Weil ich dir glaube - Emma S. Rose - E-Book

Weil ich dir glaube E-Book

Emma S. Rose

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Welt bietet Möglichkeiten, die nicht immer offensichtlich sind. Jo ist die Ruhe in Person. Als bester Freund von Daniel hat er einen festen Platz in der Gruppe JumpSquad und wird für seine ausgeglichene Art sehr geschätzt. Obwohl er attraktiv ist, gibt es keine Frau an seiner Seite. Bisher hat ihn keine genug gereizt, und für unverbindlichen Spaß ist er nicht zu haben. Lieber widmet er sich dem Sport. Nathalie ist eine Einzelgängerin. Sie muss sich täglich mit Problemen auseinandersetzen, die ihr Leben komplizierter machen. Einzig in ihrer Hündin Romy findet sie einen treuen Begleiter. Plötzlich läuft ihr immer wieder dieser hochgewachsene Kerl über den Weg. Er löst vieles in ihr aus - und er bringt ihre Welt ins Wanken. Kann sich wirklich mehr zwischen ihnen entwickeln?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



WEIL ICH DIR GLAUBE

EMMA S. ROSE

Weil ich dir glaube

Emma S. Rose

 

1. Auflage

Februar 2018

© Emma S. Rose

Rogue Books, Inh. Carolin Veiland, Franz - Mehring - Str. 70, 08058 Zwickau

[email protected]

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von Aleshyn_Andrei / shutterstock.com sowie Letlice

Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung und Vervielfältigung - auch auszugsweise - ist nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin gestattet.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes in andere Sprachen, liegen alleine bei der Autorin. Zuwiderhandlungen sind strafbar und verpflichten zu entsprechendem Schadensersatz.

Sämtliche Figuren und Orte in der Geschichte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit bestehenden Personen und Orten entspringen dem Zufall und sind nicht von der Autorin beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Für all jene, die schon in Alltagssituationen

vor unüberwindbare Hürden gestellt werden,

diese aber immer und immer wieder aufs Neue meistern.

Ich bewundere eure Stärke!

Geliebt wirst du einzig, wo schwach du dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.

ADORNO

INHALT

1. Jo

2. Nathalie

3. Jo

4. Nathalie

5. Jo

6. Nathalie

7. Jo

8. Nathalie

9. Jo

10. Nathalie

11. Jo

12. Nathalie

13. Jo

14. Nathalie

15. Jo

16. Nathalie

17. Jo

18. Nathalie

19. Jo

20. Nathalie

21. Jo

22. Nathalie

23. Jo

24. Nathalie

25. Jo

Epilog

Danksagung

Newsletter

Über den Autor

1

JO

Misstrauisch lasse ich meinen Blick durch die Mensa gleiten. Ich würde es niemals offen zugeben, aber seitdem ich vor ein paar Tagen mit dieser Furie zusammengeknallt bin, fürchte ich, ihr wieder über den Weg zu laufen. Keine Ahnung, warum mich diese Begegnung so nachhaltig verfolgt, denn normalerweise würde mich das ganz sicher nicht so beschäftigen, aber irgendwie hat sie mich kalt erwischt.

Die Art und Weise, wie sie da zwischen ihrem Salat hockte, mich wütend anfunkelte und dann noch einmal eine Schippe drauflegte, als ich anbot, ihr zu helfen.

Echt verrückt.

Ich verdrehe die Augen. Verrückt ist es wohl eher, dass ich immer noch über diese Situation nachdenke. Es war nicht viel mehr als ein flüchtiger Moment, aber er hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt, als hätten wir uns drei Stunden lang vor all den Leuten angeschrien. Oder, genauer gesagt, als hätte sie mich so lange angeschrien.

Ich schätze, was mich an der Situation so verfolgt, ist die Tatsache, dass ich noch nicht oft in meinem Leben mit einer so verrückten Frau konfrontiert worden bin. Ich habe sicherlich so meine Erfahrungen gesammelt, habe es schon erlebt, wenn Mädchen zickig waren oder aus anderen Gründen Streit provoziert haben, aber dann war es stets etwas Persönliches.

Aus heiterem Himmel von einer fremden Person derart angefahren zu werden, erlebt man nicht alle Tage.

»Hey, Alter, hör auf zu starren! Dein Traumweib läuft hier nicht rum!«

Maik ist neben mir erschienen. Gnadenlos schlägt er mir auf die Schulter und lacht mir ins Ohr.

Noch ein Grund, warum ich die Begegnung nicht vergessen kann: Er zieht mich damit auf. Immer und immer wieder.

»Ich meine, ich kann mich gerne mitten in den Raum stellen und dann läufst du mir einfach in die Hacken. Vielleicht schmeckt dir das Essen dann besser?«

»Halt die Klappe!«, fahre ich ihn unsanft an. Und weil ihm das lediglich ein dreckiges Lachen entlockt, schubse ich ihn auch noch unsanft beiseite.

»Siehst du, es geht schon los! Mann, ich wusste gar nicht, dass du auf solch einen Krawall stehst ...«

Ich lasse ihn einfach stehen. Genervt umfasse ich mein Tablett fester und steuere den großen Tisch am Fenster an, wo wir uns häufiger hinsetzen, wenn wir uns mittags verabreden. Natürlich folgt Maik mir. Sein Gelächter dringt tief in mein Hirn und reizt diese eine kleine Stelle, die nur er zu erreichen scheint. Den Großteil der Zeit schaffe ich, es auszublenden. Wie bei allen von uns hat Maik einen verdammt großen Bonus, der auf seine traumatischen Erlebnisse zurückzuführen ist. Allerdings gibt es Tage, an denen es mir schwerer fällt, ihm gegenüber tolerant zu sein, und heute könnte eine der Ausnahmen sein.

Ich atme tief durch, während ich mich auf meinen Platz fallen lasse.

Natürlich setzt Maik sich mir gegenüber.

Ich lasse meinen Blick über sein Erscheinungsbild gleiten. Heute sieht er mal wieder so aus, als wäre er eben erst aus dem Bett gefallen. Um ehrlich zu sein ist das sogar ziemlich realistisch. Als wir heute Morgen zur Uni gefahren sind, lag er jedenfalls noch schnarchend in den Federn. Es erstaunt mich, dass er es überhaupt hierher geschafft hat.

Seine Haare stehen wild zu Berge. Bei Daniel zum Beispiel würde das gewollt aussehen, aber da Maik einen Undercut hat, wirkt das bisschen Haar da oben ziemlich strubbelig. Seine Haut ist blass, ein Dauerzustand in den letzten Wochen, wodurch sich die zahlreichen Tattoos umso deutlicher abheben. Erst vor ein paar Tagen war er wieder in seinem Studio und hat sich ein neues stechen lassen: auf den Hals. Ich finde das mutig. Daniel bescheuert. Timo eigentlich nur cool. Tja, unser wandelnder Comic.

»Was auch immer du sagen willst - schieß los«, knurre ich ihn an. Man erkennt es an der Art, wie er vibriert. Die Schadenfreude blitzt unübersehbar in seinen Augen und seine Mundwinkel zucken.

Maik zwinkert mir übertrieben zu. »Die Kleine hat es dir angetan, oder?«

Ruhig durchatmen. Dann schaffst du das schon. Ruhig durchatmen.

»Ich meine, hallo? Der große, ruhige Jo, der irgendwie nie so richtig ein Auge für Frauen hat. Wann hab ich dich das letzte Mal mit einer Tussi gesehen?«

Ich hebe die Hand. »Pass auf!«, unterbreche ich ihn scharf.

Er verdreht übertrieben die Augen. »Entschuldige, Papi. Ich meine natürlich - wann habe ich dich das letzte Mal mit einer holden Maid gesehen?«

Noch so ein Punkt, bei dem wir uns mehr als uneins sind. Maiks Verhalten Frauen gegenüber ist bestenfalls als kritisch zu betrachten. Er hatte schon mehr Mädchen im Bett, als der halbe Campus zu bieten hat, und selten trifft er sich ein zweites Mal mit einer von ihnen. Dass sich aktuell eine merkwürdige Geschichte zwischen ihm und Helena anbahnt, der Mitbewohnerin von Daniels Freundin, gibt dem Ganzen einen explosiven Touch. Wir alle sehen das auf eine Katastrophe zusteuern, aber mit ihm reden kann man nicht, weshalb Daniel Fee auf die Sache angesetzt hat. Wir hoffen, dass ein paar Frauengespräche das Ganze klären können. Das Letzte, was wir wollen, sind unangenehme Spannungen in der Gruppe, nur weil Maik bei der Falschen seine Hosen runtergelassen hat.

Nun, jedenfalls grenzt es schon ziemlich an Ironie, dass ausgerechnet er mir jetzt mit dem Thema kommt.

»Was spielt das für eine Rolle, Maik? Es gibt Männer, die durchaus zufrieden sein können, ohne dass ständig eine Frau im Bett auf sie wartet.«

Er lacht prustend los. »Sagte er und versteckte dabei seine Impotenz.«

»Es reicht!«

»Hey, hey, hey! Was ist denn hier los?«

Genau in dem Moment, als mir der Kragen wirklich platzt, erscheinen Daniel, Fee und Helena neben uns. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um ein gutes Timing handelt oder um ein verdammt schlechtes. Mühsam wende ich mich von Maik ab, dessen geweitete Pupillen mir verraten, dass ihm seine Grenzüberschreitung mehr als bewusst ist, und werfe meinem ältesten und besten Kumpel einen gequälten Blick zu. »Mann, das wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, ihr kommt zu spät, um noch etwas vom Auflauf zu bekommen.«

Was ich wirklich sagen will, ist: Ich hätte es keinen Moment länger alleine ausgehalten. Endlich seid ihr da!

Daniel blickt mich mitfühlend an, ehe er sich Maik zuwendet. »Mach mal halblang.«

Natürlich plustert Maik sich auf, beginnt zu protestieren und allerhand vorwurfsvolle Dinge zu murmeln, doch wir ignorieren ihn, und als Helena neben ihm auf den Stuhl gleitet, wird er ziemlich schnell wieder ruhig. Ein verdammtes Mysterium, was genau sich da zwischen den beiden abspielt. Irgendwie scheinen sie einander gutzutun - und irgendwie auch nicht.

Ich werde daraus einfach nicht schlau.

»Sorry, Leute, ich wurde aufgehalten -«

Schwer atmend erreicht Timo unseren Tisch, und nun sind wir vollständig. Zwar gesellen sich manches Mal noch ein paar weitere Kommilitonen zu uns und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sich schon wieder ein kleines Grüppchen bildet, das uns tuschelnd beobachtet, aber der harte Kern ist da. Die Menschen, die mir am meisten bedeuten und mit denen ich meine Freizeit am liebsten verbringe. Meine Jungs, mit denen ich vor ein paar Jahren die Gruppe JumpSquad gegründet habe und mit der wir in letzter Zeit eine doch recht große Aufmerksamkeit auf uns gezogen haben. Parkour in dieser Stadt und insbesondere auf dem Gelände der Uni, das hat vor uns in dem Ausmaß hier noch keiner gemacht. Seit einer Weile explodieren unsere Abonnenten-Zahlen bei Youtube und das erfüllt uns mit Stolz, auch wenn die steigende Aufmerksamkeit nicht immer von Vorteil ist.

Ich werde mich deshalb nicht beschweren.

Mein Blick gleitet über die Jungs - und über Fee und Helena, die sich uns im letzten Jahr angeschlossen haben. Fee, die zurückhaltende Freundin von Daniel, hat sich einfach so in unser Herz geschlichen, mit ihrer unaufdringlichen, schüchternen Art und ihrem sanften Lächeln. Jeder von uns würde für sie die Kohlen aus dem Feuer holen, auch wenn das natürlich selten notwendig ist, weil Daniel sie mehr als behütet. Unwillkürlich dehne ich meine Faust, mit der ich vor einer Weile ihre Ehre verteidigt habe. Ich hätte niemals gedacht, dass es so befriedigend sein könnte, ein Arschloch zu verprügeln. Normalerweise ist sowas eher nicht mein Ding. Manchmal gibt es jedoch für alles eine Ausnahme.

Und Helena? Die dunkelhaarige, rassige Schönheit ist so ziemlich das Gegenteil von Fee, laut und lustig und aufgedreht, und man kann kaum glauben, dass die beiden sich derart gut verstehen. Aber so ist es. Sie sind nicht nur Mitbewohnerinnen, sondern auch gute Freundinnen, und deshalb gehört Helena ebenfalls dazu. Von besagter merkwürdiger Verbindung zu Maik fange ich gar nicht erst wieder an.

Nachdenklich wandert mein Blick den Tisch entlang. Ich bin gespannt, was sich in der nächsten Zeit tun wird. Lange haben wir einen kaum wandelbaren Alltag gehabt, mit relativ festen Strukturen und Routinen, doch seit die Frauen in unser Leben getreten sind, wirbeln sie es ordentlich durcheinander. Ich bin mehr als bereit zu glauben, dass uns noch einiges bevorsteht.

Fragt sich nur was.

* * *

Gegen vier Uhr endet mein letzter Kurs. Den ganzen Nachmittag im stickigen Computerraum zu sitzen hat mich nervös gemacht. Ich brauche jetzt dringend frische Luft und Bewegung. Für heute ist kein Training angesetzt - Daniel und Fee gehen aus und Timo hat irgendein Blockseminar zum Thema Film oder so. Ich könnte Maik fragen, ob er Bock hat, eine Runde Joggen zu gehen, aber nach unserer Auseinandersetzung am Mittag bin ich froh, ihn vor heute Abend nicht mehr zu sehen, also beschließe ich, dass ich eine Runde alleine drehen werde.

Ich habe eigentlich immer Sportsachen im Auto, weshalb ich auf direktem Weg zum Parkplatz laufe und dort meinen Rucksack gegen die Tasche austausche. Es gibt einen kleinen Sportplatz mit Umkleiden, der nahezu durchgängig frei zugänglich ist, und dorthin wende ich mich nun, um mich umzuziehen. Ich beabsichtige, von dort aus loszulaufen, denn die Uni ist am Stadtrand gelegen, und man gelangt sehr schnell in die Felder. Das Letzte, was ich nun gebrauchen kann, sind übermäßig viele Menschen um mich herum. Die Abgelegenheit der Natur schreit nach mir.

Im Sportraum treffe ich auf ein paar Studenten, die sich gerade umziehen. Einige von ihnen scheinen in den angrenzenden Kraftraum zu wollen, mindestens einen erkenne ich als regelmäßigen Läufer - unsere Wege haben sich schon ein paar Mal gekreuzt. Zum Glück scheint niemand von ihnen großes Interesse daran zu haben, mit mir zu reden. Wir alle sind hier nur aus einem Grund: Dampf ablassen nach einem langen Tag des Sitzens. Niemand hat Interesse an Smalltalk, uns eint ein Grund, der es gleichzeitig nicht nötig werden lässt, darüber zu reden. Natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen; wenn mich jemand erkennt und plötzlich unbedingt über die Videos und unsere Technik reden will zum Beispiel, aber heute ist das zum Glück nicht der Fall.

Als ich wenige Minuten später die Umkleide verlasse, spüre ich bereits, wie der Stress von mir abfällt. Ich kenne nichts Vergleichbares, das ein derartiges Gefühl von Freiheit in mir auslöst wie Sport. Schon von klein auf liebe ich es, mich auszupowern. Meine Familie hat das nie so recht verstanden. Niemand von ihnen ist derart sportlich interessiert wie ich, weshalb sie mich gerne und oft damit aufziehen, dass ich ein Kuckuckskind sei. Als Jüngster von vier Geschwistern - und als einziger Junge - hatte ich da sowieso immer eine gewisse »Sonderposition«.

Habe sie noch immer.

Nun ist kaum noch etwas von meinem Stress vorhanden. Ein Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus, während meine Füße in regelmäßigen, dumpfen Tönen auf den Asphalt schlagen. Sport, der Gedanke an meine Familie - ich lasse den Stress hinter mir. Keine Gedanken mehr an Maik, der uns allen Sorgen bereitet, keine nervigen Programmierstunden.

Freiheit.

Ich überquere die letzte große Straße, die mich vom Stadtrand trennt, und bald schon wird der asphaltierte Weg schmaler, schlängelt sich durch Felder, die um diese Zeit gerade erst beginnen, grün zu werden. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Beinen, die nur bedingt durch die kühle, feuchte Luft zu erklären ist, und ich spüre, wie ich mich auf die Jagd nach dem Läuferhoch begebe.

Worüber habe ich mich heute eigentlich so aufgeregt? Das Leben ist doch verdammt schön.

2

NATHALIE

»Romy - nein! Warte!«

Meine Stimme überschlägt sich, als ich abrupt losschreie. Verzweifelt sehe ich zu, wie mein Hund drauflos rennt, ohne auch nur den geringsten Eindruck zu erwecken, als würde sie sich dafür interessieren, was ich zu sagen habe. Nein, anstatt sich darum zu scheren, was ich ihr hinterherrufe, stürmt sie davon, mitten ins Feld, vermutlich, weil sie irgendeine Maus gehört hat oder vielleicht auch nur den Wind oder was weiß ich.

Welch eine Überraschung. Romy hört den halben Tag nicht auf das, was ich ihr zu sagen habe - außer, ich habe einen ganzen Beutel voller Leckerli dabei, denn für Fressen tut sie alles.

Naja, fast alles.

Gerade interessiert sie sich nämlich herzlich wenig für die getrocknete Lammlunge in meiner Hand. Ein Leckerbissen, den sie normalerweise nicht verschmäht. Dort drüben im Feld muss ja eine ganz tolle Witterung aufgetaucht sein.

So ein Mist!

Mein Puls beschleunigt sich, während ich dem Hund hinterherrenne - natürlich nicht quer durchs Feld, sondern parallel über den asphaltierten Weg. Dabei verfluche ich mich konstant mit leiser Stimme. Vielleicht nicht unbedingt die beste Idee, wenn ich meinen Atem gleichzeitig brauche, um hinter dem Hund herzukommen und gelegentlich laut nach ihr zu rufen.

Ich lerne einfach nicht daraus. Immer wieder dasselbe.

Plötzlich bleibt sie stehen und beginnt, wie verrückt die Nase in den Boden zu stecken. So wie ich sie kenne, ist ihr ganzes Gesicht gleich voller Erde, weil sie versucht hat, in einem Mauseloch zu verschwinden. Und wenn ich sie später dann saubermache, blickt sie mich an, als wäre ich der Inquisitor höchstpersönlich und sie nur das arme, kleine, unschuldige Opfer. Natürlich weckt sie damit dann immer mein schlechtes Gewissen, ist doch klar.

Grrrr.

»Romy! Herrgott nochmal, komm hierher!«

Meine Stimme überschlägt sich erneut - aber endlich erziele ich eine Reaktion. Mit etwas Verzögerung spitzt die Hündin ihre Ohren, und dann, im Zeitlupentempo, richtet sie sich auf und blickt mich aufmerksam an. Frei nach dem Motto »Ist was?«.

Obwohl sie mir gerade wieder mindestens fünf graue Haare beschert hat, obwohl ich aus dem letzten Loch pfeife und mit Sicherheit in die eine oder andere Schlammpfütze getreten bin, kann ich mir ein unwillkürliches Kichern nicht verkneifen. Der Hund ist ein Satansbraten - verkleidet im Fell eines unschuldigen Lämmchens.

»Jetzt komm schon«, versuche ich es ein letztes Mal lockend, wohlwissend, dass ich sie so weit habe. Mit tippenden Füßen sehe ich zu, wie Romy langsam auf mich zu trottet. Den Kopf nur leicht gesenkt, als Eingeständnis, dass sie Mist gebaut hat, aber mit diesem typischen Grinsen im Gesicht, das ich mir immer einbilde, wenn sie hechelt. Erdkrümel hängen in den langen Härchen ihrer Schnauze und verleihen ihr zusätzlich ein Rabaukenaussehen vom Allerfeinsten.

Als sie endlich neben mir steht, hake ich den Karabiner der schmalen Lederleine in ihr Halsband ein. Das leise Klicken hallt über den Feldweg wie ein lauter Schlag, und es erinnert uns beide daran, dass ich es einfach nicht so oft versuchen sollte, den Hund frei laufen zu lassen. Dieses Mal ist nichts passiert. Weit und breit ist niemand zu sehen. Aber was, wenn auf einmal jemand am Horizont erscheint? Ein Fahrradfahrer, der Romy erschreckt? Jemand mit einem Hund an der Leine, der nicht so verträglich ist?

Ich hätte mehr mit ihr trainieren müssen, damals, als ich sie bekam. Ich kann es noch immer tun, aber dafür werde ich wohl nie konsequent genug sein.

»Ach Romy«, murmle ich leise und streichle ihr über den Kopf. »Tu mir sowas doch nicht immer an.«

Kurz überlege ich, ihr das Stück Lammlunge in meiner Hand zu geben, auf das sie mehr als eindeutig schielt, aber dann schiebe ich es zurück in die Tasche. Immerhin in diesem Punkt schaffe ich es, konsequent zu sein. »Später«, sage ich streng.

Romy legt den Kopf schief und zwinkert mich aufmerksam an.

Sofort geht mein Herz auf. Trotz all der Aufregung, die sie mir immer wieder beschert, liebe ich diesen Hund abgöttisch. Romy ist ein Mischling aus dem Tierheim. Vor zwei Jahren kam sie mit einem schrecklich überfüllten Transporter aus Rumänien an und eroberte sofort mein Herz im Sturm. Zu jener Zeit ging ich freiwillig mittags mit einigen Hunden aus dem Tierheim Gassi, damit sie wenigstens ein bisschen Bewegung und Ausgang bekamen, und ich war da, als der Transporter ankam. Damals hätte ich niemals damit gerechnet, dass ich schon kurz danach auf den Hund kommen würde, schon gar nicht, weil die Menge an Interessenten gerade bei Romy enorm war. Mit ihrem schwarzen, kräuseligen Fell, den kleinen, weißen Punkten auf der Brust und den niedlichen, spitzen Ohren lenkte sie schnell jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Dummerweise hatte sie von Anfang an nur Interesse an mir, weshalb die Mitarbeiter ziemlich überzeugend auf mich einredeten, der Kleinen doch ein Heim zu bieten.

Okay, allzu viel Überredungskunst hatte es nicht bedurft, aber es war trotzdem keine leichte Entscheidung, da meine Lebensumstände eigentlich alles andere als passend sind für einen Hund. Und dennoch lebt sie jetzt schon gut zwei Jahre bei mir und ich will keinen Tag davon missen. Nicht einmal solche Nachmittage wie heute.

Wir setzen uns langsam in Bewegung. Ganz beiläufig halte ich der Fellnase meine Hand hin, in der wie durch ein Wunder ein neues Stück Lammlunge aufgetaucht ist. Zufrieden lausche ich dem lauten Schmatzen - je lauter, desto besser schmeckt es ihr - und lasse meine Gedanken zu jener Zeit schweifen, als ich sie zu mir nahm.

Damals war es sicherlich nicht gerade klug, aber es war die beste Entscheidung meines Lebens. Vor zwei Jahren hatte ich eine ... schlimme Phase. Romy kam genau richtig. Ich rettete sie - und sie rettete mich. Vermutlich ist das auch der Grund, warum ich ihr einfach nicht lange böse sein kann. Ich weiß, was wir bereits gemeinsam durchgestanden haben, und das sorgt natürlich dafür, dass meine Toleranz ihr gegenüber recht groß ist.

Sie mag vielleicht nicht perfekt erzogen sein, aber solange es für uns funktioniert, kann ich damit leben. Und wenn Frau Koller, die liebe, alte Dame im Erdgeschoss, die auf Romy aufpasst, wenn ich zur Uni muss, mit ihr zurechtkommt, bin ich mehr als zufrieden. Ohne sie würde das Konzept Nathalie und Hund nicht funktionieren, nicht in meiner momentanen Situation. Der gutmütigen Dame mit der Föhnfrisur und dem dauerhaften Lächeln ist es zuzuschreiben, dass ich Romy damals zu mir geholt habe, denn wenn sie mir nicht mehr als überzeugend versichert hätte, dass sie auf den Hund aufpassen kann, hätte ich den Schritt wohl nicht gewagt. Ich wollte nie eine dieser Personen sein, die einen Hund zu sich holt und ihn dann regelmäßig sechs bis acht Stunden alleine lässt. Auch so quält es manchmal mein Gewissen, wie lange ich Romy abgebe, aber ich weiß, dass es ihr dort gut geht. Jedes Mal, wenn ich sie abhole, machen wir zuerst einen schönen, ausgiebigen Spaziergang. Und immer wieder versuche ich unser Glück und befreie Romy von der Leine.

Mit regelmäßigem Ausgang wie heute Nachmittag.

Es ist meine kleine, unperfekte, doch irgendwie perfekte Routine. Und ich liebe sie.

»Komm, mein feines Mädchen«, murmle ich ihr zu und biege in einen Weg ein, der etwas schmaler ist als der bisherige. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerke, wie uns jemand entgegenkommt, bis Romy plötzlich laut loskläfft und einen Satz zur Seite macht, der mir fast das Schultergelenk auskugelt.

»Was zur Hölle ...?« Ich mache einen Ausfallschritt, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, und trotzdem gibt es da diesen kleinen Moment, in dem ich denke, dass ich stürze.

»Verdammt!«, brüllt im selben Moment eine ziemlich männliche Stimme los. Männlich und überrascht, logischerweise.

Kaum dass ich mein Gleichgewicht zurückerlangt habe, ohne mich auf den Hintern zu setzen, hebe ich meinen Blick - und sehe im letzten Moment, dass der unglückliche Kerl nicht so viel Glück hat wie ich. Mit einem lauten Plumps landet er auf dem Boden. Ich sehe ein Gewirr aus Armen und Beinen - ziemlich durchtrainiert, so viel fällt mir trotz all der Aufregung auf -, blondes Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden ist ...

Und dann erstarre ich.

Mist.

Gottverdammter Mist.

Das kann doch nicht wahr sein, oder?

»Alles okay, Romy?«, murmle ich abwesend, ohne meinen Hund wirklich anzusehen, der nun wieder ganz ruhig neben mir steht und vorsichtig mit dem Schwanz wedelt. Mein Herz, das eben noch vor Aufregung schnell gepocht hat, bricht nun förmlich aus meiner Brust, weil mir bewusst wird, in welch unangenehmer Situation ich hier gerade stecke. Am allerliebsten würde ich auf der Stelle verschwinden, einen Hechtsprung ins Feld machen, kopfüber, und nicht mehr auftauchen, aber die Option steht leider nicht zur Debatte. Keine hohen Maiskolben, hinter denen ich mich verstecken kann. Nur ein paar grüne Pflänzchen. Das würde nicht gerade einen guten Eindruck erwecken.

Also schimpfe ich lautlos auf mich ein, verdrehe die Augen, atme tief durch.

Und dann mache ich einen Schritt auf den stöhnenden Kerl zu, der vor mir auf dem Boden liegt. Das alles im Bruchteil einer einzigen Sekunde.

»Hey, kann ich dir helfen?«

Ich sehe, wie meine Hand zittert, als ich sie zu ihm ausstrecke. Gerne würde ich es auf den scharfen Wind schieben, der durch die Felder zieht, aber ich kenne mich besser: Ich bin tierisch nervös, habe Angst vor dem Moment, wenn der Typ seinen Blick hebt und mich erkennt, so wie ich ihn bereits erkannt habe.

Denn dass er mich erkennt, daran hege ich keinen Zweifel.

Er brummelt. Es klingt nicht gerade glücklich, aber auch nicht total abweisend und gefährlich, und dann, mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung, springt er auf die Füße. Ich kann nicht anders, mein Mund formt sich zu einem überraschten »O« und meine Hand schwebt immer noch unnütz in dem Raum zwischen uns, als ich meinen Blick an ihm hinauf schweifen lasse. Das ging ein bisschen schnell - eben noch auf dem Boden, jetzt überragt er mich um mehr als einen Kopf. Verdammt, ich habe vergessen, wie groß er ist. Eigentlich habe ich so ziemlich alles vergessen, abgesehen natürlich von meinem mehr als peinlichen Auftritt in der Mensa, und seine braunen Augen, die bestimmt normalerweise total warm sind, mich damals aber überrascht und irgendwie auch verletzt angefunkelt haben.

Mich trifft der Schlag, als genau diese braunen Augen sich nun mit meinen verbinden.

Oh. Mein. Gott.

Ich erkenne den Moment, als er die Verknüpfung herstellt, daran, wie seine Augenbrauen auf einmal in die Höhe schießen. In meinem Kopf herrscht ein ziemliches Durcheinander: Ein Teil von mir will am liebsten losfauchen, ihn zur Rede stellen, fragen, ob er denn keine Augen im Kopf hat. Ein andere Teil will sich wortkarg entschuldigen und schnell weiterlaufen, ehe die Situation allzu peinlich wird. Und der allergrößte Teil beginnt bereits, einen Sabberfaden zu produzieren, weil dieser unverhoffte Anblick hier, mitten im Nirgendwo, mich so absolut und unvorbereitet trifft, dass ich einfach nur starren kann.

Im Ernst, welcher Mann kommt bitte auf die Idee, mit Shorts und diesem ultraeng anliegendem Shirt joggen zu gehen? In den Feldern, bei den Temperaturen? Unwillkürlich schaudert es mich.

»Du«, sagt er und reißt mich aus meinen mehr als bescheuerten Gedanken. Es klingt weder anklagend noch sonderlich wütend, mehr wie eine simple Feststellung.

»Äh, hi«, sage ich unsicher und wage einen zweiten Blick in sein Gesicht. Seine Miene zeigt mir, was seine Stimme nicht verraten hat: Eine gewisse Anspannung ist durchaus vorhanden. Ich sehe es an den kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln und an der Art, wie er seinen Mund zusammenpresst.

Mann, das ist keine schöne Situation.

»Ich habe dich nicht gesehen ...«, bringe ich leise hervor und komme mir noch bescheuerter vor. Es ist wie eine verdammte Parodie jenes Nachmittages in der Mensa, nur dass wir dieses Mal die Rollen getauscht haben. Damals war er derjenige, der in mich hineinlief, und ich war plötzlich am Boden. Nicht, weil ich gestürzt bin, sondern um die Überreste meines Mittagessens aufzuklauben. Nun habe ich ihn zu Fall gebracht. »Hast du dir weh getan?«, plappere ich eilig weiter. Prüfend lasse ich meinen Blick über ihn gleiten, um mögliche Schürfwunden zu entdecken. Ein blöder Fehler, weil mich seine schlanken, wohlgeformten Beine sofort wieder ablenken. Eilig wende ich mich wieder ab - und begegne seinem irgendwie amüsierten Blick.

»Schon gut, ich habe bereits Schlimmeres erlebt.«

Äh, ja. Hoffentlich meint er nicht unseren ersten Zusammenstoß ...

»Ist mit dir alles in Ordnung?«, sagt er dann plötzlich und bringt mich vollkommen aus dem Konzept. »Und mit deinem Hund?«

Automatisch blicke ich zu Romy, die sich mittlerweile hingesetzt hat und ruhig die Szene zwischen uns beobachtet. Gott sei Dank hat sie beschlossen, heute einmal lieb zu sein, denn manchmal reagiert sie auch ziemlich aufgekratzt, wenn ich mit Fremden rede, und das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind erdige Pfotenabdrücke auf diesen heißen Shorts ...

»Hallo, wer bist du denn?«

Gefangen in meiner Trance sehe ich zu, wie der Kerl sich plötzlich zu Romy hinab beugt. Ich will losschreien, dass er sie auf keinen Fall einfach so am Kopf streicheln soll - das machen alle immer irgendwie automatisch, aber sie kann das überhaupt nicht leiden -, da sehe ich schon, wie er seine Hand lediglich ausstreckt, damit Romy daran schnuppern kann. Und als sie daraufhin aufspringt und einen Satz auf ihn zu macht, krault er sie direkt an ihrer liebsten Stelle am Hals, so, als würde er meinen kleinen Rabauken bereits kennen.

Jep. Ich bin wirklich sprachlos.

»Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das?« Seine Stimme hat sich verändert, ist weicher geworden, verspielter. Romy fährt total darauf ab. Ihr Schwanz beginnt, wild zu rotieren, und ich fürchte, dass sie gleich wirklich an ihm hochspringt, wenn ich nicht aufpasse.

»Ja, das kann sie gut«, plappere ich los. Meine Stimme klingt ein bisschen zu hell, ein bisschen zu aufgekratzt, und ich kann rein gar nichts dagegen tun. Mein Herz schlägt so wahnsinnig schnell in meinem Brustkorb, dass es mir schwindelt, und meine Fingerspitzen kribbeln. Die Situation ist an Surrealität nicht zu überbieten, und ich habe keine Ahnung, was ich sagen oder machen soll, um nicht am Ende des Tages im Bett zu liegen und stundenlang darüber zu grübeln, wie peinlich das alles ist.

Als hätte er meine Unruhe bemerkt, richtet der Typ sich wieder auf und lenkt seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich. Wow, hat der eine Präsenz. Das ist mir beim letzten Mal gar nicht aufgefallen. Okay, da war ich auch vollends damit beschäftigt, ihn zu beschimpfen, aber trotzdem ...

»Wird das jetzt zu einer Art Gewohnheit?« Die Worte lassen mich zusammenzucken, obwohl sie durchaus freundlich klingen, warm. Vielleicht auch amüsiert.

Ich atme tief durch und schlucke die patzige Antwort hinunter, die mir bereits auf der Zunge lag. »Ich hoffe nicht.«

Seine Augen funkeln mich herausfordernd an. »Dann sollten wir vielleicht an unseren Begegnungen arbeiten, meinst du nicht auch?«

Moment mal. Flirtet er etwa mit mir? Das ist so ziemlich die letzte Option, die ich in Betracht gezogen hätte, würde mir jemand von diesem Nachmittag erzählen, aber irgendwie ... macht mein Herz einen Satz. »Wer sagt denn, dass es wieder dazu kommt?«, erwidere ich ein bisschen atemlos.

Er lacht auf. Gott, ist das ein schöner Klang. Der Nebel in meinem Kopf wird dichter. »Stimmt auch wieder. Aber du kennst ja das Sprichwort: aller guten Dinge sind drei. Es wäre nur schön, wenn dann keiner von uns beiden auf dem Boden landen würde.«

»Da hast du wohl recht«, bringe ich lahm hervor. Meine Gefühle sind tief in mir verloren gegangen - die Energie, die mich normalerweise antreibt. Für gewöhnlich bin ich in solchen Momenten schlagfertiger, manchmal auch frecher. Jetzt allerdings fühle ich mich einfach nur erstarrt, peinlich berührt, irgendwie wie ein Schulmädchen, das gerade vom heißesten Typen der Stadt angequatscht wurde. Ich kann nur daran denken, dass ich mich jetzt schon zum zweiten Mal eher auf unangenehme Weise in sein Gedächtnis gebrannt habe, und diese Erkenntnis lähmt mich. Immerhin bin ich in der Lage zu sprechen, auch wenn nicht gerade viel und schon gar nichts Geistreiches dabei herum kommt.

»Also gut.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Durch die Bewegung wird meine Aufmerksamkeit erneut auf seine Beine gelenkt, und plötzlich sehe ich den dicken Fleck auf seinem linken Oberschenkel.

»Ähm«, sage ich peinlich berührt. Dann deute ich vage in die Richtung. »Ich fürchte, du hast dich ein bisschen schmutzig gemacht.«

»Ja?« Er verrenkt sich ein bisschen, um einen Blick an sich hinab zu werfen. Dabei dehnen sich seine Brust- und Bauchmuskeln und zeigen sämtliche körperliche Vorzüge, die er zu bieten hat. Mein Mund wird ganz trocken, weil sich diese fleischgewordene Sünde so vor mir räkelt, und gleichzeitig werde ich mir meines eigenen, weichen Körpers bewusst. Er ist ziemlich genau das Gegenteil von seinem. »Ach das.« Lachend winkt er ab. »Egal, kommt nachher in die Wäsche und gut.« Dann zwinkert er mir zu. »Ich sollte mal weiterlaufen, damit ich irgendwann noch nach Hause komme. Pass gut auf dich auf. Nicht, dass du noch mit jemandem zusammenprallst, der es vielleicht nicht so gut mit dir meint.«

Verdattert sehe ich zu, wie er Romy erneut am Hals krault und der kleinen Verräterin einen wohligen Laut entlockt.

»Macht es gut«, ruft er uns zu.

»Ciao«, erwidere ich knapp.

Dann beobachte ich, wie er sich langsam in Bewegung setzt. Die ersten Schritte kommen mir ein wenig steif vor, und ich frage mich, ob er sich vielleicht doch verletzt hat, aber dann fällt er in einen gleichmäßigen Trott, der immer schneller wird. Mit geschmeidigen, langen Bewegungen läuft er davon, dieser Gott auf zwei Beinen, und lässt mich mit dem unangenehmen Gefühl zurück, ein Trampel zwischen Grazien zu sein.

Erneut.

Verflucht, der Kerl bringt mich um den Verstand. Und ich kenne nicht einmal seinen Namen.

3

JO

»Hey Mann, rutsch mal rüber.«

»Da bist du ja, Jo! Wurde auch Zeit!«

Geduldig stehe ich an unserem Tisch und warte darauf, dass Timo Platz macht, damit ich mich zu den Jungs gesellen kann. Überrascht stelle ich fest, dass nicht nur Timo und Maik hier sind, sondern auch Daniel. Hoffentlich bedeutet das nichts Ungutes, immerhin war er ja eigentlich verplant. Nun, ich werde es sicherlich gleich herausfinden.

Als ich nach Hause kam, begrüßte mich gähnende Leere, und erst ein Blick auf mein Handy offenbarte mir, dass die anderen beschlossen hatten, den Abend im Freudenhaus ausklingen zu lassen. Gott sei Dank hatte ich das verfluchte Ding in meiner Tasche im Spind gelassen, denn sonst wäre es bei dem Sturz sicherlich kaputt gegangen. Zumindest hätte das Display einen Riss, denn der Boden war wirklich verdammt hart.

»Wo warst du bloß, Alter? Wir sind dir schon ein paar Runden voraus!«, ruft Maik mir zu und funkelt mich an, als ich endlich auf meinen Platz falle. Nur mühsam kann ich mir verkneifen, eine Miene zu verziehen. Ich wette, schon morgen habe ich einen großen, blauen Fleck auf meinem Hintern; eine deutliche Erinnerung an meine denkwürdige Begegnung Nummer zwei mit der kühlen Blonden. Ich bin wirklich nicht zimperlich, aber Mann, das tat weh.

Maiks Stimme klingt bereits leicht verwaschen, ein handfester Beweis seiner Aussage, und ich werfe Daniel einen Blick zu. Der sieht mich aus ernsten Augen an, zuckt aber nur kaum merklich mit den Schultern.

Ich seufze auf. »Kein Problem. Ich muss nicht mit euch mithalten, um einen schönen Abend zu haben.«

»Buuuuuh«, ruft Maik langgezogen. »Du Spielverderber.« Dann schiebt er schliddernd ein Bier über den Tisch, ehe er aufspringt. »Ich drehe mal eine Runde.«

Diese Runden kenne ich. Mit beiden Händen umfasse ich das kühle Glas, während ich Maik mit den Augen folge. Obwohl er offensichtlich schon ein bisschen zu viel getrunken hat, bewegt er sich mit einem Selbstbewusstsein durch die Kneipe, das seinesgleichen sucht.

Es ist ziemlich leer. Klar, mitten in der Woche gibt es nicht solch einen Andrang wie am Wochenende, aber selbst für einen Mittwoch finde ich es erstaunlich überschaubar. Maik wird es schwer haben, jemanden zu finden, schwerer jedenfalls als sonst. Trotzdem bin ich mir sicher, dass er irgendwen auftun wird.

»Wo sind die Mädels? Kommen sie auch noch?«, wende ich mich Daniel zu. »Ich dachte, ihr hättet heute ein Date?«

Er verdreht die Augen. »Ja, hatten wir auch. Wir waren essen und wollten eigentlich ins Kino gehen, aber dann hat Helena sich gemeldet. Irgendein Notfall, keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass die beiden noch kommen werden.« Sorge schleicht sich in seine Miene. »Hoffentlich ist alles okay mit den beiden.«

»Natürlich«, beruhige ich ihn sofort. Ich habe eine ziemlich klare Vorstellung, wie dieser Notfall aussehen könnte. Eine gehörige Portion Drama, die sich aber recht schnell wieder auflösen wird. Helena ist laut, lustig und aufgedreht. Die meiste Zeit zumindest. Ich weiß, wenn auch nur aus Erzählungen über Ecken (Fee hat es Daniel berichtet und er mir), dass Helena mit ebenso viel Energie traurig oder wütend sein kann, selbst wenn es nur selten vorkommt. Die meiste Zeit pulsiert sie vor positiver Energie, wie eines dieser Aufziehmännchen, das wippend und vibrierend durch die Gegend springt. Ich bin mir sicher, dass Fee sie schnell erden wird. Sie ist so ziemlich das Gegenteil von Helena, und wenn ich noch zu Beginn gedacht habe, dass der Unterschied zu krass ist, weiß ich mittlerweile, dass die beiden sich sehr gut ergänzen. »Ich hoffe nur, das Drama hängt nicht mit Maik zusammen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwidert Timo mit düsterer Stimme. Dann kippt er einen großen Schluck Bier.

Daniel und ich wechseln einen erneuten Blick, diesmal milde überrascht.

»Weißt du mehr als wir?«

Er zuckt übertrieben mit den Schultern. »Vermutlich nicht. Aber es liegt doch nahe, oder?« Seine Miene nimmt einen verbitterten Zug an, der mir nicht zum ersten Mal auffällt.

»Hör mal, Timo ...«

»Nichts für ungut. Ich muss mal. Soll ich uns danach noch was zu trinken mitbringen?«

Ich nicke dem sonst eher zurückhaltenden Kerl zu, der nicht nur der Kameramann unserer Gruppe, sondern auch ein guter Freund ist. Dummerweise habe ich das Gefühl, als würde mir etwas sehr Wesentliches entgehen, aber offensichtlich ist er nicht bereit, darüber zu reden. »Klar. Danke, Mann.«

Und dann bin ich mit Daniel alleine.

Seufzend lehne ich mich zurück und strecke meine Arme über den Kopf. Erneut spüre ich dabei die Stelle, auf der ich so unsanft gelandet bin, und dieses Mal zucke ich zusammen.

»Alles klar?« Natürlich hat Daniel es bemerkt. Er mustert mich aufmerksam.

»Schon gut«, erwidere ich, nur leicht genervt. Ich habe nicht unbedingt die größte Lust, mit meinem besten Freund darüber zu reden, wie ich mich zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit mit der Blonden angelegt und dabei nicht die beste Figur abgegeben, diesmal sogar den Boden geknutscht habe. Verlegen streiche ich mir über den Kopf und ziehe an dem Dutt.

»Hm«, macht Daniel nur. Dann seufzt er auf. »Das gibt noch Ärger zwischen Timo und Maik.«

»Ich fürchte auch.« Mein Blick sucht die Kneipe ab, bis ich an unserem tätowierten Bad-Boy hängen bleibe, der sich gerade in der Nähe eines Stehtisches voller junger Frauen herumdrückt. Anhand der Blicke und Tuscheleien entnehme ich, dass den Mädels die Aufmerksamkeit nicht entgangen ist, und wahrscheinlich könnte er dort sogar Glück haben. Nicht weit von ihm entfernt, an der Theke, steht Timo. Und er mustert ihn mit tödlichem Blick.

»Was ist nur los mit den beiden? Es gab vorher nie Probleme«, murmelt Daniel vor sich hin. Es erscheint mir eher wie lautes Denken, nicht auf eine Reaktion abzielend, aber ich gehe trotzdem darauf ein.

Ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen. »Naja, ich schätze, Timo kann es gar nicht ab, wie Maik mit Helena spielt. Die beiden kannten sich doch schon vorher.«

»So geht es uns allen«, erwidert Daniel lakonisch. »Fee bringt ihn um, wenn er Helena unglücklich macht. Glaubst du, das will ich riskieren?«

Ich muss lachen. Alleine die Vorstellung, wie die stille, brave Rothaarige sich plötzlich auf Maik stürzt, ist einfach zu gut. »Nein, ganz sicher nicht.«

»Ganz davon ab ist Helena kein kleines Mädchen. Sie weiß sehr wohl, wie sie mit Maik umzugehen hat.«

Nachdenklich beobachte ich, wie Maik tatsächlich ein Mädel in ein Gespräch verwickelt. Es hat dunkle Haare und wirkt, aus der Ferne, erstaunlich wie besagte Helena, nur dass sie in ihrem Verhalten wesentlich koketter und geschmeichelter erscheint. Stirnrunzelnd sehe ich zu, wie sie eine Strähne ihres Haares aufdreht und den Kopf schräg legt. »Nett ist es trotzdem nicht, dass er sich an sie heranmacht wie an jede andere Frau auch.«

»Es ist nicht dasselbe«, erwidert Daniel langsam. »Irgendwie nicht. Aber du hast recht. Maik spielt mit dem Feuer. Und in diesem Punkt sollten wir alle es nicht zulassen.«

Ich schnaube auf. »Hast du eine Idee, wie man ihn stoppen kann?«

»Wenn ich das hätte, Mann, dann wären wir das Problem längst los.«

Wir tauschen einen Blick, der mehr spricht, als jedes Wort es vermocht hätte. Nein, es gibt keinen Weg, Maik zu stoppen. Er folgt seinem zerstörerischen Weg, ganz egal, was wir sagen, und wenn es so weitergeht, kommt es früher oder später noch zur Katastrophe.

* * *

»Also Jo, was ziehst du für eine Miene, wenn du dich bewegst?«

Timo ist zurückgekehrt, und er ist genauso aufmerksam wie Daniel. Dummerweise liegt jetzt das Interesse beider auf mir. Wird schwer, aus der Nummer rauszukommen. Da soll mal einer sagen, Männerfreundschaften sind einfacher als die unter Frauen.

»Alles gut, Mann«, versuche ich, ihn abzuwiegeln, doch damit gibt er sich nicht zufrieden.

»Was ist? Hast du dir eine Zerrung geholt oder so? Brauchst du eine Pause vom Training?«

»Quatsch«, protestiere ich sofort. »Keine Sorge, wir können wie gewohnt weitermachen.«

»Was ist dann passiert?«, hakt Daniel nach. »Du weißt, dass wir vorsichtig sein müssen. Es ist ganz sicher nicht in deinem Sinn, wenn du es beim Training verschlimmerst und dann länger ausfällst. Denk dran, in der kommenden Woche steht ein neuer Dreh an -«

»Ist ja gut!« Entnervt werfe ich die Hände in die Höhe. »Ich habe mich beim Joggen langgelegt, okay? Mehr nicht. Ich wette, in den nächsten Tagen habe ich einen ordentlichen blauen Fleck am Hintern, aber Gott sei Dank drehen wir unsere Videos nicht nackt, das dürfte also keine Rolle spielen.«

Timo prustet laut auf, aber Daniel gibt einen verwunderten Laut von sich.

»Du hast dich beim Joggen langgelegt? Was ist passiert? Spontanes Blitzeis?«

Ich weiß, worauf er anspielt. Für gewöhnlich habe ich einen unerschütterlichen Gleichgewichtssinn. Seufzend blicke ich in mein Glas und beschließe, ihnen die Story zu erzählen. Sie würden mich ja doch nicht in Ruhe lassen. »Nein, nicht ganz.«

»Okay, ich bin ganz Ohr.« Timo schiebt sich über den Tisch, als würde er hier auf der Stelle ein Nickerchen machen wollen, das Gesicht in die Hände gestützt und mehr als aufmerksam. »Klingt nach einer guten Story.«

Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihm die Arme wegzuschlagen, und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Dann stöhne ich entnervt auf. »Könnt ihr euch noch an das Mädchen aus der Mensa erinnern?«

Daniel schnaubt. »Du meinst die, die so einen Aufstand gemacht hat, weil ihr zusammengeprallt seid? Klar. Ich verstehe aber nicht so ganz, was sie damit zu tun hat.«

»Nicht dein Ernst, oder?« Timo lacht auf. »Das ist doch kein Zufall mehr!«

»Eins nach dem anderen«, brummt Daniel. »Mir fehlt da eine entscheidende Information.«

»Lasst ihr mich vielleicht einfach ausreden?« Ich werfe erst Timo, dann Daniel einen strengen Blick zu. Weil die beiden mich jedoch so intensiv anschauen - der eine belustigt, der andere verwirrt -, muss ich grinsen.

»Ja, sicher. Aber dann rede auch und halte uns nicht nur mit Brocken hin!«

Ich schüttle belustigt den Kopf. »Okay. Ich war heute nach der Uni eine Runde laufen.«

»So weit waren wir schon.«

Ich mustere Timo strafend, der sich aufrichtet und abwehrend die Hände hebt. »Meist führt mein Weg dann durch die angrenzenden Felder. Selten trifft man dort auf viele Leute, und deshalb habe ich auch nicht damit gerechnet, dass plötzlich eine Frau mit Hund in den Weg einbiegen würde, den ich gerade verlassen will. Der Hund hat sich erschrocken, einen Satz gemacht, und weil ich ausweichen wollte, bin ich auf meinen Hintern gefallen. So, zufrieden?«

Die beiden starren mich an, einen Moment regungslos.

Und dann lachen sie beide los.

»Ja, haha. Sehr witzig«, brummle ich genervt und verdrehe übertrieben die Augen, aber auch meine Mundwinkel zucken. Klar, objektiv betrachtet ist die Geschichte ziemlich lustig. Wenn man nicht gerade die Person ist, dessen Hintern schmerzt, natürlich.

»Und das war echt die aus der Mensa? Das ist ja verrückt. Hat sie dich wieder so zur Sau gemacht?«

Sofort werde ich nachdenklich. Das ist ein Punkt, über den ich heute schon ausführlich nachgedacht habe. »Nein, ganz im Gegenteil. Wenn ich mir nicht total sicher wäre, dass es optisch dasselbe Mädchen war, würde ich sogar zweifeln. Sie war total zurückhaltend und wortkarg.«

»Ne«, sagt Timo laut. Dann lacht er los. »Doch nicht so eine Vollblut-Furie.«

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. »Es ist gut, okay? Ein dummer Zufall. Es schien ihr wirklich leid zu tun.«

»Tja«, sagt Daniel abrupt. »Jetzt hast du dich schon ein zweites Mal mit ihr angelegt. Beim ersten Mal gab’s Scherben, jetzt einen blauen Arsch. Mal sehen, was beim nächsten Mal passiert.«

Wir lachen allesamt los, auch wenn ich vielleicht ein bisschen angespannt bin. »Du sagst es«, murmle ich leise in mein Glas.

Hoffentlich ziehen sich diese Treffen jetzt nicht durch unsere nahe Zukunft. Mein Hintern tut nämlich echt weh - und herausfinden, ob sich das Ganze steigern lässt, muss ich auch nicht unbedingt.

4

NATHALIE

»Hier ist alles bestens, Mum.«

Ich versuche, mein strahlendstes Lächeln zu präsentieren, während mein Blick zwischen der Kamera und dem Bildschirm meines Laptops hin und her huscht. Wie immer bin ich mir unsicher, ob ich lieber in die Kamera blicken und damit den Eindruck erwecken soll, dass ich meine Eltern direkt anschaue, oder ob ich auf den Bildschirm gucken möchte, um tatsächlich mehr zu sehen als dieses kleine schwarze Loch mit dem grünen Licht.

Es ist Sonntagabend, und daher steht unser regelmäßiges Skype-Date an. Einmal die Woche treffen wir uns online, und bis auf wenige Ausnahmen hat es bisher immer ganz gut geklappt. Auf die Weise halten wir uns auf dem Laufenden, wenn wir uns schon nicht allzu oft sehen können.

Meine Finger krampfen sich unsichtbar um die Tischplatte, während ich nach oben hin locker und fröhlich wirke.

»Das freut mich sehr, mein Schatz. Was macht dein Studium?«

»Läuft super, so wie immer.« Erneutes Festkrampfen. Da muss mehr kommen. »Ich mache gerade bei einer Gruppenarbeit mit. Es geht um die Montessoripädagogik. Das Konzept klingt ziemlich spannend -«

»Das ist doch wieder nur so ein neumodischer Mist«, brummt mein Vater im Hintergrund und bringt mich so effektiv zum Verstummen.

»Ach, sei doch nicht so«, gurrt meine Mutter. »Es interessiert unser Spätzchen. Vielleicht kannst du ja mit Sofie darüber sprechen. Bestimmt hat sie sich mit dem Thema schon beschäftigt.«

Mein Herz pocht viel zu schnell und viel zu weit oben, gefühlt in der Kehle. Das ist genau die Art von Terrain, die ich eigentlich meide. Und dennoch schaffe ich es immer wieder aufs Vorzüglichste, mich selbst dorthin zu bugsieren. Mein Lächeln schwankt, wenn auch kaum wahrnehmbar, als ich eifrig in die Kamera nicke. »Klar, kann ich machen.«

So ein Mist.

Sofie, das ist meine Schwester. Es soll jetzt kein falscher Eindruck entstehen: Ich liebe sie, genauso sehr wie meine Eltern und wie meine andere Schwester Paula, aber es gibt einfach Dinge, die sich für mich eher ... schwierig gestalten.

Ich betrachte meine Eltern. Sie wirken beide so perfekt. Meine Mutter sieht niemals aus, als wäre sie bereits Mitte fünfzig. Ihr Gesicht ist glatt und makellos - und das ganz ohne Nachhilfe, wie sie immer wieder stolz betont. Mein blondes Haar habe ich von ihr, es ist dick und wellig und geht uns beiden bis weit über die Schultern, auch wenn sie ihres meist, so wie auch heute, zu einem praktischen Zopf zusammengebunden hat. Selbst unsere Augen sind sich ähnlich, von einem intensiven Blau und sehr auffällig. Meinem Vater sieht man das Alter wesentlich deutlicher an, er hat graue Schläfen und viele Fältchen in den Augenwinkeln, die aber eigentlich nur darauf hinweisen, wie fröhlich er die meiste Zeit über ist. Er gehört zu jenen Männern, denen das Älterwerden steht. Ich weiß, dass er viel für seine Fitness tut, und das sieht man ihm auch an.

Beide zusammen sind ein Jackpot für die Genvermischung, und das haben sie mit ihren drei Töchtern auch possierlich umgesetzt.

Ich weiß, dass ich rein objektiv betrachtet hübsch bin. Gerade eben habe ich noch all die Merkmale aufgezählt - die Haare, die Augen. Ich habe einen tollen Teint. In dem Punkt unterscheide ich mich weder von meinen Eltern, noch von meinen Schwestern. Trotzdem gibt es da eine kleine, leider nicht zu unterschätzende Zone in meinem Hirn, die Schwierigkeiten hat, diese Tatsache zu verarbeiten. Es ist, als würden Realität und Wahrnehmung nicht hundertprozentig aufeinanderpassen. Was mein Verstand begreift, kommt nicht richtig bei mir an - und das hat zur Folge, dass man rein äußerlich vielleicht der Meinung sein könnte, dass ich zu dieser wunderschönen Familie gehöre, ich selbst fühle mich aber eher wie das berühmte, hässliche Entlein. Kombiniert mit meinem untrüglichen Talent, in den unmöglichsten Situationen trampelig zu sein, sorgt das für eine eher belastende Mischung.

Und das zieht sich irgendwie schon durch mein gesamtes Leben.

Nein, es macht mir keinen Spaß, an meine Schwestern verwiesen zu werden, um mich mit ihnen über Themen auszutauschen, die sie vermutlich besser kennen als ich. Das ist eigentlich sehr undankbar von mir, weil sie mir liebend gerne helfen würden - und es ihnen auch sicher nicht darum ginge, mich in irgendeiner Weise doof dastehen zu lassen oder mir deutlich zu machen, dass ich weniger weiß - aber ich möchte einfach nicht das Gefühl haben, schon wieder irgendwie hinterherzuhinken. Das ist auch einer der Gründe, warum ich fürs Studium fast fünfhundert Kilometer weit weg gezogen bin, obwohl ich problemlos auch an die Uni meiner Schwestern hätte gehen können, wo sogar meine Mutter schon studiert hat.

Mit meinem Studienfach habe ich zumindest in gewisser Form eine Abgrenzung geschaffen. Während meine Schwestern beide Lehramt studieren und nun mitten in ihrem Master stecken, die eine gerade zu Beginn, die andere kurz vorm Ende, habe ich mich für Pädagogik entschieden. Das ist inhaltlich zwar sehr identisch, aber die Wege werden in unterschiedliche Richtung gehen. Ich sehe mich tatsächlich langfristig eher am Lehrstuhl einer Universität, vielleicht auch in der Forschung, während meine Schwestern als Lehrer durchstarten wollen - so wie meine Mutter. Mein Vater arbeitet in der Wirtschaft, aber auch den Weg wollte ich auf keinen Fall einschlagen. In meinem Rahmen versuche ich, mich selbst zu finden. Dummerweise habe ich das noch nicht wirklich erfolgreich geschafft.

»Und wie geht es weiter? Hast du dich schon für ein Praktikum entschieden?«

Ich atme tief durch, ehe ich zu einer Antwort ansetze. »Nein, noch nicht. Dafür haben wir ja noch eine Weile Zeit. Das Praktikum findet erst im kommenden Semester statt, und ich bin noch dabei, mich zu orientieren, welchen Schwerpunkt ich setzen möchte.«

Das klingt ungefähr genauso planlos, wie ich mich gerade fühle.

»Damit solltest du aber nicht zu lange warten, mein Schatz. Die guten Stellen sind sicherlich schnell vergeben, und du willst diese Chance doch nicht vergeuden, oder?«

»Natürlich nicht, Mama. Ich beschäftige mich ja auch bereits damit. Ich halte euch auf dem Laufenden, sobald es Neuigkeiten gibt. Aber jetzt genug von mir. Wie geht es euch? Wie war die Woche?«

Die kritische Phase ist überstanden, das bemerke ich daran, wie bereitwillig meine Mutter zu erzählen beginnt. In den kommenden zwanzig Minuten erfahre ich alles - vom neuesten Kollegenklatsch über die Pläne, das Zentrum der Kleinstadt zu sanieren, in der ich aufgewachsen bin, bis hin zu den neuesten Neuigkeiten meiner Schwestern, die scheinbar beide sehr ernsthaft in Beziehungen stecken. So ernsthaft, dass meine Eltern darauf warten, mit weiteren Plänen überrascht zu werden.

»Und du? Hast du jemanden kennengelernt?«

Ich fühle mich auf falschem Fuße ertappt. Noch so ein Thema, mit dem mir meine Familie regelmäßig in den Ohren liegt, auch wenn sie sich kurioserweise nicht einig sind. Einerseits wünschen sie sich, dass ich einen »netten, jungen Mann« kennenlerne, andererseits wollen sie natürlich nicht, dass ich einen Grund habe, über das Studium hinaus hierzubleiben. Bisher gab es da wirklich nicht viel zu berichten, da ich mein Interesse Männern gegenüber bewusst niedrig gehalten habe. Meine engste Bindung ist tatsächlich die zu meinem Fellknäuel Romy. Irritierenderweise denke ich jetzt jedoch als allererstes an meine Begegnungen mit dem Läuferadonis. Das ist total bescheuert, weil keine von beiden gut ausgegangen ist und er so ziemlich der Letzte ist, den ich mit einer romantischen Beziehung in Verbindung bringe. Also schüttele ich energisch den Kopf und verkneife mir ein verzweifeltes Lachen. »Nein, nach wie vor nicht. Aber dafür habe ich auch gar keine Zeit.«

Plötzlich wird sie weich, die Miene meines Vaters. »Nathalie, du solltest nicht so viel arbeiten, hörst du? In deinem Alter habe ich viel mehr das Leben genossen, als du es tust. Natürlich ist es wichtig, dass du einen guten Abschluss bekommst, und du brauchst dringend einen Plan vom Leben, aber dabei solltest du nicht vergessen, auch mal durchzuatmen.«

In mir wächst eine komplizierte Mischung aus Verwunderung und Scham. Es ist selten, dass mein Vater solche Ausbrüche hat, und wie immer fällt es mir schwer, damit umzugehen. Schlimmer noch - es kam im Zusammenhang mit der Frage nach einem Mann in meinem Leben. Was genau will er mir gerade eigentlich sagen? Dass ich Spaß haben soll, ja. Aber ... mit Männern, oder wie meint er das?

Ein Hauch von Röte überzieht meine Wangen. Gott sei Dank ist das Licht im Zimmer so gedämpft, dass man es kaum wahrnehmen kann.

»Genau, Schatz. Gönn dir auch mal ein bisschen Pause. Und du kannst auch gerne mal wieder für ein paar Tage vorbeikommen, wenn dein Stundenplan es zulässt, das weißt du, oder?« Nun springt auch meine Mutter auf den Zug auf.

»Ja, sicher. Ich schaue, wie es passt«, erwidere ich gedämpft, noch immer ein wenig überrumpelt von der Richtung, die unser Gespräch eingenommen hat.

»Gut. Dann lass uns Schluss machen für heute. Ich muss dringend nach dem Braten sehen, den ich vorhin in den Ofen geschoben habe. Was isst du heute Abend?«

»Weiß ich noch nicht«, erwidere ich, den Blick auf einen Fleck irgendwo zwischen Kamera und Bildschirm gerichtet. »Ich schaue mal, was der Kühlschrank so hergibt.«

Meine Mutter lächelt mich an, zumindest gehe ich davon aus. Gerade schaffe ich es nicht, meinen Eltern in die Augen zu blicken. »Dann lass es dir schmecken, mein Schatz. Bis nächste Woche. Und meld dich, wenn vorher schon etwas ist!«

Ich nicke eifrig. »Natürlich. Ihr auch. Bis nächste Woche!«

Skype kündigt mit einem lauten Geräusch an, dass die Verbindung unterbrochen wurde, und ich zucke zusammen.

---ENDE DER LESEPROBE---