Weihnachten auf Samtpfoten - Lili Hayward - E-Book
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Lili Hayward

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Beschreibung

Um ihren Roman bis Weihnachten fertigzustellen und die Trennung von ihrem Freund zu verarbeiten, mietet sich die junge Autorin Jess ein kleines Cottage in Cornwall. Tagsüber stöbert sie durch das Haus und seine Vergangenheit, nachts schreibt sie ihren Roman. Dabei leistet ihr Stubentiger Perrin Gesellschaft, der im Cottage residiert und wie ein König durch die Räume stolziert. Doch seine Zukunft ist in Gefahr, denn um das Cottage und seine Ländereien tobt ein alter, erbitterter Streit. Jess kämpft für Perrins Zuhause – und bekommt tatkräftige Unterstützung von einem sehr attraktiven Nachbarn …

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Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Keller

ISBN 978-3-492-99154-4 © Lily Hayward 2016 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2018 Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Das Haus heißt Enysyule. …

Dank

Guide

»Denn jede Familie hatte mindestens eine Katze im Sacke.«

Christopher Smart, »Denn ich will achthaben auf meinen Kater Jeoffry« aus Jubilate Agno

Das Haus heißt Enysyule.

Enysyule. Das Wort fließt mir über die Lippen wie Honig. Enysyule: Grau und Grün. Alte Steine. Alte Bäume. Das Strohdach ockergelb, von Flechten überzogen. Eine winzige Wiese mit hüfthohem Gras, voller Sonnenlicht, und ein Bach, dessen klares Wasser dem Meer entgegensprudelt. Es gibt nur ein Haus hier in diesem tiefen Tal. Es liegt wie in eine Armbeuge geschmiegt, wie etwas Kostbares, das man schützen möchte.

Unter meinen Füßen knirschen die zersprungenen Steine des alten gepflasterten Wegs, der mich zum Haus führt. Die Baumwipfel über mir wölben sich zu einem Bogen. Ihr Blätterkleid ist schon reichlich fadenscheinig und abgetragen, aber noch malt es Tupfen in das Licht, das auf den Boden fällt. Es fühlt sich seltsam an, mit nichts als einer Tasche auf dem Rücken und einem Koffer in der Hand in diese Stille zu kommen. Nach dem Schmutz der Stadt machen meine Schuhsohlen nun Bekanntschaft mit dem Staub und der Erde der freien Natur.

Der Weg endet an der Stufe zur Haustür. Ich halte inne und lausche dem versprengten Vogelgezwitscher. Minuten oder Sekunden vergehen: Sie scheinen hier nicht zu existieren, nur Jahreszeiten und Jahrhunderte, die in Schösslingen und gestürzten Bäumen rechnen. Sogar der Schlüssel ist alt. Er ist massiv und schwer, blank poliert von ungezählten Hosentaschen. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und stecke ihn in das Schloss. Als ich ihn drehe, gibt er ein leises und dumpfes Klong von sich. Auf der anderen Seite der Tür erwartet mich ein neues Leben.

Ich hole tief Luft und stoße die Tür auf.

Dunkelheit empfängt mich, als sie sich mit Schwung öffnet und mit einem scharrenden Geräusch zum Stehen kommt. Aus dem Haus strömt die Luft, die monatelang gestanden hat, und umhüllt mich. Ich schließe die Augen und atme sie ein. Abgenutzter Steinboden und kalte Asche, eine Ahnung von gebackenem Brot, der süße Geruch von Holzbalken. Und da ist noch etwas, etwas, das ich nicht benennen kann – ein Hauch von Gewürzen und grünen Zweigen und Schnee, und so schnell, wie es kam, ist es auch schon wieder verflogen …

Ich warte, bis meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt haben. Vor mir liegt ein langer Raum mit niedriger Decke, dessen Ende von einem riesigen offenen Kamin verschluckt wird, groß wie der Schlund eines Ungeheuers. Abgewetzte Teppiche bedecken die Steinfliesen, in einer Ecke steht, in sich zusammengesunken, ein durchgesessener Ohrensessel, sein Bezug zerschlissen und voller Risse. Es gibt nicht viel Mobiliar, nur einen langen Tisch, einen dunklen Büfettschrank, daneben einen Hocker. Die Gerüche, die mich willkommen geheißen haben, werden von anderen, weniger angenehmen verdrängt. Staub und Feuchtigkeit. Schimmel und Moder, Verfall und Rost. Nichts rührt sich im Haus. Ich spähe auf die Wiese vor dem Haus. Nichts. Nur eine flache Schale vor der Haustür, in der grünliches Wasser steht.

Ich lasse meine Tasche fallen, dumpf schlägt sie auf dem Boden auf.

Was habe ich getan?

Tief im Schatten der betagten Stechpalmen bewegt sich etwas. Zwei Augen erwachen zum Leben, blinzeln. Sie sind gelb wie Talg, gelb wie Mais. Es sind alte Augen, wild wie die eines Falken, und ihr Blick fällt auf das Cottage.

Ich streife mit einem Fuß über den Boden. Staub wirbelt empor und tanzt im Licht. Ich sehe mir den Raum genauer an, was seinen Zustand nicht rosiger erscheinen lässt. Der vom Kaminrauch geschwärzte Putz bröckelt von den Wänden. Die Bodenfliesen sind voller Risse. Einige der rautenförmigen Scheiben in den Sprossenfenstern, die auf dem Foto so idyllisch wirkten, sind zerbrochen, die Lücken in den Rahmen notdürftig mit Lumpen zugestopft.

Schuld ist der alte Mann. Wäre er nicht im Büro des Immobilienmaklers gewesen, hätte er mich nicht herausgefordert … Ursprünglich wollte ich mir das Haus nur einmal ansehen, einen kurzen Blick darauf werfen, mehr nicht. Das war der Plan. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, auf einen wutschnaubenden Einheimischen zu treffen, der gerade einen Tobsuchtsanfall erleidet, weil das Haus seiner Tante vermietet werden soll. Roscarrow war sein Name. Roscarrow. Er hatte ein Gesicht wie eine Saatkartoffel.

»Kann schon sein, dass das alte Mädchen mir das Haus nicht vererbt hat«, hatte er getobt. »Und wenn schon! Aber ich werde ganz sicher nicht dabei zusehen, wie Stadtleute hier hereinstolzieren und alles Wertvolle zertrampeln – die setzen sich ins gemachte Nest, in unser Vermächtnis, und lassen es dann elf Monate leer stehen. Aber nicht mit Enysyule …«

Die Maklerin hatte versucht, mir zu Hilfe zu kommen. Vielleicht war es ihr peinlich, dass ich den weiten Weg aus London auf mich genommen hatte, um mir dann von einem alten Mann eine Moralpredigt anzuhören. Sie erklärte ihm, dass das Cottage nicht als Ferienhaus vermietet würde, sondern – wie im Testament seiner Tante festgelegt – als ständiger Wohnsitz, aber das besänftigte ihn nicht.

»Scavel-an-gow, alles Augenwischerei«, schnaubte er in meine Richtung. »Wie soll sie denn da überhaupt wohnen? Ich kenne das Haus. Sie hält da keine Nacht durch.«

Und schon hatte ich angebissen. Bevor ich wusste, was ich tat, verkündete ich der Maklerin, dass ich das Cottage nehmen würde. Ich hatte gedacht, der alte Mann würde daraufhin ein Gegenangebot machen, und wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass es ihm nur darum ging, seinen Ärger an jemandem auszulassen. Als die Maklerin dann etwas von »Vorbehalten« und »Bedingungen« bezüglich der Immobilie murmelte, war ich so verblüfft, dass ich nur zustimmend nickte. Im nächsten Moment reichte sie mir einen Kugelschreiber, schüttelte mir die Hand und ehe ich mich versah … hatte ich ein Cottage gemietet. Mein Blick wandert von der fleckigen Zimmerdecke zu den schmutzigen Fenstern und durch die offene Haustür auf das Tal hinaus, über das nun die Abendkühle fällt. Das ist jetzt mein Cottage.

Ächzend stemme ich mich aus dem durchgesessenen Polstersessel und mache mich an die Bestandsaufnahme des Erdgeschosses. In der Anzeige war das Haus als »möbliert« bezeichnet worden, aber abgesehen von einer neuen Matratze und einer vollen Gasflasche scheint das nur zu bedeuten, dass es noch nie entrümpelt wurde. Auf den Regalbrettern stehen Bücher, Bilder hängen an den Wänden. Das weitaus größte Möbelstück ist der Küchentisch. Er ist riesig und sieht mitgenommen aus, die Zeit hat tiefe Spuren auf seiner Oberfläche hinterlassen. Wie viele Teller, Schüsseln und Ellbogen hat er schon getragen? Wie viele Stoffbahnen wurden auf ihm zurechtgeschnitten, wie viele Briefe geschrieben, wie viele aufgeschürfte Knie verarztet?

Wenn es stimmt, was die Maklerin sagt, bin ich die erste Fremde, die je in diesem Haus gewohnt hat. Im Laufe seiner fünfhundertjährigen Geschichte hat es nur zwei Familien gehört. Und nun komme ich, eine blauäugige Schriftstellerin aus der großen Stadt, die bisher nicht einmal einen Garten hatte, geschweige denn ein ganzes Tal.

Nebenan ist ein Raum, der früher wohl eine Spülküche gewesen ist. Auf den Regalen stehen noch Dosen und Einmachgläser. In fast allen ist Fisch: gepökelte Sardinen, Sardinen in Tomatensoße, Thunfisch. Ganz hinten auf einem Brett stehen zwei Flaschen mit dunklem, klebrigem Inhalt. Ich drehe eine um. Auf das Etikett ist mit zittriger Hand Brombeerwein geschrieben, darunter ein Datum, das zwei Jahre zurückliegt.

Ich stelle die Flasche zurück und fühle mich mit einem Mal mutterseelenallein in diesem tiefen Tal, zur Gesellschaft nur einige wenige Spuren aus dem Leben einer alten Frau. Wie gern würde ich gerade mit jemandem sprechen, nur ganz kurz, aber hier gibt es kein Handynetz, und selbst wenn, wen sollte ich anrufen? Meine Mutter, meine Schwester? Sie finden, dass es eine verrückte Idee war, so weit wegzuziehen, und dabei habe ich ihnen nicht einmal die Wahrheit über das Haus gesagt. Ich habe behauptet, ich hätte es besichtigt, bevor ich unterschrieben habe. Mit blumigen Worten habe ich von dem Kamin, dem Garten, dem herrlichen Strohdach und der Idylle im Grünen geschwärmt, wo ich endlich zum Schreiben käme. Wenn sie wüssten, dass ich mir nach kurzem Blick auf ein körniges Foto einen Mietvertrag für ein ganzes Jahr aufgehalst habe; wenn sie von den ungewöhnlichen Bedingungen erführen, die Teil der Vereinbarung waren … Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken.

Die Armatur am Spülstein ist an den Rändern von Rost zerfressen, völlig morsch, wie alles hier. Gedankenverloren drehe ich an den Griffen. Einige Sekunden lang rührt sich nichts. Dann ertönt aus der Tiefe der Rohrleitungen ein Gurgeln und aus dem Hahn stürzt stotternd braunes Wasser mit Sand und Dreck. Nach einer Weile fließt es ruhiger und wird klarer. Ich halte die Hände unter das eisige Wasser.

Ein schmutzverschmiertes Fenster geht auf den Garten hinaus, von dort sieht man die handtuchgroße Wiese und in den dahinterliegenden Wald. Ich beuge den Kopf, spritze Wasser auf meine müden Augen. Als ich sie trocken blinzele, könnte ich schwören, dass sich ganz am Rand meines Blickfelds etwas bewegt. Sicher nur ein Vogel, sage ich mir. Dennoch kann ich den Gedanken, dass dort draußen jemand – oder etwas – sein könnte und mich beobachtet, nicht ganz abschütteln und die Nackenhaare stellen sich mir auf.

Leichter als Schnee, der vom Himmel fällt, bewegen sich Schritte um das Haus, hinein in das dichte Brombeergestrüpp, das neben ihm wuchert. Die Stacheln stechen nicht und die letzten Früchte, schwer wie die Nacht, lassen keine Flecken auf dem Fell, das durch die Sträucher gleitet. Abendkühle legt sich auf die Wiese. Die Fledermäuse werden unruhig. Die Dunkelheit ist nicht mehr weit.

Frustriert lasse ich den Lappen fallen und sehe mich im verblassenden Tageslicht um. Die reinste Sisyphusarbeit. Ich hatte mir schon gedacht, dass es wohl einen Grund für die günstige Miete geben müsse, aber dass »gemietet wie gesehen« so etwas bedeuten könnte, war mir nicht in den Sinn gekommen.

Eine dicke Schicht Staub hat sich auf allen Oberflächen angesammelt, Heerscharen toter Fliegen und Wespen liegen auf den Fensterbrettern oder fallen wie Konfetti aus den Vorhängen, wenn ich sie schüttele. Die Putzutensilien, die ich mitgebracht habe, sind ein Witz: Geschirrspülmittel, ein Schwamm, ein paar Geschirrtücher. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Gar nichts hast du gedacht, klärt mich meine innere Stimme besserwisserisch auf, du hast einfach darauf vertraut, dass alles großartig wird.

Mit einer Mischung aus Trotz und Beharrlichkeit wende ich mich dem stattlichen, dunklen Büfettschrank zu, der von seiner Ecke aus fast bedrohlich wirkt. Sauber machen ist immer noch besser, als vor mich hin zu starren, während meine Fantasie mit mir durchgeht. Ich wische mit einem der Geschirrtücher den Staub von den Regalen und den Büchern, die dort stehen. Die meisten sind in Leder gebunden, die Jahre haben sie krumm und schief werden lassen. Ich lese vertraute Titel und schon geht es mir besser: Es ist, wie fern der Heimat alten Freunden zu begegnen. Ich befreie einige Bände von Dickens und Hardy von Staub, es gibt auch eine Bibel, die schon auseinanderfällt, einige zerfranste Jahrbücher. Ein schmales, schlicht gebundenes Büchlein weckt meine Neugier und ich ziehe es heraus und klappe es auf. Es sieht aus wie ein Skizzenbuch und die erste Seite ziert ein mit Tinte geschriebener Namenszug:

Thomasina Roscarrow.

Eine plötzliche Bewegung an der offenen Tür schreckt mich auf und ich lasse beinahe das Buch fallen. Flügelflattern, dunkle Schatten. Vorsichtig nähere ich mich der Tür. Draußen bricht die Nacht herein, und vor einem Himmel, dessen lila-grüne Farbe an Taubenfedern erinnert, ziehen Fledermäuse kreuz und quer ihr unstetes Netz. Unwillkürlich muss ich schmunzeln, als ich ihre kleinen, spitzen Schreie höre. Ich gehe wieder hinein und taste nach dem Lichtschalter. Er ist gleich neben der Tür, altmodisch und unförmig. Ich drücke den Hebel herunter. Nichts geschieht. Ich bewege ihn wieder nach oben und wieder herunter, rauf, runter, rauf, runter. Nicht der Hauch eines Funkens.

Beklommenheit macht sich in meinem Magen breit. Ich durchwühle meine Tasche auf der Suche nach dem Aufladegerät für mein Mobiltelefon. In der Wand ist eine Steckdose. Sie sieht aus, als stamme sie aus den Siebzigern, aber ich stecke das Gerät trotzdem ein und blicke mit einem raschen Stoßgebet auf mein Handy.

KEIN NETZ, sagt das Display. Und kein Strom. Das kann einfach nicht wahr sein. Denk nach, ermahne ich mich streng. Irgendwo muss es doch einen Sicherungskasten geben. Das letzte Tageslicht schwindet gerade, die Schatten der Dunkelheit fließen in das Cottage wie die Flut in eine felsige Bucht. Nach längerem Suchen finde ich den Sicherungskasten in der Spülküche. Eine Spinne fällt mir aus dem brüchigen Kunststoffgehäuse entgegen, aber ausnahmsweise bin ich viel zu angespannt, um hysterisch zu werden. Ich streife sie einfach ab und drücke den Schalter.

Er rastet ein, aber nichts passiert.

Panik überfällt mich, all die angestauten Emotionen der letzten Monate stürzen gleichzeitig auf mich ein. Die Maklerin hat mir eine Notfallnummer gegeben, aber ich habe kein Netz. Ich habe kein Auto, mit dem ich ins Dorf fahren könnte. Selbst wenn ich sicher wäre, in welche Richtung ich laufen müsste – was nicht der Fall ist –, ich habe keine Taschenlampe, und die Nacht hier ist stockfinster. Nicht die laternenbeleuchtete Dunkelheit der Stadt, die ich gewohnt bin. Hier auf dem Land herrscht vollständige Finsternis, die vor nächtlichem Leben vibriert und die Menschen im Ganzen verschlingt.

Reiß dich zusammen. Mach Feuer. Irgendwo müssen Kerzen sein. Wenn es erst wieder hell ist, sieht alles schon wieder ganz anders aus. Mit zitternden Händen öffne ich die Türen und Schubladen der Schränke in der Spülküche, wühle mich durch klebriges Besteck und Teller, die sich nicht sauber anfühlen. Keine Kerzen. Ich stolpere die Stufen zum Schlafzimmer hoch und sehe kaum, wohin ich trete. Ein großes, dunkles Bett steht da, nur Gestell und Matratze, eine Decke hängt schlaff an der Wand daneben. Am Fußende des Betts befindet sich eine Truhe, aber sie ist abgeschlossen.

Mit einigem Kraftaufwand gelingt es mir, die Tür zu dem zweiten Raum zu öffnen. Er dient als Rumpelkammer, ich kann einige Kartons und eine kaputte Lampe erkennen. Es wird immer dunkler, bald werde ich gar nichts mehr sehen. Schnell laufe ich die knarrenden Stufen wieder hinunter. Die Schubladen des Büfettschranks klemmen. Endlich geben sie mit einem Ruck nach, einige Bücher fallen von den Regalbrettern.

Meine Finger ertasten Papier und Plastik, Schnur und Glas, aber irgendwann berühren sie etwas Kühles, etwas, das sich wie Wachs anfühlt. Mir schießen vor Erleichterung fast die Tränen in die Augen, als ich eine Kerze aus der Schublade ziehe. Streichhölzer liegen auf dem Kaminsims. Ich halte die Luft an und hoffe inständig, dass sie sich noch anzünden lassen. Auf den Gedanken, selbst welche mitzubringen, bin ich gar nicht erst gekommen. Einfach idiotisch. Das erste Streichholz bricht mir in meiner Aufregung ab, aber beim zweiten Versuch entsteht eine wunderschöne, helle Flamme und gleich darauf erhellt ein warmer goldener Lichtschein die Zimmerecke. Ich halte die Kerze mit beiden Händen, wie einen Glücksbringer, einen heiligen Gegenstand, der mich vor der Dunkelheit schützt.

Ich kenne das Haus. Ich kann die Stimme des alten Mannes wieder hören. Sie hält da keine Nacht durch.

Ich merke, wie ich zittere, sowohl vor Kälte als auch vor Angst. Die Haustür steht immer noch offen. Rasch werfe ich sie zu, drehe den Schlüssel um. Was auch immer da draußen ist, soll auch da bleiben. Ich werde die Nacht durchhalten, ganz allein. Der Alte hat sich gründlich in mir geirrt. Ich halte mich an diesem Gedanken fest, vielleicht sorgt mein Zorn auf diesen Mann wenigstens für innere Hitze.

Meine ersten Versuche, Feuer zu machen, scheitern kläglich, es entsteht nichts als Qualm. Schließlich aber fängt ein Holzspan Feuer, dann ein Scheit, Flammen züngeln an ihm empor. Triumphierend lasse ich mich auf die Fersen zurücksinken. Draußen ist es jetzt vollkommen dunkel. Ich ziehe die stockfleckigen Vorhänge zu und erhasche für einen winzigen Moment den Blick auf etwas, das hinter dem Fenster vorbeischleicht, ein Schatten im Schatten. Ich lege noch ein Scheit nach und das Feuer lodert hell auf.

Bei den Flammen fühle ich mich sicher, ich werde mich hier nicht wegbewegen. Nicht heute Nacht. Ich zerre den alten Ohrensessel zum Kamin, breite meinen Schlafsack darauf aus und kuschele mich hinein. Ich versuche, ein Buch zu lesen, mich in dem leisen Knistern des brennenden Holzes zu verlieren. Ich versuche, nicht auf die knarrenden, ächzenden Geräusche des Hauses zu achten und den einsamen Ruf einer Eule auszublenden, die in der Dunkelheit klingt wie ein Geist.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich nehme eine der Kerzen. Sie flackert in meiner Hand, während sie mir den Weg zur Spülküche leuchtet. Wo der Kamin nicht wärmt, ist der Fliesenboden kalt und feucht. Ohne durch das Fenster zu sehen, greife ich rasch nach einer der Flaschen, die ich vorher gefunden habe, und rette mich gleich wieder zurück zu Licht und Wärme.

Der Inhalt der Flasche schimmert rubinrot gegen das Licht des Feuers. Ich öffne den Schraubverschluss und nehme einen vorsichtigen Schluck. Süßer Wein flutet meinen Mund. Ich schließe die Augen und schmecke dichte Hecken, schwer beladen mit prallen, dunklen Beeren, die in der Sonne glänzen. Langsam trinke ich einen zweiten Schluck Brombeerwein und denke an die alte Frau, die ihn gemacht haben muss. Ob ich wohl die Sorte Mieter bin, die sie im Sinn hatte, als sie ihr Testament aufsetzte, oder wäre sie enttäuscht, mich hier sitzen zu sehen? Die Wärme des Feuers und der Wein machen mich schläfrig und ich merke, wie ich allmählich eindöse.

Kaum bin ich eingeschlafen, weckt mich ein Geräusch. Ich starre in die Dunkelheit und versuche herauszufinden, was es ist. Es kommt von der Haustür, ein Kratzen, das Scharren von Krallen auf Holz. Da ist etwas und es will ins Haus. Augenblicklich schießen mir Sagen und Legenden durch den Kopf, Geschichten von verlorenen Seelen, Elfen und Höllenhunde, von Gespenstern, dazu verdammt, für alle Ewigkeit durch die Nacht zu streifen … Ich fürchte mich viel zu sehr, um die Tür zu öffnen und nachzusehen, ich fürchte mich so sehr, dass ich nichts tun kann, als mir den Schlafsack über den Kopf zu ziehen, mir die Ohren zuzuhalten und darauf zu warten, dass es endlich aufhört.

So muss ich eingeschlafen sein, in meinen Schlafsack gewickelt wie ein Kind, denn ich träume. Keinen Traum von Orten oder Menschen. Ich träume von einem Lied. Es dringt in mein Bewusstsein, sacht wie die Morgendämmerung, tief wie das Erz, das in der Erde verborgen liegt. Das Lied hat keine Worte, die ich wiedergeben, keine Melodie, die ich summen könnte. Doch auf unerklärliche Weise weiß ich, was es bedeutet.

Das Lied beginnt mit dem Winter. Ich höre das Wispern der Schneeflocken, das leise Kichern des Frosts, als er über den Boden kriecht. Ich höre, wie Gras unter den Füßen knirscht, das Krachen von Eis in einem Bach. Ich fühle, wie mein Blut langsamer fließt, sich Kristalle in meinen Adern festsetzen, und gerade als ich fürchte zu erfrieren, wird alles anders. Die Kälte weicht zurück und alles schmilzt, es wird Frühling.

In meinen Ohren dröhnt der Herzschlag neuen Lebens, das sich in tausenderlei Gestalt seinen Weg in die Welt bahnt. Ich höre, wie sich Dunkelheit auf leisen Pfoten an die Fersen des jungen Lebens heftet, bereit zum Angriff, unaufhaltsam wie Ebbe und Flut. Zugleich höre ich, dass dieselben Pfoten tanzen und in den Sommer hineinspringen, um Sonnenstrahlen zu fangen. Das Lied singt von Beeren und Vögeln und ganzen Kaskaden von Blumen, die die kurzen, atemlosen Nächte mit ihrem Duft erfüllen.

Dann kann ich hören, wie alles zum Bersten reif ist, schließlich aufplatzt und raschelnd und schwer im Herbst landet. Das Lied wird langsamer, tiefer und erzählt von Morgennebel, dann von langen, dunklen Nächten, es verliert an Kraft, je näher das Ende des Jahres rückt. Ich höre, wie die Blätter an den Bäumen trocken werden, vernehme die lodernden Flammen an Allerheiligen. Ich kann Jagdhörner hören, Reiter, die über den Himmel jagen, um das alte Jahr zur Strecke zu bringen. Ich höre eine Nacht, fiebrig und ruhelos, in der die Ordnung der Welt aus den Angeln gehoben ist.

Das Lied strebt seinem Höhepunkt zu und mir wird bewusst, dass alles, was ich bisher gehört habe, darauf hingeführt hat. Die Melodie fällt wieder und gleitet wie leise fallender Schnee in die Weihnachtszeit herab. Eine Nacht, in der sich Alt und Neu in den Flammen der Feuerstelle begegnen, in der sich heute, gestern und morgen nicht unterscheiden, böses Blut vergessen ist und Herzen sich durch ein einziges, geflüstertes Wort verwandeln. Das alles ist so unsagbar schön und ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Ich strecke die Hand nach dem Singenden aus …

Und werde wach, die Hand von mir gestreckt. Ich versuche, mich an das Lied zu erinnern, die Melodie festzuhalten, aber zwischen einem Atemzug und dem nächsten verlieren die Noten an Kontur und zerfallen in tausend kleine Stücke. Einen Wimpernschlag lang scheint das Cottage erfüllt von dem Duft von frischem Grün, von Blattwerk und Zweigen, wie eben vom Baum geschnitten. Im nächsten Moment ist auch das verflogen.

Von draußen aus der Dunkelheit dringt ein Laut herein und ich lausche voller Hoffnung. Doch es ist nicht das Lied, dessen Schönheit mit Worten nicht zu beschreiben ist. Es ist nur eine Katze, die den Mond ansingt.

Das Lied erklingt eine ganze Nacht lang. Es wird seit tausend Jahren zu Beginn jeder Jahreszeit gesungen und wird weitere tausend Jahre gesungen werden. Es dauert an, bis sich der Himmel grau färbt, bis die Vögel, die nicht vor der Kälte geflohen sind, vorsichtig ihren Morgengesang anstimmen. Der Singende lauscht. Die Frau schläft.

Blinzelnd öffne ich die Augen. Gedämpftes Licht fällt durch die Vorhänge und von draußen höre ich Vogelgezwitscher, dessen Echo im Tal hin und her geworfen wird. Tageslicht. Ich habe es geschafft. Die längste Nacht meines Lebens, aber ich habe sie überstanden.

Mit steifen und verkrampften Gliedern richte ich mich in dem Ohrensessel auf. Das Feuer ist fast aus, nur hier und da glimmen noch Holzstückchen in der dicken Schicht aus Asche. Ich muss mich auf die Suche nach mehr Holz machen. Und ich muss mich der Herausforderung des Badezimmers hinter dem Haus stellen. Fröstelnd ziehe ich mir die Schuhe an. Überall um mich herum finden sich die Spuren meiner unruhigen Nacht: Die Schubladen des Küchenbüfetts stehen offen, die Kerzen sind heruntergebrannt, Bücher sind von den Regalbrettern gefallen. Bei Tageslicht erscheint mir das plötzlich ziemlich überspannt. Aber die Angst ist noch ganz präsent, genauso wie das Lied, das ich in meinem Traum gehört habe.

Ich öffne die Tür. Draußen erwartet mich ein perfekter Herbstmorgen. Frühnebel hängt tief über dem Tal, das Laub leuchtet in strahlendem Orangegold. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich die kühle Morgenluft in mich auf und neue Zuversicht durchströmt mich. Als ich auf den Weg hinaustrete, bewegt sich etwas auf dem Ast eines Baums, ein Schatten, der zu groß ist für einen Vogel. Ich spüre die Augen, die mich beobachten.

»Komm raus«, rufe ich. In der Stille klingt meine Stimme ungewohnt schrill. »Ich weiß, dass du da bist.«

Gleich darauf raschelt es in den Blättern und ein großes, dunkles Etwas landet mit einem Satz vor meinen Füßen auf dem Gartenweg. Sein Fell ist kohlrabenschwarz und buschig gegen die Kälte aufgestellt, einige Blätter und kleinere Zweige haben sich darin verfangen. In der Stadt wäre ich vielleicht auf das Tier zugegangen, hätte beruhigende Laute von mir gegeben und die Hand ausgestreckt, um es zu streicheln, aber hier kommt mir das nicht in den Sinn. Es wäre nicht richtig. Die Katze sieht auf und einen Moment lang erstarre ich unter dem Blick ihrer Augen, gelb wie Talg, gelb wie Mais.

»Dann bist du also die Katze, die hier wohnt?«, zwinge ich mich zu sagen und frage mich, woher dieses Gefühl von Befangenheit kommt.

Die Katze gähnt gleichmütig und beginnt, sich die Pfote zu putzen.

»Ich vermute, dass du das warst gestern Nacht«, fahre ich fort, »das Kratzen an der Tür und das stundenlange Gejaule auf dem Dach, während ich schlafen wollte?«

Das ist offenbar nicht, was sie hören möchte. Ihr Schwanz schlägt auf dem Boden hin und her und sie wendet den Kopf ab.

»Weißt du, wenn wir hier zusammenwohnen, müssen wir uns irgendwie einig werden, ja?«, appelliere ich an ihre Vernunft. »Kein nächtliches Wecken, kein Jaulen auf dem Dach und kein Kratzen an der Tür. Wenn du ins Haus willst, musst du mir das sagen, bevor ich ins Bett gehe.«

Die Katze steht auf und stolziert mit hocherhobenem Schwanz Richtung Wiese davon.

»Erst einen Tag allein«, murmele ich und trotte zum Außenbad, »und schon führe ich Gespräche mit Katzen.«

Ich tue mein Bestes, mich in einen einigermaßen gesellschaftsfähigen Zustand zu bringen, aber natürlich ist der Boiler defekt und ich muss mit kaltem Wasser vorliebnehmen. Bei der Schlüsselübergabe hat die Immobilienmaklerin, Mrs Welwyn, mich für heute zum Lunch in den Pub eingeladen. »Damit die Leute im Dorf Sie gleich willkommen heißen können«, sagte sie. Das ist vermutlich als Ausgleich für die Feindseligkeit gedacht, die Mr Roscarrow an den Tag gelegt hat.

Es ist ein herrlicher Tag für einen Spaziergang, der Herbst, der nur einen Atemzug vom Winter entfernt liegt, leuchtet noch strahlend in all seinen Farben. Ich setze mich auf die Stufen vor der Haustür und falte eine Landkarte auseinander. Ich habe sie gefunden, als ich die Bücher wieder zurück ins Regal gestellt habe. Sie ist mit der Hand gezeichnet und wer weiß wie alt, das Papier ist vergilbt und der Lederrücken, auf den sie geklebt ist, weich und mürbe vom Alter und vielen Gebrauch. Enysyule steht am oberen Rand. Ich vertiefe mich in die Zeichnung und stelle kopfschüttelnd fest, dass das kleine Landhaus von vierzehn Morgen Waldgebiet umgeben ist, die sich über die steilen Hänge zu beiden Seiten des Tals erstrecken. Entlang der Ostseite entdecke ich einen Weg zu einem Pfeil, der mit Lanford überschrieben ist und in die Richtung weist, in der das Dorf liegen muss. Gleich daneben, dort, wo das Tal endet, ist ein Kreis eingezeichnet, neben den jemand das Wort Perranstone geschrieben hat.

Ich gehe zu der Stelle, wo der Weg anfangen soll, am Rand der kleinen Wiese. Durch den nassen Wildwuchs kann ich Pflastersteine erkennen, offenbar Überreste einer Straße, die jahrhundertealt sein muss. Ich zögere. Der Weg ist fast völlig mit Gras und Brennnesseln zugewachsen. Vielleicht sollte ich lieber die lange Strecke nehmen, die den Hügel hinauf und von da über die Landstraße führt. Ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden, und blicke mich um. Bestimmt ist die Katze irgendwo in der Nähe. Meine Bemühungen, mich mit ihr anzufreunden, sind bisher fehlgeschlagen. Ich habe für sie eine der Dosen mit Thunfisch aus der Spülküche geöffnet, habe das grüne, schleimige Wasser in der Schüssel weggegossen und sie frisch befüllt, was jedoch mit Nichtachtung gestraft wurde. Etwas später habe ich sie dabei beobachtet, wie sie etwas fraß, das wie eine tote Motte aussah. Mein Blick bleibt an einer schwarzen Silhouette auf dem Strohdach hängen. Die Katze sitzt dort und sonnt sich, während sie prüfend auf mich herabsieht.

Ich verstaue die Landkarte in meiner Tasche, atme tief durch und wage mich entschlossen auf den überwucherten Weg. Das Gebüsch ist voller Insekten und immer wieder streife ich mit Schaudern krabbelnde Tierchen von meinen Ärmeln. Nach ein oder zwei Minuten weicht das hoch stehende Gras zurück und der Weg ist besser zu erkennen. Die Pflastersteine stehen erhaben in Matsch und Moos und führen zielstrebig bergab direkt in den Bach, zu einer Furt. Ich quere die flache Stelle im Wasser und überlege dabei, wie es hier wohl vor vielen Hundert Jahren ausgesehen haben mag.

Meine Füße folgen dem Weg von allein, auch wenn er hier und da unter Baumwurzeln verschwindet oder unterbrochen ist, weil sich die Steine gelöst haben. Gedankenverloren bemerke ich die Lichtung erst, als ich sie schon fast erreicht habe. Dann aber bleibe ich wie angewurzelt stehen und mir stockt der Atem.

In der Mitte eines Stechpalmenhains ragt ein Stein auf. Die Zweige wachsen hier so dicht, dass es aussieht, als wären sie miteinander verwoben, sie bilden eine fast undurchdringliche Mauer, die nur von einer kleinen Lücke auf beiden Seiten unterbrochen ist. Die Stechpalmen hier müssen uralt sein, an manchen Stellen sind sie fast zehn Meter hoch, tiefe Schatten hängen zwischen ihrem glänzenden Blattwerk. Der Stein aber … er wirkt noch viel, viel älter, ramponiert vom Zahn der Zeit. Moos und Flechten hüllen ihn ein wie ein Mantel. Er ist so groß wie ich und so breit wie meine ausgestreckten Arme. In seine Mitte ist ein kreisförmiges Loch gehauen.

Mein ganzer Körper kribbelt. Was um alles in der Welt ist das? Ich ziehe die Landkarte hervor. Da, am Rande des Tals ist der mit Tinte gezeichnete Kreis und das Wort Perranstone. Dieses eigenartige, alte Gebilde markiert die Grenze von Enysyule. Ich gebe mir alle Mühe, das Grummeln in meinem Magen zu ignorieren, und betrete zögernd die Lichtung.

Im gleichen Augenblick rauscht es in meinem Kopf, als wäre ich zu schnell aufgestanden. Mein Blick trübt sich, meine Ohren klingen und für einen Moment ist alles dunkel. Ich höre, wie Zweige vom Sturm gepeitscht werden, Flügelschläge, das Wiehern eines Pferdes und die Schreie einer Frau …

Ich blinzele und es ist vorüber. Das Tal wirkt unverändert, in der Ferne Vogelgezwitscher, Herbstsonne. Ich starre den Stein an, aber er ist, was er ist: ein uralter Stein, der stumm inmitten einer Lichtung steht. Jetzt kann ich erkennen, dass sich der gepflasterte Weg auf der anderen Seite fortsetzt und in den Wald führt. Warum hat Mrs Welwyn nichts davon gesagt? Ein alter Monolith hinter dem Haus ist doch wohl erwähnenswert – wenn es denn einer ist. Vielleicht fand sie es nicht wichtig. Vielleicht weiß sie gar nichts davon … Ohne die Landkarte wäre auch ich nicht auf ihn gestoßen.

Ich gehe am Rand der Lichtung weiter und halte so viel Abstand zum Stein wie möglich. In dem Augenblick, in dem meine Füße den Stechpalmenhain – und damit die Grenze von Enysyule – verlassen, spüre ich eine Veränderung. Es ist, als würde die Zeit um mich herum anschwellen und ich wieder die moderne Welt betreten. Plötzlich höre ich über mir das Dröhnen eines Flugzeugs, der Geruch nach Düngemittel hängt in der Luft und irgendwo in der Nähe bellt ein Hund.

Das Gebell ist sogar ziemlich nah und wird lauter und wilder. Ich sehe auf, als auf einmal ein Hund aus dem bunten Durcheinander aus Blattwerk und dichtem Gehölz schießt und unter wütendem Gebell auf mich zukommt. Instinktiv mache ich einen Schritt zurück.

Der Hund bleibt abrupt stehen. Es ist eine Art Collie, die Ohren hochgestellt, die Schnauze geöffnet, braune Augen starren mich unverwandt an. Er gibt ein gedämpftes Wuff von sich und will scheinbar zum Sprung ansetzen, aber dann überlegt er es sich anders und tänzelt halb knurrend, halb winselnd nervös hin und her, genau dort, wo die Lichtung auf den Wald trifft.

»Maggie?« Die Baumstämme werfen das Echo einer Männerstimme zurück. »Maggie!«

Eine Gestalt erscheint. Grüne Jacke, Schirmmütze, über der Schulter ein Gewehr. Ich stöhne im Stillen auf. Das sieht nach Ärger aus. Der Mann bleibt stehen, als er mich bemerkt. Von seiner freien Hand baumelt ein toter Fasan.

»Kann ich Ihnen helfen?«, ruft er. Die Art, wie er spricht, klingt nach Oberschicht.

»Ich bin auf dem Weg ins Dorf«, rufe ich zurück und merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. »Oder zumindest war ich das. Ihr Hund scheint etwas dagegen zu haben.«

»Nun ja«, sagt er und kommt näher, Blätter rascheln unter seinen Schritten, »das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie sich hier unbefugt auf Privatgelände befinden. Was wollen Sie hier?«

»Ich bin keineswegs unbefugt«, gebe ich gereizt zurück. »Das Land gehört zufällig mir. Gewissermaßen jedenfalls.«

Der Mann lacht auf und schiebt seine Mütze aus dem Gesicht. Er ist jung, stelle ich fest, möglicherweise sogar jünger als ich, mit unordentlichem dunkelblondem Haar, grauen Augen und unrasiert.

»Wenn das so ist, bitte ich um Entschuldigung.« Er lächelt mich gewinnend an. »Ich dachte, Sie gehören zu diesen Hobby-Historikern, die hier ohne Erlaubnis herumschnüffeln.«

»Nein. Ich wohne hier. Seit gestern.«

Seine Augen weiten sich. »Dann sind Sie also die berühmt-berüchtigte Miss Pike!« Er schiebt den Fasan unter seinen Arm und reicht mir die Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich bin Alexander.«

»Ich bin …« Unwillkürlich ergreife ich die hingehaltene Hand, dann erst dringen seine Worte zu mir durch. »Was meinen Sie mit ›berühmt-berüchtigt‹?«

»Lanford ist ein kleiner Ort, Miss Pike. Sie haben schon ganz schön für Wirbel gesorgt.«

Er lässt meine Hand los. An ihrer Stelle spüre ich kalte Luft.

»Ich wüsste nicht, wieso«, protestiere ich. »Ich kenne ja noch nicht einmal irgendwen aus dem Dorf.«

»Es reicht völlig aus, dass Sie hier neu sind.« Er grinst. »Außerdem kennen Sie ja jetzt mich.« Er tritt einen Schritt zurück und mustert mich eindringlich. Mir wird peinlich bewusst, dass ich übernächtigt aussehen muss und meine wilden Locken nur notdürftig gekämmt sind. »Ich muss gestehen, dass ich Sie mir anders vorgestellt hatte.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?« Ich versuche, nicht allzu feindselig zu klingen, und vergrabe die Hände tief in meinen Taschen.

»Na, also, ich habe gehört, dass Sie in den Ort gerauscht kamen und die Maklerin praktisch bestochen haben, um an das Haus zu kommen, eiskalt und skrupellos …« Offenbar bemerkt er meinen entsetzten Gesichtsausdruck, denn er unterbricht sich und sieht auf einmal verlegen aus. »Das ist natürlich nichts als Klatsch und Tratsch«, fügt er entschuldigend hinzu. »In dem Moment, in dem die Leute hier Sie kennenlernen, werden sie wissen, dass das Unsinn ist.«

»Das hoffe ich.« Ich versuche zu lächeln. »Ich bin übrigens gerade auf dem Weg zum Pub, um ein paar Dorfbewohner zu treffen. Das heißt, ich war es …« Bedeutungsvoll sehe ich zu der Hündin hinüber, die damit beschäftigt ist, die Baumwurzeln zu beschnuppern.

Der Mann lacht laut auf. »O ja. Tut mir leid. Aus irgendeinem Grund kann Maggie das alte Ungetüm nicht ausstehen.« Er deutet mit dem Kinn auf den Stein mit dem Loch. »Man sagt, Tiere wissen mehr als Menschen, nicht wahr?«

Ich denke an die schwarze Katze, daran, wie sie mich vom Dach aus angestarrt und die Nacht über gejault hat, wie sich ihr Geschrei mit meinem Traum vermischt hat …

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das glauben möchte«, murmele ich.

»Ich auch nicht.« Alexander schultert sein Gewehr. »Soll ich Ihnen zeigen, wie Sie zum Dorf kommen? Ich muss in die gleiche Richtung.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag überschreite ich die Grenze von Enysyule.

»Sie sind also von hier?«, erkundige ich mich, während wir nebeneinanderher gehen. Das Sonnenlicht fällt durch die Baumkronen, Blätter segeln sacht zu Boden wie Goldflocken.

»Jep«, antwortet der Mann und schwingt den Fasan hin und her. »Ich bin praktisch ein Ureinwohner. Meine Familie ist schon seit einer Ewigkeit hier ansässig.«

»Das gilt hier wohl für alle, außer für mich.« Ein Blatt tänzelt durch die Luft und streift meine Wange. Ich fange es auf. Leuchtend gelb liegt es auf meiner Haut, die dunkler ist als die von Alexander. »Darüber hatte ich vorher nicht nachgedacht.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, die werden schon auftauen. Na ja, bis auf den alten Roscarrow, aber der ist ein unverbesserlicher Miesepeter. Irgendetwas geht ihm immer gegen den Strich. Zurzeit ist es eben das Cottage. Es wird nicht lang dauern und er findet etwas Neues, über das er meckern kann, und dann hört er auf …« Er verstummt plötzlich.

»Roscarrow«, sage ich nachdenklich. »Den kenne ich, er war auch in dem Maklerbüro. Womit wird er aufhören?«

»Nichts, das ist dummes Zeug, nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssten.«

»Bitte, sagen Sie es mir.«

Seine Wangen röten sich leicht. »Er hat mit einigen Männern aus dem Dorf eine Wette abgeschlossen«, erzählt er schließlich und nestelt an den Krallen des Fasans herum. »Eine Wette, wie lange Sie es hier aushalten werden. Er will alles Mögliche versuchen, um Sie von hier zu vertreiben.«

Für einen Moment bin ich sprachlos. Ich weiß, es sollte mich nicht überraschen, eine solche Reaktion war zu erwarten, und doch … mit Feindseligkeiten zu rechnen und dann tatsächlich mit ihnen konfrontiert zu werden, sind zweierlei Dinge.

»Miss Pike?«, sagt Alexander. »Alles in Ordnung? Tut mir leid. Ich hätte das nicht erwähnen sollen.«

»Alles bestens.« Ich schlucke meinen Ärger herunter. Damit kann ich mich auch später noch auseinandersetzen. Freundschaften zu schließen steht auf einmal ganz oben auf meiner Prioritätenliste. »Und bitte nennen Sie mich nicht Miss Pike.« Ich lächele. »Mein Name ist Jess. Eigentlich Jessamine, aber so nennt mich nur meine Mutter.«

»Jessamine«, wiederholt er. »Was für ein schöner Name.«

Ich merke, dass er mich im Weitergehen von der Seite mustert.

»Sie sind sicher nicht allein hierhergekommen? Ich vermute, mit Ihrem Freund, Ihrem Lebensgefährten …?«

»Nichts dergleichen.« Ich springe über einen quer liegenden Baumstamm. »Ich bin allein hier.«

»Dann haben Sie jemanden in London zurückgelassen?«

Vor uns rennt Maggie hin und her und bellt fallende Blätter an. Ich hebe einen Stock auf, um ihn für sie zu werfen.

»Meine Familie, aber sonst niemanden. Nur jemanden, den ich lieber nicht wiedersehen will.«

»Oh. Wie bedauerlich.«

Maggie lenkt uns ab, sie bringt uns zum Lachen, als sie sich damit abmüht, einen kleinen Baum mitzuzerren. Nach und nach wird der Baumbewuchs spärlicher, der Weg macht einen Bogen und gleich darauf sehen wir grün schimmerndes Wasser vor uns. Ein Fluss oder eine Flussmündung, ich kann nicht genau erkennen, was es ist. In der Mitte der Wasserstraße schaukeln Boote und das Tuckern eines Außenbordmotors bewegt sich auf uns zu. Bäume stehen bis dicht an den Rand des Wassers und beugen sich über das Ufer, als versuchten sie, ihr Spiegelbild zu sehen.

»Lanford«, sagt Alexander und bleibt neben mir stehen. »Sie müssen nur dem Fluss folgen und die Brücke über den Bach nehmen. Das Lamm, so heißt der Pub, ist von da aus gar nicht zu verfehlen.«