Weiße Fracht - Gil Ribeiro - E-Book
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Weiße Fracht E-Book

Gil Ribeiro

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Beschreibung

Der dritte Fall für den Ausnahmeermittler Leander Lost. Spannung, fantastische Figuren, Humor und sehr viel Liebe für die portugiesische Lebensart und die Algarve – auch der dritte Band der Krimi-Reihe hat all die Zutaten, die die Romane zum Dauerbrenner in der SPIEGEL-Bestsellerliste machen. Kann es tatsächlich sein, dass sie ihn liebt? Ihn? Einen mit Asperger-Syndrom? Der Kuss von Soraia Rosado am Flughafen von Faro hat Leander Lost, den Hamburger Kommissar in Diensten der portugiesischen Polícia Judiciária, in große Verwirrung gestürzt – und die Tipps in Sachen Liebe, mit denen ihn sein Kollege Carlos Esteves versorgt, sind nicht unbedingt hilfreich. Doch dann wird in Fuseta die Leiche des deutschen Aussteigers Uwe Ronneberg gefunden, und Leander Lost mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Denn überraschend tauchen zwei seiner Kollegen aus Hamburg auf – Amtshilfe ersuchen. Im nah gelegenen Tavira ereignet sich ein weiterer Mord, Opfer ist die Lehrerin Isamara Alves. Und über allem schwebt als Damoklesschwert die drohende Rückkehr Losts nach Deutschland …

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Seitenzahl: 479

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Gil Ribeiro

Weiße Fracht

Lost in Fuseta

Ein Portugal-Krimi

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Gil Ribeiro

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Tag Eins

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Tag Zwei

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Tag Drei

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Tag Vier

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Tag Fünf

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Epilog

Inhaltsverzeichnis

Tag Eins

1.

Der 16. Juli 2017 war ein unverschämt schöner Tag. Die Hitzewelle, die die Ostalgarve seit zwei Wochen in Schach gehalten hatte, war über Nacht durch einen Platzregen abgemildert worden. Auf 28 Grad am frühen Morgen.

Über der Villa Elias hing der Geruch von Regen. Die ausgebrannte und verdorrte Erde wies keine Risse mehr auf, sondern war sanft aufgeworfen. Selbst am Himmel, der in der Glut der letzten beiden Wochen unnatürlich hell gewirkt hatte, erstrahlte wieder jenes satte Azur, von dem die Bewohner Fusetas behaupteten, das gäbe es nur hier.

Leander Lost, der Alemão und Asperger-Autist, den es als Austauschkommissar für ein Jahr hierher verschlagen hatte, wusste mittlerweile, dass diese Behauptung eine Übertreibung war. Der Stolz der Portugiesen – und das nahm ihn für sie ein – galt meist keiner persönlichen Errungenschaft, sondern etwas Ideellem, das Teil der Gemeinschaft war – oder ihr zur Verfügung stand. Die Saudade etwa, die typische portugiesische Melancholie. Sie war Ausdruck der Traurigkeit einer kleinen Nation am Rande Europas über den Verlust ihres Status als mittelalterliche Weltmacht, als Spanien und Portugal Kontinente und Meere untereinander aufgeteilt hatten. Verblasst. Und der Verlust manifestierte sich noch viele Generationen später als drückender Schmerz in der Brust. Das waren Soraias Worte, der Schwester seiner portugiesischen Vorgesetzten.

Nun war es objektiv betrachtet nicht ganz leicht nachzuvollziehen, wie man auf diesen drückenden Schmerz stolz sein konnte, fand Leander, denn niemand hatte Schmerz gerne. Aber es war nun einmal ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kultur und die Saudade weltweit einzigartig. Wie das Azur des Himmels über Fuseta.

 

Abzüglich seines Jahresurlaubs hatte Leander Lost noch anderthalb Monate in Fuseta vor sich. Da er sich am wohlsten fühlte, wenn er alles unter Kontrolle hatte, waren natürlich Art, Umfang und Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Hamburg bis ins allerletzte Detail organisiert – in einer idealen Welt.

Tatsächlich war nichts davon erledigt. Gar nichts.

Er hatte all das aufgeschoben. Was bedeutete, dass ihm seine bevorstehende Rückkehr ständig wieder in den Sinn kam und er sie mit einer Willensanstrengung stets aufs neue beiseiteschob. Er musste die Sache ruhen lassen, bis er mit Soraia gesprochen hatte. Persönlich.

Und falls die Rückkehr unausweichlich war, das hatte er sich fest vorgenommen, musste er sich noch etwas für die Insekten überlegen.

 

Leanders erster Gang führte ihn nämlich wie jeden Morgen über den schmalen Pfad aus warmen, weichen Steinen zum Pool. Und das Zirpen der Grillen, das ihn in den Schlaf wiegte wie sonst nur der Regen in Hamburg, begleitete ihn dabei.

Der von weißem Oleander und Kakteen umsäumte Pool der Villa Elias maß zwölf auf vier Meter. Dahinter erstreckten sich Wiesen, die die Sonnenglut in eine gelblich-braune Savanne verwandelt hatte. Das nächste Nachbarhaus befand sich in einem Kilometer Entfernung. Erst dahinter fiel das Land zu den Dächern von Fuseta und zum Atlantik ab, der schon am Vormittag verlockend in der Sonne glitzerte.

Leander nahm den Kescher und fischte damit Bienen, Hummeln, Fliegen, Wespen und andere Insekten aus dem Becken, die auf der Suche nach Trinkwasser havariert waren und nun lautlos und vergebens gegen ihren Tod anstrampelten.

Wenn er alleine war, tat Leander das splitternackt, er wusch sich in der Außendusche und zog dann ein paar Bahnen, um danach zu frühstücken und mit dem Motorrad ins Kommissariat nach Faro zu fahren. Aber heute war Sonntag, und bis auf die Rettung einiger Insekten standen keinerlei Verpflichtungen an.

 

Seitdem Zara Pinto, die Vollwaise, das kleine Besucherhaus dauerhaft bewohnte, kam er morgens bekleidet zum Pool. Meist führte auch ihr Weg hierher. Sie schritt nicht grazil in das Becken, sondern sie sprang direkt hinein.

Hätte Leander das passende Bild für den Charakter der jungen Frau bestimmen müssen, er hätte dieses gewählt – der direkte, unerschrockene Sprung ins Wasser.

Zara schwamm etwas hin und her, tauchte, zog ein paar Bahnen (wie üblich sah das alles nicht nach einem Plan aus) und sagte beim Verlassen des Pools, dass sie Hunger habe und gerne mit ihm frühstücken wolle.

Das tat sie jeden Morgen.

Sie sagte es nicht, um ihn zu informieren. Denn Leander merkte sich alles. Nicht, weil er wollte. Sondern, weil er musste. Er war nicht in der Lage, sich etwas nicht zu merken.

Zara tat es, um ihm einen Gefallen zu tun. Sie wusste, dass er seine Rituale ebenso brauchte wie sie die unerschütterliche Geborgenheit, die er ihr bot und deren Unerschütterlichkeit darin bestand, dass Lost sich opfern würde, um sie zu schützen. Er hatte es schon einmal unter Beweis gestellt und fast mit dem Leben bezahlt.

Und Leander, dem List ebenso fremd war wie Hintersinn oder gar Ironie, als wären sie allesamt eingekapselt in einer Welt, zu der ihm der Zugang verwehrt war, nahm nur den Informationswert ihrer Wörter wahr – nicht ihren tieferen Sinn.

 

Nach dem Frühstück verzog Zara sich wieder in das weiß getünchte Besucherhaus, das in seiner quadratischen Form und mit seiner Dachterrasse an ein Pueblo erinnerte. Erst die obligatorischen gemalten Umrahmungen der Fenster machten es zu einem typischen portugiesischen Gebäude, denn die farbigen Rechtecke – in diesem Fall gelbe – hielten böse Geister fern, wie jedes Kind wusste. Und auch jene Portugiesen, die nicht wirklich daran glaubten, gingen beim Hausbau auf Nummer sicher und schützten das Gebäude und die Familie auf diese traditionelle Weise. Man konnte schließlich nie wissen.

Auf Zara wartete am nächsten Tag trotz der Schulferien eine Aufnahmeprüfung. Früher hatte sie die Schule sträflich vernachlässigt. Statt etwa während einer Klassenarbeit einen zweistündigen Aufsatz über die Nelkenrevolution in Portugal zu verfassen, schrieb sie dem Geschichtslehrer lieber, was für ein Esel er war, und verließ das Klassenzimmer nach zwei Minuten. Autoritäten erschienen ihr suspekt, und Vorschriften wollte sie sich um nichts in der Welt beugen. Zara verscherzte es sich auf diese Weise auch mit jenen Lehrern, die es gut mit ihr meinten, und schmiss die Schule.

Durch Leander, der ihr ein Leben ohne Vorschriften ermöglichte, hatte sie aber nach und nach verinnerlicht, dass Bildung der Schlüssel zu einem freien, unabhängigen Leben war.

Daher hatte Zara sich auf den Hosenboden gesetzt und für die Zulassung in die Sekundarstufe gebüffelt.

Es sprach für ihre Hartnäckigkeit und Disziplin, trotz der 33 Grad im Schatten, die inzwischen herrschten, mittags nach Fuseta zu fahren, um sich dort zusammen mit einer gleichgesinnten Freundin weiter auf die Prüfung vorzubereiten.

Leander schickte Toninho, ihrem Freund, wie abgesprochen eine SMS. Keine zehn Minuten später knatterte der 20-jährige Student auf seinem Moped auf den sandigen Hof. Die Kabel waren mehrfach geflickt, der Sitz eingerissen, das Schutzblech verbeult, und der Auspuff hing nur noch in einer Schelle und schwang die ganze Zeit auf und ab. Das Zweirad war eine bizarre Anhäufung von Ersatzteilen und handwerklichen Improvisationen, und nur eine gnädige Fügung des Schicksals bewahrte es davor zusammenzufallen.

Toninho zog den Helm mit der spiegelverkehrten Aufschrift Fuck you vom Kopf und schenkte Leander ein verschmitztes Lächeln.

»Bom dia. Como está?«

»Bom dia, Toninho.«

Der nickte, klappte den länglichen Sitz hoch und gab damit den Blick auf allerlei Werkzeug frei, das aus Dutzenden von Werkzeugkoffern stammte.

 

Sie frästen, bohrten und sägten, verlegten Kabel und versenkten Dübel in der Wand.

Das Besucherhaus der Villa Elias bestand aus einem größeren Schlaf- und einem Badezimmer, aber durch einen Raumteiler hatten sie Platz für eine kleine Küchenzeile geschaffen. Die verbauten die beiden jetzt, damit Zara morgen das Geschenk erhielt, das sie sich gewünscht und Leander ihr unter einer Bedingung versprochen hatte: die erfolgreiche Prüfung, die ihr den Besuch der Sekundarstufe erlaubte.

 

Toninho und Zara waren erst seit knapp drei Monaten ein Paar. Und sie konnten voneinander nicht genug kriegen. Während Zara dabei ihr tägliches Lernpensum für die Prüfung nicht aus dem Blick verlor, ließ Toninho alles schleifen und schwebte mit einem entrückten Lächeln durch die Gegend.

»Wenn er mit diesem abwesenden Blick lächelt, sieht er völlig zurückgeblieben aus«, hatte Carlos Esteves gesagt, Leanders Kollege bei der Polícia Judiciária, der portugiesischen Kripo. Graciana Rosado hatte Carlos von der Seite angesehen, während sie auf der Nationalstraße 125 eine Schlange von vier Autos in einem Rutsch überholte und dabei den dritten Gang bis in den roten Drehzahlbereich trieb, während ihr Kollege sich ein Bifana schmecken ließ: dünne Scheiben eines Schweineschnitzels, die in Knoblauch angebraten worden waren und zusammen mit einer scharfen Piri-Piri-Soße und Zwiebeln zwischen zwei Weißbrotscheiben steckten.

»Sei nicht gemein. Er ist verliebt – und glücklich«, wandte seine Vorgesetzte Graciana Rosado ein, einen knappen Kopf kleiner als er und die Haare im Dienst zu einem Pferdeschwanz gebändigt.

»Ich war auch schon verliebt und glücklich und habe dabei nicht ausgesehen wie ein Idiota.«

»Er sieht nicht aus wie ein Trottel, er schwebt einfach nur etwas.«

»Hoffentlich schwebt er nicht irgendwann gegen eine Wand«, hatte Carlos geantwortet.

 

Toninho trug in der brütenden Hitze nur Shorts, die halblangen Haare fielen ihm leicht gelockt auf die gebräunten Schultern. Er und Leander Lost wuchteten den schmalen Kühlschrank unter die Anrichte, die sie gerade in der Wand verankert hatten.

Trotz der Anstrengung war Leanders Miene ausdruckslos. Bei genauer Betrachtung hatte er weniger Lachfältchen um die Augen als Toninho, obwohl er dreizehn Jahre älter war. Seine Haare waren millimeterkurz geschoren.

Nachdem sie den Kühlschrank angeschlossen hatten, kümmerten sie sich als Letztes noch um den kleinen Dampfgarer. Zara hatte es auf die vegetarische Seite verschlagen, und sie war fest entschlossen, ihr Gemüse so zuzubereiten, dass die Vitamine beim Garvorgang erhalten blieben – also im Dampf, wie sie erklärte, nicht im Wasser.

Die Kollegen der Polícia Judiciária hatten daraufhin für den Dampfgarer zusammengelegt, denn obwohl Leander de facto als ihr Vormund fungierte, fühlten sich alle nicht nur mit ihr verbunden, sondern in gewisser Weise auch für sie verantwortlich.

Denn Zara war nach dem Mord an ihrer Mutter vor gut einem Jahr zur Vollwaise geworden. Eine Jugendliche, die nichts und niemandem mehr traute, die zu oft enttäuscht worden war, zu oft getreten wie ein Straßenhund, der nun nach jedem schnappte, der sich ihm näherte. Aber Lost näherte sich ihr nicht. Er war einfach nur auch hier. In der Villa Elias. Direkt neben ihr. Sonst nichts.

Und so hatte sie damals Stück für Stück Vertrauen zu dem blassen, schlaksigen Deutschen gefasst, ihre Angst schließlich überwunden und ihnen den entscheidenden Tipp gegeben, der letztlich zum Täter geführt hatte.

Formell hatten die Rosados, die Eltern seiner Vorgesetzten Graciana Rosado, sie adoptiert. Informell lebte sie hier, im Besucherhaus der Villa Elias. In der Geborgenheit, die der Alemão ihr bot.

 

Nach dem Test des Dampfgarers waren Leander und Toninho mit ihrer Arbeit fertig. Sie fegten und saugten noch die Holz- und Metallsplitter weg, bevor sie sich einigermaßen erschöpft am Pool unter den Sonnenschirm setzten. Sie tranken einen Orangensaft, den Lost gegen Mittag frisch ausgepresst und dann kalt gestellt hatte. Die Gläser beschlugen in der Hitze im Nu.

Mittlerweile ging es auf den Abend zu. Leander nahm den Kescher, balancierte am Beckenrand entlang und fischte zwei Wespen aus dem Wasser, die er neben dem Oleander ausschüttelte.

»Warum tust du das immer?«, fragte Toninho.

»Weil sie sonst ertrinken.«

Toninho lächelte schief. Der Alemão war schon ein Kauz. Aber er hatte gehörigen Respekt vor ihm. Und inzwischen hatte der junge Student auch gelernt, ihm Fragen besser direkt zu stellen.

»Ja, ich verstehe, aber … es sind doch nur Insekten. Wenn es ein Kaninchen wäre oder eine Katze oder ein Hund …«

»Also ist die Größe das Kriterium dafür, ob man ein Tier retten sollte oder nicht?«

Toninho überlegte einen Moment. »Kommt darauf an.«

»Auf was? Welche kognitiven Fähigkeiten es hat?«

»Na ja«, wich Toninho aus. Was hatte ihn bloß geritten, Leander Lost diese Frage zu stellen?

»Oder ob sie in der menschlichen Skala von Schönheit weiter oben rangieren? Ist eine Spinne weniger wert als ein Kaninchen?«

»Das spielt sicher eine Rolle.«

»Auch ob das Tier uns gefährlich werden könnte?«

»Ja, wohl auch das.«

»Und ob es ein Nutztier ist – also, ob wir es nur versorgen, um es später zu essen?«, fragte Leander Lost ruhig und balancierte weiter über die warmen Begrenzungssteine den Beckenrand entlang.

»Ich weiß nicht, ich muss noch mal drüber nachdenken, glaube ich. Worauf es letzten Endes ankommt. Wie der Wert eines Tieres entsteht.«

»Kein Tier bringt einen Wert an sich mit. Es hat nur den, den wir ihm zubilligen. Viele Menschen glauben, der Wert eines Lebewesens wird durch das am weitesten entwickelte Lebewesen bestimmt. Durch uns.«

»Das heißt, für dich haben die Tiere keinen unterschiedlichen … Wert?«

»Das ist nicht das Kriterium, nach dem ich mich verhalte.«

Leander erntete einen verblüfften Blick von Toninho.

»Und was ist das Kriterium dann?«

»Ob jemand Hilfe braucht.«

Toninho sah ihm beim Insektenretten zu und fragte sich, ob der Alemão sich über ihn lustig machte. Aber Leander Lost konnte nicht lügen. Es war sein absoluter Ernst. Er fischte bei über dreißig Grad alles raus, was sich noch gegen das Ertrinken stemmte.

Toninho atmete einmal tief durch. »Weißt du, wie viele Swimmingpools sich im Umkreis von fünf Kilometern befinden?«

»Ungefähr 64.«

»Desculpa, Leander, aber die werden alle umkommen.«

»Ja. Aber nicht in diesem Pool. Würdest du gerne nur von Weizenbrot und Hafergrütze leben?«

»Etwas Salz dazu wäre schon nicht schlecht«, antwortete Toninho. Leander sah ihm irritiert in die Augen.

»Das war Ironie«, schob der junge Portugiese schnell nach.

»Ohne Insekten keine Bestäubung. Das meiste Obst und Gemüse würde es nicht mehr geben. Ebenso wie viele Wildblumen, die für eine Menge Tiere die Nahrungsgrundlage darstellen. Diese Tiere würden aussterben. Ebenso jene, die sich hauptsächlich von Insekten ernähren. Die Erhaltung der Insekten ist logisch eng verknüpft mit dem Erhalt unserer Spezies.«

Und deswegen stand nun auch Toninho auf, ließ den Orangensaft stehen, rettete ungefähr 30 von den kleinen Quälgeistern und fuhr dann zurück nach Fuseta. Und ja, zugegeben, schon an der ersten roten Ampel fühlte er sich ein wenig besser.

 

Soraia.

Das war die kleinere, filigrane Schwester seiner Vorgesetzten mit den Grübchen, an die Leander in den letzten Wochen immer öfter denken musste. Denken musste war nicht ganz korrekt, wie Leander sich korrigierte. Teile ihres Gesichts oder ein Satz, den sie gesagt hatte, oder der Klang ihres Lachens – etwas davon schob sich einfach unvorhersehbar in seine Gedanken. Überraschte ihn und lenkte ihn so sehr ab, wie das bis jetzt nur seinen drei Steckenpferden – die Kolonialisierung des Mars, Albert Camus und Doc Holliday – möglich gewesen war.

Das war offensichtlich die Folge des Kusses, den sie ihm unvermittelt beim Abschluss des letzten Falls gegeben hatte, was ein unbeschreiblich schönes Gefühl in ihm ausgelöst hatte.

»Und wie hat sich das angefühlt?«, hatte sie gefragt, weil sie um Leanders Abneigung gegen Körperkontakt nur zu gut wusste. Und obwohl sie diesbezüglich eine der wenigen Ausnahmen darstellte, war ein inniger Kuss etwas anderes, als jemandem die Hand auf den Unterarm zu legen.

»Wie das Spritzen eines Kontrastmittels«, hatte Leander geantwortet.

Jede andere Frau hätte bei so viel Romantik vermutlich das Weite gesucht, aber Soraia hatte schon bald nach seiner Ankunft im vergangenen Jahr als Erste erkannt, was es mit Leander auf sich hatte. Er war auch nicht darauf aus, ein Kompliment zu machen. Vermutlich wusste er gar nicht, was das ist, hatte Soraia gedacht. Und wenn doch, hielt er Komplimente mit Sicherheit für überflüssig.

Dass ihr Kuss ihn am ehesten an die Wirkung eines frisch injizierten Kontrastmittels erinnerte, wohnte aber ein Kompliment inne – das hatte Soraia verstanden. Denn mit einem Kontrastmittel, das einen sofort vom Ohrläppchen bis zum kleinen Zeh mit Wärme erfüllte und durch das man – als eine Art neue Dimension des Bewusstseins – jede einzelne Zelle des Körpers mit einem Kribbeln wahrnahm, konnte man sich in seiner Gesamtheit fühlen, als stünde man unter leichtem Strom – tja, das hatte noch kein Mann durch einen ihrer Küsse empfunden.

Mit dem Ergebnis, dass Leander nach einer gewissen Bedenkzeit (vier Minuten) sie von sich aus küsste.

»Ist es immer noch wie ein Kontrastmittel?«

»Ja.«

»Dann ist es gut.«

 

Am Tag darauf war Soraia für eine längere Fortbildung nach Coimbra in den Norden gefahren. Heute endlich würde sie zurückkehren. Heute konnte er sich Klarheit verschaffen.

Auf seiner alten Dienststelle in Hamburg würde er ohnehin nicht lange bleiben, falls er dorthin zurückkehren müsste. Dort erwartete ihn zwar in Form der Kollegen seine »Familie«, aber die beabsichtigten schon jetzt, ihn gleich auf seinen nächsten Austausch nach Zypern zu schicken, weil sie ihm versicherten, er sei der Beste in der Abteilung.

Auch die einzigen beiden Kollegen, die ihn abends mal zu sich nach Hause eingeladen hatten. Zum Grillen. Mit ihren Frauen. Die Paare hatten den ganzen Abend gelacht, und Leander hatte keinen Schimmer, worüber eigentlich. Aber es musste ihnen sehr gefallen haben.

M&M, wie seine Kollegen sich selbst nannten: Manz und Mohrmann.

 

Wie üblich verließ Leander die Villa Elias in einem schwarzen Anzug samt weißem Hemd und schwarzer Lederkrawatte. Er wollte hinüber nach Fuseta fahren und Soraia ohne telefonische Vorankündigung zum Essen einladen.

Die Kombination aus schwarzem Anzug und weißem Hemd hielt er zwölffach vorrätig.

Dieses Erscheinungsbild hatte er sich vor 19 Jahren, vier Monaten und drei Tagen auf Herrn Winterbergs Beerdigung zugelegt. Endlich ein Anlass, für dessen angemessene Kleiderwahl er sich nicht den Kopf zerbrechen musste und nicht wie üblich den Zwang empfand, den Kleidungsstil eines anderen Heimkindes nachzuahmen. Bei Beerdigungen trug man Schwarz. Das war eine gesellschaftliche Konvention. Leander liebte so etwas: Es gab ihm Halt und Orientierung, wenn etwas klar geregelt war.

Mit einem schwarzen Anzug fiel man bei einer Beisetzung nicht auf. Nicht aufzufallen war schon immer etwas, um das er sich akribisch bemüht hatte.

Jedenfalls hatte jemand ihm bei der Beerdigung des Waisenheimdirektors gesagt, der Anzug stehe ihm.

Da Leander von Mode oder einem gelungenen Äußeren überhaupt keine Ahnung hatte, war er einfach dabeigeblieben. Seit seinem 14. Lebensjahr. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, Lederkrawatte. Auch wenn das in modischen Dimensionen vor Äonen gewesen war und Lederkrawatten längst nicht mehr als en vogue galten.

Um anfangs nicht aufzufallen, hatte er sich kurz nach seiner Ankunft in Fuseta exakt so gekleidet wie der Kollege Esteves, der zu dieser Zeit mit Shorts, Hemd und Espadrilles herumlief – und der sich das verbat. Leander war dem Wunsch nachgekommen, die Espadrilles dagegen, die waren angenehm leicht und bequem, weswegen er sie auch heute noch zum Anzug trug.

 

Er stieg auf seine gelbe Ducati Scrambler, eine Maschine mit Speichenrädern und auch sonst im Retro-Look, und wollte sich gerade auf den Weg zu Soraia machen, als ihn der Notruf von Luís Dias erreichte.

Und zwar über Funk.

»Code 249«, vernahm Leander dessen Stimme zusammen mit dem typischen Funkrauschen. Leander Lost kannte alle Funkcodes auswendig, aber diesen hier musste sowieso kein Polizist in Portugal nachschlagen. Code 249 rangierte nach Code 16 für einen nationalen Ernstfall und Code 77 für ein terroristisches Attentat auf Platz drei. Er wurde von Polizisten in akuter Lebensgefahr abgesetzt und firmierte in der Amtssprache unter Polizeibeamter in Not.

2.

»Luís?«

»Sim?«

»Kannst du reden?«

»Leise«, hörte sie die gepresste Stimme.

Graciana Rosado lief aus dem kleinen Haus am Ende der Sackgasse, das sie zusammen mit ihrer Schwester Soraia bewohnte.

»Wo bist du?«

»Rua Ponte Grande.«

 

Als schwarze Gestalt mit wehendem Schlips jagte Leander Lost auf seiner gelben Scrambler über den Feldweg, eine weithin sichtbare Staubfahne hinter sich aufwirbelnd, bis er die Nationalstraße125 erreichte und scharf nach links abbog. Mit Vollgas schoss er an den Autos vor ihm vorbei.

»Sub-Inspektor Leander Lost«, meldete er sich vorschriftsmäßig über sein Helmmikrofon, um keine Verwirrung im Funkverkehr zu stiften. »Welche Hausnummer?«

 

Zeitgleich schwang Graciana sich hinter das Lenkrad. Zum Glück hatte auch Carlos Esteves während der Wochenendbereitschaft den Funk abgehört. Er rannte auf Gracianas Volvo zu. Gerade riss er die Dienstwaffe aus dem Hosenbund und entsicherte sie, während Graciana das Blaulicht unter dem Sitz hervorzog und aufs Autodach pflanzte.

Carlos hatte die Tür noch nicht geschlossen, da trat Graciana das Gas voll durch. Der schwarze schwedische Kombi war ein T5. Ein Turbo und ein Letzter seiner Klasse, denn dieses Modell wurde nicht mehr produziert. 260 PS ließen den Dienstwagen davonjagen.

»Ich … ich weiß nicht«, hörten sie Dias, »es ist … es liegt nach der Escola Secundaria links. Wenn man von der N125 kommt. Sonst rechts. Das Haus von dem Carpinteiro.«

 

Haargenau jene Sekundarschule, die wegen der Ferien geschlossen war und deren Temposchwellen am Zebrastreifen Lost mit knapp hundert Sachen überquerte, sodass ein paar bolzende Kinder Zeugen eines imposanten 6-Meter-Sprunges mit flatternder Krawatte wurden.

 

»Bist du unter Beschuss?«, fragte Graciana, während sie die langgezogene Kurve der Rua Ponte Grande in einem Tempo nahm, das sie zwang, das ausbrechende Heck abzufangen.

»Im Moment nicht.«

»Bist du verletzt?«, fragte Carlos, dem bei offenem Fenster das lockige Haar umhergewirbelt wurde.

»Nein … ich bin in Deckung.«

»Forder trotzdem eine Ambulanz an«, wies Graciana Carlos an, während sie weit vor sich die unverwechselbare schwarze Gestalt auf dem gelben Motorrad heranpreschen sah.

 

Leander Lost erreichte das Haus knapp vor dem Volvo. Es stand weit entfernt von anderen Bauten mutterseelenallein auf einer weiten Wiese, deren Gras in Kniehöhe verdorrt war. Hier und da blickte dessen ungeachtet die Blüte einer Blume hervor.

Er konnte Luís sehen, der sich hinter der Gartenmauer verschanzt hatte, die Pistole in der Hand, auf dem Rücken seiner Uniform das Kürzel GNR: Guarda Nacional Republicana. Die Polizeieinheiten der GNR wurden hauptsächlich in ländlichen Gebieten eingesetzt und waren für alles zuständig, was der Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit diente. Im Alltag ging es meist um kleinere Delikte: Verkehrsunfälle, Diebstähle, Ruhestörung und dergleichen.

Leander hatte den Helm abgestreift und suchte hinter einem Baum an der Ecke des Grundstücks Schutz, keine drei Meter von Luís entfernt. Das Gebäude war eingeschossig, vorne braun gekachelt, an den Seiten weiß verputzt. Eine Fernsehantenne erhob sich von der Dachterrasse und streckte ihre metallischen Fühler in alle Richtungen nach Frequenzen aus. Die vorderen Rollläden waren heruntergezogen. Ob sie jemand von drinnen beobachtete, war also nicht auszumachen.

Beginnend mit dem Baum, an dem Leander stand, hatte der Besitzer den Zaun, der die Grundstücksgrenze an der Seite markierte, von innen mit schwarzer Plastikplane abgehängt, um sich etwas Privatsphäre zu verschaffen. Dahinter stand ein alter, ausgeschlachteter VW-Käfer, dem Wind und Wetter sichtlich zugesetzt hatten. In dem großen Garten wuchsen in unregelmäßigen Abständen Orangenbäume. Und dazwischen ein System aus Wäschestangen und -leinen, das sich offenbar fast über das gesamte Grundstück erstreckte.

Lost genügte ein Blick, um sich Anzahl der Bäume, der Wäschestangen und ihre Positionen einzuprägen. Er war von Geburt an Eidetiker, ein Mensch mit einem fotografischen Gedächtnis. Das Vergessen hatte ihn vergessen.

Da hörte er Laufschritte hinter sich und blickte über die Schulter. Graciana Rosado und Carlos Esteves waren eingetroffen und gingen auch hinter der Mauer und dem Zaun in Deckung. Carlos trug Shorts und Sandalen, außerdem ein helles Hemd, aufgeknöpft bis zum Solar Plexus. Graciana wandte sich an Luís Dias: »Was ist passiert?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

»Da ist einer eingestiegen.«

»In das Haus?«

Luís nickte.

»Und der war alleine?«

»Ich hab nur einen gesehen. Aber vielleicht sind es ja mehr.«

Carlos seufzte: »Ist der bewaffnet?«

»Möglicherweise.«

»Was soll das heißen, Luís?«

»Dass ich es nicht genau gesehen habe.«

Graciana warf Carlos einen kurzen Blick zu, in dem er las, was er selbst empfand – Luís Dias hatte etwas viel Wind um die Sache gemacht.

»Weißt du, was der Code 249 bedeutet?«

»Ja. Ich bin schon viel länger im Dienst als du, ich weiß sehr genau, was der Code 249 bedeutet, sonst hätte ich den wohl kaum abgesetzt«, ereiferte Luís sich. Er wurde gerne laut, wenn er merkte, dass er sich im Unrecht befand: »Unfassbar, was man sich bieten lassen muss.«

»Hast du den Carpinteiro gesehen?«

»Unfassbar«, brummte Dias.

»Ob du den Carpinteiro gesehen hast, Luís.«

Gracianas Miene war angespannt. Der Schreiner, der Carpinteiro, war ein deutscher Aussteiger, den es bereits in jungen Jahren Ende der Achtziger hierher verschlagen hatte und der hier sesshaft geworden war. Er hatte eine Schreinerlehre im Gepäck gehabt, mit seinen Kenntnissen war er bis heute ein gefragter Mann in Fuseta und Umgebung. Und wenn er nicht arbeiten wollte, was immer häufiger vorkam, schnorrte er sich durch oder führte Touristen herum und ließ sich von ihnen zum Essen einladen.

»Nein«, sagte Luís schließlich, »habe ich nicht.«

Graciana wusste genug. Wenn sich der Carpinteiro zu Hause befand, war er möglicherweise in Gefahr. Sie deutete mit zusammengelegten Zeige- und Mittelfinger den Zaun entlang nach hinten. Dabei sah sie Carlos Esteves in die Augen, der lediglich ein Nicken andeutete.

Die beiden waren praktisch Tür an Tür in Fuseta aufgewachsen, hatten beide bei der GNR angeheuert, die Ausbildung dort aber abgebrochen und stattdessen von vorne bei der Kripo in Faro begonnen. Und auch wenn Graciana inzwischen offiziell Carlos’ Vorgesetzte war, arbeiteten sie beide auf Augenhöhe. Nicht, weil er das eingefordert hätte, sondern weil es nie anders gewesen war.

Jedenfalls verstanden sie sich nahezu blind.

Daher brauchte es kein weiteres Wort und Carlos machte sich geduckt auf den Weg. Zügig, aber nicht im Laufschritt. Überhaupt bewegte er sich nie schneller als nötig. Ein großer kräftiger Kerl, der bei nahezu jeder Gelegenheit etwas zu sich nahm, was sich auf magische Art nicht auf sein Gewicht auszuwirken schien.

»Senhor Lost, ich gehe zum Eingang«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Sie folgen dem Zaun und betreten das Grundstück, sobald man Sie aus den Frontfenstern nicht mehr sehen kann.«

Da an der rechten Seite des Hauses eine Garage angrenzte, war es dem Einbrecher unmöglich, Leander Lost von drinnen zu sehen, sobald er diesen Punkt hinter sich gelassen hatte.

»Ich soll mich im toten Winkel nähern und Ihnen Feuerschutz geben.«

Keiner spazierte so sicher durch Kausalketten wie Lost.

»Genau.«

Sie erhob sich in ihrer Jeans und der beigen Bluse, die Augen konzentriert auf die Vorderfront des Hauses gerichtet. Dann setzte Graciana die Hand auf die Gartenmauer und schwang sich darüber.

»Und ich?«, hörte sie Luís hinter sich.

»Du bleibst in Deckung als unsere Reserve.«

Luís Dias würde dieses Jahr in Rente gehen. Nach sage und schreibe 51704 heimlichen Solitärspielen während der Dienstzeit, in der er ansonsten bedeutsam und mit gewichtiger Miene Straßen auf und ab schritt und bei Parksündern für eine kleine Gefälligkeit beide Augen zudrückte. In keinen Dienstschichten ereigneten sich so wenige Gesetzesübertretungen wie in denen von Luís. Denn für jede Übertretung war ein Bericht fällig. So verwunderte es kaum, dass er nach bald 45 Dienstjahren, in denen er eine manuelle Triumph Adler, dann eine elektrische Schreibmaschine, gefolgt von einer mit einem Kugelkopf bis hin zum ersten Computer erlebt hatte, immer noch mit seinen beiden Zeigefingern tippte.

Wenn er in Rente ging, würde man die Planstelle nicht neu besetzen, denn Luís Dias hatte eindrücklich bewiesen, dass man sie auf der GNR-Station in Moncarapacho, das nur wenige Kilometer nördlich von Fuseta im Landesinneren lag, überhaupt nicht benötigte.

Trotzdem empfand Graciana Rosado Mitgefühl für ihn und wollte ihm nicht den Eindruck vermitteln, er sei unnütz.

 

Sie ging direkt auf die Haustür zu. Die Dienstwaffe hatte sie in ihrem Hosenbund am Rücken verstaut, sodass sie von vorne zwar nicht sichtbar, aber für sie griffbereit war. Leander schwang gerade die Beine über den Gartenzaun und kam von rechts näher. Der Linkshänder hatte seine Walther PPQ im Anschlag, um augenblicklich reagieren zu können, sollte Graciana in Schwierigkeiten geraten.

»Ich kann hinten durch ein Fenster rein«, meldete sich Carlos per Funk und hatte die Stimme zu einem Wispern gesenkt.

»Ich klingel, dann gehst du rein«, sagte Graciana und trat an die Tür. Anders als bei Portugiesen üblich hatte der Carpinteiro seinen Namen auf einen Zettel geschrieben und über die Klingel geheftet. Jahrelang der Sonne ausgesetzt war die Schrift nahezu komplett verblichen. Aber sie konnte den Namen noch lesen: U. Ronneberg.

Und nun erinnerte Graciana Rosado sich auch wieder an ihn. Sie schaute noch einmal zur Seite. Leander Lost hatte sich lautlos bis zum ersten Fenster bewegt und zielte von dort aus auf die Tür.

Graciana klingelte und flüsterte nun ihrerseits ins Funkgerät: »Jetzt.«

 

Carlos Esteves klappte ganz vorsichtig das Fliegengitter des geöffneten Fensters auf und steckte den Kopf hinein. Er lauschte. Nichts. Nur die Grillen von draußen und von fern das Knattern eines Zweirads. Zentimeter um Zentimeter hob er das rechte Bein und streckte es so lautlos wie möglich in den Raum hinein.

Hier unterhielt der Carpinteiro immer noch eine kleine Werkstatt. An einer Lochwand hingen alle möglichen Werkzeuge. Einige Holzgriffe glänzten, so oft waren sie benutzt worden. In eine Werkbank waren eine Kreissäge und eine Zwinge eingelassen. Auf einer Palette am Boden stapelten sich ein paar Eimer und Säcke.

Kontakt.

Carlos’ rechter Fuß hatte den Boden aus Beton erreicht. Und jetzt klingelte es vorne an der Haustür ein weiteres Mal.

Erneut konzentrierte er sich ausschließlich auf sein Gehör. Schlich da jemand durchs Haus? Nein.

Jetzt fiel es ihm leicht, das linke Bein nachzuziehen, sodass er in dem Werkraum stand, die Glock entsichert in der Hand. Es roch nach Holz und nach frischer Farbe. Er atmete einmal tief durch, um zu bemerken, dass sein Atmen ein Echo hervorrief, was ihn irritierte.

Er versuchte es noch einmal: einatmen, ausatmen.

Wieder das Echo. Aber dieses Mal konnte er benennen, woher es kam. Er blickte abrupt auf – und konnte gerade noch erfassen, wie sich der Mann, der sich oberhalb der Dachbalken versteckt hatte, auf ihn fallen ließ.

Das Gewicht des Angreifers riss Esteves zu Boden, auf den er hart aufschlug. Ein Schuss löste sich aus seiner Pistole, prallte an der Kreissäge ab und jaulte als Querschläger davon.

Der Mann rappelte sich auf, um aus dem Fenster zu fliehen. Carlos packte ihn am Fußgelenk, während er von vorne aus dem Flur zwei gedämpfte Schüsse hörte und dann das Splittern von Holz. Graciana hatte sich mit Hilfe ihrer Waffe gewaltsam Zugang zum Haus verschafft.

Der Flüchtende trat Carlos seitlich gegen den Kopf, damit der ihn losließ.

»Carlos?«

Das war Gracianas Stimme, und in ihr schwang Besorgnis mit.

»Hier hinten!«, brüllte er und wich dem zweiten Tritt des Mannes aus, um ihm stattdessen den Knauf der Glock auf die Innenseite des Knies krachen zu lassen.

Der Mann stöhnte auf, er konnte das Bein nicht länger belasten und stürzte neben Carlos.

Dann war Graciana in der Tür und zielte auf den Einbrecher, den sie sofort erkannte: »Liegen bleiben, Romão. Auf den Bauch.«

»Ich war’s nicht, ehrlich. Ich war’s nicht.«

»Auf den Bauch!«, brüllte Carlos ihn wütend an und half nach, weil es ihm nicht schnell genug ging. Dann fixierte er dessen Handgelenke mit seinen Handschellen und zog Romão, den er jetzt im Halbdunkel ebenfalls erkannte, wenig zimperlich auf die Beine.

»Mann, das tut weh.«

»Hör auf zu jammern.«

 

Leander war Graciana zwar direkt gefolgt, hatte aber die Räume links und rechts gesichert, damit niemand seiner Vorgesetzten in den Rücken fallen konnte.

Ein Vorraum, das Bad, die Küche, in der sich benutztes Geschirr stapelte und dann das Wohnzimmer, das wegen der heruntergelassenen Rollläden im Halbdunkel lag und in dem nur das abnehmende Sonnenlicht aus dem Flur für eine diffuse Helligkeit sorgte.

Lost war durchaus bewusst, dass ein Schütze im Wohnzimmer sich im Vorteil befand, weil der ihn klar sehen konnte, während Leanders Augen einen Augenblick benötigten, um sich auf die neue Lichtsituation einzustellen. So gab er ein leichtes Ziel ab.

Aber etwas in ihm gab ihm Zuversicht. Leander, rational und logisch veranlagt, wusste trotzdem um den Wert von Intuition. Von Bauchgefühl. Er spürte keinen Blick auf sich, wie man ihn in den meisten Situationen empfand, in denen man beobachtet wurde.

Niemand hatte einen Fluchtversuch unternommen, nachdem Carlos Esteves den anderen Mann entdeckt hatte. Oder Graciana Rosado attackiert. Keiner hatte die Rollläden hochgezogen, was die Voraussetzung für eine Flucht durch eines der Wohnzimmerfenster gewesen wäre.

Und schließlich war da noch der Geruch von Eisen, der schwer und satt in der Luft hing.

Also ging Leander ins Wohnzimmer. Binnen Sekunden traten Konturen aus dem Halbdunkel hervor. Kanten und Ecken, Linien, Silhouetten von Möbeln – Tisch, Stühle, Regal. Ein Fernseher. Nach und nach offenbarten sie ihm ihre Gestalt.

Im Wohnzimmer befand sich nur eine Person, und Leander genügte ein Blick, um zu erfassen, dass sie tot war, denn aus ihrer rechten klaffenden Augenhöhle ragte eine Feder. Sie saß in einem abgewetzten Sessel.

»Ich war es nicht«, hörte er nun zum wiederholten Male die redundante Aussage des Mannes, auf den Carlos Esteves gestoßen war und der nun zum Vordereingang geführt wurde.

»Warst was nicht? Luís, bring ihn ins Auto, schließ ab und warte draußen. Die Handschellen bleiben dran.«

Das war Esteves.

»Ich weiß, was Code 249 ist.«

»Jaja, Luís, mach einfach, por favor.«

Leander war näher an den Toten getreten und nahm eine Bewegung hinter sich wahr. Ein kurzer Seitenblick: Graciana.

 

»Meu Deus«, sagte sie leise, als sich die Leiche des Carpinteiro im Halbdunkel auch für sie immer deutlicher abzeichnete.

»Ist hier noch jemand?«

»Nein.«

»Meu Deus.«

Nun war auch Carlos zu ihnen gestoßen.

Lost fand es erstaunlich, dass den Leuten unabhängig von ihrer Nationalität bei ähnlichen Anlässen ähnliche Bemerkungen über die Lippen kamen. Oft mit religiösem Hintergrund: Mein Gott. Meu Deus. Oder, um das Erstaunen oder Entsetzen zu betonen: Oh, mein Gott. Von geographischer Unschuld getragen war dagegen Herr, im Himmel.

»Er wurde vermutlich in seinem Sessel erschossen«, stellte Leander fest. Sie standen nun als ungleichmäßiges Dreieck um den Toten herum.

Sein rechtes Auge war verschwunden, ein Teil des Lides hing noch herab, und hinten – man konnte es zum Glück nicht genau sehen – war der Schädel vom Projektil aufgebrochen worden.

»Weil?«, fragte Esteves.

»Weil das Geschoss hinten aus dem Kopf wieder ausgetreten ist und die Polsterung durchschlagen hat. Das Projektil dürfte mit ziemlicher Sicherheit in der Verlängerung der Schussbahn in der Wand stecken.«

Der Alemão drehte sich etwas um seine eigene Körperachse und deutete dann hinter sich, wo er die Kugel in etwa vermutete.

Graciana Rosado zückte ihr Handy und drückte eine Tastenkombination.

»Isadora?«, fragte Carlos.

Graciana nickte. Dann stand die Verbindung.

»Graciana hier. Entschuldige, ich weiß, du hast keinen Bereitschaftsdienst, aber … ich möchte, dass du dir was ansiehst.«

In dem du lag die ganze Wertschätzung, die Graciana Rosado für die Ein-Frau-Abteilung ihrer KTU, Isadora Jordao, empfand, mit der sie gerade sprach. Und die sich die Bereitschaft am Wochenende mit dem Kollegen in Portimão an der Westalgarve teilte.

»Rua Ponte Grande, das Haus vom Carpinteiro. Da dürfte sowieso gleich eine Ambulanz davorstehen. Obrigada, Isadora.«

Damit beendete sie das Telefonat.

»Sie kannten den Mann?«, fragte Lost. »Carpinteiro? Schreiner? Das war sein Beruf?«

»Ja«, sagte Graciana Rosado, »sein richtiger Name ist Ronneberg. Der Vorname ist mir gerade entfallen. Was mit ›U‹.«

»Das ist interessant. Der stellvertretende Polizeipräsident in Hamburg hat den identischen Nachnamen.«

»Dann ist das vielleicht sein Bruder?«, fragte Graciana.

»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, sagte Leander und wandte sich an Carlos: »Der Mann, den Sie festgenommen haben, hat der eine Waffe bei sich?«

Carlos Esteves schüttelte den Kopf: »Nein. Er sagt, er sei es nicht gewesen.«

Dann verzog er beim Anblick von Ronnebergs Gesicht sein eigenes: »Was soll diese Feder?«

Graciana deutete ein Achselzucken an.

»Jede Tat geschieht aus einem Bedürfnis«, antwortete Leander Lost. »Dem Täter war wichtig, die Feder dort zu platzieren, obwohl es ihn Zeit gekostet hat.«

»Er hat alles durchwühlt«, meinte Carlos und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schubladen einer Kommode, die herausgerissen worden waren und deren Inhalt zerstreut auf dem Boden lag.

Graciana ging hinüber zum Seitenfenster und zog die Rollläden hoch. Mit der Abendsonne kehrten auch die Farben zurück in den Raum und ließen sie erstarren. An der Decke, genau über dem ermordeten Senhor Ronneberg, hatte der Täter etwas hinterlassen: eine große rote Sieben. Sie wies in etwa die Breite einer Malerrolle auf und war auch an ihren Rändern farblich nicht ausgefranst. Sie begann vor Ronnebergs Sessel und endete nach zwei Metern hinter ihm.

»Das ist Farbe, oder?«, fragte Graciana.

Carlos sah genau hin und nickte: »Ja, von der Konsistenz und vom Farbton her – kein Blut.«

Ronneberg saß in dem Sessel, als hätte ihn der Tod mitten beim Fernsehen ereilt. Er trug halblange graue Haare, dazu passend einen struppigen, ungepflegten Bart. Außerdem ein hellblaues Hemd, das zwei Kaffeeflecken und ein paar Blutspritzer aufwies und um den Bauch herum spannte, dazu Shorts. Seine bleichen Füße steckten in Badelatschen. Die Hände hatte er links und rechts auf den Armlehnen des Sessels abgelegt.

Draußen bremste ein Auto ab, dann Türenklappen, dem ein kurzer Wortwechsel folgte. Graciana konnte keines der Wörter verstehen, den Klang der Stimmen aber Luís und Doutora Oliveira, der Gerichtsmedizinerin, zuordnen.

»Da ist was auf der Feder«, sagte Carlos Esteves, der über dem Toten stand und die Feder genauer betrachtete. Tatsächlich waren die Außen- und Innenfahne der Feder in den oberen zwei Dritteln auf unnatürliche Weise mit einer weißen Substanz verklebt.

»Boa noite«, grüßte Doutora Oliveira, die ihre grauen Haare zusammengebunden hatte. Sie war in Jeans und flachen Schuhen unterwegs. Ihr olivgrünes Shirt hatte einen V-Ausschnitt, sodass man eine feingliederige Kette um ihren Hals sehen konnte. Wie immer schenkte sie allen ein freundliches Lächeln, bevor sie ihre abgewetzte braune Arzttasche absetzte. Sie zog sich Einweghandschuhe über, um den Carpinteiro näher in Augenschein zu nehmen, während die anderen die Begrüßung erwiderten.

Graciana wandte sich an Carlos: »Kümmerst du dich um Telefon, Computer, all das?«

»Claro.«

Carlos bemerkte, wie es ihn erleichterte, den Raum verlassen zu können. Der Anblick des Toten schlug ihm auf den Magen.

Während die Ärztin die Gelenke des Carpinteiro abtastete, erst am Kiefer, dann an der Hand und schließlich am Ellbogen, um Graciana eine fundierte Aussage über den Todeszeitpunkt geben zu können, wandte die sich an den deutschen Austauschkommissar: »Sagt Ihnen das was, die Feder und die Sieben?«

»Meinen Sie semantisch?«

»Ja.«

»Nein.«

»Haben Sie schon mal was Ähnliches gesehen, Doutora?«

»Zum Glück nicht.«

Graciana nickte, als hätte sie von keinem der beiden mit einer anderen Antwort gerechnet. Sie hörte Carlos im Flur mit der Telefongesellschaft sprechen. Draußen stoppte ein alter R4, die Marke, die auch ihre Schwester Soraia fuhr. Man hörte noch für einen Augenblick Smetanas Die Moldau, bevor die Musik abrupt endete und die Kriminaltechnikerin Isadora Jordao aus dem Renault stieg. Die Haare stoppelkurz, ihre Füße in schweren schwarzen Motorradstiefeln, deren Schaft durch die Jeans verdeckt wurde. Darüber eine grüne Armeejacke, deren Oliv mit dem Oberteil der Ärztin korrespondierte. Isadora nahm einen großen, mit unzähligen Schrammen übersäten Metallkoffer von der Rückbank und kam aufs Haus zu. Dabei begrüßte sie Luís Dias, der draußen neben dem Dienstfahrzeug der GNR, in dem Romão Antunes wartete, Wache hielt.

»War das Smetana?«, fragte Oliveira, während sie einen Arm leicht beugte, um sich einen Eindruck bezüglich der Leichenstarre zu verschaffen.

»Ja«, bestätigte Leander Lost, »nach ihm ist der Asteroid 2047 und ein Krater auf dem Merkur benannt.«

»Man lernt nie aus«, bemerkte Oliveira lapidar. Sie mochte den Mann im schwarzen Anzug und wusste wie alle anderen um sein Faible für die Astronomie (insbesondere für die Kolonialisierung des Mars).

Isadora jedenfalls war Chefin und einzige Angestellte der KTU von Faro in Personalunion. Und sie war brillant. Ihr lagen Angebote aus Porto, Lissabon, selbst aus Spanien vor, die sie ausnahmslos ausgeschlagen hatte.

»Das wären sicher höher dotierte Stellen«, hatte Graciana sich einmal in dem Versuch vorgetastet, den Grund dafür zu erfahren.

Isadora hatte von ihrem Mikroskop aufgeschaut und ihr ein Lächeln geschenkt: »Ich arbeite lieber alleine«, hatte sie geantwortet und sich dann wieder dem winzigen Objekt zwischen den beiden Deckgläsern zugewandt. Was unausgesprochen hieß: Mehr war dazu nicht zu sagen.

Graciana hatte keinen Schimmer, nicht mal ein Gefühl, ob diese Antwort der Wahrheit entsprach oder eine vorgeschobene Erklärung war. Aber sie entsprach in jedem Fall Isadoras Wesen. Sie machte nie viele Worte.

So begrüßte sie zwar nach Betreten des Hauses alle, klappte aber umgehend ihren Metallkoffer auf und machte sich an die Arbeit: Sie pinselte Türklinken und Rahmen nach Fingerabdrücken ab. Ebenso Gläser, Besteck, Geschirr und sonst noch Dinge, von denen sie glaubte, der Täter könnte sie berührt haben.

Erst als Doutora Oliveira ihren Teil der Bestandsaufnahme beendet hatte und das Feld räumte, nahm Isadora Jordao aus dem Wohnzimmer Proben für eine Laboranalyse. Außerdem vermaß sie mit Hilfe eines Lasers die Schussbahn, nachdem sie das Projektil dort aus der Wand befreit hatte, wo Leander es vermutet hatte.

Ihre Notizen hielt sie in einer Kladde fest. Mit einer Handschrift, die nur sie selbst entziffern konnte. In der Polícia Judiciária war man sich uneins, ob sie so mies schrieb oder das mit Absicht geschah.

»Die Totenflecken an den Beinen konfluieren«, stellte Doutora Oliveira fest und deutete zur Veranschaulichung auf die Schienbeine des Toten, wo die Ränder der einzelnen Totenflecken des Mannes sich auflösten und sich mit anderen vereinigten.

»Hier an den Händen und den Unterarmen noch nicht«, fügte sie hinzu und wies auf die entsprechenden Hautpartien. »Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt. Genaueres kann ich Ihnen nach der Obduktion sagen, aber sicher ist, dass Senhor Ronneberg seit ziemlich genau zwei Stunden tot ist. Maximal drei.«

Leander Lost und Graciana schauten beide gleichzeitig auf ihre Armbanduhren. Es war jetzt neun Uhr abends.

»Also irgendwann zwischen sechs und sieben Uhr«, rechnete Graciana laut zurück.

»Exatamente«, bestätigte die Doutora, um gleich fortzufahren, »das zerfetzte Augenlid lässt die Vermutung zu, dass der Schuss ins Auge durch das geschlossene Lid erfolgt ist.«

»Senhor Ronneberg hat geschlafen, meinen Sie das?«

»Nun, das wäre eine sinnfällige Erklärung. Eine Umlagerung der Leiche nach dem Todeseintritt hat allerdings nicht stattgefunden. Er starb so, wie er dort sitzt.«

»Aber Sie haben kaum Schmauchspuren entdeckt, richtig?«, fragte Isadora Jordao, die so ruhig und unauffällig arbeitete, dass Graciana ihre Anwesenheit beinahe vergessen hatte.

»Das stimmt. Der Täter hat also einen Schalldämpfer benutzt?«

»Vermutlich, ja«, antwortete die Kriminaltechnikerin, ohne aufzublicken, denn in diesem Augenblick zog sie der Leiche konzentriert und sanft die Vogelfeder aus der Augenhöhle. Leander Lost hielt ihr eine ihrer transparenten Tüten hin, die sie im Koffer vorrätig hatte. »Obrigada, Senhor Lost.«

Sie ließ die Feder hineingleiten, und Lost verschloss den Beutel.

Isadora erstarrte in ihrer Bewegung und blickte an dem Deutschen vorbei. »Da fotografiert einer – es ist Faria.«

Graciana wirbelte noch schnell genug herum, um Tobias Faria, den Reporter des Correio da Manhã, hinter der Scheibe abtauchen zu sehen. Sie wusste, dass der jetzt Fersengeld gab.

»Nehmen Sie ihn fest, Senhor Lost«, sagte sie ruhig und bestimmt, »die Fotos dürfen nicht zur Redaktion.« Und brüllte dann so laut sie konnte in Richtung Flur: »C-a-r-l-o-s! Faria ist da!«

 

Zwei Augenblicke später flog die Haustür mit einer Wucht auf, die einen lauten Knall erzeugte, als sie auf die Außenmauer traf. Carlos Esteves sprintete dem flüchtenden Reporter mit einer Behändigkeit nach, die man ihm bei seiner massigen Erscheinung nicht zugetraut hätte. Sein Gesicht war ein einziger Ausdruck grimmiger Entschlossenheit.

Dieser Anblick ließ Tobias Faria, der als Reporter schon eine Menge erlebt und noch mehr brenzlige Situationen gemeistert (und sich rausgeredet) hatte, den Spurt seines Lebens hinlegen. Aber da Esteves schon weiter nach links zur Straße rannte, wo Faria seine Vespa abgestellt hatte, schlug er einen Haken nach rechts – zurück. Wie erwartet konnte er damit den Vorsprung vor Esteves vergrößern, der mit diesem Manöver nicht gerechnet hatte. Er würde sich eben zu Fuß in südlicher Richtung durchschlagen. Dort kannte er jemanden, der …

Direkt vor ihm schnellte eine hellblaue Wäscheleine so unvermittelt aus dem Schutz der Wiese hoch, dass er nicht mehr rechtzeitig abbremsen oder den Kopf einziehen konnte. Er prallte mit dem Hals dagegen. Die Wäscheleine gab nur leicht nach, dann flogen seine Füße in die Höhe, die Kamera davon – und die Wucht seiner eigenen Laufgeschwindigkeit ließ ihn so hart auf den Rücken fallen, dass es ihm für ein paar Sekunden die Luft raubte.

Er sah die schwarze Gestalt des deutschen Austauschkommissars, der gut zwanzig Meter entfernt stand und die Wäscheleine, die dort ihren Anfang nahm, wieder losließ, während sich Esteves keuchend nach etwas bückte, was vermutlich seine Kamera war.

»Das darfst … du nicht, Sub … -Inspektor Carlos Esteves!«, brachte Tobias Faria ebenso wütend wie stoßweise hervor.

Esteves verschwand hinter einem Orangenbaum. Kunststoff krachte gegen Holz.

Da erreichte Lost den Reporter.

»Sie! Ihr Kollege … zertrümmert meine … Kamera!«

Noch ein Krachen, dieses Mal von einem Splittern untermalt. Dann noch eines.

Esteves, ebenfalls schwer atmend, trat hinter dem Orangenbaum hervor. In der Hand die Schlaufe der Kamera, die nahezu zweigeteilt in der Luft baumelte.

»Was ist passiert?«, fragte Leander Lost.

»Sie ist mir dreimal gegen den Baumstamm gefallen.«

Zu Losts Erstaunen fanden sich in Esteves Gesicht nicht die mimischen Anzeichen für Bedauern, sondern die eines tiefen inneren Friedens.

»Ach so.«

3.

»Ja, natürlich war ich in dem Haus, aber es ist nicht so, wie ihr denkt.«

Romão Antunes war ein ausgemergelter Kerl, der laut Ausweis 34 Jahre alt war. Äußerlich ging er für 45 durch. Seine Kleidung war abgerissen, der ganze Mann hatte sich vernachlässigt und immer wieder wischte er sich in einer nervösen Geste mit dem Handrücken unsichtbare Dinge von der linken Augenbraue.

Für Carlos Esteves und Graciana Rosado war er kein Unbekannter. Antunes trieb sich an der ganzen Algarve herum und dealte mit kleinen Mengen Kokain. Manchmal verschwand er für eine Weile aus ihrem Zuständigkeitsbereich und wurde an der Westalgarve gesichtet oder in einem der kleinen Surferspots die Küste Richtung Lissabon hinauf. Aber immer wenn sie glaubten, sie hätten ihn das letzte Mal gesehen, tauchte er einfach mit der Selbstverständlichkeit eines Alteingesessenen wieder auf.

»Es war nämlich nicht für mich selbst, dass ich da drin war. Sondern für meine Verlobte.«

»Wer ist die Glückliche?«, seufzte Carlos Esteves.

Er saß zusammen mit Leander Lost und Graciana Rosado in einem Vernehmungsraum der GNR in Moncarapacho Antunes gegenüber. Statt ihn in die Kripo nach Faro zu verfrachten, hatte Graciana sich entschieden, die Vernehmung möglichst zügig vorzunehmen, und Moncarapacho lag keine zehn Minuten Autofahrt nördlich von Fuseta entfernt. In dem rosafarbenen Eckgebäude mit seinem Eingang im maurischen Stil war schon ihr Vater Dienststellenleiter gewesen. Der Holzgeruch der Möbel, das Surren des Deckenventilators und das kreischende Mahlwerk der Espressomaschine – all das verwob sich zu einem vertrauten Gesamteindruck. Auch dass Carlos nebenbei zwei Pastéis de Nata, jene berühmten portugiesischen Blätterteigtörtchen mit Puddingcreme, verputzte, gehörte auf gewisse Weise dazu. Die Kellnerin des Restaurants in Moncarapacho, mit der er eine kurze Affäre gehabt hatte, war ins neueröffnete Lokal ihres Bruders nach Porto verschwunden. Und ihre Diät, die sie ihnen beiden verordnet hatte, gleich mit.

»Joana Nunes«, antwortete Romão und lächelte devot, als müsste er sich dafür entschuldigen. »Und die ist krank. Ich wollte ihr Medikamente holen. Wer würde das nicht tun, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Graciana, »das würde wohl jeder tun. Aber das Haus in der Rua Ponte Grande ist keine Apotheke.«

Antunes nickte eifrig und fuhr sich mit der Hand über die Augenbraue. Dann beugte er sich konspirativ vor und begann zu flüstern: »Ich hab einen Tipp bekommen, dass der Besitzer nicht zu Hause ist.«

»Von wem?«

»Der schlägt mich tot, wenn ich Ihnen das sage.«

Ein langer Blick von Carlos.

»Von Bruno Correia.«

»Wann?«, wollte Graciana wissen.

Antunes hob unentschieden die Hände: »So vor zwei Tagen. Oder drei. Unten an der Ria hat er es mir erzählt.«

Graciana und Carlos tauschten einen Blick. Carlos wandte sich an Lost: »Und, Senhor Lost, lügt der Mann?«

»Sim.«

Antunes sah ihn erbost an: »Was bist du? Ein Lügendetektor?«

»Nein, nur im übertragenen Sinne«, erwiderte Leander.

»Unser deutscher Kollege ist ein Eidetiker«, ergänzte Carlos Esteves nicht ohne Stolz und beugte sich nun seinerseits vor. »Und weil das in deinem Wortschatz sicher nicht vorkommt: Er hat ein fotografisches Gedächtnis.«

Antunes’ Verblüffung war echt: »Was denn, damit erkennt man, ob jemand lügt?«

»Man muss auch den Umgang mit Mikroexpressionen schulen«, präzisierte Leander.

»Ich verstehe kein Wort«, bekannte Romão Antunes.

»Das spielt im Augenblick auch keine Rolle«, schritt Graciana ein. »Bruno Correia sitzt seit drei Wochen in Faro ein. Er kann dir keinen Tipp gegeben haben.«

»Vielleicht war es auch Filipe …«

»Und Joana Nunes ist seit Monaten in der Reha-Maßnahme«, fuhr sie ruhig fort.

Romãos Mundwinkel zuckten nervös: »Ich war es aber nicht. Er war schon tot. Er war tot, ganz bestimmt. Ich kann … ich habe wichtige Informationen.«

»Bestimmt über eine bevorstehende Drogenlieferung«, meinte Carlos und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen.

»Genau«, bestätigte Antunes, »ihr wisst doch, dass die Preise über den Wolken sind.«

Lost sah unwillkürlich zum Fenster hinaus.

»Was kostet das Gramm jetzt auf der Straße?«

»An die 80 Euro«, sagte Antunes.

Zur Abwechslung log er nicht. Wie sie auch von Kollegen wussten, hatte sich der Preis von den üblichen 55 Euro seit drei Monaten immer weiter in die Höhe geschraubt, nachdem erst eine tonnenschwere Lieferung in Rotterdam aufgeflogen war und dann eine im spanischen La Línea am Mittelmeer. Der Preis in Europa stieg immer stärker an, je weiter das betreffende Land von einer Küste entfernt war – weshalb die Konsumenten von Kokain in Österreich fast das Doppelte des Lissaboner Straßenpreises zahlten.

Die Dealer bekamen keinen Nachschub mehr. Sie verhökerten ihre Reserven für sehr gutes Geld, aber auch diese Rücklagen schrumpften. Die Kundschaft saß mittlerweile auf dem Trockenen, ganz Europa war betroffen. Wer immer jetzt eine Lieferung am europäischen Zoll vorbei lancieren konnte, würde das Geschäft seines Lebens machen. Ein Kilo reines Kokain hätte nach diversen Streckungsvorgängen im Augenblick einen Straßenverkaufswert von rund 150000 Euro.

Und seitdem der Nachschub ausblieb, wurde in den einschlägigen Kreisen von der großen Lieferung erzählt, von der großen weißen Fracht. Die Dealer und ihre Abnehmer redeten davon, aber natürlich wusste niemand Genaues, dazu waren sie zu kleine Lichter.

»Schön – und wo und wann kommt diese Lieferung?«, wollte Graciana wissen. Auch sie hielt Antunes’ »Information« für einen durchsichtigen Vorstoß, um sie milde zu stimmen.

»Ich weiß nur, dass sie bald kommt.«

»Bald morgen? Bald in einer Woche? Oder bald irgendwann?«, fragte Carlos genervt und beugte sich verärgert vor: »Das ist die Information, mit der du mit uns ins Geschäft kommen willst: Bald kommt eine große Lieferung? Du musst zugeben, das ist extrem dürftig.«

Romão Antunes blickte kurz zu Boden. Ihm war anzusehen, dass er mit seinem Latein am Ende war.

»Ich war es nicht.«

Nun klang seine Stimme kraftlos. Graciana und Carlos sahen zu Leander Lost, der ihre stumme Frage mit einem Nicken beantwortete: Antunes lügt nicht. Das bestätigte ihren Eindruck. Antunes war ein kleiner Ganove, dieser eiskalte Mord, der Schuss durch das Auge, die Feder und die Sieben – all das passte nicht zu ihm. An seinen Händen hatten sich keine Schmauchspuren befunden. Und eine Tatwaffe hatte man ebenso wenig in seiner Jacke wie im kompletten Haus gefunden.

»Das glaube ich dir«, sagte Graciana deshalb, und Antunes warf ihr einen überraschten Blick zu. »Du hast selbst nichts mehr zum Dealen, du wolltest Geld stehlen, du warst zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Romão Antunes schluckte. Dann seufzte er und nickte: »Ja. Ich wollte mir Geld leihen, von Ronnie. Früher hat er mit Gras gedealt, man kannte sich eben. Ich hab geklopft, er hat nicht aufgemacht, da dachte ich, ich weiß ja nicht, wann der je wiederkommt. Und dann bin ich ums Haus rum und hinten war das Fenster angelehnt. Da, wo du auch rein bist, Esteves.«

»Wo du mich angegriffen hast.«

»Was? Nein. Ich bin runtergefallen – auf dich, muito perdão dafür.«

Carlos Esteves, der wegen des Fußtritts gegen seine Schläfe immer noch leichte Kopfschmerzen verspürte, holte tief Luft, weshalb Antunes ihm lieber schnell zuvorkam: »Und dann hab ich ihn gefunden. Im Halbdunkel, ich hab gedacht, er schläft … und dann hab ich die Feder im Auge gesehen und …«

Er schluckte mehrfach, dann atmete er einmal tief durch, um sich zu fassen.

»Und dann warst du so bestürzt, dass du erst mal alle Schubladen durchsucht hast«, merkte Carlos trocken an.

»Ich finde das nicht komisch.«

»Das findet hier niemand, Romão. Und dann – wie ging’s weiter?«

»Ich hab von draußen Stimmen gehört, da hab ich euch gesehen und wollt hinten raus, na ja, den Rest kennt ihr.«

Kurz herrschte Stille in dem Raum.

»Ist Ihnen jemand aufgefallen auf Ihrem Weg zum Haus?«, fragte Leander Lost.

Antunes überlegte und deutete dann ein Kopfschütteln an.

»Wenn Sie die Wahrheit sagen, was Senhor Ronneberg betrifft – dass Sie ihn schon tot vorgefunden haben –, dann hat der Mörder möglicherweise gerade erst das Haus verlassen, als Sie angekommen sind. Denken Sie sich zurück. Ist Ihnen jemand begegnet? Zu Fuß?«

»Nur Kinder.«

»Menschen auf Fahrrädern?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Autos?«

»Ja … hör mal, ich weiß, es geht um meine Haut, aber … das bringt doch nichts.«

»Tun Sie mir den Gefallen.«

Der blasse Deutsche starrte ihm direkt in die Augen.

»Ein roter kleiner Wagen. Ein weißer … mit Ladefläche.«

»Marken?«

»Das … das weiß ich nicht mehr«, antwortete Antunes ungeduldig.

»Und weiter?«

»Ein Lieferwagen.«

»Was für ein Gewerbe?«

»Keine Ahnung. Gelb und braun oder so. Und das ist alles. Ach ja, und einer von der Telefongesellschaft.«

Romão Antunes wurde mit einem Schlag völlig reglos. Sein Mund öffnete sich, ohne einen Ton von sich zu geben. Er starrte mit weit geöffneten Augen an die Wand, bevor sein Blick zurückfand – zu Graciana, nicht zu dem merkwürdigen Deutschen, bei dem er sich immer noch fragte, woher der gewusst hatte, an welcher Leine er ziehen musste, um diesen Reporter zu Fall zu bringen.

»Der stand ein paar Meter vom Haus entfernt unter einem Baum. Und ist dann losgefahren«, sagte er schnell.

Carlos streifte seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit ab: »Welche Telefongesellschaft?«

»Altice.«

Graciana blickte zu Carlos und tippte auf ihre Armbanduhr. »Wenn das unser Mann ist, läuft uns vielleicht die Zeit davon.«

Leander musste erst schmunzeln und dann leise lachen. Carlos Esteves und Romão Antunes blickten ihn mit wachsender Irritation an.

»Was ist so komisch?«

»Dass uns … die Zeit davonläuft.«

Für ein paar Sekunden hielt Leander Lost seine Belustigung noch in Schach. Umso heftiger brach sie dann aus dem blassen Deutschen heraus. Sein Mund wurde weit, die Augen zu Schlitzen, er lachte schallend los.

Carlos und Graciana mussten ebenfalls schmunzeln, weil Leanders befreites Lachen sie ansteckte. Und weil sie ihn noch nie so herzhaft und albern hatten lachen sehen.

Selbst Antunes grinste nun mit. Als Erster fiel Carlos in das Lachen des Alemão ein, dann einige Sekunden später auch Graciana. Als sich die Tür öffnete und Miguel Duarte eintrat, lachten sie zu viert.

 

Duartes Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, wie abgestoßen er von dem Benehmen der Kollegen war. Er stand dort in einem maßgeschneiderten Anzug, die Schuhe auf Hochglanz poliert, die Sonnenbrille im Haar, eine Prise Todesverachtung spielte um seinen Mund. In Sevilla geboren hätte er seinem Befinden nach als die spanische Antwort auf James Bond durchgehen können – wären da nicht die eng beieinanderliegenden Augen gewesen.

»Unglaublich, wie ihr das hinbekommt«, sagte er, »bei der Zeugenvernehmung des Hauptverdächtigen in einem Mordfall herzhaft mit dem zu lachen.«

Gracianas und Carlos’ Lachen verebbte.

»Wir haben uns nur zusammen über eine Redewendung amüsiert«, entgegnete Carlos Esteves.

»Ach ja?«

»Ja. Dass uns die Zeit davonläuft.«

»Soso. Und was ist daran so unglaublich witzig? Hätten Sie vielleicht die Güte, mich in den Grund Ihrer Belustigung einzuweihen, Senhor Lost?«

»Es ist lustig, sich die Zeit vorzustellen, wie sie Reißaus nimmt vor den Menschen«, antwortete Leander und musste zu Duartes Missfallen schon wieder schmunzeln, »denn die Zeit läuft nie davon. Es ist nur ein Ausdruck der Menschen für schlechtes Zeitmanagement. Und statt es sich selbst anzulasten, schieben sie die Schuld auf die Zeit, indem sie sie aktiv machen: Sie läuft uns davon.«

»Sie haben recht«, sagte Duarte, ohne eine Miene zu verziehen, »das ist schreiend komisch.«

»Nicht wahr? Wie die Windhose.« Leander musste unwillkürlich breit lächeln.

»Unbedingt, Senhor Lost.«

»Es reicht«, fuhr Graciana Rosado dazwischen und sah Duarte dabei direkt in die Augen. Der gebürtige Spanier, dem die Herablassung einiger seiner Landsleute gegenüber den Portugiesen nicht ganz unbekannt war, erwiderte den Blick mit derselben Härte.

Für Leander Lost war Ironie schwer fassbar. Dass jemand etwas in Worte fasste, nur um dadurch das genaue Gegenteil des Gesagten auszudrücken, erschien jemandem wie Leander unsinnig. Für ihn diente Kommunikation dem reibungslosen Austausch von Informationen und nicht deren Verschleierung.

Aber neurotypische Menschen nutzten diverse Kanäle gleichzeitig zum Austausch. Mit Hilfe von Blicken, Gesten, Mimik oder einem schwer zu durchschauenden Zusammenspiel all dessen verliehen sie ihren Worten eine zusätzliche Bedeutung. Ein Bereich der Kommunikation, der für Leander Lost weitgehend verschlossen war. Und selbst wenn es ihm gelang, einen Sinn zu entschlüsseln, war es für gewöhnlich der falsche.

»Carlos, kümmer dich um den Altice-Wagen, bitte«, ergänzte Graciana Rosado.

Esteves nickte ihr zu und verließ den Raum.

»Senhor Lost, würden Sie Senhor Antunes bitte zurück zum Auto bringen und auf dem Parkplatz auf mich warten?«

»Ja.«

»Und was wird jetzt?«, wollte Antunes wissen.

»Du kommst zum Haftrichter«, ließ sie ihn wissen, ohne den Blickkontakt zu Duarte dabei zu unterbrechen.

Sie wartete, bis Lost und Antunes ebenfalls gegangen waren. »Mach das nicht noch mal, Miguel.«

»Was?«