zukunft in einer dynamischen und sich rasch wandelnden Welt vorbereitet werden können.

Die in diesem Buch aufgezeigten möglichen Ursachen von Leseproblemen und die sich daraus ergebenden Fördermaßnahmen können auch bei anderen Lernschwierigkeiten wie Konzentrationsproblemen, Legasthenie und Dyskalkulie helfen. Sie unterstützen zudem die Entwicklung von Resilienz.

Integrierte frühkindliche Reflexe, koordinierte motorische Tätigkeiten wie fein aufeinander abgestimmte Augenbewegungen, ein gutes Gleichgewicht sowie eine adäquate Geschwindigkeit der zentralen Hörverarbeitung können hier ebenso relevant sein wie ein ausgewogenes Darmmikrobiom. Zudem ist das Aufwachsen in einer motivierenden und angstfreien Umgebung ein wesentlicher Faktor einer harmonischen Gehirnentwicklung.

Unsere heutige, Großteils artfremde Lebensweise, stellt Heranwachsende vor erhebliche Herausforderungen, gesund aufzuwachsen und eine intrinsische Motivation zum Lesen oder Lernen zu entwickeln.

Wie können Sie herausfinden, welche Ursachen den Lese- und Lernproblemen zugrunde liegen? Hilfreiche Anregungen dazu finden Sie im Kapitel 'Beobachtungen beim Lesevorgang' auf Seite →.

Sie werden zum Detektiv und lernen, die Spuren der Problemursachen zu identifizieren und systematisch zu ordnen. Die einzelnen Mosaiksteinchen ergeben dann das Bild der Ursachen einer Leseschwäche (siehe Seite →). So können gezielt Ansätze zur Förderung der grundlegenden Lesefähigkeiten entwickelt werden.

Simmolino ist der Hauptdarsteller vom SIMMO-Übungsprogramm, das im Schulprojekt „Talente‐Bewegen – Lesen kommt in Bewegung“ verwendet wurde. Dieses Schulprojekt demonstrierte, wie sich die Lesefertigkeit und motorische Koordination von Volksschulkindern durch tägliches SIMMO-Training (körperliche Basisfähigkeiten sowie Integration frühkindlicher Reflexe) verbesserte (siehe Seite →).

Sobald der Körper altersgerecht in seiner Sinneswahrnehmung und Bewegungsqualität entwickelt ist, sind kreative Übungsideen und geeignetes Übungsmaterial sehr entscheidend. Ein lernendes Gehirn bleibt trotz zahlreicher Wiederholungen nur dann aufmerksam und neugierig, wenn es ständig neu gefordert wird. Dabei können die vielfältigen Tipps und Tricks (ab Seite →) eine wertvolle Unterstützung bieten.

leamos ist eine das Lesen gezielt fördernde Progressiv -WebAPP. Die Zielgruppe von leamos sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die sich in folgenden Bereichen verbessern wollen:

Automatisierung,

Lesegenauigkeit,

Lesegeschwindigkeit,

Abspeicherung von Wortbildern,

visuelles und auditives Kurzeitgedächtnis.

Wie kann die leamos App beim Lesen üben helfen?

Näheres lesen Sie ab Seite →.

HEUTE und in ZUKUNFT LESEN

Aus evolutionärer Sicht ist Lesen eine sehr junge Fähigkeit des Menschen. Erst vor etwa 5400 Jahren entwickelten die Babylonier die erste Schrift, wodurch Sprache in Form abstrakter Symbole festgehalten werden konnte. In 5000 Jahren kann die Genetik sich nicht anpassen. Der Zeitraum ist zu kurz, als dass das Gehirn die Anforderungen des Lesens in seine Entwicklung integrieren konnte. Lesen nutzt bestehende Gehirnstrukturen. Es muss daher gezielt angeleitet und durch viel Übung erlernt werden.

Beim Lesenlernen wird das Gehirn umgebaut. Die elementaren, geometrischen Grundformen der Buchstaben werden in ursprünglich zur Erkennung von Tierspuren genutzten Gehirnarealen verarbeitet. Schriftzeichen entwickelten sich aus diesen archaischen Formen.

„An der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur geht unsere Lesefähigkeit aus einem glücklichen Zusammentreffen mehrerer Bedingungen hervor.“ (Dehaene, 2012, p. 275).

Erst mit der Ausbreitung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert konnte sich das Lesen in der Bevölkerung verbreiten. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht vor etwa 250 Jahren wurde das Lesen für alle Bevölkerungsschichten möglich und notwendig.

In den letzten 250 Jahren war das Lesen für die breite Masse der Bevölkerung meist nur in begrenztem Umfang notwendig. Der Lebensunterhalt wurde überwiegend durch manuelle Arbeit verdient. Viele Fertigkeiten und Erfahrungen wurden mündlich weitergegeben.

Die Menge der zu lesenden Texte nimmt stark zu. Heutzutage ist für fast alle Tätigkeiten eine theoretische Ausbildung und Zertifizierung erforderlich. Selbst in manuellen Berufen ist ein sehr gutes Leseverständnis notwendig, um die zahlreichen Verordnungen und Richtlinien anwenden zu können.

Lebenslanges Lernen ist inzwischen mehr als nur ein Schlagwort. Kaum jemand bleibt sein ganzes Berufsleben in einem einzigen Beruf.

Lesen bedeutete "Abenteuer im Kopf" und war im 20. Jahrhundert oft die einzige Möglichkeit, in andere Welten einzutauchen. Beim Lesen werden die im Kopf hervorgerufenen Bilder mit dem vorhandenen Hintergrundwissen verknüpft. Analogien werden gebildet und Empathie wird erzeugt. Wer viel liest, trainiert dadurch zahlreiche kognitive Fertigkeiten und lernt kritisch zu denken. Vielleser entwickeln ein gutes verbales Kurzzeitgedächtnis, können Kategorien wie Bilder, Farben oder Symbole schneller benennen und besser vorhersagen, wie ein gesprochener Satz weitergeht.

Die Digitalisierung im 21. Jahrhundert hat die Lesekompetenz auf vielfältige Weise beeinflusst. Die permanente Erreichbarkeit, die überwältigende Flut an Informationen und die rasche Abfolge von Reizen beeinflussen nicht nur unsere kognitiven Fähigkeiten und reduzierten unsere Aufmerksamkeitsspanne, sondern haben auch tiefgreifende Auswirkungen auf unsere soziale Interaktion und mentale Gesundheit (NWX, 2023).

Der Verlust der Lesekompetenz im versunkenen Lesen stellt zunehmend eine Herausforderung dar.

Wir befinden uns im Konzeptzeitalter, in dem kreative, empathische und ganzheitliche Denkfähigkeiten zunehmend an Bedeutung gewinnen, während reine Routine- und Analyseaufgaben durch Automatisierung und Outsourcing ersetzt werden. Menschen mit hoher Kreativität, Empathie, konzeptionelles und kooperatives Denken werden im Konzeptzeitalter besonders gefragt sein, da sie komplexe Probleme lösen und neue Werte schaffen können. Zukünftige Erwachsene werden mit dem Unvorhersehbaren gut zurechtkommen müssen.

Brauchen wir Lesefertigkeiten überhaupt noch in einem Zeitalter, in dem immer mehr von der Künstlichen Intelligenz (KI) übernommen werden wird?

Die KI kann uns Dinge erklären, in dem sie Dokumente durcharbeitet und uns die Zusammenfassung als Antwort auf unsere Frage vorliest. Reicht es nicht aus, dass eine Software uns diese komprimierten Ergebnisse vorliest?

In einer zunehmend digitalisierten und informationsgetriebenen Welt ist Lesekompetenz essenziell für Bildung, beruflichen Erfolg und die kritische Bewertung von Informationen, insbesondere im Umgang mit Künstlicher Intelligenz und komplexen digitalen Medien (Antwort von ChatGpt am 6.1.2025).

Das 21st Century Skills Framework wird weltweit als Ausgangspunkt für die Erstellung von Bildungskonzepten verwendet. Menschen brauchen folgende Fähigkeiten, um für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet zu sein:

Lern‐ und Innovationsfähigkeiten

sind entscheidend für kreatives und kritisches Denken sowie für effektive Zusammenarbeit in der modernen Welt.

Informations‐, Medien‐ und Technologiekompetenzen

sind notwendig, um effektiv mit der heutigen Informationsflut umzugehen und Technologien sicher zu nutzen.

Lebens‐ und Berufskompetenzen sind wichtig für persönliches Wachstum, beruflichen Erfolg und soziale Anpassungsfähigkeit.

Ausgangsbasis für alle diese Kompetenzen sind gute Fertigkeiten in Kernbereichen wie: Sprach‐ und Lesekompetenz, aber auch Mathematik und Naturwissenschaften, …

Zunächst ist es daher wichtig, Kinder auf ihrem Weg zu einer sehr guten Lesekompetenz zu unterstützen.

PROZESS des LESENS

Ablauf des Lesenlernens

Lesen lernen erfordert, da es nicht wie Sehen und Sprechen genetisch angelegt ist, ein gut vorbereitetes Gehirn und intensives Training. Die Augen gleiten über den Text. Wir müssen hören, was wir sehen, den Inhalt des Gelesenen verstehen und mit unserem Hintergrundwissen verknüpfen.

Lesen ist sowohl eine kognitive als auch eine motorische und sensorische Tätigkeit. Beim Lesen muss das Gehirn zahlreiche Wahrnehmungs- und Denkfunktionen, grundlegende visuelle Fähigkeiten, phonologische Wahrnehmung sowie Langzeit- und Arbeitsgedächtnis koordinieren. Dies erfordert jahrelange Übung. Wenn wir das Lesen mühelos beherrschen, ist das ein Zeichen dafür, dass sich die Struktur unseres Gehirns bleibend verändert hat. (Lesen formt das Gehirn, n.d.).

Lesen benötigt die Zusammenarbeit fast aller Gehirnbereiche.

bearbeitet nach S.Dehaene; https://www.youtube.com/watch?v=MSy685vNqYk vom 14.5.2019

Im Text sind die Nummern für die einzelnen Zentren des Arbeitsgedächtnis und der Aufmerksamkeit in Klammern angeführt.

Der Lesevorgang wird im Folgenden an Hand dieses Satzes erläutert:

Aufmerksamkeit

„Wenn Sie etwas lesen, brauchen Sie Aufmerksamkeit – für das Hören von Sprache ist das offenbar nicht notwendig“, erklärt Veronika Schöpf von der Medizin-Uni Wien. Beim Lesen werden nicht nur die bekannten Bereiche für Sprachverarbeitung und Sehen aktiviert, sondern auch weitere Regionen, die für gerichtete Aufmerksamkeit verantwortlich sind (Wie sich Lesen und Zuhören unterscheiden, 2014).

Die Aufmerksamkeit muss zunächst weg von der Umgebung und hin zu dem zu lesenden Wort „Mein“ gelenkt werden.

Das geschriebene Wort „Mein“ ist eigentlich nichts anderes als ein „Gebilde“ von Linien und Punkten. Die optischen Reize des reflektierten Lichts erregen die Rezeptorzellen der Retina (Netzhaut). Danach muss die Aufmerksamkeit vom Wort „mein“ wieder gelöst und auf die nächsten Buchstaben gerichtet werden.

Einfach ist das Thema Aufmerksamkeit nicht – viele Gehirnregionen sind für die unterschiedlichen Aufmerksamkeitsaufgaben zuständig:

Das Lösen der Aufmerksamkeit (1) wird im hinteren Teil des Parietallappen gesteuert. Die selektive und fokussierte Aufmerksamkeit (2) sitzt im linken Präfrontalkortex (vorderer Bereich des Stirnlappen).

Die Daueraufmerksamkeit passiert in der inneren Schaltzentrale im Thalamus und im rechten Präfrontalkortex.

Der Zusammenhang mit lesespezifischen Funktionen, im speziellen das Fokussieren (3) auf bestimmte visuelle Merkmale eines Buchstaben wird vom Gyrus Cinguli im limbischen System koordiniert.

Das Verschieben der Aufmerksamkeit(4) wird im Bereich des Mittelhirn im Hirnstamm (Colliculi superiores) gesteuert (vgl. Wolf, 2009, p. 172). Dort findet auch die Steuerung der Augenbewegungen und die Koordination von Sehen und Hören statt (Zelinsky - 2019 - The Importance of a Mind-Eye Connection.Pdf, n.d.).

Gute Aufmerksamkeit und Konzentration braucht ein rundum gut entwickeltes und versorgtes Gehirn.

Durch eine Autoimmunerkrankung kann die Produktion von Nor-Adrenalin deutlich reduziert sein und dies führt zu einer gewissen Lethargie und dem Verlust der Konzentrationsfähigkeit.

Amphetamine (wie beispielsweise Ritalin) erhöhen die Verfügbarkeit und Wirkung von Noradrenalin (und anderen Neurotransmittern) im synaptischen Spalt.

Beim Spielen mit visuellen Medien oder beim Fernsehen fokussiert sich unser Blick oft auf ständig wechselnde Bilder. Diese Fixierung ist nicht gleichbedeutend mit Aufmerksamkeit. Denn die Reaktion ist ein Überbleibsel unserer evolutionären Programmierung. In prähistorischen Zeiten war es lebenswichtig, unseren Blick sofort auf bewegte Objekte im Sichtfeld zu richten. Ein sich bewegendes Blatt konnte eine potenzielle Gefahr signalisieren, wie etwa einen Säbelzahntiger.

Die Verteilung der Aufmerksamkeit im Gesichtsfeld verwandelt dieses in ein "Aufmerksamkeitsfeld". Die Fokussierung auf einen bestimmten Bereich ermöglicht eine präzise Aufmerksamkeit. So kann das visuelle System auf die zu lesende Buchstabenkombination gelenkt werden und unterstützt eine scharfe und klare Wahrnehmung. Eine automatisierte Konvergenz hilft dabei, Buchstabengruppen deutlich zu erkennen. Wenn die Augen jedoch nur kurz auf das Ziel gerichtet sind und rasch wieder im visuellen Raum umherspringen, werden periphere Bilder verarbeitet. Diese sind unschärfer und können zu Verwechslungen von Buchstaben, Zahlen oder Rechenzeichen führen, wie etwa die Unterscheidung zwischen "Meer" und "mehr". Zudem wird die korrekte Speicherung von Wortbildern erschwert. Die Verteilung der Aufmerksamkeit im Gesichtsfeld variiert individuell. Einige Personen nehmen eher winzige Details wahr und übersehen größere Objekte, während andere größere Objekte beachten und kleine Details übersehen können.

Ein Beispiel: Lesen Sie die folgenden Zeilen aufmerksam und zählen Sie alle geschriebenen „F“:

FINISHED FILES ARE THE RE

SULT OF YEARS OF SCIENTI

FIC STUDY COMBINED WITH

THE EXPERIENCE OF YEARS ….

Wie viele „F“ finden Sie in 20 Sekunden?

Sind in dem Text 3 oder 4 „F“ geschrieben? Oder gar mehr? Wenn Sie sechs gefunden haben, dann liegen Sie richtig. Unwahrscheinlich, wie schwer es dem Gehirn fällt diese kleinen Einheiten bewusst wahrzunehmen. Das genaue Hinschauen will trainiert sein.

Aktive frühkindliche Reflexe können das Halten der Aufmerksamkeit empfindlich stören. Funktionieren beispielsweise das Lösen und bewusste Hinwenden der Aufmerksamkeit bis zur Zeilenmitte sehr gut und dann „springen“ die Augen bei der Mittellinie weg, so kann dies durch einen aktiven asymmetrisch tonischen Nackenreflex (ATNR) ausgelöst werden.

Probleme bei der Figur‐Grundwahrnehmung können das Richten der Aufmerksamkeit ebenfalls negativ beeinflussen.

Die Figur-Grundwahrnehmung bezeichnet die Fähigkeit, sich auf wesentliche Bereiche eines Bildes zu konzentrieren und den Hintergrund auszublenden. Dabei wird die Wahrnehmung des Vordergrunds von einem unruhigen Hintergrund getrennt. Die Ablenkung, die von einem bunten Hintergrund oder von bunten Bildern ausgeht, kann je nach individueller Wahrnehmung variieren (Balance, n.d.).

VWFA ‐ Visuelles Wortformareal

Die wieder zusammengesetzten Buchstaben werden an einer ganz speziellen Stelle im linken, hinteren Okzipital-Temporallappen verarbeitet, auch bekannt als visuelles Wortformareal (VWFA). Diese Region ist von Geburt an auf das Erkennen von Gesichtern, Objekten und Mustern spezialisiert. Ab dem Babyalter ist das Wiedererkennen und Benennen von Objekten ein etablierter Vorgang des Sprachen lernens. Objekte werden unabhängig von ihrer Größe und Position wiedererkannt und in Kategorien von Oberbegriffen eingeteilt.

Das Lesetraining transformiert dieses Gebiet in ein "Epizentrum des Lesens". Nach wiederholtem Üben und Automatisierung erkennt das VWFA Buchstaben und Buchstabenabfolgen "auf einen Blick". Gesichtsblindheit, die Unfähigkeit, bekannte Personen (sogar Eltern und Freunde) anhand ihres Gesichtes zu erkennen, tritt häufig in Verbindung mit Leseproblemen auf (Das Kind mit Cerebralen Visuellen Informationsverarbeitungsstörungen (CVI), n.d.).

Wenn man sich die geschichtliche Entwicklung der Schrift ansieht, dann wird klar, wie sich diese Stelle im Gehirn langsam von der Symbolverarbeitung (Tierzeichnungen, Tierspuren) zur Buchstabenverarbeitung gewandelt hat.

Entwicklung der Schrift aus Bildern in den letzten 5400 Jahren. (Schrift Bewahrt Wissen!, n.d.)

Charakteristika des visuellen Wortformareal

gleiches Areal (im Gyrus fusiformis) bei allen Kulturen, unabhängig von der zu lesenden Schrift.VWFA wird von komplexen visuellen Stimuli aktiviert - geschriebenen Worte und Objekte (linke Hirnhälfte) und Gesichter (linke und rechte Hirnhälfte).reagiert stärker bei bekannten Buchstabenfolgen als bei unbekannten. Bsp.: mehr Reaktion bei „Therapie“ als bei „Thpiea“.registriert geschriebene Worte, unabhängig von der Groß- oder Kleinschreibung, Schriftart oder Ort. Damit ist das Erkennen von Buchstaben in verschiedenen Schriftarten möglich:

Therapiehund, Therapiehund, Therapiehund, Therapiehund

Eine Verletzung dieses VWFA führt zu einer kompletten Unfähigkeit zu lesen. Die Region, in der das VWFA lokalisiert ist, wird auch bei anderen Handlungen – wie zum Beispiel dem Hören gesprochener Sprache oder dem taktilen Lesen der Blindenschrift – aktiviert (Pammer et. al. 2004). Vor der Aktivierung des VWFA wird die Umgebung des Broca-Areals aktiviert. Dieser Bereich wird unter anderem mit der phonologischen Aufzeichnung in Verbindung gebracht. Dieses Ergebnis wird dahingehend interpretiert, dass der Worterkennung die phonologische Verarbeitung vorausgeht (Pammer et. al. 2004).

Vor der Einschulung sind Teile des Hirnrindenmosaiks im linken Temporallappen mit bestimmten visuellen Verarbeitungsprozessen belegt - darunter Gesichter, Objekte, Örtlichkeiten und Gegenstände (dargestellt in der Graphik auf der nächsten Seite durch rote, blaue und gelbe Felder). Im Alter von sechs Jahren durchläuft das Gehirn eine Phase mit erheblicher Plastizität. Das Lesenlernen in diesen jungen Jahren füllt die freien Bereiche mit Buchstaben und Buchstabengruppen auf (dargestellt durch grüne Bereiche in der Graphik) Bildverarbeitende Gehirnteile arbeiten mit den sprachverarbeitenden Teilen zusammen.

Entwicklung des VWFA im linken Temporallappen zu Schulbeginn (bearbeitet von Dehaene-Lambertz et al., 2018)

Bei Leseanfängern laufen viele, noch nicht spezialisierte und nicht automatisierte Gehirnaktivitäten parallel ab, die wesentlich mehr Energie benötigen als bei erfahrenen Lesern. Durch intensives Training wird beim Lesenlernen die Aktivität in bestimmten Arealen im linken Temporallappen trainiert. Dabei spezialisieren sich einzelne Gruppen von Neuronen auf das Erkennen eines Buchstabens unabhängig von seiner genauen Schreibweise (Größe, Farbe, Schriftart, Ausrichtung). Mit der Zeit werden auch Morpheme (Morpheme= Wortstamm, Endungen, Vorsilben, ...) fix zugewiesen.

Je länger jemand gut lesen kann, desto größer wird das spezialisierte Gehirnareal und desto weniger Energie benötigt der Lesevorgang. Wiederholendes Lesen speichert bekannte Wörter oder Buchstabengruppen als Bild in einer Art "orthographischen Lexikon" im Gehirn ab (Glezer et al. - 2015 - Adding Words to the Brain’s Visual Dictionary Nov.Pdf, n.d.).

Wenn ein Kind keine Schule besucht oder das Lesen nur schleppend erlernt, werden die freien Bereiche des Hirnrindenmosaiks mit anderen Verarbeitungsprozessen belegt. Es ist noch nicht erforscht, wann die Spezialisierung des Hirnrindenmosaiks für Gesichter, Gegenstände und Örtlichkeiten zu seiner erwachsenen Konfiguration erstarrt (vgl. Dehaene, 2012, p. 225). Zeigt man einem erwachsenen Menschen ein Wort, so kann man an der Gehirnaktivität in den MRT-Aufnahmen erkennen, ob die Person ein Analphabet oder ein Leser ist.

Es ist noch unklar, ob das visuelle Wortformareal (VWFA) auch phonetische Informationen abspeichert. Forschungen zu diesem Thema sind im Gange. Es wird untersucht, ob die Wörter im VWFA ausschließlich in einer visuellen Bibliothek gespeichert sind oder ob auch die zugehörigen Laute dort abgespeichert werden. (Glezer et al., 2015). Das visuelle Wortformareal (VWFA) ist eng mit auditiven Gehirnarealen, Spracharealen sowie kognitiven, exekutiven und emotionalen Arealen sowie dem Arbeitsgedächtnis verbunden.

Erkennen der Buchstaben

Wie nehmen unsere Augen Buchstaben wahr? In der Mitte der Retina liegt der Bereich des schärfsten Sehens, die Fovea. Gute Leser können 4 bis 8 Buchstaben scharf erkennen. Wenn die Sehschärfe nicht passt, dann hilft der Augenarzt mit einer Brille.

Lesen wir ein Wort, so werden die Buchstaben wenige Augenblicke nach dem Betrachten (50 - 150ms) in viele Fragmente zerlegt. Jeder Buchstabe wird in gerade, gebogene und schräge Striche zerlegt.

Weitere Merkmale wie Länge einer Linie, ihre Lage, ihre Helligkeit und Farbe werden jeweils getrennt kodiert und verarbeitet. Später werden diese Wahrnehmungsmerkmale als Buchstaben und in weiterer Folge zu Buchstabengruppen wieder zusammengesetzt (vgl. Gold, Andreas, 2018, pp. 12–14).

Wie kann das visuelle System so feine Unterschiede erkennen? Diese Fähigkeit trainieren wir ab der Geburt. Bei einem Baby feuern sehr viele Neuronen, die von jedem visuellen Reiz aktiviert werden. Zunehmend wird die Reizverarbeitung verfeinert.

Zunächst sieht das Baby nur ein haariges Tier. Durch tägliches Training des visuellen Systems wird die Unterscheidung zwischen Hund und Katze bald sehr einfach.

Schafe auseinanderzuhalten ist für die meisten Menschen schwierig, da uns in dieser Fähigkeit schlichtweg die Übung fehlt. Ein Hirte kann dies problemlos (Gribbin, 2002, p. 34).

Das Sehsystem muss intensiv trainiert werden, um im Bereich der Buchstabenunterscheidung exakt zu funktionieren.

Nur dann ist es möglich, dass gewisse Neuronen der Retina auf zwei zum „T“ vereinte Striche reagieren, andere auf Kreise und Halbkreise, wieder andere auf schräge Striche. Die Evolution spezialisierte das visuelle System auf gewisse Kodierungen, die in unterschiedlichem Kontext vorkommen.

Die Retina ist jedoch nicht darauf spezialisiert, zufällige Lagebeziehungen zwischen Objekten, wie es ausgestreute Streichhölzer erzeugen würden, zu registrieren.

Für die Bildung von Kategorien und Oberbegriffen in unserer Sprache ist das Erkennen von strukturierten Beziehungen wichtig (vgl. Dehaene, 2012, p. 151ff). Durch die Seitenkante und den oberen Rand der Tasse entsteht einen „F“ Form, die ziemlich unabhängig vom Winkel des Betrachtens ist.

Durch diese Strukturierung des Raumes um uns, entstehen verästelte neuronale Strukturen des Gehirns und die Buchstaben entsprechen diesen Strukturen. Durch die Einordnung der Buchstaben nach grundlegenden Lagebeziehungen ist ein Lesen in verschiedenen Schriftarten ohne Probleme möglich, wie auch der WeCHsEl vOn gRoSs- UnD KlEinBuChStABen, unterschiedlicher Schriftgrößeoder auch Schriftoptionen.

Die Speicherung von Buchstabenpaaren (Bigrammen) findet laut Dehaene in baumartigen Strukturen statt. Aufgrund dieser Bigramm-Kombinationen reicht eine Sammlung von ca. 500 Vor- und Nachsilben, Wortstämmen und anderen für die deutsche Sprache komplexen Morphemen aus, um mehrere zehntausend Wörter zu repräsentieren. Diese Stelle beansprucht ca. einen halben Quadratzentimeter des Kortex (Großhirnrinde) (Dehaene, 2012, p. 183). Der visuelle Kortex eines geübten Lesers ist voll mit physisch gespeicherten Mustergebilden der Buchstaben und Wortteilen (Wolf, 2019, p. 41).

Ist dieses System von Zerlegung und Zusammenbau durch ein mangelhaftes körperliches Raumkonzepts gestört, so können Buchstaben nicht gut als solche erkannt werden. Dann ist nicht nur eine Verwechslung von „b“ - „d“ sondern auch von „l“ - “j“ und „u“ – „n“ möglich. Schon 2002 zeigte eine kanadische Studie, dass ein schwaches Körperkonzept und eine beeinträchtigte Raumwahrnehmung die visuomotorischen Fähigkeiten und damit das Erlernen und Erkennen von Buchstaben negativ beeinflusst (D. Dewey et al., 2003).

Wenn wir unsere Umgebung wahrnehmen, achten wir ganz automatisch auf Dinge wie Entfernung, Richtung und Ausrichtung von Gegenständen. Diese Fähigkeit, die sogenannte Raumlage zu erfassen, entwickelt sich bei Kindern erst im Laufe der Jahre vollständig. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir eine Pfanne greifen möchten, erkennt unser Gehirn, ob der Stiel nach links oder rechts zeigt – und steuert unsere Hand genau so, dass wir sie sicher fassen können (vgl. Dehaene, 2012, p. 305ff). Durch ständiges Training in der 3D Welt werden körperliche Erfahrung und die Kenntnis der Beziehung des Körpers zum Raum trainiert.

Ist die Richtungswahrnehmung ungenügend entwickelt, so kann sich dies in Bildverwechslungen auswirken. Das können die klassischen Verwechslungen von „d“ und „b“ sein, bei denen der ähnliche Klang erschwerend hinzukommt. Rein horizontale Unterscheidungen (b, d) werden wesentlich länger verwechselt (bis zu 7,5 Jahre normal) als vertikale Unterscheidungen (u, n) oder die Kombinationen von horizontal und vertikal wie p und d (bis zu 6,5 Jahre normal). Allmählich lernt das visuelle System „d“ und „b“ zu unterscheiden und nicht als zwei unterschiedliche Ansichten desselben Objekts zu betrachten.

Worte können normalerweise gelesen werden, egal an welcher Stelle sie sich in unserem Blickfeld befinden. Worte aus dem rechten Bereich des Blickfelds werden direkt in die linke Gehirnhälfte weitergeleitet, wo es gelesen werden kann. Worte auf der linken Hälfte des Blickfelds gehen in die rechte Hirnhälfte, werden dann in die linke Gehirnhälfte übertragen. Lesen findet in der linken Gehirnhälfte statt und benötigt eine ungestörte Übertragung der Informationen über den Balken zwischen den beiden Hirnhälften (Wie unser Gehirn Lesen Lernt - Arte Doku Dokumentation, 2014).

Zuordnung der Laute

Buchstaben sind eine visuelle Abfolge von Zeichen, wie jedoch spricht man sie aus?

Das Buchstabenbild wird in ein phonologisches Klangbild umgewandelt. Die Abspeicherung der Klang- und Lautinformation geschieht im Bereich des Zusammentreffens zwischen Temporal – und Parietallappen (Wolf, 2019, p.44).

In Deutsch gibt es 40 Laute (Phoneme) - aber nur 26 Buchstaben – welches Schriftzeichen ist die richtige Umsetzung eines Lautes?

Ein Beispiel für unterschiedliche Laute ist der Buchstabe „e“:

stehlen [steːhlen], Stelle [ stƐlle], bitte [bɪtə].

Um den Laut „T“ von „D“ unterscheiden zu können, muss die Hörverarbeitung unwahrscheinlich schnell funktionieren. Der Anlaut bei „D“ ist unter 20ms lang, während bei einem „T“ ist er 80ms lang. Nur eine gut funktionierende, zentrale Hörverarbeitung kann die beiden „T“- „d“ beim Wort Therapiehund unterscheiden. Als zentrale Hörverarbeitung wird die Verarbeitung von Sprache im Gehirn bezeichnet, näheres dazu siehe Seite →.

Für die Umwandlung der Buchstaben in Laute ist die phonologische Bewusstheit als Vorläuferfertigkeit (siehe Seite →) des Lesens wichtig.

Zwei Wege der Leseverarbeitung

Die Reflexionen der Linien und Punkte, die von der Retina aufgenommen wurden, werden zur weiteren Verarbeitung in den visuellen Kortex geleitet. Der visuelle Kortex macht 15% der gesamten Großhirnrinde aus. Die Retina ist der einzige Gehirnteil, der außerhalb des vom Schädelknochen geschützten Gehirnbereichs liegt. (vgl. Gold, Andreas, 2018, p. 14).

Vom visuellen Kortex aus finden dann die unterschiedlichen Leseverarbeitungsschritte statt: direkter Leseweg und indirekter Leseweg.

Beim indirekten Weg (sublexikalischer Weg oder dorsaler Pfad) wird jedes Wort „buchstabenweise“ erarbeitet. Dieser „Leseweg“ bedarf kleinteiliger, phonologischer Umwandlungen von einzelnen Buchstaben in Laute. Die Laute werden zu Worten zusammengeschliffen (phonologische Rekodierung).

Leseanfänger lesen zunächst auf diesem Weg. Für das Sinnverständnis muss zusätzlich das semantische System aktiviert. Das genaue, flüssige Lesen hängt wesentlich von dieser Fähigkeit ab.

Wollen Sie spüren, wie sich dieses phonologische Lesen anfühlt? Dann lesen Sie bitte den folgenden Satz:

Ains Tax gomd da mahn ien ti kuchl un

siht ten hunt vi ehr a vlaish schdilt.

Gar nicht so einfach zu entschlüsseln, oder? Hier die Übersetzung: Eines Tages kommt der Mann in die Kuchl (Küche) und sieht wie der Hund ein Fleisch stiehlt.

Funktioniert diese indirekte, analytische und regelbasierte Leseroute nicht gut, so kann dies den weiteren Leselernprozess wesentlich behindern.

Beim direkten Weg (lexikalischer Weg oder ventraler Pfad) wird ein Wort auf direktem Weg aus dem Lexikon aktiviert (=Sichtwort). Es werden Worte oder Wortteile als Ganzes erkannt. Schließlich erfolgt auch bei diesem Weg ein Aufruf der Laute für die korrekte Aussprache.

Das Wahrnehmungssystem achtet bei diesem direkten Weg auf die Identität, die Form und Farbe der Bilder, jedoch kaum auf Größe und Ausrichtung im Raum. Nach der Worterkennung wird direkt auf das Lexikon der Wortbedeutungen zugegriffen.

Diese Lesemethode ist für eine hohe Lesegeschwindigkeit nötig und braucht einen guten visuellen Gedächtnisspeicher für häufige Buchstabenkombinationen und Sichtwörter. Diese Lesestrategie ist besonders bei NICHT- lautgetreuen Wörtern nötig.

Für die artikulatorischen Prozesse der Lautstruktur wird teilweise ergänzend ein drittes Lesesystem ins Spiel gebracht: das anteriore Lesesystem. Dieses arbeitet hauptsächlich im Broca-Areal (Sprachproduktion) (vgl. Gold, Andreas, 2018, pp. 16–18).

Erwachsene lesen je nach Anforderung abwechselnd auf alle Lesearten.

Verschiedene Forschungsarbeiten gehen davon aus, dass bei einer Lese-Rechtschreibstörung eine Unteraktivierung des dorsalen (oben liegenden) und des ventralen (unten liegenden) Lesesystems und eine Überaktivierung des anterioren (vorne liegenden) Lesesystems vorliegen (Baldauf, n.d. S →).

Arbeitsgedächtnis

Das Arbeitsgedächtnis spielt eine zentrale Rolle beim Lesen, da es Informationen vorübergehend speichert und verarbeitet. Es ermöglicht die Verknüpfung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen zu einem sinnvollen Text. Beim Lesen eines Satzes behält das Arbeitsgedächtnis die Anfangswörter, bis das gesamte Satzende erfasst und verstanden ist.

Bei lese- und/oder rechtschreibschwachen Schüler:innen sind häufig sowohl das Arbeits- als auch das Langzeitgedächtnis schwach ausgebildet.

Das auditive Arbeitsgedächtnis ist für das kurzfristige Speichern und Wiederholen von sprachlichen Informationen zuständig und braucht als Basis eine funktionierende, zentrale Hörverarbeitung.

Der präfrontale Kortex teilt Aufmerksamkeitsressourcen zu und überwacht, welche Informationen priorisiert werden.

Eine sehr wichtige Funktion hat der Hippocampus. Er verbindet das Arbeitsgedächtnis mit dem langfristigen Gedächtnis, indem es Informationen vorübergehend speichert und organisiert.

Das Kleinhirn spielt eine unterstützende Rolle beim Gedächtnis: in der zeitlichen Koordination, der Effizienzsteigerung und der Integration von kognitiven und motorischen Prozessen. Seine Interaktion mit anderen Hirnregionen, wie dem präfrontalen Kortex, macht es zu einem wichtigen Modul im Netzwerk des Arbeitsgedächtnisses.

„Kinder mit einer Lesestörung zeigen primär Defizite in der zentralen Exekutive, einem Teilsystem des Arbeitsgedächtnisses, das die Koordination der verschiedenen, gleichzeitigen Abläufe und den Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis steuert." (Brandenburg et al., 2015).

Wortteile zusammensetzen

Beim Lesen vom Wort Therapiehund wird zunächst der Wortteil „Therapie“ gelesen und im Arbeitsgedächtnis abgespeichert. Parallel zu den scharf wahrgenommenen Buchstaben muss gleichzeitig das periphere Sehen die weitere Zeile unscharf, dennoch zielgerichtet mit dem visuellen System fixieren können. Wenn dies funktioniert, kann durch das periphere Sehen der Sprung (Sakkade) zu der nächsten Buchstabengruppe “hund“ angeleitet werden.

Nach dem Lesen des zweiten Wortteiles „hund“ und dem Abruf des zuvor gespeicherten Wortteiles „Therapie“ aus dem Arbeitsgedächtnis, werden die Wortteile zu „Therapiehund“ zusammengesetzt.

Die Geschwindigkeit der Synchronerfassung der Buchstaben ist ein Grundpfeiler der Lesegeschwindigkeit. Wenn ein Klient vier Buchstaben in 200ms erfassen kann, dann hat er achtmal höhere Lesekapazität, als jener, der zwei Buchstaben in 800ms erfasst.

Wie schwierig das Zergliedern in sinnvolle Wortteile während des Lesens sein kann, bemerken Sie vielleicht, wenn Sie folgende Worte lesen:

Der Wortstamm bildet den Kern eines Wortes und trägt die grundlegende Bedeutung. Er bleibt unverändert während Vorsilben und Endungen hinzugefügt werden, um neue Wörter zu bilden oder die Bedeutung zu verändern.

Die Zerlegung von Wörtern in Morpheme wendet abstrakt funktionale Gesichtspunkte an. Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Elemente einer Sprache. Es gibt unterschiedliche Morpheme wie beispielsweise Stammmorpheme (Wortbedeutung) oder grammatikalische Morpheme Vorsilben wie (be-, ver-) und Nachsilben wie (-ung, -keit,), etc.

Die Lese-Übungsapp leamos (siehe Seite →) verwendet diesen Ansatz und trainiert das Erkennen von Morphemen.

Im Unterschied dazu ist das Silbenlesen zu sehen. Das Zerteilen von Wörtern in Silben ist eher artikulatorisch‐auditiv. Silben sind die grundlegenden phonetischen Einheiten eines Wortes.

Die farbliche Trennung der Sprechsilben hilft bei der Zergliederung der Worte in kürzere Leseteile. Dies kann zu einer flüssigeren Leseleistung beitragen und das Leseverständnis steigern.

Sie kann jedoch den Blick auf die Wortbedeutung schwieriger machen.

Beispielsweise bei „kau fen“ könnte die erste Silbe „kau“ auch mit der Bedeutung Essen verknüpft werden – „kau en“.

Eine weitere Unschärfe ergibt sich beispielsweise bei den Worten wie „Kin der“ oder „ge hen“, da durch die farbliche Trennung der Blick auf den Wortstamm „Kind – er“ oder „geh - en“ erschwert wird.

Für die Aussprache ist die farbliche Trennung auch nicht immer eine Erleichterung, Beispielsweise die Aussprache von „e“ bei den Worten wie „le ben“ und „le cken“ oder bei „Leh ne“ und „Leh rer“ erlebbar ist.

Zeilen lesen

Lesesakkaden sind erlernte, horizontale Augenbewegungen und Stopps, um Buchstabengruppen bzw. Worte zu erkennen.

Die Fixationen (Stopps) zwischen den Sakkaden betragen ca. 0,2 Sekunden. Unentdeckte Augenmuskelprobleme oder Probleme im peripheren Sehen können dazu führen, dass die Fixationspunkte der Sakkadensprünge nicht mit den Segmentierungen der Worte zusammenpassen. Lesen wird mühsam und das Leseverständnis ist gering.

Die beiden Augen liefern zwei Bilder an das Gehirn. Im optimalen Fall entstehen durch die synchronen Augenbewegungen zwei deckungsgleiche Bilder. Selbst 1/100 Millimeter Unterschied in der Augenstellung wird vom visuellen System sofort korrigiert, um wieder ein scharfes Bild zu erlangen.

Wenn die Augenbewegungen der beiden Augen nicht komplett synchronisiert werden können, dann könnte der Seheindruck so ausschauen:

Mein Therapiehund liebt es zu schaukeln.

Eine andere Folge von schlecht synchronisierten Augenbewegungen sind ungleiche Zwischenräume zwischen den Worten und innerhalb der Worte. Oder keine Abstände zwischen den Worten und große Abstände zwischen den Buchstaben im Wort:

MeinThera piehu nd lie bteszu scha ukeln.

Die Zwischenräume haben einen großen Einfluss auf die Lesbarkeit. Um dies zu spüren, lesen Sie mal die folgenden Zeilen:

Das Lesen ist einfach mit den richtigen Zwischenräumen.

Werden die Abstände größer, so kann man esnoch lesen. Werden die Abstände grösser so lei det die Lesb

Automatisierung im Lesevorgang

Die Aufgabe des Kleinhirns beim Lesen ist die zeitliche Abstimmung und Präzisierung der vielen sprachlichen und motorischen Abläufe, die während des Lesens stattfinden. Das Kleinhirn ist jenes Zentrum, das auch für die Automatisierung von Abläufen verantwortlich ist.

Im Rahmen des SIMMO-Projekts wurde ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der Verbesserung im Rhythmus beim Hampelmann springen und einer Leseverbesserung festgestellt. Jene Kinder, die sich beim Rhythmus des Hampelmann Springens NICHT verbessert hatten, haben sich auch beim Lesen NICHT verbessert.

Wiederholtes Lesen sollte dazu führen, dass sich ein Lexikon an Sichtworten bildet. Manche Kinder behalten jedoch trotz wiederholten Trainings ihre indirekte Lesestrategie. Daraus ist zu schlussfolgern, dass wiederholendes Lesen von Wörtern nicht zwingend zur Bildung eines wortspezifischen, orthographischen Wissens führt, sondern Primingeffekte für das schnellere Lesen nach einem Training verantwortlich sind. Der semantische Primingeffekt besagt, dass Teilnehmer schneller auf Wortpaare wie "Butter-Brot" als auf nicht verwandte Paare wie "Butter-Kleidung" reagieren. Dies zeigte, dass verwandte Begriffe im Gedächtnis eng miteinander verbunden sind und die Aktivierung eines Begriffs die Aktivierung verwandter Begriffe erleichtert.

Das wiederholende Lesen eines natürlichen Wortes führt zu einer Vertrautheit mit dem phonologischen Klang. Für Pseudowörter liegen im Gegensatz zu Wörtern keine phonologischen Muster vor, so dass von größeren Trainingseffekten ausgegangen wird.

Vorläuferfertigkeiten

Als Vorläuferfertigkeiten zum Lesen gelten die Sprachentwicklung, die phonologische Bewusstheit und die Benennungsgeschwindigkeit.

Sprachkompetenz

Das Sprechen lernen ist genetisch angelegt und erfolgt automatisch. Es benötigt einen gut entwickelten Körper sowie menschlichen Gesprächspartner. Sprache erfordert Gehirnregionen, die später beim Lesen und Schreiben benötigt werden. Daher können Sprachauffälligkeiten im Zusammenhang mit Leseproblemen stehen.

Wenn ein Kind mit sechs Jahren zu lesen beginnt, sollte es in seiner Muttersprache

die meisten Grammatikstrukturen beherrschen,

eine Repräsentanz spezifischer Laute erkennen und

einen Wortschatz von mehreren tausend Wörtern haben. Je größer der Wortschatz, umso besser wird später das Leseverständnis sein.

Kinder mit Sprachverzögerungen haben oft Schwierigkeiten mit dem Erwerb von phonologischen Fähigkeiten, die für das Erlernen des Lesens und Schreibens essentiell sind. Langzeitstudien zeigten, dass Kinder mit frühen Sprachverzögerungen ein höheres Risiko für die Entwicklung von LRS (Lese-Rechtschreibschwäche) haben (Vandewalle et al., 2012).

Die zeitliche Struktur der Blickbewegungen beim Lesen ist nahezu identisch mit der dominanten Rhythmik der gesprochenen Sprache (Lesen und Sprechen folgen einem ähnlichen Takt, 2021a). Dies ist ein weiterer Grund, warum sich die Verarbeitung von geschriebener und gesprochener Sprache in einem größeren Maße ähneln als bisher angenommen.

Was braucht ein Kind für seine Sprachentwicklung?

Neugeborene hören noch alle Arten von Sprachlauten, wie die afrikanischen Klicklaute, die Höhen und Tiefen der chinesischen Laute oder auch den Unterschied zwischen „L“ und „R“. Sie sind fasziniert und lauschen dem Sprachrhythmus und der Sprachmelodie. Zunehmend fokussiert sich das Gehör auf die Muttersprache. Nach einem Jahr ist das Gehör auf die Sprachlaute der Muttersprache spezialisiert. So verlieren japanische oder chinesische Säuglinge die Fähigkeit zwischen „L“ und „R“ zu unterscheiden (Dehaene, 2020, p. 65).

Kinder brauchen für ihre Sprachentwicklung menschliche Kommunikationspartner. Sie lernen durch die sprachliche Begleitung in Alltagssituation.

Wie erkennen Babys einzelne Worte aus dem Sprachfluss?

Sie sind auf Prosodie, Rhythmus und Intonation angewiesen. In der Folge werden die in der jeweiligen Sprache erlaubten Buchstabenfolgen trainiert (phonotaktischen Regeln).

Eine weitere basale Fähigkeit bei der Anbahnung der Sprache ist der trianguläre Blickkontakt. Schon Säuglinge können Gesichter fixieren und Gesichtsausdrücke nachmachen (den Spiegelneuronen sei Dank). Sobald sie nicht mehr am Rücken liegen brauchen sie die Fähigkeit den Kopf und den Nacken zu halten (Biedermann, 2001).

Was ist der trianguläre Blickkontakt? Noch lange bevor eine sprachliche Konversation stattfindet, gibt es eine Verständigung zwischen Kind und einer zweiten Person über den Blickkontakt. Das Kind sieht den „Gesprächs“partner an und dieser verweist mit seinem Blick auf einen Gegenstand (Ente) oder macht mit seinem Deuten aufmerksam. Parallel spricht er ein Wort beispielsweise „Quaqua“ als sprachliche Begleitung. In diesem Augenblick liegt der Beginn der Kommunikation. Dabei ist wichtig, dass der erwachsene Gesprächspartner nicht nur körperlich, anwesend sondern auch eine innere Beteilung am Prozess zeigt. Ein Handy in der Hand führt zu einer geistigen Abwesenheit und zerstört die Anbahnung der Kommunikation!

Ein bestehender TLR (Tonischer Labyrinth Reflex) kann die Ausbildung des triangulären Blickkontakt folgendermaßen stören: Kann das Kind seinen Kopf nicht in Richtung des Erwachsenen heben ohne einen einschießenden TLR-Reflex zu erleben, dann führt dies zu einem kurzen Erstarren und einer Verzögerung bei der Sprachaufnahme. Auch Reste eines nicht ausreichend integrierten MORO-Reflexes oder nicht ausgereiften Gleichgewichts lassen den triangulären Blickkontakt ständig abreißen (Graumann-Brunt, n.d., p. 22).

Die Geschwindigkeit, in der 18 Monate alte Kleinkinder Sprache verarbeiten, scheint tatsächlich ein wesentlicher Faktor für die weitere Sprachentwicklung zu sein (Raus mit der Sprache, n.d.). Im Alter von zwei bis fünf Jahren lernen Kinder täglich zwischen zwei und vier neue Wörter. Das Sprachenfenster ist in den ersten sechs Jahren weit geöffnet und die sich bildenden Gehirnvernetzungen und Sprachentwicklung bilden ein solides Fundament für das Lesen.

Vor dem Alter von 3 Jahren sollten Kinder gar keine Bildschirmmedien konsumieren, da diese die Sprachentwicklung, das Denken oder Aushalten von Langeweile negativ beeinflussen. In der Medienzeit bekommen Kinder weniger menschliche Zuwendung und es fehlt ihnen zum Lernen das gemeinsame Tun. Die Schnelligkeit der wechselnden Bilder trägt ebenfalls dazu bei, dass beim Zusehen nichts Neues gelernt wird.

Phonologische Bewusstheit

Phonologische Bewusstheit bedeutet, dass Kinder Wörter, Silben und Laute im Sprachfluss heraushören und erkennen können. Diese Fähigkeit entwickelt sich bis ins Vorschulalter und baut auf einer gut funktionierenden zentralen Hörverarbeitung auf. Reimen oder Silben klatschen sind Fertigkeiten, die eine funktionierende phonologische Bewusstheit zeigen. Ist die phonologische Bewusstheit schwach, so wird Sprache als eine diffuse Klangwolke, aus der keine Lautisolierung vorgenommen werden kann, erlebt. Es gibt unterschiedliche Ansichten ab wann eine Schwäche in diesem Bereich eine Aussage über eine spätere Lese-Rechtschreibschwäche zulässt. Die phonologische Bewusstheit kann gut im Jahr vor der Schule trainiert werden und verbessert dann die Chance auf gutes Lesenlernen (Die Wirksamkeit Der Phonologischen Bewusstseinsintervention Bei Kindern Mit Beeinträchtigung Der Gesprochenen Sprache, n.d.).

Die phonologische Bewusstheit ist hochsignifikant mit der Lesefähigkeit assoziiert, deutlich geringer jedoch mit der Lesegeschwindigkeit (Mayer, n.d., p. 229). Studien verdeutlichen, dass eine gezielte Förderung der phonologischen Bewusstheit, insbesondere im Vorschulalter, einen positiven Einfluss auf die spätere Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten haben kann. Eine Studie untersuchte die langfristigen Effekte einer vorschulischen Förderung der phonologischen Bewusstheit und der Buchstaben-Laut-Zuordnung bei Risikokindern. Die Ergebnisse zeigten, dass die geförderten Kinder in der ersten und zweiten Klasse bessere Lese- und Rechtschreibleistungen erzielten als die nicht geförderte Kontrollgruppe. Zudem war die Häufigkeit von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in der Trainingsgruppe bis zur zweiten Klasse reduziert.

Benennungsgeschwindigkeit

Die Benennungsgeschwindigkeit ist eine weitere wichtige Vorläuferfertigkeit des Lesens. Sie besagt, wie schnell es einer Person gelingt visuelle Symbole zu benennen. Die Abfolge visueller Symbole (z.B. Zahlen, Buchstaben, Farben) muss rasch erkannt werden. Dann erfolgt der schnelle und präzise Zugriff auf die entsprechende verbale Repräsentation. Viele Gebiete im Gehirn müssen gut aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten.

Die Benennungsgeschwindigkeit korreliert signifikant mit der Lesegeschwindigkeit (Mayer, n.d., p. 229).

Sie wird bei jedem gemeinsamen Bilderbuch lesen und anderen sprachlichen Interaktionen geübt. Wichtig ist die Anwesenheit einer zweiten Person, die an dem Prozess aktiv beteiligt ist. Eine Grundvoraussetzung ist hier der trianguläre Blickkontakt und die ungestörte Aufmerksamkeit des Gegenübers.

Der Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis benötigt bei einigen lese- und rechtschreibschwachen Klienten wesentlich länger. Dabei ist es egal, ob es sich um Zahlen, Buchstaben und Worte handelt.

Wortbedeutung

Der mittlere rechte Schläfenlappen interessiert sich für den Sinn der Wörter. Der Bedeutungssinn eines ganzen Satzes und die Auswahl des Sinns aus mehreren Möglichkeiten wird in spezialisierten Regionen des Schläfenlappens bearbeitet (vgl. Dehaene, 2012, p. 122).

Was bedeutet das Wort „Therapiehund“? Dazu wird die Aufmerksamkeit auf Netzwerke der Wortbedeutung gelenkt. Individuell ist es sehr unterschiedlich, wie groß das Netzwerk ist, das zu einem Begriff abgespeichert wurde. Umso mehr Einträge umso präziser kann die Bedeutung eines Wortes eingeordnet werden.

Der Begriff "Hund" ruft oft eine Vielzahl von Assoziationen hervor, die sich auf multiple sensorische Erfahrungen und emotionale Eindrücke beziehen. Dazu gehören das Bellen, der charakteristische Geruch des sich wälzenden Hundes, die taktile Wahrnehmung des Fells und der Pfoten sowie das Gefühl des Ziehens an der Leine. Diese Assoziationen werden häufig durch persönliche Erlebnisse geprägt und sind daher mit starken Emotionen verbunden, was ihre Speicherung im Gedächtnis verstärkt

Der Ausbau der Wissensnetzwerke ist stark abhängig von den persönlichen Erlebnissen in der realen 3D Welt. Erlebte, erfühlte, gespürte, gesehene und gehörte Ereignisse prägen sich in das Wissensnetzwerk völlig anders ein, als virtuelle 2D Eindrücke.

Nochmal am Beispiel des Hundes:

Wie hört sich das Bellen an? Wie laut ist es?

Welche anderen Geräusche macht ein Hund?

Wie greift sich das Fell an?

Wie riecht ein Hund? Wie riecht er, wenn er nass ist?

Welche Kraft haben Hundebeine zum Springen?

Mit welcher Kraft zieht ein kleiner/großer Hund an der Leine?

Wie bewegt sich die Zunge beim Wasser trinken? Welches Geräusch ist zu hören?

Für die Antwort auf diese Fragen benötigen wir Adjektive. Diese vervielfältigen den Wortschatz. In unserer Alltagssprache verwenden wird ca. 500 Adjektive.

Der Sprachschatz von Schulanfängern ist extrem unterschiedlich. Der soziale Hintergrund und die erfolgte frühkindliche Förderung machen sich sehr stark bemerkbar. Kindern, denen täglich ein Buch vorgelesen wurde, haben in den ersten fünf Lebensjahren fast 300.000 Wörter mehr gehört (A ‘million Word Gap’ for Children Who Aren’t Read to at Home, n.d.).

„Diese Kissen sind modern, aber sie fangen an zu modern!“

Dieser Satz ist ein schönes Beispiel, dass sich die genaue Aussprache und Betonung eines Wortes nur aus dem Zugriff des internen Wortlexikons ergibt. Noch ein Beispiel: „Ich bin alle Montage auf Montage“ (vgl. Brüggelmann, 1992, p. 17).

Zuletzt muss der Sinn eines Satzes überprüft werden. Kann ein Hund wirklich schaukeln? Wenn man in Gedanken an eine Schaukel auf einem Spielplatz denkt, wird man vielleicht an eine falsche Information denken. Allerdings deutet das Wort „Therapie“ auf eine vielleicht unbekannte Sonderform des Schaukelns und des Hundes hin. Also vielleicht doch richtig?

Abspeicherung des Wortbildes

Wichtig ist die Abspeicherung des Wortbildes nicht nur für den schnelleren Lesevorgang, sondern auch für die Verschriftlichung. Die Augen „fotografieren“ die Wörter ab und speichern sie als Bilder im Gehirn ab.

Wie können Wortbilder abgespeichert werden? Benötigt wird ein gutes inneres Vorstellungsvermögen, welche beispielsweise in den Vorschuljahren bei den diversen Rollenspielen trainiert wird. Außerdem ein gutes visuelles Gedächtnis, das für die Speicherung und den Abruf von Wortbildern verantwortlich ist.

Bei schwachen Rechtschreibern ist daher das Abspeichern von Worten als Bild nicht leicht. Dies sollte ganz gezielt trainiert werden.

Die Leselern-WebAPP leamos setzt gezielt beim Training der Wortbildspeicherung an und hilft durch dieses Training ein Gefühl für die richtige Schreibweise zu erlangen.

Teekesselwörter sind Wörter, die ähnlich oder gleich klingen und je nach Bedeutung unterschiedlich geschrieben werden.

Stil - Stiel - stiehl! - still

Still tanzt aus der Reihe und die Schreibweise kann, wenn die Geschwindigkeit der Hörverarbeitung gut funktioniert, herausgehört werden. Die ersten 3 Versionen sind jedoch nicht über die Hörverarbeitung unterscheidbar und nur als Wortbild gemeinsam mit der Bedeutung abspeicherbar.

Lesekompetenz

Die Lesekompetenz umfasst die Fertigkeiten, Inhalte von geschriebenen Texten zu verstehen und effektiv zu verwenden. Die OECD definiert Lesekompetenz als „Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“.

Sie erfordert eine Vielzahl von Fertigkeiten wie Leseflüssigkeit (S.79), Lesegenauigkeit (S.80 und S.278), Lesegeschwindigkeit (S.80 und S. 278) sowie ein gutes Leseverständnis (S. 79).

Unterschiedliche Arten des Lesens

Seit einigen Jahren gibt es eine Bandbreite an Lesemodi: vom versunkenen Lesen eines literarischen Werks bis hin zum schnellen Überfliegen von digitalen Chats und von einer einsamen und stillen Begegnung mit einem gedruckten Buch oder mit einem E-Reader bis zu einem Hörbuch, das andere Aktivitäten begleitet.

Bücher und Printmedien

Lesen in gedruckten Materialien vermittelt eine Reihe von sensorischen Reizen: die Schwere des Buches, das Material der Seiten, die Farbe der Seiten und der Schrift (Kontrast), der Geruch des Buches sowie der Druckerfarbe und das Gefühl des Umblätterns.

Man kann jederzeit zurückblättern und den Text nochmals reflektieren. Oftmals merkt man sich nebenbei an welcher Stelle gewisse Informationen stehen.

„Wenn ein Schüler 10 Stunden damit verbringt, Bücher auf Papier zu lesen, ist sein Verständnis wahrscheinlich sechs- bis achtmal höher, als wenn er dieselbe Zeit lang auf digitalen Geräten liest.“ Dies ist die Kernaussage einer Metastudie der Universität Valencia, die 25 Studien zum Leseverständnis analysiert hat (‘Reading on paper’, 2023).