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Polizeioberkommisar Manfred Weidenmann sorgt in der beschaulichen Kleinstadt Eulendorf seit Jahren für Recht und Ordnung. Das ist eine relativ einfache Aufgabe, da hier mitten im ländlichen Oberschwaben außer Falschparken und Kehrwoche vergessen nie etwas wirklich Schlimmes passiert. Das ändert sich jedoch schlagartig, als er eines Tages einen anonymen Anruf erhält, kurz darauf eine Leiche im Keller eines alten Judenhauses findet und sich anschließend mit einem mächtigen Drogenclan konfrontiert sieht. Sein verhasster Ex-Chef tritt laut polternd auf den Plan, die Honoratioren der Stadt verzweifeln und das mysteriöse Verschwinden einer jungen Studentin erschwert zusätzlich die Ermittlungen. Doch mit seinem ganz eigenen Stil und seiner non-chalanten Art - andere würden das Bauernschläue nennen - deckt Weidenmann nach und nach die Einzelheiten dieses brisanten Falls auf. Und dennoch geschieht am Ende etwas ganz und gar Unerwartetes ...
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2017
Für den Hasen
Markus Schwenk
Ein Oberschwaben-Krimi
Markus Schwenk
Weidenmann und der Tod am Haken
© 2017
Lektorat & Korrektorat: Isabella Gmehling
tredition GmbH, Hamburg
978-3-7439-4039-0 (Paperback)
978-3-7439-4040-6 (Hardcover)
978-3-7439-4041-3 (e-Book)
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Der Raum war fast quadratisch und maß in etwa fünf auf fünf Meter. Die Decke war nicht besonders hoch, nur wenig höher, als ein durchschnittlich großer Mann mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte. Bis auf eine Höhe von circa einem Meter waren die verputzten Wände kalkweiß getüncht. Eine feine dunkelblaue Linie, die mit leicht unregelmäßigem Strich gezogen war, markierte den Absatz ab dem sich nach oben hin ein zartes Himmelblau der Decke entgegen reckte. Diese war als einfaches Tonnengewölbe mit einer sehr flachen Rundung gearbeitet. An manchen Stellen war der Putz abgebröckelt und gab das darunterliegende, dunkelrote Ziegelmauerwerk frei. Hie und da zeigten sich ganz leichte Schimmelspuren. Es roch ein wenig muffigfeucht. Wie in einem Raum, in dem schon sehr lange nicht mehr gelüftet worden war. Der Boden bestand aus groben, regelmäßig verlegten Steinplatten. Es gab eine einfache, braune Holztür mit einem Kreuzfenster, die nach draußen, zur Toreinfahrt führte. Eine weitere Tür ohne Fenster führte in das Innere des kleinen Hauses. Auf einem niedrigen Holztisch lagen zwei alte, abgeschliffene Messer mit stark abgenutzten Holzgriffen und weiteres altes Schneidewerkzeug mit ebenfalls deutlichen Gebrauchsspuren. An der Decke hing eine weiße Email-Lampe, die auf jedem Trödelmarkt in der Gegend sicherlich gutes Geld eingebracht hätte. Ansonsten gab es keine weiteren Möbelstücke oder andere Einrichtungsutensilien.
Außer dem Haken natürlich. In der Mitte der Decke hing ein massiver, leicht angerosteter Metallhaken. Ein Haken, der ohne weiteres ein ordentliches Gewicht tragen konnte. Das musste er auch, denn das war seine originäre Aufgabe, seine ureigenste Bestimmung. Gewichte zu tragen. Zum Beispiel das Gewicht eines Lammes. Oder das eines Hammels. Oder auch das eines kleinen Kälbchens. Der Haken war der zentrale Punkt in diesem Raum. Der Haken war der einzige Grund, warum es diesen Raum überhaupt gab.
An dem Haken hing ein kurzer, aufgerauter Strick, keine zehn Zentimeter lang. Der Strick bildete eine Schleife. Und in dieser Schleife hing ein Fuß. Wohlgeformt, wohlgepflegt und wohlgebräunt wurde dieser Fuß oberhalb des Knöchels von dem groben Strick deutlich eingekerbt, regelrecht zugeschnürt. Das lag natürlich an dem ordentlichen Gewicht, das weiter unten hing. Der Fuß gehörte zu einem Bein, das wiederum an einem Torso hing, der von einem lockigen Kopf gekrönt wurde. Nur, dass dieser Kopf jetzt natürlich unten war. Nicht ganz unten, denn da waren ja auch die Arme, die noch weiter herunterhingen. So weit, dass sie nur etwa zwei Zentimeter über dem Boden schwebten. Das zweite Bein hing in einem merkwürdigen Winkel vom gesamten Körper weg. Würde man die ganze Figur aus ihrer jetzigen Position um 180 Grad drehen, sähe sie aus wie eine zierliche, griechische Gartennymphe, die gerade zu einem äußerst grazilen Tanzsprung ansetzte.
Da die Tür zur Einfahrt infolge ihres Alters nicht mehr ganz dicht war, lies sie einen leichten Luftzug durch den Raum streichen, der dafür sorgte, dass sich der Körper ganz langsam um seine Vertikalachse drehte. Die Spitze des ausgestreckten Zeigefingers blieb dabei immer an derselben Stelle. Das erinnerte irgendwie ein wenig an Michelangelos Erschaffung des Adam. Von der Fingerspitze tropften in zähen aber regelmäßigen Abständen kräftige Tropfen in die bereits angesammelte Brühe am Boden des Raumes. An den Rändern hatte sich die Flüssigkeit bereits angedickt und nahm eine rostig braune Farbe an. Die frischen Tropfen hingegen waren noch kräftig rot. Blutrot.
Der Hals des Körpers war mit einer scharfen Klinge sauber durchtrennt worden, wobei die Halsschlagadern, die Speiseröhre und die Luftröhre in einem einzigen Schnitt gekappt worden waren. Der komplette Kopf des Hängenden war blutüberströmt, ebenso wie die beiden nach unten gerichteten Arme. Die schwarzen Locken waren nur noch teilweise als solche zu erkennen. Alles war verklebt und hatte die schmierige Farbe von geronnenem Blut angenommen. Infolge des Schnitts hing der Kopf in einem unnatürlichen Winkel vom Hals weg. Die Augen waren wie in äußerster Panik weit aufgerissen und auch sie standen voller Blut. Die Pupillen waren als solche gar nicht mehr erkennbar. Der Mund stand wie in einem verkrampften, stummen Schrei offen. Die Zunge hing wie ein aufgedunsener, fleischiger Lappen zwischen den verzerrten Lippen hervor.
Wäre ein Rabbiner anwesend und hätte es sich bei der leblosen Gestalt nicht um einen Menschen, sondern um ein Lämmchen oder ein Kalb gehandelt, so würde er mit Sicherheit zufrieden sein und dem Schächter, dem Schochet, wohlwollend zunicken. Ein perfekter Schnitt. Alles unreine Blut konnte den Körper verlassen, wie es die uralten Vorschriften bestimmen. Gewaschen, gesalzen und vom unerlaubten Fett befreit würde so koscheres Fleisch entstehen, das sogar Jehova selbst hätte verzehren können.
Was jedoch hier im alten Schächtraum eines ehemaligen jüdischen Gemeindehauses hing, war kein zum Verzehr vorgesehenes und koscher geschlachtetes Tier, sondern ein Mensch. Ein toter Mensch. Eine Leiche. Selbstmord definitiv ausgeschlossen. Totsicher.
Polizeioberkommissar Manfred Weidenmann saß vollkommen tiefenentspannt in seinem super-ergonomisch geformten Bürosessel. Er hatte es ziemlich arg mit dem unteren Rücken und deswegen war ihm vor zwei Jahren von seiner vorgesetzten Dienststelle solch ein ganz spezieller und superteurer Gesundheitsstuhl genehmigt worden. Das war allerdings auch so ziemlich das Einzige, was ihm in den letzten 18 Jahren genehmigt wurde. Weidenmann hatte schon vor langer Zeit die in Insiderkreisen EDEKA-Stufe genannte Maximalgrenze seiner polizeilichen Laufbahn erreicht: Ende DEr KArriere! Vor 18 Jahren, als er noch ein ganz junger, aufstrebender Polizeibeamter mit Ambitionen und enormem Entwicklungspotential war, waren ihm ein einziges Mal ganz kurz die Nerven durchgebrannt. Nur eine winzige Sekunde lang, einen Wimpernschlag war er nicht Herr seiner selbst gewesen. Und er hatte ungebremst zugeschlagen. Nicht etwa, dass er einen zugekifften Junkie verprügelt hätte. Oder irgendeinen fiesen Einbrecher, einen üblen Vergewaltiger oder einen gemeinen Erpresser. Nein, nein. Mit einem sauberen Schwinger hatte er seinem damaligen Chef das Nasenbein gebrochen. Und damit auch gleichzeitig seine ach so vielversprechende Karriere beendet. Alles in nur einem Augenblick. Nach einem ewig dauernden Disziplinarverfahren und einer satten Zivilklage mit hohen Schmerzensgeldansprüchen konnte er gerade mal so eben im Polizeidienst verbleiben, wurde auf einen komplett aussichtslosen Sackgassenposten versetzt und durfte sich nunmehr seit einigen Jahren mit dem drögen Bodensatz der ländlichen Kriminalität beschäftigen. Ein schwarzer Reiter auf seiner Personalakte verhinderte jede weitere Entwicklung.
Als Leiter des Polizeipostens Eulendorf war er mittlerweile im achten Jahr Vorgesetzter eines intellektuell eher unauffälligen Polizeiobermeisters namens Walter Bechtele. Obermeister Bechtele war dermaßen einfach strukturiert, dass man mit ihm noch nicht einmal good cop – bad cop spielen konnte. Allerhöchstens war die Variante good cop – stupid cop möglich. Oder eben – je nach Bedarf – auch mal bad cop – stupid cop. Zu mehr war Bechtele leider nicht fähig. Wenn der synaptische Spalt nun mal breiter als einen halben Zentimeter war, tat man sich sehr schwer mit dem Nachdenken und Kombinieren.
Weidenmann seinerseits gab einen ganz hervorragenden bad cop ab. Seit neuestem hatte man ihm noch zusätzlich eine Polizeimeisterin zur Ausbildung anvertraut. Margot Diersmann, eine überaus nervtötende Person, die immer alles ganz genau wissen wollte, immer alles ganz genau hinterfragte und zu allem auch noch eine ganz eigene Meinung hatte. Und die nie die Klappe halten konnte. Noch dazu kam sie irgendwo aus dem hohen Norden und sprach so überbetont Hochdeutsch, dass sie hier in Oberschwaben kaum verstanden wurde. Beziehungsweise wollte man sie auch nicht wirklich verstehen. Und das hieß sogar in Oberschwaben schon etwas, wo man doch im Allgemeinen ganz nett zu Auswärtigen war. Abgesehen davon war sie allerdings blitzgescheit, mittelgroß, schlank, blond und ziemlich hübsch. Also außerordentlich hübsch.
Weidenmanns dienstlicher Verantwortungsbereich erstreckte sich auf die Stadt Eulendorf und die eingemeindeten Käffer rundherum. Hier passierte in der Regel nichts. Rein gar nichts. Jedenfalls nichts auch nur ansatzweise Spannendes. Verkehrsdelikte, Nachbarschaftsstreitigkeiten, häusliche Gewalt, ab und zu ein kleiner Einbruch oder Raub und ein wenig Sachbeschädigung und Vandalismus dann und wann. Das war’s auch schon. Das war quasi sein Reich, sein Leben. Und das wahrscheinlich auch noch bis zur wohlverdienten Pensionierung. Dabei war Weidenmann ja erst einundvierzig. Natürlich geschieden, wie alle abgehalfterten Polizisten. Keine Kinder. Dafür hatte er einen rabenschwarzen Kater, den er Herr Präsident nannte. Klar, in Anlehnung an den allererhabensten Herrn Polizeipräsidenten. Konsequent siezte er natürlich seinen flauschigen Haustiger.
Was hätte nicht alles aus ihm werden können. Vielleicht sogar wirklich einmal Polizeipräsident. Abitur mit 1,8. Eintritt in die gehobene Laufbahn des Polizeivollzugsdienstes des Landes Baden-Württemberg. Das wollte er schon als kleiner Junge. Polizist werden, böse Verbrecher jagen und für immer dingfest machen. Abschluss der polizeifachlichen Ausbildung als Zweitbester seines Jahrgangs. Studium zum Verwaltungsfachwirt mit 1,6 abgeschlossen. Auch unter den ersten fünf seines Jahrganges. Hoffnungsvolle Anschlussverwendung bei der Polizeidirektion Stuttgart. Und dann kam die Faust. Ansatzlos und kurz verwandelt. Weidenmann war auch bei der Nahkampfausbildung immer schon einer der Besten gewesen. Sein Vorgesetzter hatte ihn provoziert. Übel provoziert. Ihn persönlich angegriffen. Unter der Gürtellinie. Irgendwie hatten sich die beiden nie richtig verstanden. Vom ersten Augenblick an. Weidenmann hielt seinen damaligen Boss für einen öden Tintenpisser, Sesselpupser und schmierigen Schreibtischtäter. Sein Boss hielt ihn für einen unfähigen Grünschnabel, Besserwisser und Emporkömmling. Sein Vater und sein Großvater waren beide schon Polizeidirektoren gewesen. Weidenmanns Vater war einfacher Fabrikarbeiter und sein Großvater war im Krieg gefallen. An der Ostfront. Immerhin als Obergefreiter mit Verwundetenabzeichen. Die Chemie zwischen den beiden stimmte einfach nicht, und wenn bei chemischen Prozessen der richtige Katalysator dazu kommt, dann kracht’s halt auch mal ordentlich. So war das auch in diesem Fall gewesen, bei dem Weidenmanns Chef leitender Ermittler war. Er hatte ihm einen eindeutigen dienstlichen Auftrag erteilt, der streng nach Vorschrift ausgeführt werden sollte. Dabei war allerdings von vorne herein absehbar, dass mit dieser bürokratischen Vorgehensweise nichts, aber auch gar nichts dabei herauskommen würde. Mit einem klein wenig „Gefahr im Verzug“ und dem Nachreichen richterlicher Beschlüsse hätten die Verdächtigen keine Zeit mehr gehabt, die entscheidenden Beweise verschwinden zu lassen. Weidenmann hatte das angemerkt und wurde dafür mit einem Rüffel erster Güte belohnt. Gesetzestreue, Rechtsstaatlichkeit, Verfahrensabläufe! Das waren die unumstößlichen Pfeiler ordentlicher Polizeiarbeit. Und wenn so ein dahergelaufenes Proletensöhnchen das besser wüsste, dann möge es doch gefälligst seinen Dienst in Bananistan versehen. Aber nicht hier in Stuttgart. Weidenmann hatte geschluckt und dann aber doch ein wenig unorthodox und gegen die Anweisungen seines Vorgesetzten ermittelt. Und das mit durchschlagendem Erfolg. Die entscheidenden Beweise wurden gesichert und die Verhaftungen standen unmittelbar bevor. Niemand hätte etwas zu beanstanden gehabt. Wenn nicht sein Vorgesetzter gegenüber der Staatsanwaltschaft alles hätte auffliegen lassen. Alle Beweise wertlos, keine Verhaftungen, keine Verfahren. Weidenmann konnte sich das nur so erklären, dass sein Boss gar kein wirkliches Interesse an einer Aufklärung des Falles und an der Verhaftung der Verdächtigen hatte. Und dass der Grund dafür möglicherweise im doch nicht so lauteren Charakter seines Vorgesetzten lag. Bestechlichkeit in Amt war eine üble Anschuldigung, aber Weidenmann konnte sich nicht mehr zurückhalten und warf seinem Vorgesetzten in einer hitzigen Auseinandersetzung diesen Verdacht an den Kopf, worauf dieser ihn als Nestbeschmutzer, Stümper und tumben Rambo-Ermittler bezeichnete. Und außerdem die Prognose stellte, dass er es im Polizeidienst nicht mehr weit bringen würde. Dafür würde er schon sorgen. Fabrikarbeitersöhnchen könnten bestenfalls Strafzettel für Falschparker verteilen, aber für die richtige, wahre Polizeiarbeit fehle es halt doch am nötigen Intellekt. Der Apfel fiele ja bekanntlich nicht weit vom Birnbaum. Und zack, schon lag Weidenmanns Vorgesetzter mit heftig blutender Nase laut keuchend am Boden. Kurz vorher war dieses unverwechselbare Knackgeräusch zu hören gewesen, das entsteht, wenn ein Nasenbein bricht.
Das war jetzt 18 Jahre her, und irgendwie hatte die Prognose des Vorgesetzten dann doch zugetroffen. Erst ein öder Abschiebeposten in der Polizeiverwaltung, dann ein Sackgassenjob im Innendienst und vor acht Jahren die Versetzung in die Provinz, nach Eulendorf. Damit war jegliche weitere Beförderung quasi ausgeschlossen und sein Schicksal besiegelt. Mittlerweile hatte Weidenmann sich damit bestens abgefunden. Er hatte sich gut in das kleine, liebenswerte Städtchen integriert, keiner wusste, warum er hierher versetzt worden war, und er hatte seine heilige Ruhe. Geregelte Dienstzeiten, pünktlich Feierabend und ausreichend Zeit für sein großes Hobby: Kriminalgeschichten aus aller Welt. Weidenmann interessierte sich allerdings nicht für Romane und Fiktionen, sondern ausschließlich für echte Fälle. Was es im beschaulichen Oberschwaben nicht gab, das holte er sich aus dem Internet ins heimische Wohnzimmer. Amokläufe aus den USA, Menschenhandel auf dem Balkan, Drogenkriege aus Südamerika, Zwangsprostitution in den ehemaligen Ostblockstaaten und Raubüberfälle in Europa. Sein absolutes Fable allerdings war: Mord! Fieser, gemeiner, niederträchtiger Mord aus niederen, ach was, aus niedersten Beweggründen. Über diverse, teilweise nicht ganz öffentliche Kanäle verfolgte er die großen und kleinen Mordfälle rund um den Globus. Das war der Ausgleich zu seiner faden Aufgabe in der langweiligen, verschlafenen Kleinstadt.
Weidenmann zog an seiner Zigarette, blies eine dicke Rauchwolke in das hinterwäldlerisch eingerichtete Dienstzimmer und legte die Füße gemütlich auf den Schreibtisch. Rauchen war natürlich in öffentlichen Gebäuden verboten und sein Dienstzimmer, so wie der gesamte Polizeiposten, war selbstverständlich ein öffentlicher Raum. Aber er war hier der Chef, also wurde hier auch geraucht. Bechtele hätte nie im Leben gewagt etwas gegen den Nikotinkonsum seines Vorgesetzten zu sagen, obwohl er selbst Nichtraucher war. Und die Neue sollte nur einmal den Mund aufmachen, dann würde sie zuerst alle Akten der vergangenen acht Jahre fein säuberlich sortieren und anschließend gepflegt Dauerstreife laufen.
Weidenmann war noch alleine auf der Dienststelle. Er kam immer früher, kochte sich einen starken Kaffee und genoss die Stille. Herr Präsident hatte die üble Angewohnheit, ihn frühmorgens so gegen fünf Uhr durch lautes Miauen zu wecken, und danach konnte er einfach nicht mehr einschlafen. Also stand er auf, machte sich gemütlich fertig und marschierte ins Büro, wo er seine heilige Ruhe hatte.
Um Punkt halb acht würde Bechtele zum Dienstbeginn erscheinen, wie immer mit einer großen Papiertüte bewaffnet, in der er Brezeln und Seelen anschleppte, die ihm als Tagesration dienten. Seelen sind äußerst schmackhafte schwäbische Mini-Baguettes, die normalerweise mit Dinkelmehr gebacken werden. Im Kühlschrank hortete er Käse und Wurst, Gewürzgurken und Senf. Weidenmann hatte Bechtele noch nie etwas anderes essen sehen, als das. Seit acht Jahren. Keinen Apfel, keine Banane, keinen Joghurt, kein nichts. Brezeln, Seelen, Wurst, Käse, Gurken und Senf. Tagein, tagaus. So sah er dann auch aus, der Polizeiobermeister. Eine echte Kampfkugel mit nicht unerheblichem Lebendgewicht. Aber der äußere Eindruck täuschte. Auch wenn Bechtele deutliches Übergewicht hatte, war er ziemlich flink, beweglich und ausdauernd. Das waren seine guten Eigenschaften. Leider auch die einzigen für den Polizeidienst verwertbaren.
Etwas später würde Fräulein Diersmann eintreffen, da sie mit dem Zug um 07:36 Uhr aus Biberach kam. Sie würde nach ihrem Eintreffen etwa zwanzig Minuten lang unaufgefordert und ununterbrochen über Alles und Nichts berichten. Was ihr im Zug widerfahren war, was sie gestern in den Nachrichten gehört hatte und unbedingt kommentieren musste, was ihre Freundin am Wochenende erlebt hatte, was in der Zeitung stand und was sie von der neuesten Mode hielt. Plus Kommentare zu Stars und Prominenten, Politik, Gesellschaft, Sport, Kultur und Religion. Oder kurz gesagt: zu allem! Schlimm war, dass ihr überspitztes Hochdeutsch ungefähr die Hälfte des Gesagten für den normalen Durchschnittsschwaben unverstehbar machte, und dass ihre ganz normale Stimmlage irgendwo oberhalb des zweigestrichenen C’s lag. Die Frau war die reine Folter. Absoluter Psychoterror. Kein Wunder, dass sie zu ihm nach Eulendorf versetzt worden war, dachte Weidenmann und blies eine weitere dicke Rauchwolke unter die Decke. Die Batterien aus dem Rauchmelder hatte er vorsichtshalber entfernt und in seine private TV-Fernbedienung zu Hause eingebaut. Eine wesentlich sinnvollere Verwendung, wie er fand.
07:21 Uhr.
Das Telefon klingelte. Offiziell war der Polizeiposten noch geschlossen. Wenn Weidenmann jetzt nicht ranging, würde nach dreimaligem Klingeln das Gespräch zur Polizeidirektion Ravensburg weitergeleitet werden, wo rund um die Uhr ein heldenmütiger Freund und Helfer erreichbar war. Der konnte sich dann mit der entlaufenen Katze, den lärmenden Nachbarn oder der üblen Sachbeschädigung am heimischen Gartentürchen beschäftigen. Neulich hatte eine ältere Dame angerufen und vehement die Verhaftung ihrer hochkriminellen Nachbarin gefordert, weil diese die Kehrwoche nicht eingehalten hatte. In Oberschwaben war das ein mittelschweres Kapitalverbrechen. Früher wäre man dafür sicher gevierteilt worden. Aber was soll’s, Weidenmann ging ans Telefon.
„Polizeiposten Eulendorf, Oberkommissar Weidenmann!“
Stille. Das berühmte Rauschen in der Leitung.
„Hallo, wer ist denn da? Melden Sie sich!“
„Sie müsset sofort komme. Eggschdroß. Nummero acht. Sofort! Es isch arg dringend!“
„Wer spricht denn da?“
Klick. Aufgelegt. Mist! Anonyme Anrufe waren immer besonders doof. Lektion eins auf der Polizeischule. Wer etwas zu verbergen hatte, verriet seinen Namen nur ungern. Und das bedeutete leider immer Zusatzärger. Aber jetzt war er ja nun mal drangegangen. Eggstraße Hausnummer acht. Das war direkt in der Innenstadt, unweit vom altehrwürdigen Schloss der hochherrschaftlichen Grafen zu Königseck-Eulendorf. Quasi gleich um die Ecke. Eigentlich mehr ein Gässchen als eine Straße. Gut bürgerliche Wohngegend, nichts wirklich Berühmtes, aber eben auch kein Russen-Slum und keine AssiEcke. Eine ganz solide Straße für Otto-Normalbürger, seine Frau, die zwei Kinder und den Hund. Ansonsten konnte Weidenmann nichts über die Adresse aus seinem ansonsten äußerst umfangreichen Gedächtnis abrufen.
07:23 Uhr.
Jetzt konnte er noch sieben Minuten auf Bechtele warten, oder sich sofort auf den Weg machen. Nächstes Mal würde er einfach das Ohr zugedrückt halten und warten, bis ein Kollege aus Ravensburg abnahm. Dann hatten die den Salat an der Backe. Weidenmann entschloss sich für Warten. Außerdem musste er ja sowieso noch seine ganzen Sachen zusammenpacken, die Schuhe zubinden und die Hose wieder schließen, die er aus Bequemlichkeitsgründen leicht gelockert hatte. Obwohl er ja eher schlank, fast schon schlaksig war. Aber diese Uniformhosen waren halt so saublöd geschnitten. So, jetzt noch den Autoschlüssel vom Haken nehmen, die Papiere unter den Arm klemmen und dann konnte er Bechtele schon draußen beim Wagen erwarten. Selbstverständlich würde er mit Blaulicht und Martinshorn fahren. Schließlich war das ja ein richtiger Polizeieinsatz. Und die braven Bürger seines Kleinstädtchens sollten schon hören, wenn ihr heldenhafter Sheriff unterwegs war um Sicherheit, Recht und Ordnung zu gewährleisten.
Um 07:29 Uhr konnte Weidenmann die füllige Gestalt Bechteles auf der Zielgeraden vor dem Polizeiposten ausmachen. Wie immer mit einer Tüte der Bäckerei Winner in der Hand. Sie würde ihn durch den Tag bringen. Weidenmann hob die Hand nach Verkehrspolizistenmanier und bedeutete Bechtele mit raschem Auf und Ab, sich in eine schnellere Gangart zu begeben. Dieser guckte zunächst nur verdutzt, fiel dann aber in einen lockeren Trab, der sich durch weitere Handzeichen Weidenmanns in einen wahren Sprint steigerte. Dreißig Sekunden später blieb er laut schnaufend vor seinem Vorgesetzten stehen.
„Scheff, wa isch‘n au los?“
„Einsatz, Bechtele. Ab in den Wagen. Es gibt Arbeit!“
„Abr i hänn doch …“
„Frühstück fällt heute aus! Die Pflicht ruft! Einsteigen! Los geht’s, Bechtele!“
Damit klemmte sich Weidenmann hinter das abgegriffene Lenkrad des alten Volkswagens, ließ den Motor kurz aufheulen und fuhr mit quietschenden Reifen, Sirene und Blaulicht los, kaum dass Bechtele neben ihm auf den Sitz geplumpst war.
„Scheff, wo gaht’s na?“
„Eggstraße acht. Ein anonymer Anruf.“
„Eggschdroß, ha des isch doch glei do hanne.“
„Ich weiß. Wir zeigen dem Bürger nur, dass wir immer mit vollem Einsatz unterwegs sind. Und dazu muss man ab und zu ein wenig auf sich aufmerksam machen.“, erläuterte Weidenmann und bog auch schon in die Eggstraße ein, die wirklich gewissermaßen um die Ecke lag.
„Na, also das nenn ich mal Geschwindigkeit! In weniger als zwei Minuten am Einsatzort!“
Mit diesen Worten trat Weidenmann so dermaßen auf die Bremse, dass der alte VW genau vor der Hausnummer acht laut quietschend zum Stehen kam und Bechtele ruckartig in Richtung Frontscheibe katapultiert wurde.
„Nummer acht. Kennen sie das Haus, Bechtele?“
„I moin, des schdeht läär.“
„Aha! Eine Räuberhöhle also. Los, Bechtele, sofort aussteigen, klingeln! Vorwärts Marsch!“
Auf mehrfaches Klingeln und auch lautstarkes Klopfen tat sich jedoch nichts. Es befand sich auch kein Namensschild an der Klingel und der Briefkasten war mit alten Werbeblättchen und buntem Reklamezeugs komplett vollgestopft.
„Ha, i glaub do wohnt koiner mehr!“, war Bechteles messerscharfe Schlussfolgerung.
„Riechen sie das, Bechtele?“, fragte der Kommissar mit weit aufgeblähten Nüstern, die die Luft wie ein Staubsauger einatmeten.
„Bissele faulig, odr?“
„Kommen sie mit, Bechtele!“, befahl Weidenmann und ging links am Haus entlang zur Einfahrt. Durch die Milchglasscheiben der alten Tür, die vermutlich zu einem Waschkeller führte, konnte man nicht viel erkennen. Die Tür war abgeschlossen.
„Aufbrechen, Bechtele. Vorwärts marsch! Gefahr im Verzug!“
„Sollet ma ned liebr en Schlossr hole?“
„Nur zu, Bechtele, einmal kurz mit der Schulter, und wir können uns und dem Steuerzahler den Schlosser ersparen. Auf geht’s!“
Bechtele nickte und rumpelte leicht unmotiviert gegen die Tür. Diese war allerdings doch etwas stabiler, als ihr Alter und ihre Optik auf den ersten Blick erahnen ließen. Sie rührte sich nicht. Also nochmal und zwar mit ordentlich Caramba. Bechtele bat seinen Chef seine Mütze zu halten, nahm fünf Schritte Anlauf und rumste ein zweites Mal gegen das Holzhindernis. Diesmal mit grandiosem Erfolg. Vielleicht allerdings mit etwas zu viel Erfolg. Bechtele durchschlug die Tür mit der Wucht eines Parabellum-Geschoßes, die alten Scheiben splitterten, der Rahmen krachte und das obere Scharnier brach aus der Mauer. Vom Schwung getragen stolperte Bechtele in den Raum, rutsche auf etwas Glitschigem aus und schlug der Länge nach auf den Boden. Außerdem war er während des Fallens an etwas gestoßen, was jetzt irgendwie über ihm pendelte und ihn an der Seite anschubste. Und sein Chef hatte recht gehabt. Es stank hier ganz fürchterlich. Und der ganze Boden war klebrig-feucht. Und an mehr konnte Bechtele dann auch nicht mehr denken. Er blickte mit schreckgeweiteten Augen auf die über ihm hängende Gestalt. Und dann reichte es für ihn gerade noch, um sich allerheftigst zu übergeben.
„Bechtele! Oh mein Gott!“, das war alles, was Weidenmann sagen konnte, als er einen Blick in den Raum geworfen hatte. Bechtele lag vollkommen verschmutzt in einer riesigen Lache aus geronnenem Blut, würgte an seinem eigenen Erbrochenen und über ihm hing eine Leiche mit dem Kopf nach unten. Sie schwang sanft hin und her und die ausgestreckte Hand berührte bei diesen langsamen Pendelbewegungen immer wieder den armen, am Boden liegenden Polizeiobermeister. Der hatte jetzt das ganze Ausmaß seiner Situation erkannt und fing an zu schreien. Keine Worte, keine Sätze, einfach nur Schreie. Wie in Panik geraten, versuchte er in der breiig-braunen Masse aufzustehen, rutsche ein paarmal weg und stürmte schließlich, als er es geschafft hatte, wie der Blitz an seinem Chef vorbei ins Freie. Dort stützte er sich wild schnaufend mit einer Hand an die gegenüberliegende Hauswand, beugte sich nach vorne und erbrach sich erneut. Erneut sehr heftig.
Weidenmann starrte in den Raum des Geschehens. DNASpuren konnte man hier erst mal vergessen. Bechteles frisch Erbrochenes hatte das geronnene Blut teilweise schon wieder aufgeweicht. Eine widerliche Kombination war das, auch rein olfaktorisch. Die Leiche pendelte weiterhin sanft und die ausgestreckten Hände schwebten in leichten Bewegungen zwei Zentimeter über dem Boden. Ansonsten war nichts zu erkennen. Keine Fußspuren außer denen seines Untergebenen. Auf den ersten Blick keine sonstigen Hinterlassenschaften der Täter. Nur ein paar unregelmäßige Blutspritzer an der Wand.
„Also dann, das volle Programm“, dachte sich Weidenmann „Mordkommission, Spurensicherung, Gerichtsmedizin.“ Er griff zum Telefon und rief in Ravensburg an. In einer halben Stunde konnte die ganze Meute hier sein. Bis dahin galt es, den Tatort abzusichern. Und mal nach Bechtele zu schauen. Vorher rief er noch seine eigene Dienststellennummer in Eulendorf an. Fräulein Diersmann musste ja inzwischen bereits eingetroffen sein.
„Hier Polizeiposten Eulendorf, Polizeimeisterin zur Ausbildung Diersmann am Apparat.“
„Fräulein Diersmann, hier ist Weidenmann. Wir sind hier bei einem Einsatz, und es ist immens wichtig, dass sie die Stellung halten. Also einfach auf das Telefon aufpassen und nicht vom Fleck rühren. Ich melde mich dann bei ihnen.“
„Frau Diersmann!“
„Wie bitte?“
„Ich bin kein Fräulein! Wann lernen sie das endlich mal?“
Für Weidenmann waren unverheiratete Frauen irgendwie immer noch Fräuleins. Er wusste auch gar nicht, was daran so schlimm sein sollte. Das klang doch sehr nett. Da gab es wenigstens keine blöden Verwechselungen. Außerdem war man hier in Oberschwaben eher konservativ. Er konnte ja nichts dafür, dass sie von der Küste war.
„Jaja, Frau Diersmann! Und jetzt machen sie bitte ein möglichst diensteifriges Gesicht und bleiben sie auf ihrem Posten! Ende!“
Damit legte er auf. Immer dieses Getue. Früher gab’s das nicht. Da gab es auch noch keine Frauen bei der Polizei. Also, nicht, dass Weidenmann etwas gegen Frauen bei der Polizei hatte. Aber er hatte es halt generell nicht so mit Frauen und ihren ständigen Befindlichkeiten. So, Bechtele, was machte der denn nun eigentlich?
Polizeiobermeister Bechtele lehnte noch immer an der blass-weißen Hauswand, die allerdings eine wesentlich gesündere Farbe hatte, als er selbst. Sein Atem ging schon wieder etwas regelmäßiger, aber seine Augen hatten einen irren Blick.
„Bechtele, alles klar mit ihnen?“
„Scheff … do drinne …“
Mehr konnte er scheinbar nicht sagen. Er deutete mit der freien Hand zur Tür, oder zu dem, was von ihr übrig war.
„Bechtele, sie sind einfach nur in eine Blutlache getreten, ausgerutscht und haben eine Leiche berührt. Das ist doch nicht so schlimm. Holen sie mal das Flatterband aus dem Wagen und sperren sie die Straße ab.“