Weihnachten auf Schwedisch - Annette Haaland - E-Book

Weihnachten auf Schwedisch E-Book

Annette Haaland

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Beschreibung

Es ist Advent - eigentlich eine besinnliche Zeit der Einkehr, doch im schwedischen Städtchen Enskede rumort es. Pastorin Viveka weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht: Die Hundertjahrfeier des Ortes steht bevor, Vivekas Mann ist notorisch abwesend und lässt sie mit ihren vier Kindern allein, und zu allem Überfluss geschieht auch noch ein Mord. Notgedrungen übernimmt Viveka nicht nur die Beerdigung, sondern auch die Aufklärung der Todesumstände. Zwischen Senioren-Weihnachtsfeier, Luciafest und Plätzchenbacken muss Pastorin Viveka nun herausfinden, welches ihrer Schäfchen der Wolf im Schafspelz ist  ...

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Das Buch

Als Pastorin hat Viveka von Berufs wegen viel zu tun in der Weihnachtszeit, aber dieses Jahr ist es besonders hektisch. Das kleine schwedische Städtchen Enskede bereitet sich nämlich mit viel Engagement auf seine Hundertjahrfeier vor. Zwischen den Mitgliedern des Fest­komitees herrscht allerdings große Uneinigkeit über den Ablauf des Festes. Mit allen Mitteln der Diplomatie versucht Viveka, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und auch sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei hat sie eigentlich schon genug zu tun mit ihrer Arbeit, einer aufmüpfigen Teenager-Tochter und einem Mann, der plötzlich in Kopenhagen arbeiten will und dadurch kaum noch zu Hause ist.

Eines Morgens findet Viveka dann zu allem Überfluss auch noch die Leiche eines wohlhabenden Gemeindemitglieds ganz in der Nähe der Kirche. Hat der Mord womöglich sogar etwas mit den Vorbereitungen der Jubiläumsfeier zu tun?

Die Autorin

Annette Haaland wurde 1965 geboren. Sie unterrichtet Religion, Philosophie und Schwedisch an der Bromma Folghögskola und arbeitet außerdem selbst als Pastorin.

Von Annette Haaland ist in unserem Hause außerdem erschienen:

Pastorin Viveka und das tödliche Kaffeekränzchen

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1600-0

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Oktober 2017

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

© Annette Haaland, 2016

First published by Albert Bonniers Förlag, Stockholm, Sweden

Titel der schwedischen Originalausgabe: Pastor Viveka och hundraårsjubileet

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für meine Mutter, die weiß, dass man an den richtigen Stellen übertreiben muss.

1

»Es gibt da eine alte Redensart: Fahrt zur Hölle!«

Viveka kann nicht fassen, dass sie das zum Gemeindevorstand gesagt hat. Völlig verrückt! Sie hat sich zwar entschuldigt, aber trotzdem. Es scheint, als könnte sie sich nicht zur Wehr setzen, ohne zu übertreiben. Und zwar gewaltig. Deswegen hat sie das Seminar besucht, von dem sie gerade kommt, ein Seminar, in dem man lernt, seine Gefühle ausgewogen und differenziert auszudrücken. Denn es gibt noch etwas zwischen einem freundlich lächelnden Gesicht, obwohl man vor Wut kocht, und unflätigen Beschimpfungen. Letztere gelten als unangemessen, wenn man Pastorin ist. Ersteres ist allerdings auch nicht zu empfehlen, denn sonst wird man so müde und sauer wie Viveka. In den ersten sechsundvierzig Jahren ihres Lebens war sie so gut gelaunt und nett, jedenfalls an der Oberfläche, aber im letzten Jahr ist sie wütend gewesen. Sie hatte die Nase von anderen Menschen so voll, wie das nur möglich ist, wenn man keine Grenzen setzen kann. Wenn man in einer Freikirche arbeitet, ist es gar nicht so einfach, Grenzen zu setzen, vor allem, wenn man die einzige Angestellte ist. Die Erwartungen sind riesig. Man soll Inspiration und Vorbild zugleich sein (eine Art Mischung aus Jesus und Desmond Tutu), Visionen haben und strategisch denken (wie Bill Gates), sich mitfühlend aufopfern (à la Mutter Teresa oder wieder Jesus), man soll Tiefgang haben (Jesus, Platon, Freud), darf gerne witzig sein (nach Art von Bette Middler), soll gut mit Kindern umgehen können (wie Astrid Lindgren) und ein technisches Genie sein (Steve Jobs), damit man den Computer wieder in Gang kriegt, mit der Audioanlage und den Hörschlingen zurechtkommt und die Tonerkassette im Kopierer austauschen kann. Es ist nicht so leicht, Grenzen zu setzen. Aber sie arbeitet daran. Sie will eine gute Pastorin sein. Sie will ein guter Mensch sein. Aber ohne dabei kaputtzugehen. Deshalb besucht sie Seminare und versucht, herauszufinden, was sie selbst will und was ihr guttut. Im Moment ist sie zum Beispiel im Sandsborgsbad. Sie lehnt den Kopf an die Saunawand und entspannt sich. Das Sandsborgsbad ist ihr neuer Rückzugsort, der perfekte Ort für eine Atempause im Monat November und eine echte Seltenheit, nämlich eine gemütliche Sauna. Es ist übersichtlich, hübsch, familiär und außerdem heiß hier. Das Wasser im Schwimmbecken ist bestimmt dreißig Grad warm, also viel wärmer als in anderen Bädern, und die Räumlichkeiten sind auch gut geheizt, so dass sie nicht diese rot-blau gefleckten Beine bekommt. Das einzige Problem ist, dass Viveka, mit oder ohne blau-rote Flecken, eigentlich keine Lust hat, Enskede im Badeanzug gegenüberzutreten. Nach ihrem Gefühl sollten Pastorinnen so nicht herumspazieren. Was, wenn die Leute sich an diesen Anblick erinnern, wenn sie sonntags predigt, und plötzlich vor Augen haben, wie grässlich sie im Badeanzug aussah. Eine ziemlich unschöne Vorstellung. Deshalb kommt sie hierher, wenn sonst möglichst niemand da ist.

Es ist einen Tick zu heiß in der Sauna, aber trotzdem unglaublich schön, vor allem, wenn man weiß, wie stürmisch und regnerisch es draußen ist, und sich die permanente Dämmerung schon in die Seele gefressen hat und einem ständig zuflüstert: »Es hat alles keinen Sinn. Die Menschheit ist ein hoffnungsloser Fall, die Welt geht sowieso unter, und Gott ist das völlig egal.« Aber die Sauna bringt einen auf andere Gedanken. Es gibt Freude. Es gibt Gemeinschaft. Es gibt Engagement. Kurz gesagt: Glaube, Liebe, Hoffnung. Etwas, worauf sie sich freut, ist der neue Kirchenchor. Sie nennen ihn den Jeder-kann-singen-Chor. Es sollen alle mitmachen dürfen, egal, ob sie schon Erfahrung im Singen haben, alle sollen dieses herrliche Gefühl erleben, gemeinsam zu singen. Im Chor zu singen, ist gut für Körper und Seele. Viveka hat gelesen, dass Chorgesang genauso wohltuend ist wie Yoga. Das Singen in der Gruppe hat eine beruhigende Wirkung auf den ganzen Körper, weil es einen Nerv anspricht, der den Hirnstamm mit dem Herzen verbindet. Und während der Blutdruck der Sänger sinkt, werden sie neurologisch synchronisiert. Oder so ähnlich. Es entsteht auf jeden Fall ein mentales Wir-Gefühl. Darauf hätte man auch ohne wissenschaftliche Forschung kommen können, denkt Viveka. Dass gemeinsames Singen ein Wir-Gefühl erzeugt, liegt doch auf der Hand. Viveka hofft, dass Leute in den Chor eintreten, die sonst nicht zur Kirche gehen. Neue Gesichter. Viveka stellt sich einen Chor vor, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen begegnen, egal, wie alt sie sind, welchen Beruf sie haben, welcher Gesellschaftsschicht sie angehören, was für ein Temperament sie haben und worauf sie stehen. Das macht bestimmt Spaß. Und nun muss sie sich ein bisschen sputen, denn sie will den Menschen auf ihrem Heimweg noch Einladungen zum Jeder-kann-singen-Chor in die Briefkästen werfen.

Beim Anziehen fragt sie sich, ob die Chorleiterin weiß, worauf sie sich einlässt. Daphine scheint schließlich gewisse Ambitionen zu haben, in künstlerischer und musikalischer Hinsicht. Viveka hofft, dass Daphine in diesem Punkt nicht enttäuscht wird.

Als sie auf dem Weg zur Tür an der Kasse vorbeikommt, sieht sie Kurt dort stehen. Kurt ist ein Mann im Rentenalter, der sich für einen Vierzigjährigen hält. Sie haben sich einander noch nicht vorgestellt, aber seitdem sie sich in der Sauna einige Male über den Weg gelaufen sind, hat er angefangen zu reden.

»Ach, die Pastorin hat Sport gemacht. Man muss schon was tun, um in Form zu bleiben.« Kurt wirft ihr einen bedeutungsschwangeren Blick zu.

»Ja, nicht wahr?«, erwidert Viveka.

Was geht dich das an? Verärgert hastet sie an ihm vorbei. Wenn Kurt freitags hier ist, wird sie ab jetzt an einem anderen Tag kommen.

Draußen auf dem Platz stürmt es. Es ist fast menschenleer. Bei diesem Wetter bleiben die Leute zu Hause. Nur vor der Würstchenbude sitzt eine einzelne Gestalt. Das hier ist Dalen, das Ghetto von Enskede. So würden es jedenfalls einige nennen. Soziale Probleme. Kinder, die andere Kinder schikanieren. Jugendgangs. Drogen. Die Gemeinde hat schon lange die Absicht, sich hier zu engagieren. Und da nun die Hundertjahrfeier bevorsteht, ist das Thema wieder aktuell. Enskede wird hundert Jahre alt, und die Gemeinde nimmt das zum Anlass, über sich selbst nachzudenken. Was haben wir für unsere Umgebung getan? Können wir über unsere gewohnten Aktivitäten hinaus einen gesellschaftlichen Beitrag leisten? Die Gemeinde würde gern versuchen, Kontakt zu Jugendlichen aufzunehmen, die auf die schiefe Bahn zu geraten drohen.

Auf der Bank vor der Würstchenbude sitzt ein Jugendlicher mit ausländischem Aussehen. Einsam und irgendwie verloren. Traurig sieht er aus. Trotzdem hat er eine erhabene Ausstrahlung, fällt Viveka plötzlich auf. Er hat etwas Würdevolles und zugleich Tragisches an sich.

2

Diego sitzt auf der Bank und zieht seine Jacke fester zu. Er starrt die Kippen und das abgeschabte Rubbellos zu seinen Füßen an. Da geht die Pastorin, denkt er, als ­Viveka an ihm vorübergeht. Er kennt sie. Seine kleine Schwester war eine Weile im Kinderchor, aber dann musste sie aufhören, weil ihre Mutter sich den Beitrag nicht mehr leisten konnte. Man darf trotzdem mitmachen, hatte die Pastorin gesagt. Es sei eher eine Art freiwilliger Beitrag, von dem hin und wieder Noten und so angeschafft würden. Aber seine Mutter wollte nicht. Die Pastorin scheint okay zu sein, hat er gedacht. Mit der könnte man bestimmt reden. Vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht verstehen, denn sie wohnt bei den Snobs. Was weiß sie schon darüber, wie er lebt. Vermutlich nichts. Diego ärgert sich, dass er überhaupt in Erwägung gezogen hat, mit ihr zu reden. Er wird die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Und alles in Ordnung bringen. Irgendwie. Das ist am besten. Wenn man sich auf andere verlässt, wird man nur enttäuscht. Er denkt an Mateo. Auf Freunde könne man zählen, behauptet der. Das Entscheidende sei die bedingungslose Loyalität. Mateo ist erst fünfzehn und Diegos kleiner Bruder. Er sollte lieber zu Hause sein, als mit seinen Freunden herumzuhängen, die im Übrigen viel älter sind als er. Viele in Mateos Gang sind sechzehn, wie Diego, manche noch älter. Diego hat nicht vor, sich irgendeiner Gang anzuschließen. Man ist sowieso immer auf sich gestellt. Aber er muss Geld beschaffen, denn seine Mutter ist wieder weg. Nach Göteborg wollte sie, glaubt er. Das ist bestimmt gut, jedenfalls für sie. Wenn sie dort sein darf, ist sie bestimmt glücklicher. Und es ist wichtig, dass sie glücklich ist. Diego will versuchen, sie glücklich zu machen.

Obwohl ihm kalt ist, bleibt er sitzen und reibt seine Hände aneinander. Er sieht die Pastorin im U-Bahn-Eingang verschwinden und damit in ihre eigene Welt entschwinden, eine Welt, in der kleine Schwestern in den Kinderchor gehen. Die U-Bahn ist die Grenze. Diego überschreitet sie nie. Die Jugendlichen auf seiner Schule würden nie mit denen abhängen, die die Enskede-Schule besuchen. Kein Jugendlicher aus Gamla Enskede würde jemals nach Dalen fahren. Das trauen die sich gar nicht.

3

Auf einem der Balkons des Servicehauses in Dalen sitzt Pippi. Pippi hat man sie mal genannt, weil sie immer sang und immer gute Laune hatte, aber das ist lange her. Ihre Stimme trägt nicht mehr, und die Lust am Singen ist ihr auch vergangen. Sie hat sehr selten Lust, ihren Balkon oder gar ihre Wohnung zu verlassen, und sie hat sehr selten Lust, jemanden zu treffen. Pippi geht es längst nicht so schlecht, wie alle glauben, aber sie will ihre Ruhe haben. Es reicht jetzt mit der Geselligkeit und dem ganzen Getue. Außerdem hat sie gern ein Klo in der Nähe. Wenn sie pinkeln muss, hat sie es eilig. Nicht, dass jemand denkt, sie würde sich in die Hose machen, so ist es nicht, aber sie muss sich beeilen. Wenn sie muss, muss sie.

Von anderen Leuten hat sie zwar die Nase voll, aber sie weiß gern, was so los ist. Deshalb sitzt sie auf dem Balkon. Hier hat sie ihren Korbstuhl und ihren kleinen Tisch mit den Büchern und, jedenfalls meistens, einem Gläschen Sherry. Ein Balkon zum Platz hin war übrigens ihre einzige Bedingung, als sie in die betreute Wohnung im Servicehaus ziehen sollte. Hier sitzt sie jeden Tag, sommers wie winters. Man muss sich nur richtig anziehen. Als Erstes ein Unterhemd. Dann das Korsett. Darüber ein Unterkleid, ein Kleid, eine Strickjacke, eine Extrastrickjacke, einen Fleecepullover und über das Ganze den Lammfellmantel. Plus Mütze, Schal und die gestrickten Fäustlinge aus Lovvika. Dann geht es.

Sie ahnt, dass die Mitarbeiter damit rechnen, sie ­eines Tages erfroren hier aufzufinden, aber so einfach wird sie es ihnen nicht machen.

Pippi überwacht alles, was in Dalen vor sich geht. Sie hat jeden Marktstand auf dem Platz im Blick. Jetzt im Herbst stehen da natürlich keine. Sie sieht jeden, der in den Ica-Supermarkt, ins Fitness-Studio, in Freddys Friseursalon, in die Sauna, in die Bibliothek oder zur U-­Bahn geht. Sie sieht, wer wann unterwegs ist, und wer zu einer unpassenden Zeit oder in unpassender Begleitung unterwegs ist. Es ist interessant und lehrreich, das Leben von einem Balkon aus zu betrachten.

4

Viveka geht noch schnell in die Kirche, um die Ein­ladungen zu holen. Es ist niemand hier, außer Povel. Povel hat irgendetwas, vermutlich Asperger. Menschen mit Aspergersyndrom sind oft sehr intelligent, haben aber begrenzte und recht spezielle Interessen, hat Viveka gelesen. Auf Povel triff das zu. Er interessiert sich für die Bibel, Kreuzworträtsel und Computer. Die ­Bibel kennt er fast auswendig, und er kann sowohl Hebräisch als auch Griechisch. Außerdem gewinnt er ständig Kreuzworträtsel-Preisausschreiben. Povel ist unglaublich schlau, aber da er Schwierigkeiten hat, sich in Menschen hineinzuversetzen, und diese wiederum Schwierigkeiten haben, sich in ihn hineinzuversetzen, ist es schon des Öfteren zu Missverständnissen gekommen, wenn er irgendwo mitgemischt hat. Trotzdem fühlt er sich in der Kirche wohl und kommt mehrmals in der Woche. Meistens sitzt er in einer winzigen Kammer am Computer. Inzwischen ist das Povels Zimmer. Zum Teil kümmert er sich dort um die Buchhaltung der Gemeinde, zum Teil betreibt er eigene Projekte.

Im Moment scheint Povel in seinem Kabuff schwer beschäftigt zu sein.

»Povel, weißt du, wie spät es ist?«, ruft Viveka.

Die Uhren in der Kirche gehen nie gleich.

»Ja, das weiß ich.«

Stille.

Povel hat die Tendenz, exakt die Frage zu beantworten, die man gestellt hat. Viveka schaut bei ihm herein.

»Wie spät ist es?«

»Zehn nach vier.«

»Was machst du hier eigentlich, Povel?«

Der Bildschirm ist voller Schnörkel, die sich bei näherer Betrachtung als hebräische Buchstaben erweisen.

»Ich habe ein Programm entwickelt.«

»Wow. Das sieht aus wie Hebräisch.«

»Das ist Hebräisch.«

»Hm. Na ja, dann wünsche ich dir ein schönes Wochenende, Povel.«

»Schönes Wochenende, Viveka.«

Viveka sucht im Büro nach ihren Einladungen. Bei der Gelegenheit räumt sie auch ein bisschen auf. Viveka mag ihr Büro, in dem sie auch Gespräche führt. Der Raum soll einladend sein, wie eine freundliche Umarmung, ein Ort, an dem man sich eine Weile ausruhen kann. Und wo einem jemand zuhört, falls man das braucht. Sie hat Bilder mit verschiedenen Sinnsprüchen aufgehängt, zum Beispiel »Vergiss nicht, dass du wertvoll bist« und »Gott findet zu jedem Herz einen eigenen Weg«. Neulich hat sie einen neuen Zettel aufgehängt. Er ist zwar weder besonders aufmunternd noch weise, aber Viveka gefällt er.

Das Untenstehende ist wahr.

Das Obenstehende ist falsch.

Bislang haben sie alle, die das gelesen haben, komisch angeguckt. Wahrscheinlich dachten sie, die beiden Sätze passen nicht zusammen. Manchmal passen Dinge beim besten Willen nicht zusammen. Allerdings macht es natürlich nicht glücklich, darüber nachzudenken. Vielleicht sollte sie den Zettel wieder abnehmen.

Schließlich entdeckt sie ihre Einladungen unter einem Wust aus kaputten Verlängerungskabeln, die irgendjemand in ihrem Bücherregal abgelegt hat. Jetzt muss sie wirklich los und die Einladungen verteilen.

»Schönes Wochenende, Povel«, ruft sie zum Abschied.

»Das hast du schon gesagt«, ruft Povel zurück.

Sie hängt eine Einladung zum Jeder-kann-singen-Chor an die Eingangstür, damit es auch alle mitbekommen.

Povel kommt aus seiner Kammer.

»Ist nicht schlimm, Viveka, dass du es zweimal gesagt hast.«

Mit ernstem Gesicht, zerzaustem Haar und dem Hemd aus der Hose steht er vor ihr, ein eigentlich ziemlich junger Mann, der wie ein alter Mann wirkt. Spontan hat sie Lust, Povel in den Arm zu nehmen oder ihm über die Wange zu streichen, ist sich aber nicht sicher, ob ihm das gefallen würde.

»Gut, Povel. Bis bald.«

»Ja, bis bald.«

Vor der Kirche bleibt Viveka stehen und betrachtet ihren Arbeitsplatz. Das Dach ist neu gedeckt und nicht mehr undicht, wie im vergangenen Sommer. Mit ihren weiß verputzten Mauern, den großen gewölbten Sprossenfenstern, den blauen Pfeilern vor dem Eingang und einem hübschen kleinen Turm sieht sie sogar richtig niedlich aus. Hinten hat sie einen Anbau, in dem sich eine Wohnung befindet. Da sind neulich Birgit und Grace eingezogen. Birgit, genannt Biggy, und Grace, beide Krankenschwestern um die siebzig, sind aus Südamerika zurückgekehrt, wo sie in einer Dschungelklinik gearbeitet haben. Kakerlaken, Schlangen, Parasiten, vom Regen weggespülte Straßen, Kanufahrten und tropische Hitze sind Alltag für diese beiden Damen, die sich am ehesten als Naturgewalten beschreiben lassen. Nichts scheint für sie unmöglich zu sein, nichts scheint Biggy und Grace aufhalten zu können. Sie in der Gemeinde zu haben, wird spannend, denkt Viveka.

Sie verteilt die Einladungen. Zuerst steckt sie die Zettel nur in die Briefkästen von Leuten, die möglicherweise Interesse haben. Dann steckt sie in jeden Briefkasten einen rein, denn man weiß nie, wer noch Lust hat, beim Jeder-kann-singen-Chor mitzumachen. Dabei kommt sie am Haus von Viola Skott vorbei. Sie wirft einen verstohlenen Blick ins Fenster. Alle haben gedacht, die alte Viola wäre tot und das Haus an eine Familie mit Kindern verkauft. Aber Viola war gar nicht tot, und das Haus hat sie zurückgekauft. Es ist ein wundervolles Haus, eins der schönsten in Enskede, wo es eine ganze Menge schöne, alte Häuser gibt. Häuser zum Liebhaben, denkt Viveka sehnsüchtig. Mit ihren Holzfassaden, den alten Fenstern und Verandas und den verwunschenen Gärten sind sie unwiderstehlich. Jedes Haus stellt eine herrliche Welt für sich dar und ist von einem Labyrinth aus verwinkelten Straßen umgeben, zwischen denen versteckte, kleine Parks auftauchen, wenn man am wenigsten damit rechnet. All das macht Gamla Enskede so besonders. Und bald wird das gefeiert, bei der Hundertjahrfeier, an deren Planung ganz Enskede beteiligt ist. Ein pompöses Fest soll es werden, mit Musik und Reden, Marktständen und Essen. Über die Details sind sich die Bewohner zwar noch nicht ganz einig, aber das kommt schon noch. Die meisten wünschen sich das Jubiläum auf dem traditionellen Weihnachtsmarkt in Enskede. Dann wird alles geschmückt, und zwischen U-Bahnhof und Schule stehen unzählige Stände mit Gebäck, Süßigkeiten, Silberschmuck, allem möglichen Kunsthandwerk, Deko, Salami und Schinken, Weihnachtskerzen, hausgemachter Marmelade, Kunst, heißen Würstchen, lustigen Mützen, Lammfellprodukten und diversen anderen Dingen in einem herrlichen Durcheinander. Die Bäckerei, das Gemeindehaus der Schwedischen Kirche, der Uhrmacher, das Möbelgeschäft und die Buchhandlung sind natürlich geöffnet, und in Vivekas Kirche gibt es Kaffee und Kuchen. Dafür backt die ganze Gemeinde, nicht zuletzt die Tanten. Es gibt Zimtgebäck in den verschiedensten Formen, Kringel und Schnecken, Zöpfe, gedeckte Varianten und Mandelkuchen. Muffins und Rosinenwecken. Haselnussmakronen, mit Marmelade gefüllte Doppeldecker, finnische Zuckerplätzchen, Lebkuchen-Hufeisen und Butterkekse. Und natürlich Violas Ochsenaugen nach einem Rezept von, Gott hab ihn selig (zumindest hofft man das), Thorwald Skott, dem großen Baumeister Enskedes.

Nichts wäre passender als eine Hundertjahrfeier beim Weihnachtsmarkt, da sind sich alle einig. Fast alle. Ehepaar Anker, Jeanette und Sylvester Anker aus der Grünen Villa, ist natürlich anderer Meinung. Aber im Moment hat Viveka keine Lust, an die beiden zu denken.

Violas weißes Haus ruht wie eine vornehme und kühle Schönheit hinter dem schmiedeeisernen Tor. Wahrscheinlich kann sich nur die Grüne Villa mit seiner Pracht messen. Violas Haus erinnert Viveka an das totale Chaos in ihrer Gemeinde, als mehrere Gemeindemitglieder ermordet wurden. Oder als man das zumindest dachte. In Wirklichkeit war nicht Viola ermordet worden, sondern ihre Zwillingsschwester, und der alte Henry, den Viveka so gemocht hatte, war an einem Herzinfarkt gestorben, wie sich herausstellte. Aber in diesem Haus ist Violas Schwester gefunden worden. Nachdem die Käufer das erfahren hatten, wollten sie es nicht mehr haben. Doch das ist nicht der Grund, weshalb Viveka verstohlene Blicke durchs Fenster wirft. Sie hat gehört, dass Abbe wieder da ist und jetzt bei Viola wohnt. Das gehört auch zu den Ereignissen, die im Zusammenhang mit dem Mord passiert sind. Abbe, dem die Buchhandlung in Gamla Enskede gehört, und der ein guter Freund von Viveka war, hat sich fast zugrunde gesoffen und wollte sich bei Ica in Svedmyra das Leben nehmen. Bei der Gelegenheit erfuhr er, dass Viola seine Mutter ist, die Mutter, nach der er sein fünfundvierzigjähriges Leben lang gesucht hat. Danach war er in einer Entzugsklinik. Aber jetzt ist er wohl zu Hause. Das hat sie gehört, gesprochen hat sie nicht mit ihm. Sehen kann sie ihn auch nicht, obwohl sie diskret hineinschaut. Eigentlich sollte sie klingeln und willkommen daheim oder so was sagen, aber sie tut es nicht. Ihr Verhältnis zu Abbe war nicht ganz unkompliziert und vielleicht auch ein wenig unangemessen. Sie wirft noch einen Blick auf das Haus und glaubt, hinter den schweren Vorhängen jemanden vorbeihuschen zu sehen. Dann wendet sie sich wieder dem Novembergrau und der menschenleeren, nassen Straße zu und wandert mit ihren Einladungen weiter.

5

In der Grünen Villa herrscht ungemütliche Stimmung. Sylvester und Jeanette Anker sind empört und verärgert, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Beide sind unheimlich enttäuscht von den jüngsten Entwicklungen bei den Vorbereitungen der Hundertjahrfeier. Sie können nicht nachvollziehen, warum die Bewohner ihren Vorschlag, das Jubiläum vollständig zu sponsern, nicht annehmen wollten. Beim letzten Planungstreffen sagten die Ladenbesitzer, sie wollten einen normalen Weihnachtsmarkt veranstalten, mit zusätzlichen Festivitäten zwar, aber auch mit ganz normalem Verkauf. Mehr Umsatz machen sie im ganzen Jahr nicht, behaupten sie, so viel Kundschaft kommt an keinem anderen Wochenende. Die Kirche hat sich ebenfalls quergestellt, weil so viele Leute das Weihnachtscafé besuchen. Damit verdient die Kirche Tausende, und dieses Geld wird für die Gemeindearbeit dringend benötigt. Nun, dafür hat man vielleicht Verständnis, aber haben Sylvester und Jeanette nicht auch einen ganzen Batzen gespendet? Daran sollte die Kirche auch denken.

Sylvester macht sich eigentlich nicht so viele Gedanken über Geld, aber Jeanette. Sylvester möchte Gutes tun, sich da, wo er lebt, gesellschaftlich engagieren, er will andere Menschen glücklich machen und von seinem Vermögen etwas abgeben. Jeanette hingegen will Geld verdienen. Die Finanzierung des Weihnachtsmarkts ist im Vergleich zum Imagegewinn für ihre Consultingfirma eine geringe Ausgabe, die sich auf die Dauer bezahlt machen wird.

Sylvester ist mit der Zeit immer klarer geworden, worum es Jeanette geht. Ums Geldverdienen. Vielleicht hat sie ihn deshalb auf ihre etwas älteren Tage noch geheiratet.

Jeanette hat über Sylvesters Menschenfreundlichkeit ihre eigenen Ansichten. Insgeheim denkt sie, dass das, was Sylvester als Güte bezeichnet, mit wahrer Güte nichts zu tun hat. Wie übrigens den meisten Menschen, sind Sylvester seine eigenen Beweggründe nur nicht bewusst. Das zumindest hat Jeanette im Laufe ihres sechzigjährigen Lebens begriffen. Sylvesters Motiv ist eher, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er scheint irgendeine unsichtbare Schuld abzubezahlen, die er mit sich herumträgt. Er selbst versteht das jedoch nicht, und es nützt auch nichts, es ihm zu sagen, denkt Jeanette, während sie rastlos durch die Grüne Villa wandert.

Seit fünf Jahren ist sie hier zu Hause. Ihr Schwiegervater hatte eine Schwäche für Malerei der National­romantik. In den meisten Räumen hängen dramatische Landschaften an den Wänden, meist Flussläufe, Himmel und Meere in Aufruhr. Sylvester ist nicht bereit, auch nur ein einziges Bild in den Keller zu bringen. »Kultur ist wichtig«, sagt er immer. In Wirklichkeit wehrt er sich generell dagegen, Änderungen im Haus vorzunehmen. Alles soll so bleiben, wie es seinem Vater gefiel. Sylvesters Mutter war im Übrigen auch enorm an Kultur interessiert, was sie jeden wissen ließ, indem sie dauernd irgendwelche obskuren Schriftsteller zitierte. Aber Bücher sind wenigstens dezent, was man von den Gemälden ihres Schwiegervaters nicht behaupten kann. Besonders viel scheint er für den Mond übriggehabt zu haben. In Gedanken versunkene Menschen vor mondbeschienenen Seen waren eindeutig sein Lieblingsmotiv. Getaucht in ein seltsames und gespenstisches Mondlicht, gefielen ihm offenbar alle Landschaften. Jeanette läuft ein kalter Schauer über den Rücken, während sie die Bilder studiert, die sie am ehesten als düster bezeichnen würde. Aber teuer sind sie, jedenfalls einige von ihnen. Darüber wiederum ist Jeanette erfreut, das gibt sie gerne zu. Jeanette bevorzugt Ehrlichkeit. Lieber ehrlich und gierig als großzügig und verlogen, denkt sie, während sie eine Kopie von William Turners »Fisherman at Sea« geraderückt.

6

Zehn Minuten später spaziert Viveka an der Grünen Villa vorbei. Sie wirft Ehepaar Anker einen Zettel in den Briefkasten. Wer weiß, vielleicht haben sie Lust, im Chor zu singen. Sie erinnert sich zumindest vage, dass die beiden der Gemeinde mal Geld gespendet haben. Und Sylvester ist sogar Mitglied, auch wenn er nie zum Gottesdienst kommt.

Die Grüne Villa ist ein besonderes Haus. In all seiner grün-weißen Pracht thront es mit seinem Kupferdach, den Holzverzierungen, Balkons, dem Wintergarten und dem Turm, in dem sich die Wendeltreppe befindet, auf dem höchsten Punkt von Enskede. Das Haus sieht aus, als hätte es ein reicher Unternehmer Ende des neunzehnten Jahrhunderts für die Sommerfrische erbauen lassen. Die überstehenden Dächer und die Schnitzereien nennt man hierzulande Schweizerstil. Ein schönes Haus, aber auch unheimlich. Jedenfalls in Vivekas Augen. Vielleicht liegt es an der Lage. Häuser, die man von unten betrachtet, weil sie auf einem Berg stehen und noch dazu so groß sind und einen gemauerten Sockel haben, wirken gespenstisch, findet Viveka. Außerdem sagt man, das Haus bringe Unglück. Sylvester Ankers Vater zum Beispiel ist unter sehr unglücklichen Umständen gestorben. Angeblich hat er sich erschossen.

Nein, nun sollte sie aber nach Hause gehen und schauen, ob es Tacos gibt. Tacos am Freitag sind in Vivekas Familie heilig. Persönlich hat sie von Tacos die Nase voll, aber es lohnt sich nicht, darüber zu reden, denn sie hat die ganze Familie gegen sich. Pål, Feli, Cajsa, Olle und Otto, alle lieben sie Tacos, vom Ältesten (Pål) bis zum Jüngsten (Olle, der zu seinem großen Verdruss sieben Minuten nach Otto auf die Welt gekommen ist). Neulich hat sie in der Zeitung gelesen, dass in Schweden und Norwegen die meisten Tacos in ganz Europa gegessen werden. In Schweden und Norwegen gehören Tacos zu einem gemütlichen Freitagabend einfach dazu, stand in dem Artikel. Das stimmt garantiert, denkt Viveka. Zumindest auf meine Familie trifft es zu. Wir essen ganz bestimmt die meisten Tacos in Europa. Am Anfang fanden Tacos laut dem Artikel hier gar keinen Anklang. Der Verkauf von Tex­mexprodukten lief in Schweden nur schleppend an. Beinahe wären sie vom Markt genommen worden. Das Blatt wendete sich allmählich, nachdem Vertretern der Lebensmittelbranche auf einem Segeltörn Tacos serviert worden waren, und da waren natürlich alle entzückt. Hallo?! Wenn man den ganzen Tag gesegelt ist, schmeckt alles, das weiß doch jeder. Wenn Viveka die Möglichkeit gehabt hätte, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, wäre es nie zu dieser Segeltour gekommen.

7

Abbe hat seine 1,91 m lange Gestalt in einem alten, hellblauen Samtsessel vor dem großen Kachelofen mit dem Blumenmuster in Violas Salon platziert. Auf den kleinen Tisch neben ihm hat ihm Viola eine dampfende Tasse Tee gestellt. Er hat jetzt eine Mutter, eine richtige Mutter. Es braucht Zeit, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, und es braucht Zeit, sich an das große Haus zu gewöhnen, wenn man vorher in einer Kammer hinter der Buchhandlung gewohnt hat. Er ist verwirrt. In der Entzugsklinik kam es nur auf bestimmte Dinge an. Das Leben war eingeschränkt. Es ging darum, von der Sucht loszukommen, sich selbst einzuschätzen und mutige Entscheidungen zu fällen. Das war nicht leicht, wirklich nicht, aber es war greifbar. Es war offensichtlich, worauf es ankam. Und jetzt? Was wird jetzt passieren? Wie wird sein neues Leben, sein Leben-nach-dem-Entzug aussehen? Wird er hier wohnen, bei Viola?

Er sieht sich in dem vollgepfropften, aber wohnlichen Zimmer um. Der Kachelofen, die gemütlichen Sessel, die schönen Fenster, eingerahmt von schweren Vorhängen, hinter denen die Dunkelheit verschwindet, den großen Kerzenständer und das sanfte Licht der vielen kleinen Lampen, all das zusammen erzeugt ein Gefühl, zu Hause zu sein, das Abbe so noch nie erlebt hat. Aber passt er wirklich hierher? Er hat den Eindruck, er müsste mal zum Friseur, um hier reinzupassen, die Haare sollte er sich schneiden lassen, und dann bräuchte er ein paar Hemden statt seiner T-Shirts. Abbe möchte zu Viola passen. Nachdem er seine Mutter endlich gefunden hat, möchte er auch ein Sohn sein.

Abbe setzt sich auf dem Samtsessel anders hin. Er denkt über sein bisheriges Leben nach. Er denkt dar­über nach, wie egoistisch er gelebt hat. An und für sich hat er zwar versucht, Idealist zu sein, aber im Grunde hat er wahrscheinlich meistens an sich gedacht. An ihn hat ja auch sonst niemand gedacht. Alle denken nur an sich. Nur ich denke an mich. Das sagen die Leute oft und meinen es ironisch, aber es ist etwas Wahres dran. Wenn niemand sonst an einen denkt, spürt man eine innere Leere, ein Vakuum, das so viel Energie aufsaugt, dass für andere nichts übrigbleibt. Jedenfalls nicht wirklich. Er hat andere in Schwierigkeiten gebracht. Zum Beispiel Viveka, jedenfalls glaubt er, sie gleich auf mehreren Ebenen in Schwierigkeiten gebracht zu haben. Deswegen hält er es auch für klüger, sich zu verkriechen, oder vielleicht nicht gerade verkriechen, aber es ist zumindest einfacher, sie jetzt nicht zu besuchen. Auf der anderen Seite gibt es viele Themen, über die er gern mit ihr sprechen würde. Früher hat Abbe sich als Atheisten bezeichnet, aber in der Klinik ist etwas passiert, womit er nie gerechnet hätte.

Vorhin hat er Viveka auf der Straße gesehen. Einen Augenblick lang hat er gedacht, sie würde reinkommen, aber sie hat nur etwas in den Briefkasten gesteckt. Sie hat sich nicht verändert. Dieselben langen, offenen Haare, dieselbe gerade Haltung, derselbe ernste Gesichtsausdruck, als würde sie immer über den Sinn des Lebens nachdenken. Letzteres kann er zwar eigentlich nicht sehen, aber er stellt sie sich gerne so vor. Er denkt sowieso gerne an Viveka. Wie gesagt, er ist verwirrt. Er will nicht nur an sich denken. Doch wo verläuft die Grenze? Abbe schließt die Augen und betet. Das Gebet hat er in der Klinik gelernt:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

8

Als sie fast zu Hause ist, trifft sie auf Flaschen-Frasse und seinen Zwergschnauzer, die Dicke Berta. Flaschen-Frasse wird Flaschen-Frasse genannt, weil er Flaschen sammelt, und das tut er, damit er sich Berta leisten kann. Die arme Berta war fast ihr ganzes Leben lang auf Diät, bis sich herausstellte, dass sie keinen zu dicken Bauch, sondern zu kurze Beine hat. Die Beine sind nicht richtig ausgewachsen. Seit Frasse das weiß, muss Berta nicht mehr Diät halten.

»Guten Abend, Pastorin«, sagt Frasse.

»Hallo, Frasse. Wie geht’s?«

»Danke, wir kommen zurecht.«

»Ich finde, Bertas Bauch sieht gut aus.«

»Nicht wahr? Der Bauch ist kleiner, seit sie nicht mehr auf Diät ist. Komisch.«

»In der Tat.«

Das sollte man wirklich glatt mal ausprobieren, denkt Viveka.

»Frau Pastorin, Sie lesen doch so viel und kennen sich mit allem Möglichen aus, haben Sie schon mal von den Tierrechten gehört?«

»Keine Ahnung, ist das nicht eine Organisation?«

»Ja, und sie sagen, dass Tiere auch Rechte haben. Und Gefühle. Haben Sie schon mal von dem Orang-Utan-Weibchen Laura gehört?«

»Äh, nein.«

»Sie war zwanzig Jahre in einem Zoo in Buenos Aires eingesperrt, aber nun hat ein Gericht beschlossen, dass sie eine Person ist, kein Mensch natürlich, aber eine nicht-menschliche Person, ein Wesen mit Gefühlen. Schauen Sie mal.«

Flaschen-Frasse zieht einen zerknitterten Zeitungsartikel aus der Hosentasche. Orang-Utan Laura schaut in die Kamera und sieht sehr klug aus.

»Sie ist schüchtern. Sie versucht, sich unter einer Wolldecke vor den Blicken der Menschen zu verstecken.«

Tatsächlich hat Laura auf dem Bild eine geblümte Decke auf dem Kopf.

»Das deutet auf Gefühle hin, verstehen Sie? Man hat entschieden, dass sie ein Recht auf Freiheit hat, und deshalb soll sie jetzt in ein Naturreservat gebracht werden.«

»Sie sieht hübsch aus, Frasse. Hoffentlich klappt das mit dem Naturreservat.«

»Ja, das hoffe ich auch. Schönes Wochenende übrigens.«

»Schönes Wochenende.«

Und dann ist Freitagabend in Enskede. Freitag, der Dreizehnte. Viveka sitzt mit ihrem Mann Pål und Feli, Cajsa, Olle und Otto in der Küche und isst Tacos. Innerlich seufzend denkt sie an den Segeltörn, der ihr Schicksal besiegelt hat. Dann erzählt Pål, dass er den Winter über vermutlich nach Kopenhagen pendeln wird.

Vor dem geblümten Kachelofen sitzt jetzt Viola. Viola und Abbe, Mutter und Sohn. Sie haben einiges nachzuholen. Es gibt so viele Fragen, die Abbe Viola gern stellen würde, die man aber vielleicht nicht stellen darf. Eine dreiundachtzigjährige Dame kann man nicht einfach alles fragen, vor allem nicht, wenn sie so zerbrechlich aussieht, als könnte ein Windhauch sie umpusten. Abbe sieht seine Mutter an. Sie strahlt Stärke und Zartheit zugleich aus, und dieser blaue Blick wirkt ebenso verwundbar wie unerbittlich.

Diego raucht im Gebüsch auf dem Sandsborgsfriedhof einen Joint. Bald wird er nach Hause gehen und nachschauen, ob Mateo und ihre kleine Schwester auch da sind. Er will versuchen, Abendessen zu machen. Es soll Stinas Hähnchen geben, das braucht er nur in den Ofen zu schieben. Er glaubt, dass sie noch eins im Eisfach haben. Er fragt sich, wie es seiner Mutter geht, und hofft, dass sie die Miete bezahlt hat, bevor sie abgehauen ist.

In seiner Kammer in der Kirche sitzt Povel vor seinem besten Freund, dem Computer, und arbeitet an seinem Programm. Seitenweise hebräische Buchstaben. Die gesamte Thora, die fünf Bücher Mose, stehen da jetzt, 304805 Zeichen direkt hintereinander, ohne Leerzeichen.

In der Grünen Villa ist Sylvester überzeugt, dass Jeanette ihn wegen des Geldes geheiratet hat. Er bereut es, keinen Ehevertrag geschlossen zu haben. Seine Mutter hatte ihm dazu geraten. »Heirate nicht, Sylvester«, hat sie auch immer gesagt. Aber er hat es getan. Außerdem ist in letzter Zeit noch etwas passiert, das seiner Mutter gar nicht gefallen hätte.

Kurt freut sich, weil die Pastorin so nett und fröhlich war, als er sie im Schwimmbad getroffen hat. Man merkt, dass die Pastorin ihn witzig findet. Hübsch findet sie ihn vermutlich auch.

Draußen auf dem Balkon ihrer Wohnung im Servicehaus sitzt Pippi. Sie sieht alles. Und in einem Moment der Verwirrung könnte man fast auf die Idee kommen, sie würde alles lenken.

Im Fernsehen liest jemand Gedichte von Tomas Tranströmer.

Man tut, was man tun muss, sagen die Leute manchmal.

Und so ist es. Für die Menschen in Enskede. In Stockholm. Und auf der ganzen Welt.

Und in allen öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.

Enskede 1915

Er ist froh, dass sein Vater auf dem Schlachthof Arbeit gefunden hat, er freut sich auf die neue Wohnung und die neue Schule. Im Stadtzentrum haben sie in einer der Mietskasernen an der Skånegata gewohnt, es war eng, alle in einem Raum, aber nun bekommen sie mehr Platz, zwei Zimmer und Küche, und viel mehr Platz in der Umgebung des Hauses. Frische Luft anstelle des Miefs in der Skånegata. Außerdem ist die neue Wohnung sehr viel schöner. In der Küche steht eine Brennholzkiste mit aufklappbarem Deckel, sie hat ­Eisenscharniere. Es gibt fließendes Wasser und einen Aus­guss, so dass seine Mutter das schmutzige Abwaschwasser nicht mehr rausbringen muss. Am gusseisernen Ofen ist ein Wasserbehälter. Man braucht nur an einem Hahn zu drehen, und schon hat man heißes Wasser. Und es gibt einen Raum mit einem Klosett! Nur für ihre Familie. Das Klosett ist eine seltsame Sache. Das Holz ist ganz blank und abgenutzt, sowohl am Deckel als auch da, wo man draufsitzt. Er hat übrigens von Wasserklosetts gehört, da kann man alles mit Wasser wegspülen. Aber die sind verboten. Man will ja nicht, dass es irgendwann kein Wasser mehr gibt.