Weil du lügst - Sophie McKenzie - E-Book

Weil du lügst E-Book

Sophie McKenzie

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Beschreibung

Emily und Jed sind glücklich verlobt und verbringen ihren Urlaub mit Jeds Kindern Lish und Dee Dee auf Korsika. Als Dee Dee eines Abends über Kopfschmerzen klagt, gibt Emily ihr eine Schmerztablette. Am nächsten Morgen ist Dee Dee tot. Vergiftet. Kurz darauf erhält Emily eine SMS: Das Gift war für sie bestimmt. Ein mörderisches Spiel um Lüge und Verrat beginnt ...

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ZUM BUCH

Emily und Jed sind glücklich verlobt und verbringen ihren Urlaub mit Jeds Kindern Lish und Dee Dee auf Korsika. Als Dee Dee eines Abends über Kopfschmerzen klagt, gibt Emily ihr eine Schmerztablette. Am nächsten Morgen ist Dee Dee tot. Vergiftet. Kurz darauf erhält Emily eine SMS: Das Gift war für sie bestimmt. Ein mörderisches Spiel um Lüge und Verrat beginnt.

ZUR AUTORIN

Sophie McKenzie hat bereits mehr als fünfzehn Romane geschrieben, darunter die preisgekrönten Teenage-Thriller Girl, Missing, Sister, Missing und Missing Me. Sie erhielt zahlreiche Preise und stand zwei mal auf der Longlist für die Carnegie Medal. Sophie McKenzie lebt in London.

LIEFERBARE TITEL

Seit du tot bist

Du musst mir vertrauen

Sophie McKenzie

Weil

du

lügst

Aus dem Englischen

von Ursula Pesch und Friedrich Pflüger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 05/2016

Copyright © 2015 by Sophie McKenzie

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Werner Wahls

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

Alle Rechte vorbehalten

eISBN: 978-3-641-18228-1V001

www.heyne.de

Für Eoin

TEIL EINS

November 1992

Rose Campbell ging einen Schritt auf die Türe zu. Wieder knarrte auf der anderen Seite der Boden: die lose Diele gleich neben Mums Frisiertisch. Stöberte dort jemand in ihrem Schmuck? Wahrscheinlich war sie es selbst, war früher von der Arbeit zurück, genau wie Rose. Wenn es aber Mum war, warum hatte sie dann nicht geantwortet, als Rose gerufen hatte? Und warum hatte sie dann überhaupt die Tür geschlossen? Mum machte sonst nie irgendwelche Türen zu.

Rose wollte gerade nach der Klinke greifen, als es wieder knarrte. Sie war müde. Zu müde, um klar zu denken. Sie war mit fürchterlichen Kopfschmerzen nach Hause gekommen, weil ein Gast unverschämt geworden war. Rose hasste das Bedienen. Und sie hasste, dass es so lange dauerte, bis sie das Geld für die Reise zusammenhatte, die sie sich im Frühjahr gönnen wollte. Sabbatjahr nannte man so was. Na ja, ein halbes, aber immerhin! Um etwas von der Welt zu sehen, bevor es dann im Herbst an die Uni ging. Das Einzige, was sie bis jetzt gesehen hatte, war das schmuddelige Hinterzimmer vom The Bath Bun.

»Mum?« Der Ruf kam ihr viel zu zart heraus. Kaum ein leises Krächzen. Die Dielen knarrten jetzt nicht mehr, aber es polterte, als würde jemand die ganze Kommode gegen die Wand stoßen. Ein Einbrecher würde doch niemals so einen Krach machen, oder?

Rose kramte in der Handtasche nach ihrem Telefon. Na ja, nicht ihrem eigenen … das topmoderne Handy gehörte ihrem Chef. Er war für ein paar Tage im Ausland und hatte es ihr geliehen, falls im Bath Bun Not am Mann war. Ihre Eltern begriffen gar nicht, was für ein tolles Teil das war – besonders Mum hatte überhaupt keinen Sinn für Technik und wollte nicht einmal den CD-Player anrühren –, aber Martin fand das Handy einfach klasse. In ein paar Jahren, meinte er, würde jeder so eines haben. Das fand Rose dann doch ziemlich weit hergeholt, aber da sie das Ding nun schon einmal bei sich hatte, konnte sie, falls es wirklich ein Einbrecher war, gleich die Polizei anrufen, ohne zum Telefon hinunterzumüssen.

»Mum?«, flüsterte Rose noch einmal. Noch immer kam keine Antwort aus dem Zimmer. Sie hob die Hand, um anzuklopfen, und ließ sie wieder sinken. Wenn wirklich ein Einbrecher dort drin war, dann durfte sie ihn nicht auch noch auf sich aufmerksam machen. Lieber nur einen Spalt weit aufschieben und hineinspähen, dann kehrtmachen und davonlaufen. Die Polizei konnte sie ja auch von draußen anrufen. Sie legte die Hand auf die Klinke. Schob die Tür auf.

Sie brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, was sie sah. Eine Frau – die sie nicht kannte – mit feuerroter Haarmähne stand über den Frisiertisch gebeugt, Mutters Frisiertisch. Sie stand seitlich vor Rose, der Rock hochgeschoben. Ihre Finger krallten sich an der Tischplatte fest, der geschminkte Mund im Profil vor Ekstase geöffnet. Hinter ihr stand Roses Vater, die Hosen bis zu den Füßen heruntergelassen. Mit der Hand drückte er der Frau leicht auf den Nacken. Er beobachtete sich im Spiegel.

Die Frau drehte den Kopf und bemerkte Rose. Sie erstarrte, und ihr triumphierender Blick wandelte sich in Entsetzen. Lautlos fielen Halsketten und Ringe auf den Teppich, während Roses Vater nun genau wie die Frau zur Tür blickte.

Aber Rose war längst geflohen.

Dass Iain sie wieder einmal betrog, hatte Sarah schon vermutet, bevor sie das lange, rote Haar auf ihrem Frisiertisch fand. Es war wie immer: er blieb länger im Büro, interessierte sich plötzlich für Sarahs Schichteinteilung im Krankenhaus und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Das Haar jedoch war etwas Greifbares, für das Iain wohl kaum eine plausible Ausrede einfallen würde – und das auch noch in ihrem eigenen Schlafzimmer. Nach all seinen Versprechen war das kaum zu ertragen. Sie würde ihn zur Rede stellen, und zwar sofort.

»Rose?« Sarah rief ihre ältere Tochter, die oben in ihrem Zimmer Popmusik hörte. Aber was für Musik, dachte sich Sarah – immer diese zuckersüßen Boygroups, bei denen keiner auch nur halbwegs ein Instrument beherrschte. Anfang der Siebzigerjahre, als Sarah achtzehn gewesen war, da hatten sich Teenager noch für richtige Musiker begeistert, wie Jimi Hendrix oder Joan Baez.

»Was ist?«

Sarah seufzte. Rose hatte ihr von allen dreien schon immer die meisten Schwierigkeiten gemacht – das hatte schon beim Stillen angefangen, was bei ihr ein echter Kampf gewesen war.

»Kommst du bitte mal nach unten?«

Erst polterte es laut, dann hörte man lautes Seufzen auf dem Treppenabsatz, und Rose kam missmutig heruntergeschlurft. Sarah musterte sie. Was hatte sie da bloß wieder an? Merkte sie denn nicht, wie fürchterlich diese schrille Windjacke aussah? So ein leuchtendes Pink und Neongrün kam in der Natur doch überhaupt nicht vor.

Die anderen beiden hatten ihr kaum Schwierigkeiten gemacht. Emily, die Jüngste und Liebste, war immer ihr Engelchen gewesen und Martin ihr ganz besonderer, kostbarer Junge. Tief im geheimsten Innern ihres Herzens wusste Sarah, dass Martin die Liebe ihres Lebens war. Nicht dass sie die anderen – oder ihren Mann – nicht liebte, aber Martin hatte sie von der Sekunde seiner Geburt an geliebt. Und wie niemand sonst in ihrem ganzen Leben wusste er genau, wie er sie um den Finger wickeln konnte. Ihr hübscher Junge, der sich gerade in einen wunderbaren jungen Mann verwandelte. Wie gut konnte Sarah all die Königinnen der Geschichte verstehen, die ihre Söhne rückhaltlos unterstützten und ihnen voller Stolz zur Macht verhalfen.

»Was ist denn, Mum?«, fragte Rose, ohne ihr in die Augen zu sehen, aber das war sie nicht anders gewohnt.

»Kannst du die anderen beiden eine Weile beschäftigen, bitte? Ich muss mit deinem Vater reden.«

Rose machte große Augen. Noch immer blickte sie Sarah nicht direkt in die Augen, aber ihre Überraschung und Abneigung waren nicht zu übersehen. Da war aber noch etwas, Verlegenheit vielleicht. Sarah runzelte die Stirn. Was hatte das nun zu bedeuten? Innerlich wappnete sie sich schon für den von Rose nur allzu häufig geäußerten Vorwurf, immer müsse sie auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen. Aber Rose schwieg. Stattdessen huschte etwas wie Schuldbewusstsein über ihr Gesicht.

Und in diesem Moment war sich Sarah sicher, dass ihre Tochter ganz genau wusste, was Iain getan hatte.

Ihr wurde ganz flau im Magen. Woher konnte sie das wissen? Und was genau wusste sie eigentlich. Die Fragen lagen Sarah auf der Zunge, aber sie beherrschte sich. Sie durfte Rose nicht in das Drama ihrer Eltern hineinziehen.

»Danke, Rose.«

Rose nickte und stürmte wieder die Treppe hinauf.

Sarah holte tief Luft. Sie ging in die Küche, wo Iain die Zeitung las.

Die Küchentür war geschlossen, aber Rose stand direkt davor und hörte nur zu gut, dass Mum in Tränen aufgelöst war und Dad wütend. Sie sah es bildlich vor sich – Mum mit roten, verweinten Augen, Dad zerknittert, aber gut aussehend im grauen Anzug mit dem dunklen Teint, der ihrem eigenen so sehr glich.

»War da gestern … jemand hier … mit dir?«

Stille, fast mit Händen zu greifen. Rose hielt den Atem an.

»Nein.« Er sprach leise, klang verärgert. »Du bildest dir das ein.«

»Und was ist mit dem Haar, das ich gefunden habe? Ein langes rotes Haar.«

Vor Roses innerem Auge flackerte ungewollt das Bild der hennaroten Haarmähne auf, leuchtend von der dunklen Frisierkommode, ihr Vater, der gebannt auf sein Spiegelbild starrte, der durchgebogene Rücken der Frau, ihre weiße Haut, ihr aufgerissener Mund.

»Das könnten wir beide mit unseren Klamotten hereingeschleppt haben«, blaffte Dad. »Und auch die Kinder, wenn man’s genau nimmt.«

»Iain, bitte, sag mir einfach die Wahrheit …«

»Verdammt noch mal, ich sage die Wahrheit, du blöde, misstrauische Zicke.«

Rose stand wie versteinert. So abfällig hatte sie ihren Vater noch nie reden hören. Und auch nicht so frech lügen.

Mum brach in der Küche in heftiges Schluchzen aus. Hinter Rose waren Schritte auf der Treppe zu hören, erst Martins Stampfen, dann Emilys leichtes Tänzeln. Erschrocken drehte sie sich um. Sie durften jetzt nicht herunterkommen. Martin sollte doch Emily etwas vorlesen, anstelle ihrer Mutter. Eigentlich war Emily längst zu alt für derlei kindische Mätzchen – immerhin ging sie schon in die erste Klasse der Sekundarschule. Aber es war beileibe nicht die einzige Art, auf die das Nesthäkchen verwöhnt wurde.

Auf jeden Fall durfte ihre kleine Schwester nichts vom Streit der Eltern mitbekommen. Als Martin und Emily durch den schmalen Flur kamen, legte Rose den Finger an die Lippen und scheuchte die beiden mit einer Handbewegung fort, zurück nach oben.

Martin verzog das Gesicht, bückte sich und flüsterte Emily etwas ins Ohr, bei dem in jedem Fall auch das Wort »rumkommandieren« vorkam. Emily lächelte voller Bewunderung zu ihrem großen Bruder hinauf. Rose stutzte. War er wirklich so schwer von Begriff? Nun, wenigstens war im Augenblick nichts aus der Küche zu hören. Hatte Mum aufgehört zu weinen? Oder schluchzte sie jetzt so leise, dass Rose es nicht hören konnte?

»Wir wollen nur Schokolade holen«, sagte Martin.

Rose schüttelte den Kopf und versperrte mit dem Arm den Weg zur Küche. Aber Emily tauchte blitzschnell darunter hindurch und stieß die Küchentür auf. Unter Roses entsetztem Blick huschte ihre kleine Schwester quer durch den Raum bis zum Küchenschrank. Mum schoss in die Höhe, wischte sich die Augen und hielt schniefend die Tränen zurück.

»Alles in Ordnung, Emily Sarah?«, fragte sie.

Dad drehte sich nicht um. Er starrte durchs Fenster in den Garten hinaus.

Emily angelte sich einen Galaxy-Riegel aus dem Schrank. »Für mich und Mart, als Betthupferl«, verkündete sie, und ihre dunklen Augen strahlten völlig unbedarft vor Begeisterung. Dann schlenderte sie an Mum vorbei und wollte wieder hinaus. Vom Leid ihrer Mutter hatte sie offensichtlich nicht das Geringste mitbekommen.

Mum erwischte ihren Arm, zog sie fest an sich und strich ihr übers Haar. »Jetzt aber ins Bett, hörst du?«

»Okay.« Emily drückte Mum kurz. »Nacht, Mum. Nacht, Daddy.« Sie huschte wieder aus der Küche, ohne die Tür zu schließen.

Rose hörte ihren Bruder und ihre Schwester die Treppe hinaufsteigen, ließ aber Mum, der die Qual ins Gesicht geschrieben stand, nicht aus den Augen. In ihr kochte die Wut hoch darüber, dass Dad die Affäre einfach abstritt. Das war nicht fair – gegenüber Mum nicht und auch nicht gegenüber den Kindern.

Dad drehte sich um. Ohne sie beide anzusehen, fegte er wie eine Gewitterwolke an ihnen vorbei, packte seinen Mantel und knallte die Haustür hinter sich zu.

Mum sank auf einen Stuhl, barg das Gesicht in den Händen und schluchzte, dass ihre Schultern bebten. Rose trat an der Küchentür von einem Bein aufs andere. Sollte sie Mum erzählen, was sie gestern gesehen hatte? Dann würde Mum wenigstens die Wahrheit wissen.

Aber es war bestimmt nicht ihre Aufgabe, sich in die Ehe ihrer Eltern einzumischen. Außerdem verspürte sie auch ein klein wenig Schadenfreude. Mum war zum Teil doch selbst schuld; sie kümmerte sich kaum noch um ihr Aussehen, und ständig nörgelte sie herum, Dad würde so wenig im Haus helfen.

Wenn Rose nichts sagte, würde sich das vielleicht auch so wieder einrenken. Mit einem letzten Blick auf ihre Mutter, die noch immer über dem Küchentisch zusammengesunken war, drehte sie sich um und ging nach oben.

Dies war das letzte Mal, dass sie ihre Eltern sah.

August 2014

Ein fast perfekter Tag – nicht dass ich das zu diesem Zeitpunkt zu schätzen wüsste. Nach dem Mittagessen bekomme ich nämlich Kopfschmerzen. Sie setzen plötzlich ein, während wir die endlosen Treppen und Gassen zur Zitadelle von Calvi hinaufsteigen. Gott sei Dank bemerkt es Jed sofort. Er hält mich zurück, als die anderen einem entgegenkommenden Audi ausweichen und durch einen dunklen Tunnel weitereilen.

»Alles in Ordnung?«

»Schon okay«, sage ich, obwohl die korsische Sommerhitze und der steile Anstieg den Druck in meinem Hinterkopf verschlimmern. Aber ich möchte uns nicht den Nachmittag verderben. Alles war einfach himmlisch bis jetzt – umgeben von den Menschen, die mir am meisten bedeuten, umsorgt und verehrt von Jed, mit dem ich mich auf unser künftiges Leben zu zweit freue. »Ein bisschen Kopfschmerzen, sonst nichts.«

»Sag es mir, wenn es schlimmer wird.« Jed legt den Arm um mich, und wir gehen in den Tunnel. Als wir wieder in die grelle Augustsonne treten, fällt mir Dee Dee um den Hals.

»Emily, Emily, schau doch!«, sagt sie, fasst meine Hand und zieht mich weg von ihrem Vater.

»Sachte!«, mahnt Jed.

Aber Dee Dee ist wild entschlossen, mir die Aussicht vor allen anderen zu zeigen, und wir sind schon halb über die Kiesfläche, Jed mehrere Meter hinter uns. Typisch Dee Dee. Dreizehn Jahre ist sie seit Juni, irgendwo auf halbem Weg zwischen Kindheit und Teenager und draller, als ihrem Vater und ihr selbst lieb ist. Sie ist nicht dick, habe ich Jed versichert, nur ein bisschen pummelig wegen der Hormone und mit ihrem sich verändernden Körper nicht ganz im Reinen. Ich hätte wahrscheinlich recht, brummt er, findet aber trotzdem, sie sollte sich beim Essen mehr zusammenreißen – und bei ihren Manieren. Natürlich tun wir uns alle schwer im Umgang mit Dee Dee: in einem Moment ist sie wie ein aufgeregtes Schoßhündchen und im nächsten mürrisch und zurückgezogen. Auf dieser Reise war sie allerdings bislang meistens fröhlich und genoss die relative Harmonie im Kreis der erweiterten Familie, fernab der Theatralik ihrer Mutter. Sie deutet auf die Jachten, die in der Bucht vor Anker liegen. Ihr dichtes schwarzes Haar – ganz Jed – schimmert in der Sonne.

»Ist das Martins Boot?«, fragt sie und zeigt auf eine größere Barkasse, die wie die umliegenden Boote wie ein schwimmender Kopierer aussieht.

Ich schüttle belustigt den Kopf. Meinen Bruder würde die Frage wahrscheinlich entsetzen, wenn er sie hören könnte, aber er ist mit Cameron schon um die nächste Ecke gebogen. Ihre Jacht – die Maggie May – ist sehr viel eleganter als die Boote unten in der Bucht. »Nein, Schatz, das liegt auf der anderen Seite, am Kai bei den Restaurants.«

»Oh.« Dee Dee macht runde Augen und sieht mich wie ein kleines Mädchen an. »Wie dumm von dir, Dee Dee.« Sie gibt sich einen Klaps auf die Wange.

»He, nicht …« Ich erschrecke darüber, und mir wird unbehaglich. Als Grundschullehrerin bin ich derlei kindliche Mätzchen und Angebereien eigentlich gewohnt, aber es fällt mir schwer, mit Dee Dees ständig wechselnden Launen Schritt zu halten. Die Masken, die sie aufsetzt, wechseln so schnell, dass die wahre Dee Dee dahinter ganz verschwimmt. Rose meint, das sei ganz normal; mit dreizehn wäre ich genauso gewesen. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Mein Verhältnis zu Dee Dee ist immerhin einer von vielen Vorzügen des Lebens mit Jed. Dee Dee steht mir nah, obwohl ihr älterer Bruder mich anfangs gehasst hat und ihre Mutter mich sogar auf dem Lehrerparkplatz vor der Schule mit anzüglichen Beschimpfungen überschüttet hat.

»Dumme, dumme Dee«, sagt sie noch einmal, noch mehr mit Kleinmädchenstimme, aber zum Glück diesmal ohne Klaps.

»Du bist nicht dumm.« Ich drücke ihr die Schulter, und sie schlägt die Arme um mich, dass mir die Luft wegbleibt. Ich umarme sie auch, aber sanfter. Manchmal hat sie etwas Verzweifeltes – als wollte sie unbedingt gefallen, wüsste aber noch nicht, wie das auf erwachsenere Weise geht, jetzt wo sie nicht mehr das süße kleine Mädchen ist.

»Sei nicht so grob zu Emily«, ruft Jed, als er uns einholt. Er meint das nicht so streng, wie es klingt, das ist einfach seine Art, aber seine Tochter tritt sofort zurück und lässt den Kopf hängen. Ich seufze, weil sie mir leidtut.

»Das macht doch nichts, Jed, wirklich. Sie ist einfach nur herzlich.« Ich stutze. Alles, was ich über das Verhalten von Stiefeltern erfahren habe, dreht sich darum, nicht die Autorität der Eltern zu untergraben, insbesondere in Gegenwart des Kindes. Immer wieder hat Rose mir eingebläut: »Nicht widersprechen, wenn die Kinder dabei sind.« Das Dumme ist nur, dass ich glaube, dass Jed einen Fehler macht. Gerade das, was ihn zu einem erfolgreichen Strafrechtler macht – sein wacher Verstand, der unablässig Fakten bewertet und Unnötiges sofort verwirft –, steht ihm beim Umgang mit den Stimmungsschwankungen seiner heranwachsenden Tochter besonders im Weg. Es war ihm unheimlich wichtig, die Ferien hier gemeinsam mit seinen beiden Kindern zu verbringen, und doch war er diese vergangene Woche ziemlich ratlos gegenüber Dee Dee und wusste mit dem befangenen Teenager, der aus ihr geworden war, nicht wirklich etwas anzufangen. Ich dagegen habe volles Verständnis, weil ich noch genau weiß, wie es sich angefühlt hat mit dreizehn, wenn man permanent neben sich steht.

»Ich mache mir nur Sorgen um dich«, sagt Jed und wendet sich seiner Tochter zu. »Emily geht’s nicht so gut – also ein bisschen sachte, okay?«

Dee Dee nickt.

»Ich werde Cam und Martin sagen, dass wir zur Jacht zurückmüssen. Sie sollen mir den Schlüssel zur Hauptkabine geben«, sagt Jed und sieht mich besorgt an.

»Kann ich mitkommen, Daddy?«, bettelt Dee Dee.

Ich will gerade antworten, dass sie das natürlich gerne darf, aber Jed kommt mir zuvor und lacht.

»Du bist durchschaut, Dee Dee, aber auf dem Boot wirst du dich nur langweilen. Die Bewegung hier wird dir guttun.« Er grinst, tätschelt ihr den Arm und marschiert um die Ecke davon, zu Martin und den anderen.

Der armen Dee Dee läuft eine Träne über die Wange. Sie lässt den Kopf gesenkt.

»Ach, Kleines.« Ich drücke ihr noch einmal mitfühlend die Schulter und frage mich, was sie so mitnimmt, aber sie will den Schmerz für sich behalten und macht sich steif. »Komm, wir machen ein Foto …«, schlage ich vor, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

»Okay.« Sie lächelt ein wenig. »Aber nur von dir, ohne mich.«

»Kommt gar nicht in Frage.« Ich deute auf ihr Smartphone. »Los, wir beide.«

Jetzt grinst sie so breit, dass mir der Stimmungswandel fast den Verstand raubt, und sie hält ihr iPhone vor uns. Ich stelle mich ganz dicht neben sie. Dee Dee verändert den Winkel so, dass das Meer hinter uns zu sehen ist, und macht das Bild. Beim Blick aufs Display verzieht sie das Gesicht. »Ich sehe fett aus.«

»Aber nein, kein bisschen.« Ich sehe ihr über die Schulter. Leider hat das Selfie sie aus einem besonders ungünstigen Winkel getroffen. Und bei mir fehlt der halbe Kopf.

»Komm, wir versuchen’s noch mal«, sage ich. Der Druck in meinem Schädel schiebt sich allmählich über ein Auge.

Dee Dee streckt das Handy in die Höhe und richtet es wieder aus. »Ich habe ein Geheimnis«, sagt sie, als sie abdrückt.

»Aha?« Was meint sie wohl? Vielleicht geht es um ihre Freundinnen, oder sie hat sich in einen Jungen verguckt. Mir ist das in ihrem Alter tausendmal passiert. »Und was für eines?«

»Ich habe etwas gesehen.« Wieder umarmt sie mich. Ich spüre ihr kühles Goldarmband auf der Haut. Ich habe genau das gleiche; ein Verlobungsgeschenk von meinem Bruder und seinem Freund – netterweise haben die beiden Dee Dee mit bedacht.

Sie klammert sich immer noch an mich. Mir ist fürchterlich heiß, aber ich will sie nicht wegschieben. Jed wird jede Sekunde zurück sein, und dann sind es nur noch vielleicht zehn Minuten zurück zum Boot, wo es kühl ist.

»Und worum geht’s bei diesem Geheimnis?«, frage ich vorsichtig.

Sie holt tief Luft, und ihr Körper presst sich dabei noch stärker gegen mich. »Es ist …«

»Um Himmels willen, lass doch die arme Emily in Frieden!« Jeds Ruf knallt wie ein Peitschenschlag herüber, und wir fahren beide zusammen. Dee Dee stößt sich von mir weg und fällt augenblicklich in sich zusammen.

»Ich sagte doch, Jed, alles in Ordnung.«

»Ach ja, entschuldige.« Er legt die Stirn in Falten und tätschelt seiner Tochter wieder den Arm. Sie zuckt zurück wie ein verängstigter Hundewelpe. Sie tut mir so leid. Jed räuspert sich. »Ich hätte nicht so laut rufen sollen«, sagt er. »Ich mache mir nur Sorgen um Emily. Vielleicht hat sie schon einen Hitzschlag …«

»Nur ein bisschen Kopfschmerzen«, beteuere ich.

»Also gut, nun.« Er wendet sich an seine Tochter. »Entschuldige, Dee Dee, aber jetzt lauf schnell zu den anderen. Los.«

Dee Dee sieht mich an, lächelt bekümmert, dreht sich um und läuft davon. Wenigstens weint sie diesmal nicht. Erst gestern ist sie in Tränen ausgebrochen, als an ihren neuen Sandalen der Riemen riss.

»Wahrscheinlich unter ihrer Last nachgegeben«, hat Jed mir zugeraunt. Sie konnte das unmöglich gehört haben. Er hat es auch nur so dahingesagt – ein etwas missglückter Scherz –, und ich lachte, um zu zeigen, dass ich seine Bemerkung nicht ernst nahm, aber in Wahrheit fürchten wir beide, dass Dee Dee die Trennung ihrer Eltern sehr zu schaffen macht. Später werde ich sie mal zur Seite nehmen und ihr klarmachen, dass ihr Dad sie sehr lieb hat und dass es bei ihm ist wie bei den Hunden, die bellen, aber nicht beißen. Und wenn Jeds Exfrau bei jeder sich bietenden Gelegenheit herumposaunt, er habe ihrer aller Leben ruiniert, dann trägt auch sie ihren Teil dazu bei. Erst neulich hat sie ihm vorgeworfen, Dee Dee habe sich in letzter Zeit völlig abgekapselt und würde kaum noch etwas mit Freunden unternehmen. Ich habe Jed daran erinnert, was mir Dee Dee vor knapp einem Monat selbst erzählt hat: Sie habe mit ein paar Mädchen in ihrer Klasse Zoff gehabt, aber ihre Freundinnen hätten zu ihr gehalten, und nun sei alles längst vergessen.

»Ihre Mutter übertreibt«, habe ich ihm gesagt, »und sie versucht, Dee Dees launisches Verhalten dir in die Schuhe zu schieben. Mein Leben mit dreizehn war überschattet vom Tod meiner Eltern, aber dass ich durcheinander war, hatte nichts damit zu tun. Das wäre ich auch so gewesen. Bei Dee Dee regieren gerade die Hormone – ob du dich nun von deiner Frau trennst oder nicht.«

Jed legt den Arm um mich. Dee Dee stampft mit ihren stämmigen, bleichen Beinen über die Kiesfläche davon, in Shorts und einem schlabberigen T-Shirt, das ihre Leibesfülle eher noch betont. Der ungezähmte Krauskopf macht die Sache auch nicht besser, ganz im Gegenteil. Warum gibt ihre Mutter, die doch so von Designern schwärmt, ihr nicht ein paar Tipps zu ihrem Aussehen?

»Du warst da eben ein bisschen streng mit ihr«, bringe ich vor.

»War nicht meine Absicht«, seufzt Jed, »aber sie sollte langsam mal anfangen nachzudenken, bevor sie etwas tut.«

»Aber sie ist doch erst dreizehn, Jed.« Ich presse die Lippen aufeinander. »Glaubst du, ihr macht vielleicht etwas zu schaffen? Sie hat etwas von einem ›Geheimnis‹ gesagt … sie hätte etwas gesehen.«

Jed wischt genervt mit der Hand durch die Luft. »Bestimmt wieder so eine Laune von ihr. Heute Morgen war alles bestens, und sie hat selig Croissants gefuttert. Und was sollte ihr schon ›zu schaffen‹ machen?« Sein Ton wird schärfer. »Ich zahle ihrer Mutter ein halbes Vermögen, damit keinem von beiden auch nur irgendetwas zu schaffen macht.«

»Das weiß ich«, sage ich und wünsche mir zum tausendsten Mal, seine Ex würde sich wegen der Trennung nicht mehr so aufführen. Wirklich verdenken kann ich es ihr natürlich nicht, aber es ist eine große Belastung für uns alle, besonders für Dee Dee.

Jed seufzt noch einmal, dann führt er mich zurück, wieder durch den Tunnel. Ich schweige und lasse ihn das Kommando übernehmen. Je länger wir laufen, desto schlimmer werden die Kopfschmerzen. Ich muss immer noch an Dee Dee denken, bin aber – nicht zum ersten Mal – dankbar, dass Jed seine durchsetzungsfähige Persönlichkeit voll für mein Wohlergehen einsetzt. Meine eigenen Zwanziger habe ich mit einer Folge verantwortungsloser Grünschnäbel verbracht und war dann fast drei Jahre Single, bis ich vergangenen November Jed kennengelernt habe. Das war, wie nach sturmumtosten Jahren endlich einen sicheren Hafen zu finden. Dass er 17 Jahre älter ist als ich, war nie ein Thema. Meine Freundin Laura ließ sich lange Zeit nicht davon abbringen, dass ich mich nur deswegen mit einem so viel älteren Mann eingelassen habe, weil meine Eltern starben, als ich elf war, aber ich halte das für ein Klischee und finde, dass unser Alter keine Rolle spielt. Ich bin einfach nur froh darüber, dass Jed – im Gegensatz zu all den jüngeren Männern in meinem Leben – genau weiß, was er will. Und dass ich dazugehöre, jagt mir noch immer Schauer über den Rücken. Letzten Monat, an meinem 33. Geburtstag, hat er um meine Hand angehalten. Nächstes Jahr wollen wir heiraten, ganz groß, wahrscheinlich im Spätfrühling.

»Wenn schon, dann richtig: erst eine kirchliche Trauung, dann ein großes Fest«, sagte er. »Bei dir ist es das erste Mal. Da muss es schon etwas Besonderes sein.«

Ich würde ihn, ehrlich gesagt, auch an einer Straßenecke heiraten, aber ich genieße es, dass er nur das Beste für uns möchte, dass er die Ehe nach der Trennung von der Mutter seiner Kinder noch immer so positiv sieht und – am allermeisten – dass er, obwohl er schon Dee Dee und Lish hat, noch immer Kinder mit mir haben möchte.

Natürlich ist da eine Stimme in meinem Hinterkopf, die sagt, wenn er seine Frau mit mir betrügen konnte, dann ist es bestimmt möglich, dass er eines Tages auch mir untreu wird – und ich will nicht, dass er mit den Kindern, die wir haben werden, so ungeduldig ist wie jetzt mit seiner Tochter.

Aber das ist nur eine leise Stimme, und meistens höre ich sie überhaupt nicht.

Juni 2014

WAS.FÜR.EIN.TAG.

Eigentlich wollte ich mit meinem Videotagebuch anfangen, wenn ich dreizehn bin, aber jetzt muss es schon am Tag vor meinem Geburtstag losgehen, weil heute etwas absolut WUNDERBARES passiert ist und ich einfach davon erzählen MUSS. Ich kann gar nicht GLAUBEN, dass es passiert ist, weil ich wieder und wieder daran gedacht habe, dass ich morgen dreizehn werde und noch nie richtig geküsst worden bin, nicht Küsschen auf die Wange oder von der eigenen Mutter, sondern richtig eben, weil ich bin wegen der Klavierstunde später aus der Schule gekommen, und Sam Edwards aus der Zehnten hat dort am Hintereingang bei der Kapelle so herumgehangen, als würde er auf etwas warten, dass er abgeholt wird vielleicht, aber es war sonst niemand da, und als ich vorbeigegangen bin, hat er Hallo gesagt, und ich bin fast GESTORBEN, weil jeder weiß, wer er ist, und er hat diese großen braunen Augen und blondes Haar mit ganz besonders blonden Stellen drin, und habe ich schon gesagt, dass er in der Zehnten ist? Und schon mal als Model gearbeitet hat und dass ihn alle total cool finden?

Auf jeden Fall hat er Hallo gesagt, und ich bin stehen geblieben und habe auch Hallo gesagt, und wir haben uns unterhalten, und er war richtig nett und hat gefragt, wo ich herkomme und dass ich ganz schön spät aus dem Knast komme (damit hat er die Schule gemeint), und er hat gesagt, dass sein Dad jetzt keine Arbeit hat und ganz viel zu Hause ist und dass das ein Albtraum ist und er vielleicht sogar von der Schule fliegt. Da habe ich ihm erzählt, dass mein Dad NIE zu Hause ist, weil er im Februar zu Emily gezogen ist, und dass Mum völlig verzweifelt ist, und da hat er gesagt, dass ihm das sehr leidtut. Dann ist er ein bisschen näher gekommen und hat gesagt, ich sei ihm aufgefallen und ich hätte mich verändert seit dem letzten Halbjahr, und ich habe gefragt, was er damit meint, und er hat auf meine Jacke geschaut, die offen war, vorne drauf, und immer weiter geschaut, dass mir ganz kribbelig wurde, und dann hat er mein Gesicht berührt und gesagt, ich hätte einen wunderschönen Kussmund. STELL DIR VOR, Sam Edwards aus der Zehnten hält mich tatsächlich für attraktiv, und mir hat es die Sprache verschlagen, und dann hat er mich geküsst, und mir wurde ganz schwummerig, und deshalb hat es noch viel mehr gekribbelt, und er hat gefragt ob ich’s eilig hätte, und ich habe gesagt nein (weil Mum sowieso noch nicht zu Hause wäre und ich schon seit September dienstags und donnerstags als Erste nach Hause komme). Da hat Sam den Arm um mich gelegt, und wir sind losgegangen, und dann waren wir auf einmal hinter der Kapelle, und zwar hinter der Stelle, wo das Licht angeht, wenn man vorbeigeht, aber da sind lauter Bäume, und es ist ziemlich dunkel, auch wenn das Licht brennt. Und dann hat er mich wieder geküsst. Am Anfang war das wunderbar, aber dann hat er mit der Hand an meine Schulbluse gefasst, so auf die Brust, und er hat ein bisschen herumgefühlt, und das war mir ein bisschen unangenehm, aber er hat immer noch geküsst, und weil mir das gefallen hat, habe ich ihn machen lassen. Dann hat er mit Küssen aufgehört und seine Hand unter meinen Rock geschoben, und da habe ich ein bisschen Angst bekommen, aber er hat gesagt, ich sei total heiß, und er hat richtig schwer gekeucht, und mir hat gefallen, dass er mir die ganze Zeit in die Augen geschaut hat, bloß das Anfassen nicht. Deshalb habe ich mich irgendwie herausgewunden, und er hat gefragt, wovor ich mich fürchte, und ich habe mit den Achseln gezuckt, weil ich das eigentlich auch nicht gewusst habe.

Und dann hat er gesagt, dass er mich da »nur einen Moment lang« anfassen wollte, sonst nichts, und ich habe ihn ein ganz kleines bisschen herumfühlen lassen, und es hat mir nicht gefallen – klar, ich weiß auch, dass man davon WIRKLICH nicht schwanger wird, solange er nicht sein Zeug schon vorher an den Fingern verschmiert hat, aber ich habe es einfach nicht gemocht – aber er war eben Sam Edwards, und er hat im Schatten der Bäume soo toll ausgesehen, und ich wollte nicht, dass er mich nicht mehr mag. Jedenfalls war es länger als »nur einen Moment lang«, und ich bin wieder ein Stückchen von ihm weggerückt und habe gehofft, dass er nicht sauer ist, und dann hat er »also gut« gesagt, und ich habe gedacht, jetzt küssen wir uns noch ein bisschen, aber er hat angefangen, meine Bluse aufzuknöpfen, und ich wollte WIRKLICH Nein sagen, aber ich hatte ihn ja schon davon abgehalten, mich anzufassen, und deshalb habe ich ihn weitermachen lassen, und dann hat er GROSSE Augen gemacht, als er gesehen hat, dass ich keinen BH anhabe, weil ich manchmal einen anziehe und manchmal nicht. Und ich war SCHRECKLICH verlegen, weil da nicht viel ist, und ich wollte nicht, dass er das sieht, und ich habe die Bluse zugezogen, und er hat aufgeblickt, und ich habe gesagt, ich müsste jetzt gehen, und er hat NOCH MAL gesagt, dass ich heiß wäre und dass er mich nicht mehr berühren würde und was ich mir denn wünschte, und ich habe gesagt, ooh, das Küssen hat mir gefallen, damit wir lieber wieder das machen, aber er hat nur gelacht und gesagt, in den Filmen davon würde auch niemand küssen, und ich war mir nicht sicher, was er damit gemeint hat, aber ich war sowieso total durcheinander – und außerdem musste ich dann wirklich los, wenn ich noch vor Mum zu Hause sein wollte.

Und dann hat er sein Handy rausgeholt und gesagt, ich wäre SO heiß und er wollte ein Bild von mir haben, von vorn, als wäre ich ein MODEL. Und ich war mir nicht sicher, aber Sam hat wieder gesagt, ich wäre das heißeste Mädchen an der Schule, und er hat mir dabei auf die Brüste gestarrt, und ich war völlig BAFF, weil ich finde, das sind doch nur unförmige Beulen, und deshalb habe ich Ja gesagt, obwohl ich eigentlich nicht weiß, warum, aber er hatte ja ganz höflich gefragt, und seine Augen haben dabei gefunkelt, und es wäre vielleicht sehr grob gewesen, einfach Nein zu sagen, und ich weiß, dass er das erwartet hat, und er war WIRKLICH heiß, und ich wollte nicht, dass er mich nicht mehr mag. Also hat er ein Foto gemacht, und er war total nett und hat mich noch ein bisschen geküsst und gesagt, das Bild wäre nur für ihn, das würde er niemandem zeigen, und jetzt könnte er sich an sie erinnern, wenn er an mich denkt. Und es war schön, dass er sie gemocht hat, aber NATÜRLICH habe ich noch nie als Model posiert, und deswegen war es mir schon ziemlich peinlich. Aber er hat gesagt, ich wäre genau wie ein Model, und ich habe gesagt, ich müsste jetzt wirklich gehen, und Sam hat »bis bald, Dee Dee« gesagt, und das bedeutet, dass er mich wiedersehen will. WAS.FÜR.EIN.TAG! Und deshalb war es das alles wert. Dann habe ich alles wieder zugeknöpft und bin nach Hause gegangen. Und wie schon gesagt ist das alles ganz WUNDERBAR, weil gestern NICHTS in der Art passiert ist, aber heute schon, und dann auch noch rechtzeitig, am Tag bevor ich dreizehn werde.

August 2014

Kaum bin ich an Bord im Schatten, geht es mir besser. Martin hat Jed gesagt, wo der Schlüssel versteckt liegt – im Rettungsboot am Heck unter der Persenning. Als wir im Salon der Maggie May sind, sagt Jed, ich soll mich hinlegen, während er im Bad nach Schmerztabletten sucht.

Ich strecke mich auf dem Bett in Martins und Camerons feudaler Kabine aus und ziehe den Bettüberwurf aus blauer Seide über mich. Ich muss lächeln. Der Kontrast zwischen der neutralen Farbgebung mit den zurückhaltenden Designer-Akzenten hier und der Ausstattung des Reihenhauses im Londoner Süden, in dem wir aufgewachsen sind, könnte kaum größer sein. Angesichts der finanziellen Möglichkeiten seines Lebensgefährten muss man sagen, dass es Martin auch schlechter hätte treffen können. Cam ist ein echter Trustafarian, ein Scheckbuchhippie, wie Martin etwa Ende dreißig, aber als Abkömmling einer wohlhabenden schottischen Landadels-Dynastie verfügt er über enorme monatliche Bezüge. Cameron geht keiner geregelten Arbeit nach und braucht das auch gar nicht, kümmert sich aber um einen Haufen verschiedener Wohltätigkeitsprojekte. Martin könnte die Arbeit ebenfalls aufgeben, wenn er das wollte, hält aber genau wie ich wegen der sinnstiftenden Komponente daran fest. Seit einiger Zeit arbeitet er aber nur noch in Teilzeit.

Nebenan kramt Jed in den Badezimmerschränken und flucht leise, weil er keine Kopfschmerztabletten findet.

»Martin sagte doch, da müssten welche sein …«, ruft er verärgert darüber.

»Ist schon gut«, rufe ich zurück. »Ich muss nur ein bisschen meine Augen ausruhen.«

Jed kommt herein. »Ich rufe deinen Bruder an.« Er geht zurück in den Salon. Ich schließe die Augen und höre kaum hin, während mein Verlobter auf die ihm eigene, sehr direkte Art Auskunft darüber fordert, wo Mart und Cam ihr Paracetamol aufbewahren. Als mein tiefenentspannter Bruder ihm erklärt, wenn keines im Bad sei, dann müsse wohl alles verbraucht sein, schickt er ihn schnurstracks in die nächste Apotheke. »Aber nichts mit Ibuprofen oder Codein«, präzisiert er. »So etwas sollte sie nicht auf leeren Magen nehmen.«

Er macht sich viel zu viele Sorgen, aber irgendwie gefällt mir das auch. Jetzt wo ich liege, geht es mir ohnehin besser. Es ist so schön, dass wir alle zusammen sind. So einen richtigen Urlaub im Kreis der Familie bin ich überhaupt nicht gewohnt, und Jed hat dabei das Kommando: Er führt, organisiert – und natürlich bezahlt er auch. Nun ja, für Martin und Cameron natürlich nicht. Die beiden sind mit Camerons Jacht nur für ein paar Tage zu uns gestoßen. Gestern waren wir alle zusammen mit dem Boot unterwegs, und heute früh noch einmal. Das hat großen Spaß gemacht, aber die Hitze war heimtückisch. Wahrscheinlich habe ich deswegen noch solche Kopfschmerzen.

Das frisch bezogene Baumwollkissen unter meinem Kopf schmiegt sich kühl an meine Wange, und draußen säuseln die Wellen wie beruhigendes Geflüster. Jed telefoniert noch einmal; er spricht leise, um mich nicht zu stören. Ich liege; der Druck im Kopf klingt langsam ab, und ich dämmere in den Schlaf, dankbar für Jed, für die Klimaanlage, für die Familie, die mich umgibt.

Als ich wieder aufwache, sitzt Jed am Fußende und beobachtet mich. So langsam gewöhne ich mich an diesen Tick von ihm, aber die ersten paar Mal hat er mir damit eine Heidenangst eingejagt. Als er es mir dann erklärt hat, habe ich mich geschämt. »Du bist so schön, wenn du schläfst«, sagte er. »Wie ein Kind. Und genauso liebe ich dich, Em. Begreifst du, wie außergewöhnlich es ist, dass ich dich liebe wie meine eigenen Kinder?«

Ich begriff es nicht. Noch immer nicht. Wie sollte ich auch? Ich bin doch noch gar nicht Mutter – auch wenn wir schon bald, hoffentlich, wenn wir verheiratet sind, Babys bekommen werden.

Gähnend werde ich langsam wach. Jed hat mir die blaue Seidendecke bis über die Schultern gezogen. Ich schiebe sie weg und stütze mich auf den Ellenbogen.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, frage ich.

»Nicht lange, Baby«, sagte Jed. »Was macht der Kopf?«

Ich reibe mir die Augen. »Besser, danke.« Ich setze mich auf. Es geht mir jetzt wirklich besser. Vielleicht war ich einfach nur müde, nachdem wir zur Feier unseres ersten Abends in der Villa gestern bis spät in die Nacht gegrillt haben. Der Träger meines Kleides rutscht mir über die Schulter. Ich schiebe ihn wieder hinauf, über den Bräunungsstreifen. Das Bullauge ist geschlossen, und so höre ich nur das Wasser leise am Rumpf des Bootes glucksen. Aus einem fernen Café weht Musik herüber. Es ist schon seltsam hier an Bord, so privat und gleichzeitig so nah am pulsierenden Leben.

»Die anderen sind noch am Strand, Baby. Als du eingeschlafen bist, habe ich sie angerufen und gesagt, sie könnten sich ruhig Zeit lassen, damit du noch etwas Ruhe hast. Martin lädt sie zu Cocktails ein, in irgendeiner Bar in der Zitadelle.« Jed streckt den Arm nach mir aus. »Na komm her.«

Ich robbe zu ihm hin. Er schiebt den Bettüberwurf ganz zur Seite und schlägt das frische Leintuch von meinen Beinen. Er fasst meine Hand und küsst meine Finger. »Liebling«, stöhnt er. »Ach, Liebling.«

Er zieht mich an sich, presst zuerst sein Gesicht an meinen Hals und drückt mich dann wieder zurück aufs Bett. Ich bleibe liegen, lasse mich von ihm streicheln und, noch immer schläfrig, langsam erregen und versuche, nicht daran zu denken, dass wir uns im Bett meines Bruders lieben. In den Spiegeltüren des Schranks an der gegenüberliegenden Wand sehe ich meine gebräunten Beine. Es sieht ulkig aus, wie Jeds bleicher Hintern dazwischen auf und ab wippt.

»Daddy liebt dich«, gurrt er mir ins Ohr.

Ich bin so verlegen, dass ich rot werde, und verspüre den Drang, mich von ihm loszumachen. Es ist keine große Sache, rede ich mir ein; so ist Jed nun mal, aber manchmal macht es mir eben doch noch zu schaffen. Ehrlich gesagt, hat er das von Anfang an gemacht. Schlimm genug, dass er mich ständig Baby nennt, aber als er beim fünften oder sechsten Mal im Bett angefangen hat, von sich immer mal wieder in der dritten Person als »Daddy« zu reden, habe ich nicht gewusst, ob ich darüber lachen oder mich ekeln soll.

Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Beim Sex hat doch jeder seinen eigenen Stil. Und für Jed ist es immer wahnsinnig wichtig, dass ich guten Sex habe. Und allzu oft lasse ich mich von seiner Erfahrung einschüchtern: Ich blicke auf genau sechs Sexualpartner zurück. Nur mit dreien war ich tatsächlich befreundet, und nur bei einem – dem fantastischen, aber extrem bindungsscheuen Dan Thackeray – hat die Beziehung länger als ein halbes Jahr gehalten. Jed dagegen behauptet, er habe zahlenmäßig den Überblick verloren. Kein Wunder, denke ich. Er ist fünfzig, und ich weiß, dass er vor seiner 20-jährigen Ehe viele Freundinnen gehabt hat – und währenddessen so manchen One-Night-Stand. Er sagt, mit seiner Rastlosigkeit sei es in dem Augenblick vorbei gewesen, als er mich zum ersten Mal sah, und dass ich alle seine Bedürfnisse befriedigen würde. Jetzt im fortgeschrittenen Alter wisse er unsere Beziehung sehr viel umfassender zu schätzen; Sex sei nur ein Teil davon, er hätte für dieses Leben mit genug Frauen geschlafen, und ich würde ohnehin alle seine sexuellen Wünsche erfüllen. Und er behauptet tatsächlich, ich sei seine Wirklichkeit gewordene Wunschvorstellung, seine Traumfrau …

Hemmungen hat er im Bett auch keine, obwohl er es nicht besonders mag, wenn die Initiative zum Sex von mir ausgeht oder wenn ich irgendwann die Kontrolle übernehmen möchte. Ich habe gelernt, mich von Jed leiten zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er – wie in allem – nur das Beste für mich tut. Und der Sex ist wirklich schön. Der beste, den ich je hatte, außer mit Dan – aber in ihn war ich damals so vernarrt, dass ich mir die Hälfte der Orgasmen wahrscheinlich nur eingebildet habe.

Wir kommen zum Ende, und Jed seufzt zufrieden. Ich werfe einen Blick aufs Laken. Nur ein kleiner Fleck. Ich laufe ins Bad und komme mit einem feuchten Frotteetuch zurück. Martin würde sich daran wahrscheinlich nicht stören – er ist da ziemlich gelassen –, aber ich finde so etwas trotzdem ziemlich unhöflich.

Während ich an dem Fleck herumreibe, wird Jeds Atem tief und gleichmäßig. Nach ein paar Minuten bin ich mir sicher, dass nach dem Trocknen nichts mehr zu sehen sein wird. Ich schlüpfe wieder in mein Kleid und stupse Jed an. Er zieht seine Hose über, ich schlage das Betttuch zurück und ziehe das Laken wieder straff. Dann lege ich die blaue Seidendecke ordentlich übers Fußende.

»Was machen die Kopfschmerzen?«, fragt Jed schmunzelnd. »Sind wir sie losgeworden?«

»O ja!«, sage ich, obwohl der Druck im Hinterkopf schon wieder langsam zunimmt. »Aber ich glaube, ich nehme trotzdem eine Tablette, damit sie nicht wiederkommen.« Ich will aus dem Zimmer gehen, aber Jed bekommt meine Hand zu fassen.

»Ich musste daran denken …«, sagte er. »Wenn wir heiraten, nimmst du dann meinen Namen an?«

Ich beiße mir auf die Lippe. Nicht dass mir besonders viel an meinem Namen – Campbell – liegt, aber er ist das Einzige, was mir von meinen Eltern geblieben ist, und außerdem für mich noch immer eine wichtige Verbindung zu Martin und Rose.

Jed bemerkt meinen Zwiespalt. »Deinen musst du ja nicht aufgeben«, sagt er und tätschelt mir die Hand. »Ich weiß, wie viel er dir bedeutet. Ich dachte, wir könnten uns ja auf Campbell-Kennedy einigen … Was meinst du?«

»Vielleicht …«, antworte ich. »Kann ich mir das noch überlegen?«

»Aber natürlich, Baby, keine Eile.« Er streicht mir eine Strähne aus der Wange und gibt mir dann grinsend einen Klaps auf den Po. Ich lächle erleichtert zurück. Während wir in den Salon gehen, sind an Deck Stimmen zu hören. Martin kommt als Erster durch die Tür. Er wirkt etwas verwirrt, ringt sich aber ein Lächeln ab, als er mich sieht.

»Na, wie geht’s, Em?«, fragt er.

»Besser«, sage ich um Jeds wegen, obwohl sich der Schmerz eindeutig wieder in meinem Kopf breitmacht.

»Lish hat dir Kopfschmerztabletten mitgebracht«, sagt Martin.

»Es ist ein Pulver, genau genommen«, sagt Lish, der hinter Martin hereinkommt. »Aus einer winzigen Apotheke, und das einzige »analgésique« ohne Ibuprofen und Codein, das sie hatten, war eine Schachtel mit kleinen Beutelchen, es nennt sich ExAche-Pulver.« Lächelnd streicht er sich die langen, fettigen Strähnen aus dem Gesicht, aber das Lächeln strauchelt ein bisschen, als er Jed in die Augen blickt. Jed nickt knapp. Er versucht zu verbergen, dass er enttäuscht ist, weil Lish kein bekanntes Markenprodukt auftreiben konnte. Lish entgeht das ebenso wenig wie mir. Ich weiß, dass sich Jed seinen Sohn etwas ehrgeiziger und energischer wünscht. Ich finde ihn trotz seines etwas schmuddeligen Äußeren eigentlich ganz in Ordnung. Immerhin geht er aufs College. Ich bin wahrscheinlich auch etwas voreingenommen, weil zwischen uns während der ersten vier Monate völlige Funkstille herrschte, aber jetzt kommen wir gut miteinander aus. Ganz zu Anfang im Frühjahr, als Jed seine Frau eben erst verlassen hatte, ist es sehr schwierig gewesen, weil Lish eindeutig Partei für seine Mutter ergriffen hat. Seit Jed und ich verlobt sind, scheint er mich allerdings akzeptiert zu haben.

»Tabletten … Pulver … ist doch egal, solange es wirkt.« Martin knufft Lish im Scherz in den Arm. Lish taumelt im Spiel zurück und grinst breit über den Klamauk.

Martin hat wahre Wunder dabei gewirkt, den Graben zwischen mir und meinem Stiefsohn zu überbrücken. Aber er war schon immer ein Friedensstifter und ist, was Gefühlsangelegenheiten betrifft, der intelligenteste Mann, den ich kenne. Als Mum und Dad starben, waren es nur wenige Wochen bis zu seinem 16. Geburtstag. Unsere ältere Schwester Rose übernahm damals in allen praktischen Dingen die Verantwortung für mich, aber Martin wurde zu meinem Beschützer, tröstete mich, wenn Rose allzu schroff mit mir umging, und gab sich mindestens so streng wie jeder Vater, als es um meine ersten Freunde ging. Ausnahmslos alle meine Freundinnen schwärmten für ihn, groß und schlank, wie er war, und mit seinem markanten Kinn. Eigentlich tun sie’s noch immer, obwohl er sich schon vor Jahren geoutet hat. Mir sagte er es damals als Erste, noch vor Rose, weil ich ihm, wie er meinte, bestimmt keine Vorhaltungen machen würde. Ich tat das auch nicht. Konnte es nicht. Jetzt mit achtunddreißig ist er charmant wie eh und je und wirkt mit dem Grübchen am Kinn und seinen großen braunen Augen noch immer jungenhaft. Lish ist ihm jedenfalls total verfallen. Immer wieder späht er von seinen dünnen Armen hinüber auf Martins gebräunten, durchtrainierten Körper in weißem Hemd und Designer-Chinos. Wünscht er sich nur etwas von Martins Ausstrahlung? Oder ist er vielleicht auch schwul? Bis jetzt war bei ihm noch nichts von einer Freundin zu sehen, und er hat seinem Vater gegenüber auch keine erwähnt. Ich werfe einen Blick auf Jed. Ob ihm das auch aufgefallen ist? Wie würde er reagieren? Ich glaube, er wäre enttäuscht; nicht weil er offen homophob ist – Martin und Cameron begegnet er mit großem Respekt –, sondern weil Homosexualität in den Plänen, die er für Lish hat, einfach nicht vorgesehen ist.

Lish präsentiert eine kleine Schachtel und zieht für mich ein Päckchen ExAche-Pulver heraus.

»Es soll jedenfalls gut gegen Kopfschmerzen helfen, das hat der Apotheker doch gesagt, nicht wahr, Lish?«, fragt Martin. »Zum Glück kann Lish so gut Französisch.«

»Zum Glück ist Lish auf eine gute Schule gegangen, wo er die Möglichkeit hatte, anständig Französisch zu lernen«, brummt Jed und kichert trocken.

Alle schweigen betreten.

»Danke, Lish.« Ich gehe zu ihm hin, nehme das Beutelchen und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

Lish zuckt mit den Achseln und errötet. Er ist jetzt genauso groß wie sein Vater, aber schlaksig und ungelenk, und er hat weder die Masse noch das sichere Auftreten seines Vaters.

»Ich werde wohl besser mal was einnehmen, damit die Kopfschmerzen nicht wiederkommen.«

Martin bringt mir ein Glas Wasser und einen Löffel, um das Pulver einzurühren. Als er mir das Glas reicht, kommt Dee Dee hereingestürmt und fällt mir um den Hals. Aus dem Glas schwappt Wasser. Im Augenwinkel sehe ich, wie Jed wegen ihrer Tollpatschigkeit zusammenzuckt.

»He, Dee«, sage ich freundlich, bevor er schimpfen kann. »Wie war’s in der Cocktailbar?«

»Großartig«, antwortet sie mit großen Augen. »Mein Cocktail war bleifrei.«

Wieder einmal bin ich verblüfft, wie jung mir Dee Dee manchmal vorkommt. Mit dreizehn habe ich Rose fast um den Verstand gebracht und mich immer wieder mit älteren Schulkameraden im Pub herumgetrieben. Martin war damals schon auf dem College, und Rose musste sich allein mit mir herumschlagen und mir auseinandersetzen, dass die Jungs, die mir Vodka Red Bulls und neonpinkfarbene Alcopops spendierten, möglicherweise unlautere Absichten haben.

Ich rühre das ExAche-Pulver unter und blicke auf. Wo ist meine Schwester überhaupt? Von ihr ist genauso wenig zu sehen wie von Martins Partner.

»Was ist mit Rose?«, frage ich. »Und wo ist Cameron?«

»Noch auf Deck«, antwortet Martin und lässt sich auf der nächsten Couch nieder. »Sie kümmern sich um den Fisch. Wir haben dem Händler, den wir schon kennen, eine Dorade abgekauft und dazu einen Haufen Salat. Cameron dachte, es wäre doch lustig, hier an Bord zu essen.«

»Ich dachte, wir würden in ein Restaurant gehen?« Jed setzt sich auf. Er spricht mit einer kaum merklichen Schärfe. So klingt er wahrscheinlich auch, wenn es die jungen Anwälte in seiner Kanzlei einmal wagen, ihm zu widersprechen.

Martin zuckt unbeeindruckt die Achseln. »Klar, wenn du meinst …«, sagt er mit einem entwaffnenden Lächeln. »Cameron meinte, falls sich Emily nicht wohl fühlt … aber uns ist das egal, ganz wie ihr wollt.«

»Natürlich.« Jed lehnt sich angesichts solcher Rücksichtnahme wieder zurück. Er wendet sich mir zu. »Sag du, Baby.«

Nun sehen mich beide an. »Was meinst du?«, frage ich Dee Dee.

Dee Dee umarmt mich und säuselt dann mit Kinderstimme: »Dee Dee mag keinen Fisch.«

»Sei nicht albern«, sagt Jed. »Natürlich magst du Fisch. Sandwiches mit Fischstäbchen sind doch deine Leibspeise.«

Dee Dee zuckt mit den Schultern. Jed hat recht: Dee Dee ist immer begeistert, wenn wir zu Hause Fischburger und Pizza machen, aber zwischen einem Fischstäbchen-Sandwich und einer gedünsteten Dorade ist schon ein himmelweiter Unterschied. In den schönen Restaurants, die wir besuchen, hat Dee Dee noch nie Fisch bestellt. Es ist gut möglich, dass sie Fisch nicht mag, ohne dass Jed davon eine Ahnung hat. Ich will gerade erklären, dass auch ich mit dreizehn Fisch nicht besonders mochte und dass Cameron bestimmt etwas anderes für Dee Dee einfällt, aber da redet Jed schon wieder.

»Du wirst Fisch essen«, befiehlt er seiner Tochter. »Martin und Cameron haben ihn extra für uns gekauft, und ich sehe keinen Grund, warum man ihn nicht essen sollte. Martin hat recht. Wenn es Emily zu heiß ist, sollten wir am besten hierbleiben. Wir können ja auf dem Rückweg zur Villa immer noch irgendwo etwas trinken gehen.«

Und so ist es beschlossen.

Der Abend verläuft ohne weitere Ereignisse. Das ExAche schmeckt bitter, aber die Kopfschmerzen sind wie weggeblasen. Rose macht das Dressing für den Salat, während Cameron die Dorade zubereitet, in einer leckeren Soße mit Zitrone und Kapern. Ich frage Dee Dee, ob sie das so essen kann, und sie sagt, es sei okay. Später fällt mir dann allerdings auf, dass sie lustlos im Essen herumstochert und nur vom Fisch isst, wenn sich Jed herüberlehnt und ihr mit eisiger Miene etwas ins Ohr flüstert.

Nach dem Essen verschwinden Lish und seine Schwester in der Kabine. Lish spielt an Martins und Camerons topmodernem Fernseher Computerspiele, und Dee Dee skypt übers Bord-WLAN mit ihren Freundinnen zu Hause in Highgate. Ich bin froh, dass sie diese Kontakte hat. Vor ein paar Wochen hat sie mir erzählt, wie ihre Freundinnen zu ihr gehalten hätten, als ein paar andere Mädchen von der Schule hässlich zu ihr waren. Jed tut derlei Dinge immer als »Mädchenkram« ab, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass einen in diesem Alter selbst belanglose Auseinandersetzungen tagelang ins Unglück stürzen können.

Rose, Jed, Martin, Cameron und ich sitzen auf dem Achterdeck der Maggie May in der lauen Abendluft und genießen das Treiben auf der Promenade mit ihren malerischen Lichtern. Jed berichtet gerade von seiner letzten Gerichtsverhandlung – dem von großem öffentlichem Interesse begleiteten Freispruch eines Ministers –, und ich gehe hinein, um nach Dee Dee zu sehen. Sie scheint zufrieden zu sein und starrt gebannt auf ihr Smartphone. Wahrscheinlich erfährt sie gerade den neuesten Klatsch aus der Heimat oder sieht sich Popgruppen an. Zurück auf dem Achterdeck, sehe ich zu meiner Erleichterung, dass Jed inzwischen so entspannt zu sein scheint wie den ganzen Tag noch nicht. Ich setze mich mit einem Glas Wein zu ihm, und er fasst meine Hand. Die Lampen der Promenade glitzern in der Abenddämmerung, und die ganze Bucht ist von Leben erfüllt. Jed und ich beobachten beide für unser Leben gerne Menschen, und heute Abend gilt unsere Aufmerksamkeit einem älteren Paar, das jenseits der Mole im nächsten – und feinsten – Restaurant zu Abend speist. Die ledrige Haut der Frau ist tief gebräunt, und sie trägt ein unglaublich geschmackloses Brillantdiadem. Ich streiche über meinen eigenen Diamanten – riesengroß und oval geschliffen, gefasst in einem von Jed ausgesuchten Platinring, den er mir vergangenen Monat zum Geburtstag geschenkt hat. Ich sagte »Ja« und war sofort in Tränen ausgebrochen. Für den Bruchteil einer Sekunde lag mir die Frage auf der Zunge, ob seine Frau bei seinem Antrag damals genauso reagiert hat, aber damit hätte ich Jed todsicher die Laune verdorben – und uns beiden den besonderen Augenblick. Seither hat seine Ex ihre dominante Stellung in meinen Gedanken tatsächlich eingebüßt. Schon merkwürdig. Während der ersten Monate unserer Affäre bis zu Jeds Entscheidung im Februar, sie zu verlassen, schwebte sie wie ein Schatten über uns. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen – nicht so sehr ihr gegenüber, denn nach allem, was Jed erzählt hat, war klar, dass sie ihren Ehemann nicht mehr liebte und achtete – aber gegenüber den Kindern. Trotzdem scheinen beide jetzt ganz gut damit zurechtzukommen. Seine Exfrau dagegen lauerte mir im Juli, kurz nach seinem Heiratsantrag, vor der Schule auf. Es war ein Nachmittag kurz vor dem Ende des Schulhalbjahrs, als ich beladen mit Kisten und Taschen voller Akten auf den Parkplatz gestolpert kam, wo sie schon auf mich wartete. Sie ging sofort auf mich los und beschimpfte mich als niederträchtige Hure, die fremde Ehemänner ausspannt und Familien zerstört; den Heiratsantrag hätte ich mir nur erschlichen, um an Jeds Geld zu kommen. Ein paar Minuten lang bemühte ich mich, ihre Vorwürfe zu bestreiten und mich zu rechtfertigen. Nach einer Weile begriff ich, dass ich meine Mühe verschwendete, weil sie mir ohnehin nicht zuhörte. Völlig aufgebracht und gedemütigt, stieg ich ins Auto und floh. Ich rief sofort bei Jed an, der so entsetzt darüber war und seine Ex so wütend beschimpfte, dass ich schon fast wieder Mitleid mit ihr hatte. Und obwohl sie auch jetzt keine Gelegenheit auslässt, mir mit Worten zu schaden, ist es inzwischen doch meistens Mitleid, was ich für sie empfinde; wohl möglich, dass sie sich Jed gegenüber als Biest gebärdet hat, aber sie hat ihn geliebt, und jetzt hat sie ihn verloren.

Die Dämmerung ist der Nacht gewichen, auf der Promenade pulsiert das Nachtleben, und über das Wasser weht Musik herüber, während wir fünf angeregt plaudern und lachen. An diesen Augenblick werde ich mich in den folgenden Monaten immer wieder erinnern – meine vollkommene Zufriedenheit hier in der warmen Brise, die über meine Haut streicht, während mein Verlobter meine Hand hält, im Kreis meiner beiden Geschwister. Rose blickt hin und wieder zu mir herüber, um zu sehen, ob ich die Kopfschmerzen wirklich los bin, und ich lächle sie an, so glücklich, wie ich vielleicht noch nie gewesen bin.

Cameron und Rose bestreiten einen Großteil der Unterhaltung, während Martin noch eine Flasche Wein aufmacht. Rose ist vor Kurzem von ihrem Freund Simon – einem Arbeitskollegen unseres Bruders – verlassen worden, und mag sie die Trennung auch in lässigem Tonfall abtun: Ich spüre trotzdem, wie verletzt sie ist. Dabei sieht sie blendend aus – »jaja, die Kummerdiät, du weißt schon«, sagt sie mit einem freudlosen Lächeln. Aber es liegt nicht nur daran, dass sie ein paar Pfunde abgenommen hat. Eigentlich hat sie noch nie besser ausgesehen als während dieser vergangenen Monate. Statt der muttihaften Kleider, die sie ausgemistet hat, trägt sie jetzt häufig enge Röcke und Oberteile, die ihre Kurven betonen, und wagt sich gelegentlich sogar an hohe Absätze heran. Die Leute sagen, wir sehen uns ähnlich, und bei unserem olivenfarbenen Teint und dem langen dunklen Haar stimmt das auch, aber Rose hat eine höhere Stirn und eine ausgeprägtere Stupsnase, und außerdem ist unser Stil völlig verschieden. Während ich lässige Kleidung trage, mag es Rose eher klassisch-förmlich und achtet darauf, stets mit den nötigen Accessoires bestückt zu sein. Heute trägt sie ein elegantes Etuikleid aus Leinen mit einem Pashmina um die Schultern, und wann immer sie von Deck kurz zur Toilette verschwindet, kommt sie mit frisch gepuderter Nase und mit weichem Rosa nachgezogenen Lippen zurück.

Kurz nach zehn brechen wir auf. Martin besteht darauf, dass ich noch ein Beutelchen ExAche-Pulver mitnehme, falls die Kopfschmerzen wieder auftreten. Ich beteuere, dass es mir gut geht, aber Lish hat die Schachtel schon geholt und mir einen Beutel herausgesucht. Martin reicht ihn mir und ruft das Taxi. Wir fahren zurück zur Villa, nur ein paar Meilen an der Küste entlang. In der Halle brennt Licht, und die Tür zum Garten steht offen. Wir schlendern hinaus und sehen, dass Jeds Bruder Gary und seine Freundin – die Martins Einladung zur Jacht ausgeschlagen haben – nackt im Pool schwimmen. Jed schickt Lish und Dee Dee mit knappen Worten zu Bett und befiehlt Gary aus dem Wasser. Er ist offensichtlich betrunken, und die beiden haben – falls man Ivetas Andeutungen Glauben schenken mag – den lieben langen Tag gebumst, auch im Pool. Rose kneift entsetzt die Augen zu. Meine ältere Schwester war schon immer die etwas Prüdere von uns beiden, aber auch ich finde die Vorstellung, dass Gary ins Schwimmbad unseres Feriendomizils ejakuliert, ziemlich abstoßend.

Jed ist wieder kurz angebunden und wütend. Er nimmt Gary mit gerunzelter Stirn zur Seite, aber es entgeht mir nicht, dass er, während er spricht, die Augen nicht von Iveta wenden kann, die sich noch immer im Wasser aalt. Sie sieht umwerfend aus, mit langen, schlanken Beinen und gewaltigen, hohen Brüsten, die Rose und ich einmütig als künstlich eingeordnet haben.

Rose bringt die Situation so aus der Fassung, dass sie sofort zu Bett geht. Ich schaue nach Dee Dee. Sie sitzt völlig niedergeschlagen auf der Bettkante, im kurzen Baumwoll-Pyjama, aus dem ihre stämmigen und überraschend bleichen Beine ragen.

»Ich kann mein Telefon nicht finden; und weil ich die Ortungs-App ausgeschaltet habe, kann ich nicht herausfinden, wo es ist«, sagt sie. »Ich weiß, dass ich es noch hatte, als wir vom Boot gegangen sind, aber …«

»Hast du’s vielleicht im Taxi liegen lassen?«, frage ich.

»Vielleicht«, antwortet Dee Dee. »Oder es ist heruntergefallen, als wir zum Taxi gegangen sind. Da habe ich es zuletzt gesehen.« Ihr Lippen zittern. »Ich habe es ganz bestimmt in meine Jackentasche gesteckt, aber die ist ein bisschen weit und labberig … und als wir hier angekommen sind, war es auf jeden Fall nicht mehr in meiner Tasche.« Ihr bricht die Stimme.

»Ach, Liebes.« Ich laufe hin und drücke ihr die Hand. »Hör zu, ich bitte deinen Vater, dass er beim Taxiunternehmen anruft.« Dee Dee nickt. Ich drücke ihr noch einmal die Hand. »Es ist furchtbar, wenn man sein Telefon verliert«, sage ich. »Ich kenne das nur zu gut, es ist echt beschissen.«

Jed, der sich über seinen Bruder schon genug aufregt, ärgert sich natürlich, dass Dee Dee nicht besser auf ihr Smartphone aufgepasst hat, und es wird nicht besser, als sich herausstellt, dass kein Mobiltelefon gefunden wurde. Ich sage Jed, dass ich Dee Dee die Nachricht beibringen werde.

»Okay«, sagt er und seufzt erschöpft. »Wenn ich mit ihr rede, mache ich’s wahrscheinlich nur noch schlimmer.«

Ich hole eine Flasche Wasser und eile zu Dee Dee hinauf.

»Kein Hinweis bis jetzt«, sage ich und stelle ihr die Flasche ans Bett. »Aber wir können ja morgen früh noch einmal anrufen, und wenn es dann immer noch nicht aufgetaucht ist, dann fahren wir noch einmal dorthin, wo es vielleicht herausgefallen ist, und fragen herum – versprochen.«

»Danke, Emily.« Sie reckt sich hoch und umarmt mich.

»Und jetzt schlaf ein bisschen.«