Weil du mein Leben bist - Julie Lawson Timmer - E-Book

Weil du mein Leben bist E-Book

Julie Lawson Timmer

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Beschreibung

Charlotte führt ein erfülltes Leben mit ihrem Mann Bradley und seiner 15-jährigen Tochter Allie. Doch ihr Glück wird jäh zerstört, als Bradley bei einem Unfall ums Leben kommt. Plötzlich muss Charlotte alles infrage stellen, was sie bisher für selbstverständlich hielt. Können sie und Allie zusammenbleiben - auch wenn sie Allie nie adoptiert hat? Oder sollte Allie lieber zu ihrer leiblichen Mutter - auch wenn diese sich nie um sie gekümmert hat? Hat Allie nicht ein Recht auf eine "richtige" Mutter? In ihrer Unsicherheit merkt Charlotte kaum, dass Allie sich immer mehr zurückzieht. Bis sie eines Tages verschwindet ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Über das Buch

Charlotte führt ein erfülltes Leben mit ihrem Mann Bradley und seiner 15-jährigen Tochter Allie. Doch ihr Glück wird jäh zerstört, als Bradley bei einem Unfall ums Leben kommt. Plötzlich muss Charlotte alles infrage stellen, was sie bisher für selbstverständlich hielt. Können sie und Allie zusammenbleiben – auch wenn sie Allie nie adoptiert hat? Oder sollte Allie lieber zu ihrer leiblichen Mutter – auch wenn diese sich nie um sie gekümmert hat? Hat Allie nicht ein Recht auf eine »richtige« Mutter? In ihrer Unsicherheit merkt Charlotte kaum, dass Allie sich immer mehr zurückzieht. Bis sie eines Tages verschwindet …

Über die Autorin

Julie Lawson Timmer wuchs im kanadischen Stratford, Ontario, auf und absolvierte ein Jurastudium an der Southern Methodist University. Sie arbeitet als Juristin und schreibt in ihrer Freizeit Romane. Mit ihrem Debüt FÜNF TAGE, DIE UNS BLEIBEN gelang ihr ein beachtlicher Erfolg. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren vier Kindern und zwei geretteten Hunden in Ann Arbor, Michigan.

www.julielawsontimmer.com

Julie Lawson Timmer

Weildu meinLebenbist

Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch vonAnna-Christin Kramer und Jenny Merling

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Untethered«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by Julie Lawson TimmerPublished by arrangement with G.P. Putnam’s Sons,an imprint of Penguin Publishing Group,a division of Penguin Random House LLC.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-BolzUmschlaggestaltung: Sandra Taufer, MünchenUmschlagmotiv © shutterstock: nikoniano | Andrekart Photography |Curly Pat | Helen Hotson | ollen

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4040-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Eins

Char saß in sich zusammengesunken in der Kirchenbank und ärgerte sich über den Sarg. Ihr Bruder Will war wie die anderen auf die Einladung des Pfarrers hin aufgestanden, um hinüber in den Gemeindesaal zu gehen. Er hielt ihr auffordernd die Hand hin.

»Ich brauch noch kurz«, wehrte Char ab.

»Klar, lass dir Zeit.« Will setzte sich wieder und legte ihr den Arm um die Schulter. »So schnell verschwindet hier sowieso keiner.«

In Anbetracht der Wettervorhersage – fünfzehn Zentimeter Neuschnee am Vormittag, gegen Mittag Eisregen – hatte der Pfarrer die Prozession zum Friedhof gestrichen und beschlossen, vom Trauergottesdienst direkt zum Leichenschmaus überzugehen. Bei diesem Wetter war es auf den Straßen einfach zu gefährlich.

»Ich hätte ein dunkleres Holz nehmen sollen«, sagte Char. »Das Ding da hätte Bradley nicht gefallen.« Das Astloch auf der einen Seite des Sargs war ihr erst an diesem Morgen aufgefallen.

»Ich glaube, der hätte ganz andere Probleme«, erwiderte Will. »Dass er dadrin ist, zum Beispiel.«

»Das ist nicht witzig.«

»Ist es wohl. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich Bradley an einem winzigen Astloch gestört hätte. Das wäre ihm bestimmt nicht mal aufgefallen.«

»Von wegen winzig. Natürlich wäre ihm das aufgefallen. Er war Perfektionist. Er war in der Qualitätssicherung. Er war …«

»Er war am liebsten mit seiner Frau und seiner Tochter im Wald unterwegs«, unterbrach Will sie. »Und wahrscheinlich wusste er, dass Holz aus Bäumen gemacht wird und Bäume nun mal Äste haben.«

»Es gab doch auch diesen schwarzen, weißt du noch?«, fuhr Char unbeirrt fort. »Aus synthetischem … sonst was. Der war bestimmt total perfekt, glatt und dunkel und ohne Flecken.«

»Ich wette, der hatte aufgemalte Astlöcher, damit er echt aussieht.« Will zeichnete ihr mit dem Finger einen Kreis auf die Schulter. »Irgendwo sitzt jetzt eine Witwe in einer anderen Kirche und wünscht sich, sie hätte nicht so was Künstliches ausgesucht, wo sie doch echtes Holz hätte haben können. Mit einem großen, natürlichen, wunderschönen Astloch drin.«

Er zog sie an sich, ließ sie los und drückte sie noch einmal kurz. Seine Art, ein Gespräch für beendet zu erklären. Charlotte wusste, er würde ihr am liebsten einen Klaps auf den Hinterkopf geben und sagen, sie solle endlich mit diesem verdammten Astloch aufhören. Immerhin hatten sie das jetzt schon drei Mal besprochen. Sie legte ihm dankbar für seine Geduld die Hand auf das Knie.

»Ich bin bloß…« Sie seufzte. »Ich bin wütend, dass ich mir den Sarg nicht genau angeguckt habe, verstehst du? So wie er es gemacht hätte. Er war so gründlich. In allem. Wenn in meinem Sarg ein Astloch wäre, hätte er das gewusst und vorher geklärt. Er hätte nicht während Amazing Grace draufstarren und sich Vorwürfe machen müssen.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Er hätte das nie …« Sie konnte ihre Schuldgefühle nicht erklären und ließ stattdessen ihren Tränen freien Lauf.

»Schon gut«, flüsterte Will und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. Er griff über sie hinweg nach ihrer Handtasche, holte ein Taschentuch heraus und drückte es ihr in die Hand.

Char putzte sich die Nase und lehnte den Kopf an die Brust ihres Bruders. »Ich will mich ja zusammenreißen, aber …«

Die Tür des Altarraums öffnete sich, und Char spürte, wie Will sich umdrehte. »Hey, Allie!«, rief er.

Char richtete sich ruckartig auf, fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und zwang sich zu einem Lächeln. Die fünfzehnjährige Allie sah sie fragend an.

»Allie!«, sagte Char. »Hast du dir Sorgen gemacht? Ich hab noch kurz mit Onkel Will …«, sie suchte nach einer Ausrede, »… über seinen Flug morgen gesprochen, ob der wohl gestrichen wird. Du weißt schon, wegen des Wetters.« Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und deutete auf die Bank neben sich.

Allie sah zwischen Char und Will hin und her, bevor sie sich auf die Bank fallen ließ. »Du hast Dads Sarg angestarrt.«

»Hab ich nicht«, widersprach Char.

»Und dich über dieses beschissene Astloch geärgert.«

Will lachte, und Allie stimmte mit ein. Char lächelte ihren Bruder dankbar an.

Der Anruf wegen des Unfalls auf der US-127 Richtung Norden hatte sie am Montagabend erreicht. Blitzeis. Karambolage mit vierzehn Autos. Sechs Krankenwagen. Drei Todesopfer. Char und Allie waren weinend auf der Couch zusammengebrochen und hatten sich nur von der Stelle gerührt, um zur Toilette zu gehen, bis Will am Dienstagnachmittag aus South Carolina angereist war.

Wenn er sie nicht auf die Füße gezerrt und unter die Dusche geschickt hätte, würden sie jetzt wahrscheinlich immer noch auf der Couch liegen und miteinander um die Wette schluchzen. Nach seiner Ankunft waren zwar noch reichlich Tränen geflossen, doch dank ihm waren außerdem die nötigen Vorkehrungen getroffen, Freunde und Verwandte angerufen, Mahlzeiten gegessen, Haare gewaschen und schließlich Geschichten – sogar Witze – über den verstorbenen Bradley Hawthorn erzählt worden.

»Nicht so vulgär, junge Dame«, flüsterte Char. Das war Bradleys Spruch gewesen. Er wollte unbedingt den einzigen Teenager in Amerika großziehen, der nicht fluchte.

»Tut mir leid, Dad«, sagte Allie in Richtung Sarg. Sie rutschte näher und legte den Kopf auf Chars Schulter.

Char nahm sie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Haare. »Kommst du klar?«

Allie nickte.

»Ich bin so stolz auf dich. Wäre dein Vater auch.«

»Ich weiß.«

»Wir müssen wohl bald mal raus. Bestimmt wollen alle mit uns sprechen, bevor sie gehen, und bei dem Wetter sollten wir sie besser nicht zu lange warten lassen.«

Allie kuschelte sich enger an sie. »Noch fünf Minuten.«

Char lehnte den Kopf an ihren. »Okay. Aber wirklich nur fünf.«

Will streckte den Arm hinter seiner Schwester nach Allie aus und streichelte ihr beruhigend den Nacken. Char hörte das Summen der Heizkörper, Allies leise, regelmäßige Atemzüge, das Kleingeld in Wills Taschen, als er das Gewicht verlagerte. Gelb-orange Lichtkegel fielen aus einem Dutzend kleiner Leuchten, die die Buntglasfenster anstrahlten. Die weichen Farben hatten eine angenehme Wirkung.

Es ist besser so, dachte Char. Sollte ein offenes Grab wirklich die letzte Erinnerung eines jungen Mädchens an ihren Vater sein? Gab es einen trostloseren, einsameren Ort als einen Friedhof im winterlichen Michigan? Sie stellte sich eine Masse schwarzer Mäntel vor, die sich um ein dunkles Rechteck im gefrorenen Boden drängten, triste, kahle Bäume, die keinen Schutz vor Wind und Schnee boten, den hellgrauen, erbarmungslos öden Himmel. Da verbrachten sie die letzten Momente mit Bradley doch lieber in der sanft beleuchteten Wärme des Altarraums. Char zog Allie fester an sich. Das Mädchen seufzte.

Ein dumpfer Schlag ließ sie zusammenzucken. Die Doppeltür zum Altarraum schwang erneut auf, Licht und Lärm drangen herein. Die drei drehten sich um und blinzelten einer Frau entgegen, die fest mit den Stiefeln aufstampfte, wobei grauer Matsch auf den Teppichboden fiel. Sie rieb die behandschuhten Hände aneinander, schüttelte sich den Schnee aus den Haaren und zupfte sich die Locken zurecht.

»Bin ich doch zu spät!«, rief sie beim Anblick der leeren Reihen laut. Das Geräusch schmerzte Allie, Char und Will. »Mist! Tut mir wirklich leid, aber die Highways sind spiegelglatt. Und dann versucht mal, bei diesem Wetter ein Taxi zu bekommen, das einen nach Mount Pleasant kutschiert.«

Sie trat erneut von einem Fuß auf den anderen und streifte den restlichen Schnee ab. Sie stellte ihre Handtasche auf eine Bank, zog ein Paar Peeptoes mit hohen Absätzen hervor und platzierte sie vor sich auf dem Boden. Dann zog sie sich die Handschuhe aus, legte sie fein säuberlich in die Tasche, knöpfte den Mantel auf und hängte ihn über eine Bank. Sie stieg aus den Stiefeln in die High Heels, strich sich das eng anliegende Kleid glatt, das nicht einmal annähernd ihre Knie erreichte, und tastete wieder prüfend nach ihren Locken. Mit einem Lächeln, das sämtliche strahlend weiß gebleichten Zähne entblößte, breitete sie die Arme aus.

»Hallo, mein Schatz!«

Allie stand auf. »Hallo, Mom.«

Zwei

»Na was denn, willst du deine Mutter nicht mal drücken?«

Allie ging widerstrebend auf Lindy zu, Bradleys erste Frau. Diese schüttelte ungeduldig die ausgebreiteten Arme, machte selbst jedoch keinerlei Anstalten, den Abstand zwischen sich und ihrer Tochter zu verringern. Als Allie endlich vor ihr stand, drückte Lindy sie fest an sich. »Ach, meine Kleine!«

Char sah, wie sie Allie etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin Allie mehrmals nickte und dann in Tränen ausbrach. »Ach, meine Kleine!«, sagte Lindy noch einmal.

Char und Will standen auf. Lindy ließ ihre Tochter los und ergriff Chars Hand. »Charlotte!« Sie neigte den Kopf und musterte sie einen Augenblick, kam dann anscheinend zu dem Schluss, dass ein Händedruck in dieser Situation nicht ausreichte, und zog sie fest an sich. Char hatte große Mühe, in der Wolke aus Haarspray, Kokosöl und Parfüm nicht loszuhusten.

»Du Arme!«, sagte Lindy. »Wie geht’s dir denn so?«

»Ganz gut«, antwortete Char und löste sich aus der Umarmung. »Also, natürlich nicht wirklich gut, aber … du weißt schon.« Sie sah zu Allie. »Wir kommen irgendwie klar. Und du? In letzter Zeit war es ein bisschen holprig zwischen dir und Bradley, ich weiß, aber ihr wart ja immerhin eine ganze Weile zusammen.«

»Wohl wahr, wohl wahr«, seufzte Lindy. »Lange genug, um diese Schönheit hier in die Welt zu setzen.« Sie nahm Allies Hand und betrachtete sie einen Moment lang gedankenverloren, bis ihr Blick an Allies Daumen hängenblieb. Sie kratzte mit dem Zeigefinger über eine Stelle, an der der Nagellack abgesplittert war. Das Mädchen zog die Hand weg und versteckte sie hinter dem Rücken.

Lindy spähte über Chars Schulter zum Sarg hinüber. »Er war meine erste große Liebe. Ich kann einfach nicht fassen, dass mein Bradley jetzt …« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Und dann verpasse ich auch noch die Trauerfeier! Ihr hättet mich vorhin hören sollen, ich hab den Taxifahrer die ganze Fahrt über angeschrien, er soll gefälligst schneller machen.«

»Deshalb hab ich ja auch gesagt, du sollst früher kommen«, sagte Allie. »Weiß doch jeder, dass man im Januar in Michigan mehr Zeit einplanen muss.«

»Jetzt ist Mommy ja da.« Lindy zwang sich zu einem dünnen Lächeln und strich ihrer Tochter über die Haare. Mit gerunzelter Stirn zwirbelte sie eine blonde Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger.

Allie zog den Kopf weg. »Ja, aber du hättest auch pünktlich sein können.«

»Und wer ist dieser gut aussehende junge Mann?«, fragte Lindy mit einem Blick auf Will.

»Das ist mein Bruder Will«, erklärte Char.

Will schüttelte Lindys ausgestreckte Hand.

»Ach, das ist ›Onkel Will‹? Schön, Sie kennenzulernen!« Lindy hielt seine Hand sehr lange fest. »Allie hat mir erzählt, dass Sie für die Mädels der Retter in der Not waren.«

»Das war er wirklich, ja«, sagte Char. Allie öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Char musste lächeln. Sie verkniff sich bestimmt gerade einen Kommentar darüber, dass Will bereits vor mehreren Tagen angereist war.

»Ihr könnt gern nachher beim Essen weiter von mir schwärmen«, wehrte Will ab und schob Char sanft in Richtung Tür. »Jetzt müssen wir uns aber erst mal um die Gäste kümmern.«

»Ich komme gleich nach«, sagte Lindy mit einem Blick auf den Sarg. »Wäre wohl ein bisschen geschmacklos, wenn ich sagen würde, dass ich mir die Chance nicht entgehen lassen will, endlich mal das letzte Wort zu haben, was?«

»Ach, wir haben selbst schon genug Witze von der Sorte gerissen, also tu dir keinen Zwang an«, sagte Char. »Das hätte Bradley bestimmt gefallen.« Sie lächelte Lindy noch einmal zu und wandte sich dann mit Allie und Will zum Gehen.

»Übrigens: Heute Abend schaffe ich’s leider doch nicht zum Essen zu euch«, sagte Lindy plötzlich. Die drei drehten sich zu ihr um. »Ich bin mit ein paar alten Freunden verabredet. Die sind auch schon vor Ewigkeiten aus Mount Pleasant weggezogen und fliegen morgen wieder zurück nach Hause, deshalb haben sie nur heute Zeit.«

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst, Mom!«, rief Allie empört. »Du bist doch gerade erst angekommen! Und Onkel Will fährt morgen Nachmittag schon wieder.«

Will trat einen Schritt auf sie zu und flüsterte ihr ins Ohr: »Ist doch nicht so schlimm, wir kennen uns ja eh kaum.«

»Ich bleibe ja noch bis Mittwoch«, fügte Lindy hinzu. Wieder fiel ihr Lächeln sehr dünn aus. »Wir können gern an den anderen Tagen zusammen essen. Und Onkel Will sehe ich doch bestimmt morgen noch bei euch, oder?«

»Na klar«, sagte Will. »Mein Flug geht erst um vier.«

»Na bitte.« Lindy schien zufrieden.

Allie machte einen Schritt auf sie zu. »Mom!«

Lindy drehte sich um und ging auf den Sarg zu. »Ach, Bradley.«

»Mom!«, rief Allie ihr noch einmal hinterher, aber Lindy ging unbeirrt weiter. Ihr Schluchzen war lauter als die Rufe ihrer Tochter.

Drei

Char stand mit Will in einer Ecke des Gemeindesaals zwischen dem Imbisstisch und der Tür.

»Der perfekte Ort für Beileidsbekundungen: Erst holt man sich einen Kaffee und einen Keks dazu, dann spricht man der Witwe sein Beileid aus, und dann verschwindet man wieder.« Will deutete auf den Tisch für schmutziges Geschirr und den Mülleimer, die neben der Tür standen. »Richtig effizient. Wie am Fließband. Bradley hätte seine helle Freude daran gehabt.«

Char lächelte. Bradley war so viel mehr als nur penibel gewesen. Er war hochintelligent, besaß einen wundervoll trockenen Humor und war seiner Familie vollkommen ergeben. Und doch hatten sie ihn alle gnadenlos wegen seiner Vorliebe für Ordnung und Effizienz aufgezogen. Obwohl Char sich mit Neckereien nicht zurückhielt, fand sie seine Akribie charmant und unglaublich sexy. Männer, die sich für jedes Detail in ihrer Umgebung interessierten, Wert auf Ordnung legten und auch selbst dafür sorgten, wirkten enorm anziehend auf sie.

Qualität, Managementsysteme und Prozessoptimierung waren für Bradley nicht nur Schlagworte in einer Stellenanzeige, sondern eine Lebenseinstellung gewesen. Und die Vierzehn-Stunden-Tage im General-Motors-Werk in Lansing waren in seinen Augen eher Privileg als Pflicht. Früher (oder auch nur pünktlich) nach Hause gehen, wenn es noch ineffiziente Arbeitsprozesse zu entdecken und zu beheben galt? Niemals!

»Du bist wie ein Kind auf Ostereiersuche«, scherzte Char oft. »Macht es dir wirklich noch Spaß, ›rasche und nachhaltige Verbesserung im Herstellungsprozess voranzutreiben‹?« Sie und Allie beherrschten Bradleys Terminologie fließend. Bradley machten diese Neckereien nichts aus, er erwiderte meist nur lachend, sie meine diese Frage doch sicher rhetorisch.

Char schaute zum Tisch. Schiefe Stapel aus schmutzigen Tassen und Untertassen. Kaffeeflecken auf der abwischbaren Tischdecke. Neben dem Geschirr zusammengeknüllte Servietten und verschmähte Keksreste, die es nicht bis in den Mülleimer geschafft hatten.

»Das hier wäre für Bradley das reinste Vergnügen gewesen. Wahrscheinlich würde er den Leichenschmaus unterbrechen und uns alle in Teams einteilen, um die unterschiedlichen Bereiche des Prozesses zu analysieren. Jedes Team müsste einen Bericht verfassen, einen Vorher-Nachher-Vergleich der Metriken. Und garantiert wären dabei Excel-Tabellen im Spiel. Hab ich dir schon von unserem neuen, verbesserten und optimierten Abendessensvorbereitungs- und Abräumsystem erzählt? Frag mal Allie. Das war der reinste Wahnsinn.«

»Vielleicht sollten wir lieber aufhören mit diesen Kommentaren über seinen unverbesserlichen Perfektionismus«, meinte Will. »Als er sich noch verteidigen konnte, war das eine andere Sache.«

»Ach, das hat ihm doch immer gefallen«, erwiderte Char.

Ihre Freundin Colleen tauchte neben ihr auf und ergriff ihre Hand.

»Unverbesserlicher Perfektionismus? Ihr redet bestimmt über Bradley.« Sie gab erst Char, dann Will einen Begrüßungskuss.

Colleen war mit Bradley und Lindy in Mount Pleasant aufgewachsen und behauptete stets, Bradley wäre schon in der Grundschule so zwanghaft gewesen. Lindy, die drei Jahre jünger war als Bradley und Colleen, behauptete dagegen gerne, er wäre damals völlig anders gewesen. Und sein Wunsch, in seinem Heimatstaat zu bleiben, ja, an seinem Heimatort in einer Branche zu arbeiten, von der sie schon lange die Nase voll hatte, sei ein scheidungswürdiger Schock gewesen. Char vermutete, dass beide Versionen der Geschichte stark persönlich gefärbt waren.

»Wann hat denn Miss Hollywood ihren Auftritt gehabt?« Colleen nickte in Richtung Lindy, die gerade eine offensichtlich höchst amüsante Anekdote zum Besten gab.

Alle warfen lachend die Köpfe zurück, bis auf Allie, die neben ihrer Mutter stand und deren Hand auf ihrer Schulter offenbar lediglich duldete. Sie wirkte hin- und hergerissen, als ob sie gerade einen Fluchtplan schmiedete und gleichzeitig hoffte, ihre Mutter würde sie fester an sich ziehen. Ob Allie wohl selbst wusste, was sie wollte?

»Vor einer Viertelstunde«, antwortete Char. »Ihr Flug hatte Verspätung. Sie hat den Anschlussflieger nach Lansing verpasst und musste ein Taxi aus Detroit nehmen. War anscheinend der Horror.«

»Für Lindy wäre Mount Pleasant selbst im Juli bei schönstem Sonnenschein der Horror«, erwiderte Colleen.

»Sei nicht so gemein«, mahnte Char.

Während Lindy redete, tippte sie Allie mit der Fingerspitze auf die Schulter, woraufhin diese sich gerader hinstellte.

»Und dieses Outfit«, fuhr Colleen fort. Lindys Rocksaum war etwa fünfzehn Zentimeter kürzer als der aller anderen anwesenden Frauen und ließ den Blick auf ihre nackten, gebräunten Beine frei. »Warum lässt sie sich nicht gleich ein Tattoo stechen: ›Ich wohne nicht mehr hier‹? Geht bestimmt in einem Aufwasch mit dem Botox. Hab ich dir erzählt, wie sie einmal im Pelzmantel hier aufgekreuzt ist? Im August!«

Char zwickte Colleen leicht in den Arm. »Immerhin trägt sie Schwarz.«

Bis dahin hatte Char Lindy immer nur von Kopf bis Fuß in Quietschrosa gesehen, ob auf Bildern oder in echt. Rosa war ihr Markenzeichen. »Man muss seine eigene Marke kreieren«, erklärte sie gerne. »Rosa ist die Farbe der Liebe.« Sie betrieb ein Hochzeitsplanungsbüro in Hollywood. Love by Lindy: Sie sagen Ja, wir machen den Rest.

»Na gut«, gab Colleen sich geschlagen. »Schön seriös bleiben, bis sie, ähm … wie lange bleibt sie eigentlich?«

»Bis Mittwoch.«

»Um Himmels willen! Fünf Tage? Wie wollt ihr sie denn so lange ertragen?«

»Ist doch schön, dass sie mal länger für Allie da ist.« Char zog an Colleens Arm, bis sie sich ihr zuwandte. »Oder etwa nicht?«

Colleen schaute zur Decke.

»Colleen«, sagte Char mahnend.

»Wenn man mal von der Tatsache absieht, dass sie quer durch die USA reisen muss, um ihre eigene Tochter zu sehen …«

»Colleen!«

»Ja, ja. Es ist schön, dass sie für Allie da ist.«

»So ist es brav.« Char deutete auf den Imbisstisch. »Jetzt darfst du einen Keks haben.«

»Falls noch welche übrig sind«, sagte Will. Er deutete auf ein kleines Mädchen, das mit den Fäusten voller Cookies auf sie zugerannt kam.

»CC!« Der Spitzname ging auf Allies Konto, heute benutzte sie selbst ihn jedoch nur noch selten. Ursprünglich hatte sie Charlotte »CharChar« getauft, dann jedoch beschlossen, das sei zu kindisch, und den Namen zu einer »cooleren« Version verkürzt.

»Morgan!« Char fing die Zehnjährige auf, die sich ihr so schwungvoll in die Arme warf, dass sie ein paar Schritte zurücktaumelte. »Das hier ist Morgan Crew«, erklärte sie Will. »Du weißt schon, mit ihr verbringt Allie den Montagnachmittag.« Sie wandte sich wieder der Kleinen zu. »Ich wusste gar nicht, dass du hier bist. Wahrscheinlich habe ich gerade nicht hingeguckt, als du dich reingeschlichen hast. Allie freut sich bestimmt riesig.«

Sie schaute über Morgans Kopf hinweg, ob Allie sie gesehen hatte. Natürlich – alle Umstehenden hatten den Kopf gewandt, als das kreischende Kind vorbeigerannt war. Die Erwachsenen waren wieder zu ihren Gesprächen übergegangen, doch Allie schlich sich von hinten an Morgan heran und tippte ihr auf die Schulter. »Das ist ein Überfall. Her mit den Keksen!«

»Allie!« Morgan wirbelte herum und warf die Arme noch freudiger um sie als um Char.

Dave Crew kam auf sie zu, Morgans Vater. Neben ihm hielt im Laufschritt ihr vierjähriger Bruder Stevie mit, dahinter folgte ihre Mutter Sarah, die Morgans Jacke in der Hand hielt.

»Hallo«, begrüßte Char die Crews. »Ich habe gerade schon zu Morgan gesagt, ich wusste gar nicht, dass Sie hier sind.«

»Na klar«, erwiderte Sarah. »Ihre Familie bedeutet uns so viel, da wollten wir uns natürlich persönlich von Bradley verabschieden.«

Dave lächelte zustimmend und streichelte seinem Sohn über den Kopf. Der Junge wollte sich zu den Mädchen stehlen, die miteinander kicherten und tuschelten. »Lass die beiden mal in Ruhe«, sagte Dave zu ihm. Stevie unternahm einen letzten Ausreißversuch, gab dann aber auf.

»Schön, dass du auch hier bist, Stevie«, sagte Char, um ihn abzulenken. Sie streckte ihm die offene Hand hin, und er schlug mit aller Kraft ein, so wie immer. Char sog scharf die Luft ein, auch so wie immer, und tat, als untersuchte sie ihre Hand auf Knochenbrüche.

Stevie lachte entzückt. Er liebte wortlose Interaktionen genau wie alles, was er vorhersehen und wiederholen konnte. Das hatte Morgan ihr bereits bei ihrem ersten Treffen Anfang September nach der Nachhilfestunde erklärt, bei der die beiden Mädchen sich kennengelernt hatten. Als Char sich später die High-Five-Knochenbruch-Routine einfallen ließ, hatte Morgan ihr ein leises Dankeschön zugeraunt.

»Danke fürs Kommen!«, sagte Char zu dem Jungen.

»In!« Stevies Augen leuchteten hinter den dicken Brillengläsern auf, mit der Hand deutete er in Richtung des Tisches neben der Tür.

Char lächelte freundlich und wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde, doch Stevie war seine Botschaft bereits losgeworden und sah sie nun an, als erwartete er eine Antwort von ihr.

»In … der Kirche?«, riet Char.

Er nickte. Weil sie das Ende seines Satzes erraten oder weil er keine Lust auf eine weiterführende Erklärung hatte? Char wusste es nicht. So ging es ihr bei jeder Unterhaltung mit dem Vierjährigen. Wie oft er im Laufe eines Tages wohl missverstanden wurde?

»Ja, du warst in der Kirche.« Wenn sie ihn das nächste Mal sah, würde sie sich mehr Mühe geben, aber heute wählte sie den einfachsten Weg. Sie wandte sich wieder an seine Eltern. »Sehr nett, dass Sie gekommen sind.«

»Ach was«, antwortete Sarah. »Überhaupt kein Problem. Nach allem, was Allie für Morgan getan hat, war das wirklich das Mindeste.«

Das Nachhilfeprogramm brachte herausragende Schüler aus den höheren Jahrgangsstufen mit leistungsschwachen Grundschülern zusammen. Jeweils montags nach der Schule trafen die Pärchen sich für zwei Stunden. Manche hatten zu einem Zwei-Wochen-Modus gewechselt, andere hatten sich endgültig getrennt, und wie bei jedem schulischen Angebot, das nicht verpflichtend war, fehlten jede Woche mehrere Schüler. Morgan und Allie hingegen hatten in fünf Monaten keinen einzigen Termin ausfallen lassen.

Char betrachtete die beiden Mädchen. Von hinten hätten sie fast als Schwestern durchgehen können. Beide hatten glattes strohblondes Haar, das ihnen bis über die Schultern reichte – Morgan hatte ihres extra wachsen lassen. Sie war jedoch blasser als Allie und hatte zehn Mal so viele Sommersprossen.

Außerdem, und das war der auffälligste Unterschied, war Allie groß und hatte lange, muskulöse Arme und Beine, während Morgan mit ihrem kugelrunden Bauch viel jünger wirkte als zehn. In Kombination mit dem Kleinmädchenkörper wirkte ihre raue Stimme – ihr »Kettenraucherorgan«, wie Bradley es genannt hatte – umso verwirrender.

»Ach, Quatsch!«, meinte Allie gerade zu Morgan, doch das Mädchen nickte heftig. Allie wuschelte ihr durchs Haar. »Du erzählst immer so verrückte Geschichten, da weiß ich nie, ob ich dir glauben soll!«

Char wandte sich wieder an Sarah. »Sie schulden Allie jedenfalls überhaupt nichts. Das sieht mir ganz nach einer symbiotischen Beziehung aus.«

»Ja, die beiden geben ein hübsches Paar ab«, erwiderte Sarah. »Wir fanden es bloß wichtig, dass Morgan sich von Allies Vater verabschieden kann. Und wir natürlich auch. Wir werden für Sie beten.« Sie berührte Char am Arm. »Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.« Ihr Mann brummte zustimmend.

»Danke.« Ob das wohl die richtige Antwort war? Sarah hatte schon öfter aus der Bibel zitiert, und Char hatte mehrere Reaktionen ausprobiert, doch keine davon schien ihr so richtig passend. In diesem Fall war ein einfaches »Danke« aber anscheinend in Ordnung.

»Die Bibel tröstet mich persönlich oft«, fuhr Sarah fort. »Im Johannesevangelium gibt es ein paar wirklich schöne Verse. ›Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch.‹«

Char überlegte, ob sie ihr erneut danken sollte, doch da flüsterte Dave seiner Frau zu, es werde langsam Zeit. Sarah nickte und streckte ihrer Tochter die Jacke entgegen. »Komm, Schatz, zieh dich an.«

Morgan, die gerade mitten in einer offensichtlich aufregenden Geschichte steckte, warf Sarah einen unglücklichen Blick zu, woraufhin diese die Jacke wieder sinken ließ. »Na gut, noch ganz kurz.« Ihr Mann sah sie an, und sie zuckte mit den Schultern. »Wenigstens hat sie gute Laune.« Er wollte etwas erwidern, doch sie kam ihm zuvor. »Außerdem tun wir Allie damit einen Gefallen.« Ihrer Tochter rief sie zu: »Noch fünf Minuten, dann ist Schluss. Daddy macht sich Sorgen wegen der Straßen.«

Sarah wandte die Aufmerksamkeit ihrer Garderobe zu, strich nichtexistente Falten aus ihrem Mantel und zupfte zwei winzige Fussel von ihren Ärmeln. Dann wickelte sie sich den Schal um, wieder ab und erneut um, bis sie mit dem Knoten zufrieden war, und zog schließlich ein paar passende Handschuhe aus der Handtasche, die sie vor dem Überstreifen inspizierte. Char hatte Sarah seit Anfang September jede Woche gesehen, und jedes Mal war sie makellos gekleidet.

Dave wippte unruhig von einem Fuß auf den anderen und fuhr sich mit dem Finger innen am Hemdkragen entlang, um sich mehr Luft zu verschaffen. Sarah hatte Char einmal erzählt, dass sie sich für den Gottesdienst in ihrer Gemeinde nicht fein machten, und Dave war als Mechaniker eher an weite Overalls, ausgebeulte Jeans und T-Shirts gewöhnt. Char vermutete, dass dieser Anzug sein einziger war und nur für Hochzeiten und Todesfälle aus dem Schrank genommen wurde.

»Allie ist ganz schön groß geworden«, meinte Dave. Er hatte an dem Orientierungsabend zu Beginn des Schuljahres teilgenommen, aber das Abholen von der Nachhilfe übernahm immer Sarah mit Stevie. »Fast schon sechzehn, hat Morgan erzählt. Kriegt bald ihren Führerschein. Im Juni, oder? Ein großer Schritt, hm?«

Char wurde blass. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Das hatte sie ja völlig vergessen! Nicht etwa Allies Geburtstag, sondern dass sie vielleicht nicht mitfeiern würde.

Gemeinsam mit Bradley und Allie war dieser Geburtstag eingehender diskutiert worden als die fünf vorausgegangenen, bei denen Char dabei gewesen war. Allie wollte sich für die frühestmögliche Führerscheinprüfung an ihrem Geburtstag anmelden, und danach würden sie zum Brunch gehen. Noch vor einer Woche hatten sie darüber gesprochen. Allie hatte ihren Laptop ins Wohnzimmer gebracht, wo Char und Bradley aneinandergekuschelt einen Film schauten. Sie zeigte ihnen die Website der Fahrschule, auf der stand: Derzeit keine Anmeldung möglich.

»Wie bleiben die überhaupt im Geschäft, wenn sie so unorganisiert sind?«, fragte Allie empört.

»Du hast noch fünf Monate Zeit«, erwiderte Bradley. »In deinem Alter plant doch keiner über die nächste Woche hinaus. Wahrscheinlich kannst du dich im April oder Mai anmelden.«

»Bei Stanley konnte ich jedenfalls schon einen Tisch reservieren.«

»Du hast jetzt schon einen Tisch für deinen Geburtstagsbrunch reserviert?«, fragte er lachend. »Gib mir mal den Laptop, dann reservier ich auch gleich schon mal das Gartenzimmer im Golfclub für deine Abschlussfeier in zweieinhalb Jahren. Und wenn ich schon mal dabei bin, vielleicht auch gleich noch den Saal für deine Hochzeit. Wie sieht’s mit 2030 aus? Hast du da schon was vor?«

Allie nahm ihm den Laptop weg. »Haha, sehr komisch! Mach dich nur über dein gut organisiertes Kind lustig, du Übervater. Als Nächstes beschwerst du dich, dass meine Noten zu gut sind. ›Mach dich doch mal locker‹«, imitierte sie Bradley mehr schlecht als recht. »›Lern nicht so viel, und trink lieber mehr.‹«

»Dass mir ja auch mal eine Zwei zwischen den ganzen Einsen dabei ist!« Bradley hob mahnend den Zeigefinger. »Und Zigaretten nur mit Filter. Ich bin schließlich immer noch dein Vater. Irgendwo muss ich die Grenze ziehen.«

»Vielleicht lade ich dich wieder aus«, erwiderte Allie gespielt genervt, als sie aus dem Zimmer ging. »Dann machen CC und ich einen Mädelsbrunch draus.«

Char versetzte dem lachenden Bradley einen Klaps, woraufhin er Allie schuldbewusst hinterherrief, er wisse ihre Zielstrebigkeit wirklich zu schätzen.

Bei der Erinnerung daran stiegen Char Tränen in die Augen. Darüber hatten sie in den letzten Tagen überhaupt nicht gesprochen, und es erwischte sie gerade völlig auf dem falschen Fuß. Will legte ihr die Hand auf die Schulter.

Dave bemerkte die Tränen in Chars Augen und sah zu ihrem Bruder. »Oh, tut mir leid. Da hab ich wohl was Falsches gesagt.«

Will drückte seiner Schwester die Schulter. »Es ist nur noch nicht ganz geregelt, ob Allie im Juni noch hier ist oder bei ihrer Mutter in Kalifornien.«

»Bei ihrer Mutter?« Dave sah zu seiner Frau, die ihm einen mahnenden Blick zuwarf. »Ach so, natürlich.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter auf Lindy. »Die haben wir ja vorhin kennengelernt. Die, ähm, Lebhafte? Linda?«

Colleen musste bei dieser Beschreibung ein Lachen unterdrücken. »Lindy«, verbesserte Sarah ihren Mann.

»Aber sie wohnt doch in Hollywood, oder?«, fragte Dave. »Oder da in der Ecke. Arbeitet sie nicht dort, während Allie bei Ihnen lebt? Klang eigentlich nach einer Dauerregelung. Deswegen hab ich angenommen …«

»War es auch«, antwortete Char. »Aber jetzt ist das nicht mehr so einfach. Ich bin ja nur ihre Stiefmutter.« Sie dachte kurz darüber nach und revidierte ihre Aussage. »War. Ich war ihre Stiefmutter. Ich war nur durch die Ehe mit ihrem Vater mit ihr verbunden. Ohne ihn bin ich …« Sie verkniff sich das »Gar nichts«. Es kam ihr zu melodramatisch vor. Doch ein besseres Ende gab es für den Satz nicht, und so ließ sie ihn einfach unbeendet.

Einmal hatte sie mit Brad darüber gesprochen, Allie offiziell zu adoptieren. Doch er meinte, seine Exfrau würde ihre Rechte niemals aufgeben. Als abwesende Mutter konnte Lindy sich damit rechtfertigen, es sei wegen ihrer Karriere das Beste für Allie, im Mittleren Westen aufzuwachsen, wo die Welt noch heil war. Doch ihre Tochter offiziell aufgeben? Zu dem damit verbundenen Geständnis hätte Lindy sich niemals hinreißen lassen.

Char war damals nicht weiter darauf eingegangen. Es hatte keinen Grund gegeben. Was machte es für einen Unterschied, ob sie Allies Erziehungsberechtigte war oder einfach ihre Stiefmutter? Reine Formsache, mehr nicht. Char war ein Teil von Allies Leben. Reichte das etwa nicht?

Natürlich hatte es gereicht.

Solange Bradley noch am Leben war.

Char sah zu dem Mädchen hinüber. Allie war nie wirklich ihre Tochter gewesen, und jetzt war sie genau genommen nicht einmal mehr ihre Stieftochter. Char konnte die Tränen nicht zurückhalten, aber dummerweise hatte sie das Taschentuch weggeworfen, das ihr Bruder ihr gegeben hatte. Sie streckte die Hand hinter sich nach Colleen aus und bekam sofort ein neues von ihr gereicht. Sie musste sich zusammenreißen, bevor Allie etwas merkte.

Sie hatte jeden Gedanken an die Zukunft gemieden. Alles war in der Schwebe, nachdem Lindy in den letzten Tagen bei dem Thema hin- und hergeschwankt war. Vielleicht würde Allie noch fünf Monate bleiben, bis das Schuljahr endete. Vielleicht würde sie noch zweieinhalb Jahre bleiben, bis sie von der Highschool abging. Vielleicht würde Lindy sie nächste Woche schon mit nach Kalifornien nehmen.

Eben war Char noch Ehefrau, Stiefmutter und ein Drittel einer Familie gewesen. Jetzt war sie gar nichts mehr. Von drei wichtigen Aufgaben auf null, und das innerhalb nur eines Tages, innerhalb eines Wimpernschlags. Ihr bisheriges Leben war mit dem letzten Aufflackern einer Bremsleuchte zu Ende gegangen.

Den ganzen Vormittag über hatte sie Beileidsbekundungen entgegengenommen. Doch alle dachten dabei nur an Bradley. Ihren schlauen, lustigen, perfektionistischen Bradley. Ja, er war ihr entrissen worden, und es tat verdammt weh. Es brannte in ihrem Inneren, höhlte sie derart aus, dass sie glaubte, nie wieder etwas für irgendeinen Mann empfinden zu können.

Aber sie war nicht nur von der Ehefrau zur Witwe geworden. Sie hatte nicht nur ihren Mann verloren. Das Schicksal hatte sich auf der US-127 Bradleys Leben geschnappt, und im selben Moment hatte ihr das Gesetz die Familie entrissen. Das Mädchen, mit dem Char fünf Jahre lang unter einem Dach gelebt, das sie wie eine Tochter behandelt, wie eine Tochter geliebt hatte, war nun nicht mehr ihre Tochter.

Char hatte die Mutterrolle in Allies Leben übernommen. Tag für Tag hatte sie ihr in den letzten fünf Jahren mit den Hausaufgaben geholfen, ihr Brote geschmiert, ihr den ersten BH gekauft und die ersten Tampons. Sie war mit einer starken emotionalen Bindung belohnt worden, doch nichts davon änderte etwas an Chars gesetzlichen Ansprüchen – sie hatte keine. Während Lindy, die sich gerade mal zur vorübergehenden Gastgeberin herablassen konnte, wenn Allie sie für ein paar Tage in Kalifornien besuchte, nun das alleinige Sorgerecht trug.

Weil Lindys Name auf der Geburtsurkunde stand. Char dagegen war nur eine Frau, die eine Weile mit Allies Vater verheiratet gewesen war.

Vier

Nachdem einige von Lindys Freunden erfahren hatten, dass ihre Flüge auf den nächsten Tag verschoben worden waren, ging ihr gemeinsames Abendessen in einen Brunch über. »Aber danach komme ich dann wirklich gleich zu euch«, versicherte Lindy ihrer Tochter am Sonntagmorgen am Telefon. »Wir können ja zusammen zu Mittag essen. Ich dachte, du schläfst eh bis mittags, Teenager sind doch so!«

Allie saß am Küchentisch und berichtete Char und Will von dem Telefonat, während die beiden sich um die Herrschaft über den Herd stritten. Char warf einen Blick auf die Uhr: Es war Punkt zehn. Allie war schon ihr ganzes Leben lang Frühaufsteherin und bereits seit zwei Stunden wach, geduscht und angezogen.

»Kein Problem«, antwortete Char und stellte den vierten Teller vom Tisch zurück in den Schrank. »Wir finden schon was fürs Mittagessen. Ich hatte da nichts geplant, aber zur Not bestellen wir einfach Pizza.«

»Ich glaub nicht, dass wir da was finden, was ihr schmeckt«, sagte Allie. »Sie steht ja mehr so auf Weizengras-Shakes, nicht unbedingt auf Pizza und Burger.«

»Hm, stimmt.« Char ging im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch. Viele gab es nicht, und davon würde Lindy wahrscheinlich auch nichts gefallen. »Ich könnte schnell zum Supermarkt.« Sie dachte an den Laden, der vor Kurzem aufgemacht hatte. Es war der größte im Ort, aber eine Saftbar, Grünkohlsmoothies oder auch nur eine Bioabteilung gab es dort trotzdem nicht.

»Ach, mach dir keinen Kopf«, sagte Allie beruhigend. »Sie trinkt im Moment eh nur Wasser, sie macht doch gerade ihr Fastenwochenende. Oder ist jetzt das Entschlackungswochenende dran? Jedenfalls isst sie da sowieso nichts Normales. Schon gar nicht so was.« Allie nickte zum Herd, wo Will sich an drei Pfannen gleichzeitig zu schaffen machte: eine mit Rührei, eine mit Bacon und eine mit Kartoffelspalten und Zwiebeln. »Ist also ganz gut, dass sie jetzt noch nicht hier ist.«

»Wir sorgen wohl mal besser dafür, dass wir das alles wegräumen, bevor sie kommt«, sagte Will. »Nicht, dass du noch Ärger kriegst!«

»Keine Sorge«, antwortete Allie. »Wenn ich bei ihr bin, versucht sie mir zwar immer ihre Gesundheitsshakes anzudrehen, aber sie weiß genau, dass ich hier eh wieder normal esse. Also, ich nenne es ›normal‹, sie nennt es ›Bauernfraß‹. Sie hat mir mal erzählt, seitdem sie von hier weg ist, hat sie keinen Hamburger und keine Pommes mehr gegessen. Krass, oder? Nicht ein einziges Mal!«

Will naschte ein Stück Kartoffel aus der Pfanne. »Da haben sie und ich ja doch mehr gemeinsam, als ich dachte. Ich hab auch schon ewig keine Pommes mehr gegessen, seit mindestens vierundzwanzig … nein, warte … seit sechsunddreißig Stunden.« Er klopfte sich lachend auf den Bauch. »Aber sie treibt bestimmt ein bisschen mehr Sport als ich.«

»Ein bisschen mehr?«, mischte sich Char ein. »Womöglich zwei Mal im Jahr?«

Will drohte ihr mit dem Pfannenwender. »Pass auf, was du sagst, sonst kriegst du gar nix ab!«

Char sah an sich hinunter auf ihren kleinen Bauch. Genau wie ihr Bruder war sie noch nie sonderlich versessen auf Sport gewesen und auch keine disziplinierte Esserin. Bradley hatte sich ebenfalls nie Gedanken ums Essen gemacht, aber im Gegensatz zu ihr war er mit einem Stoffwechsel gesegnet, der ihm dies auch erlaubte. Wobei, wirklich dünn war er auch nie gewesen.

Sie hatten stets darauf geachtet, sich nie vor Allie kritisch gegenüber Lindys Gesundheitswahn zu äußern, der mal diese, mal jene Formen annahm. Sie hatten vor Allie überhaupt nie kritisch über sie gesprochen, und Lindy hatte es größtenteils ebenfalls so gehalten.

Seitdem sie vor acht Jahren verkündet hatte, dass sie Bradley, die gemeinsame Tochter und »diese verdammte Spießerstadt« verlassen würde, um nach Kalifornien zu ziehen, hatte es durchaus den einen oder anderen Streit zwischen ihr und Bradley gegeben. Sie hatten einander jedoch das Versprechen gegeben, dass sie ihre Verbitterung nie gegenüber Allie zeigen würden. Auch wenn Lindy sicher nicht der einfachste Mensch war – sie hatte sich, so gut sie konnte, an dieses Versprechen gehalten. Das rechnete Char ihr hoch an, und sie hielt sich deshalb ebenso daran.

»Deine Mutter ist auf jeden Fall besser in Form als wir«, sagte sie jetzt zu Allie. »Und wenn sie zu Mittag nur einen Kaffee oder ein Glas Wasser trinken will, meinetwegen. Haben wir eigentlich noch Zitronen?« Sie öffnete den Kühlschrank und zog das Gemüsefach auf, zuckte jedoch zurück und schlug die Tür schnell wieder zu. »Okay, ins Gemüsefach darf sie auf keinen Fall schauen, solange sie hier ist, sonst erlaubt sie dir nie, noch bis zu den Ferien hier zu wohnen.«

Allie biss sich auf die Lippe und sah zu Boden. Natürlich, jetzt hatte sie das Mädchen an das Thema erinnert, das die ganze Zeit im Raum stand, das aber niemand ansprechen wollte: Seit Montagabend war nicht mehr klar, wo Allie demnächst leben würde.

»Jetzt frühstücken wir erst mal!«, versuchte Char schnell abzulenken. Sie trug die Pfanne mit dem Rührei zum Tisch und teilte es auf die drei Teller auf. Will folgte ihr mit den Kartoffeln, und Allie sprang auf und holte den Bacon.

»Ich würde euch gern Saft anbieten, aber ich weiß nicht, wie lange der da schon offen steht«, sagte Char.

»Soll ich vielleicht den Kühlschrank ausräumen und noch mal zum Supermarkt?«, bot Will an. »Wenn du dafür die Aktenstapel im Büro durchgehst, fahr ich schnell los, das schaffe ich noch vor meinem Flug.« Er griff nach Chars Hand. »Der geht leider pünktlich, dabei hab ich mir so gewünscht, dass er verschoben wird. Ich lass euch beide so ungern jetzt schon allein, ich würde wirklich lieber noch eine Woche bleiben.«

»Mach dir mal keine Sorgen um uns, Herr Professor«, beruhigte ihn Char. »Wir kommen schon klar, wir haben doch verschimmelten O-Saft und pelzigen Käse, falls wir uns einsam fühlen! Und deine Studenten brauchen dich.«

Wie seine Schwester arbeitete auch Will an der Universität. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich jedoch hinter seine Karriere geklemmt, anstatt sie zugunsten eines Ehemanns und einer Stieftochter mehr oder weniger aufzugeben. Er arbeitete als Professor für Ingenieurwesen an der Clemson University und hatte bereits seine liebe Mühe gehabt, eine Vertretung für die letzte Woche zu finden.

Char war ebenfalls Professorin. Sie hatte an der American University in Washington, D.C., Journalismus gelehrt – ihr Traumjob. Nebenbei hatte sie noch als freiberufliche Lektorin gearbeitet, größtenteils Fachtexte und Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften, aber immer öfter war auch eine Kurzgeschichte oder ein Roman dabei gewesen.

Sie hätte nicht glücklicher sein können und wohl auch nie im Leben etwas an ihrer Situation geändert, wenn sie nicht eines Abends zusammen mit ihrer Freundin Ruth eine überfüllte Bar auf der 14th Street betreten und dabei einen Fahrzeugingenieur aus Michigan kennengelernt hätte, der für ein streng geheimes Treffen mit dem National Highway Transportation Safety Board in der Stadt war. Für Ruth war der junge Mann ein netter Gesprächspartner für einen Abend. Char wollte ihn sofort fürs ganze Leben.

Als Ruth sie später fragte, was es denn genau gewesen sei, das sie so an ihm fasziniert hatte, konnte sie es nicht sagen. Haare, Augen, Figur – alles durchschnittlich. Von außen betrachtet gab es nichts an ihm, das ihn von anderen Männern unterschied.

Aber er war witzig, konnte über sich selbst lachen und beugte sich interessiert zu ihr herüber, wenn sie sprach, als wollte er kein einziges Wort verpassen. Die Männer, mit denen sie bisher ausgegangen war, waren immer nur versessen darauf gewesen, dass sie auch ja gebührend beeindruckt von ihnen war. Sie warteten stets ungeduldig, dass sie wieder mit dem Reden an der Reihe waren. Für das, was Char zu erzählen hatte, interessierten sie sich kaum.

Char hatte Ruth immer gesagt, sie würde lieber für den Rest ihres Lebens Single bleiben, als sich so einen Typen anzutun. In der Bar auf der 14th Street, als sie diesem Mann aus Michigan gegenübersaß, dem es nicht nur darum ging, sie zu beeindrucken, war sie froh über ihre Haltung. Genau auf so einen hatte sie gewartet.

»An dem Abend lag was in der Luft«, sagte Ruth später. »Man konnte die Funken zwischen euch praktisch sehen.« Und diese Funken sorgten dafür, dass sich Char (laut Ruth mit Lichtgeschwindigkeit) verwandelte: von der sonst so taffen Professorin, die nur kurz mit einer Kollegin etwas trinken wollte, in ein verliebtes Schulmädchen, das darauf hoffte, der Junge würde ihre Bücher tragen und sie nach ihrer Telefonnummer fragen.

Bradley ging es in Bezug auf Char ganz genauso, und exakt ein Jahr später standen die beiden mit Ruth und Will als Trauzeugen in Bradleys Garten vor einem Pfarrer. Außer Bradleys neunjähriger Tochter Allie war niemand dabei.

Danach trat Char nicht etwa bloß kürzer, nein, sie stieg gleich mehrere Sprossen auf einmal auf der Karriereleiter hinunter. »Man könnte auch sagen, ich bin runtergesprungen«, hatte sie einmal zu ihrem Bruder gesagt. Vor Bradley sprach sie jedoch nie davon. Sie tauschte ihre Professur gegen freiberufliche Arbeit, lektorierte von nun an fast ausschließlich und unterrichtete nur noch sporadisch. Jeden Donnerstag leitete sie ein Journalismus-Seminar an der Central Michigan University in Mount Pleasant und stand als Beraterin für die Print- und Online-Ausgabe der Unizeitung zur Verfügung.

»Was für Akten sind das eigentlich?«, fragte Allie.

»Irgendwelches Zeug für die Firma«, antwortete Char. »Die haben letzte Woche angerufen, es täte ihnen total leid, dass sie uns damit behelligen müssen, aber sie bräuchten irgendwelche Papiere. Sie haben sogar angeboten, die Sachen selbst abzuholen, aber Will meinte, er nimmt das alles mit nach Lansing und fährt auf dem Weg zum Flughafen bei der Firma vorbei. Ich glaube, was die brauchen, ist in einem der Stapel auf dem Schreibtisch, ich hatte bloß bis jetzt keinen Nerv, mich darum zu kümmern. Aber jetzt muss es leider sein.«

»Ich finde ja immer noch, du solltest das einfach alles in einen Karton tun und das Sortieren denen überlassen«, meinte Will.

»Finde ich auch«, sagte Allie. »Onkel Will soll denen ruhig alles mitgeben, dann ist das Büro endlich frei, und du kannst es nutzen. Ist doch viel schöner für dich, als immer am Küchentisch oder auf der Couch zu arbeiten. Ich hab Dad schon so oft gesagt, dass du das Büro viel dringender brauchst als er. Ich meine, er bleibt doch eh immer so lange in der Firma, bis er seinen ganzen Papierkram erledigt hat, er braucht das doch gar nicht.«

Sie legte die Gabel neben den Teller und senkte den Kopf. »Ist geblieben. Er ist immer so lange in der Firma geblieben, bis er mit allem fertig war. Wann höre ich endlich auf, von ihm zu reden, als würde er noch leben?«

»Passiert mir auch ständig«, sagte Char. »Ist doch normal.«

»Ist es auch normal, ab und zu auf seinem Handy anzurufen, um noch mal seine Stimme zu hören?« Allie hielt den Kopf immer noch gesenkt.

»Das hoffe ich doch, das mache ich nämlich auch.«

Endlich sah Allie hoch. Sie lächelte schief und schniefte. »Und was ist damit?« Sie schob ihren Stuhl ein Stück zurück und hob ein Bein hoch in die Luft. Am Fuß trug sie einen gepunkteten Herrenstrumpf.

»Wow, du bist echt …«, setzte Will an.

»Total bescheuert, ich weiß«, unterbrach ihn Allie und ließ das Bein schnell wieder sinken. Sie wurde rot.

»Nein!«, rief er. »Das meinte ich überhaupt nicht!« Er warf Char einen hilflosen Blick zu.

»Will hätte bloß nicht gedacht, dass du dein Bein so hoch kriegst.« Char stand auf und ging um den Tisch herum zu Allie. Sie zog ein Hosenbein hoch und wackelte mit den Zehen. Allie sah hinunter. Ein Herrenstrumpf mit Streublümchenmuster.

Sie versuchte wieder zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Er fehlt mir so!«

Char ging in die Knie und umarmte das Mädchen. »Natürlich, mir doch auch. Du musst nicht dabei sein, wenn ich im Büro rumräume. Und Will muss auch noch gar nichts davon mitnehmen, das hat noch Zeit. Ist noch viel zu früh.«

»Nein«, sagte Allie, »ist schon gut. Das mit dem Büro ist völlig okay, das ist nicht das Problem. Es ist einfach …« Sie zuckte mit den Schultern.

»… einfach alles«, beendete Char den Satz für sie. »Seine Stimme auf der Mailbox, und die Socken, und dass wir in der Vergangenheit von ihm reden müssen und überhaupt hier sitzen und diskutieren, was in dieser Situation normal ist und was nicht. Im Moment ist gar nichts normal. Und ein Leben ohne ihn wird sowieso nie wieder völlig normal.«

»Genau.« Allie schniefte wieder.

»Also, wie gesagt, du musst mit dem Ausräumen überhaupt nichts zu tun haben«, sagte Char noch einmal und nickte in Richtung Büro, das sich auf der anderen Seite des Wohnzimmers befand. Der hintere Teil des Hauses war offen gehalten, Küche, Essecke und Wohnzimmer bildeten einen großen Raum. Nur das Büro war durch eine Tür abgetrennt.

»Ist schon in Ordnung.« Allie stand auf, stapelte die Frühstücksteller aufeinander und trug sie zur Spüle. »Vor allem will ich noch so viel Zeit mit Onkel Will verbringen wie möglich.«