7,99 €
Jedes Kind sehnt sich in seinem tiefsten Herzen nach Geborgenheit bei seiner Mutter und seinem Vater: »Ich liebe und brauche euch beide!« Die Bindung an die Eltern ist die Grundlage für die weiteren Beziehungen im Leben des Kindes. Dieses Buch macht Mut, einen »systemischen Blick« in der Erziehung zu entwickeln. Dieser Blick hilft dabei, die Nöte von Kindern zu verstehen, die mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lernstörungen auf ungelöste familiäre Schwierigkeiten hinweisen - zum Teil auch aus früheren Generationen. Konkrete Übungsanleitungen regen Eltern, Erzieher und Lehrer an, auf kreative Weise nach guten Lösungen für die Kinder und ihr Umfeld zu suchen. Systemisches Denken, Fühlen und Handeln können den erzieherischen Alltag sowohl in der Familie als auch im pädagogischen Bereich spürbar entlasten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2015
Barbara Innecken
Weil ich euch beide liebe
Barbara Innecken
Weil ich euch beide liebe
Systemische Pädagogik für Eltern,
Hinweis
Alle in diesem Buch vorgestellten Anleitungen stammen aus der Praxis der Autorin. Sie haben sich als wirksames pädagogisches Vorgehen bewährt, stellen aber keinen Ersatz für eine notwendige therapeutische Betreuung dar. Die Anwendung der Anleitungen erfolgt in eigener Verantwortung. Die Autorin und der Verlag stellen weder Diagnosen, noch geben sie Therapieempfehlungen.
Copyright: © 2015 Barbara Inneken
Umschlag: Kaselow Design, München
Umschlagmotiv: »Kiss«, © Karen Stocker, Seattle
Foto (Seite 32): Roland Gerth, Thal
Illustrationen (Seite 29 und 57): Monica May, München
Grafiken: Christa Pfletschinger, München
Satz und Layout: Greiner & Reichel, Köln
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Vorwort
Geleitwort
Einleitung
Was heißt hier »systemisch«?
Eingebundenheit und Eigenständigkeit
Der systemisch-konstruktivistische Ansatz
Der systemisch-phänomenologische Ansatz
Das Neuro-Imaginative Gestalten (NIG)
Systemische Pädagogik
Wir gehören zusammen – das Kind und seine Familie
Der Strom des Lebens – Grundordnungen in Familien
Bindung
Ursprungsordnung
Ausgleich von Geben und Nehmen
Weil ich euch beide liebe – das Kind und seine Eltern
Die Bindung an Vater und Mutter
Getrennt lebende Eltern
Patchworkfamilien
Fallbeispiel: Gute, mittlere und schlechte Zeiten
Gemeinsam sind wir stark – das Kind und seine Geschwister
Grundordnungen in der Geschwisterreihe
Die Tischordnung
Fallbeispiel: Der Schutzengel
Was Eltern stärkt – auch sie haben Vater und Mutter
Autoritäten?
»Rückendeckung« – die eigenen Eltern hinter sich wissen
Freiheit und Grenzen
Fallbeispiel: Die Verneigung
Praktische Übung (NIG): Die Eltern hinter sich spüren
Für euch tu ich alles – das Kind und sein Familiensystem
Die Liebe des Kindes zu allen Familienmitgliedern
Was können Eltern tun?
Fallbeispiel: Die andere Welt
Der Schritt nach draußen – das Kind und die öffentliche Erziehung
Ich komme nicht allein zu dir – die Eltern sind immer dabei
Der Brückenschlag zwischen Eltern und Pädagogen
Praktische Übung (NIG): Der Pädagoge, das Kind und seine Eltern
Erfahrungen mit der NIG-Übung
Wenn Engagement allein nicht reicht – das Kind und sein Familiensystem
Schwierige Kinder?
Die Grenzen des Helfen – Helfen im Einklang
Praktische Übung (NIG): Der Pädagoge, das Kind und sein Familiensystem
Fallbeispiel: Die vier Geschwister
Fallbeispiel: Das Ziel
Gemeinsam sind wir stark – das Kind in der Gemeinschaft
Recht auf Zugehörigkeit
Rangordnung
Fallbeispiel: »Alle gehören dazu«
Wir wirken zusammen – die Gemeinschaft der Kollegen
Gleich-wertige Kollegen
Anerkennen, was ist: Rangordnungen
Praktische Übung (NIG): Die Gemeinschaft der Kollegen
Was Pädagogen stärkt – auch sie haben Vater und Mutter
Kraftquellen? Der Pädagoge und seine eigenen Eltern
Praktische Übung (NIG): Der Pädagoge und seine Eltern – das Kind und seine Eltern
Fallbeispiel: Der Vater steht dazwischen
Systemisches Handeln – Beispiele für die Praxis
»Kraftbilder« – Ressourcenorientierung
Kraftbilder sind Kraftquellen
Praktische Übung (NIG): »Kraftbilder«
Beispiel aus der Praxis: Arbeit mit Kindern einer 1. Klasse zum Thema »Angst«
»Mein Wunschbild« – Zielorientierung
Die Kraft der Wünsche und Ziele
Das angemessene Ziel
Praktische Übung (NIG): »Mein Wunschbild«
Beispiel aus der Praxis: Religionsunterricht 6. Klasse
»Das will ich können!« – Lösungsorientierung
Lösungen statt Probleme
Praktische Übung (NIG): »Das will ich können!«
Beispiel aus der Praxis: Tobias will lesen lernen
»Durch die Augen des anderen schauen« – ein Beitrag zur Konfliktbewältigung
Perspektivenwechsel oder: Die Änderung der Sicht
Praktische Übung (NIG): »Durch die Augen des anderen schauen«
Beispiel aus der Praxis: Elternabend zum Thema »Wut«
Beispiel aus der Praxis: »Die Zauberwurzel« – Unterrichtseinheit mit einer 3. Klasse
Ein paar Worte zum Schluss …
Anhang
Danksagung
Anmerkungen
Literatur
Vorwort
Kinder stellen uns in ihrem Verhalten täglich vor Rätsel, die wir weder als Eltern verstehen noch als Pädagogen angemessen begleiten oder als Therapeuten lösen können. Von Aufmerksamkeitsstörungen bis Legasthenie, von Aggressionen bis zum Mangel an Selbstwertgefühl: Wir können diese Phänomene benennen, doch sie verunsichern uns und selten reagieren wir angemessen.
In diesem Buch führt Barbara Innecken ihre Leserinnen und Leser in die Welt vielfältiger systemischer Sichtweisen ein, die neue Erkenntnisse und Lösungen selbst in aussichtslos erscheinenden Fällen ins Blickfeld rücken. Im praktischen Teil stellt sie uns ihre Arbeitsweise des »NIG« (Neuro-Imaginatives Gestalten) vor, das mit Recht eine systemische Pädagogik genannt werden kann. Während Kinder ermutigt werden, über ihre »Schwierigkeiten« zu sprechen, werden Verhaltensweisen oder Ängste, die Ärger machen und längst überwunden sein sollten, zu wertvollen Wegweisern.
Die Autorin schafft durch ihre Behutsamkeit im Stil und in der Darstellung eine ruhige Atmosphäre. Die Lösungen, die sich Kinder unter der Anleitung der Therapeutin selbst erarbeiten, sind so überzeugend wie anrührend. Der Leser bekommt ein Gefühl dafür, wie sehr die Methode des NIG die ursprüngliche Körperwahrnehmung, das bildlich komplexe Denken von Kindern und ihre Fantasie anregen. Alles, was – bei Rechtshändern – die linke Hand malt, ist von Interesse und wird wertgeschätzt – sie ist ja wirklich nicht geschult und so oft in einem Kinderleben die »Falsche«. Hier wird die Starrheit des »Richtigen«, das in Schule und Erziehung eine so große Rolle spielt, auf wunderbare Weise überschritten. Die Kinder sind eingeladen, körperlich-spielerisch über »das andere« nachzudenken, das aus ihnen herauskommt, das jetzt nicht mehr falsch ist, sondern Bedeutung hat. Dabei formuliert die Autorin als wesentlichste systemische Grundeinsicht, was Kinder kompromisslos in allen Variationen leben: die unumstößliche Bindungsliebe zu ihren Eltern.
Verschlungen und geheimnisvoll sind die symbolischen Wege, auf denen Kinder wandern, um diese Liebe zu leben, bis dahin, wo sie sich selbst in ihrer Lebendigkeit beschneiden, Gesundheit und schulisches Fortkommen opfern. Immer wieder fühlt sich die Leserin, der Leser auch im eigenen Kindsein verstanden, beginnt sich selbst zu verstehen und reflektiert die eigene Elternschaft.
Das Buch ist gut gegliedert. Auf Kapitel über Erkenntnisse der systemischen Sicht folgen Erfahrungsberichte und meditative Anleitungen zur selbstständigen Arbeit mit dem NIG. Am Schluss hat die Leserin, der Leser selbst an sich gearbeitet, in die gestalterische Form des NIG hineingefunden und einen übersichtlichen und leicht verstehbaren Lehrgang in systemischen Sichtweisen absolviert.
Ich danke Dir, Barbara, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, dieses Buch zu schreiben und uns an Deiner reichen praktischen Erfahrung in der Arbeit mit Eltern und Kindern teilhaben lässt.
Ich wünsche allen Eltern, Lehrern und Therapeuten Freude beim Lesen, Experimentieren und Umsetzen der vielen Anregungen im eigenen pädagogischen Alltag.
Marianne Franke-Gricksch
Geleitwort
Vor einigen Jahren habe ich mit Barbara Innecken zusammen das Buch Im Bilde sein. Vom kreativen Umgang mit Aufstellungen in Einzeltherapie, Beratung, Gruppen und Selbsthilfe über die Methode des Neuro-Imaginativen Gestaltens (NIG) geschrieben. Barbara Innecken hat diese in der Einzeltherapie mit Erwachsenen entwickelte Methode dann vermehrt auch in ihrer Arbeit mit Eltern, Kindern, Lehrern und anderen pädagogisch Tätigen angewandt. Nun legt sie eine plastische und durchdachte Zusammenfassung ihrer Erfahrungen vor und zeigt, wie erfolgreich sie damit arbeitet. Mich freut dies vor allem, weil ich glaube, dass die Weiterentwicklung der Pädagogik in unserer Zeit zu einem sehr wichtigen Tätigkeitsfeld geworden ist.
Dass diese Methode Kinder besonders anspricht, ist nicht verwunderlich. Denn sie vermittelt einen Umgang mit inneren Bildern, der dem noch vor allem bildhaften Denken und der Körpernähe von Kindern entgegenkommt und außerdem spielerische Elemente enthält.
Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, warum diese Methode den Erfordernissen der Pädagogik unserer Zeit entspricht: Sie berücksichtigt sowohl die individuelle Entwicklung eines Kindes als auch seine Einbindung in die Familie. In der antiautoritären Erziehung, die in den 60er- und 70er-Jahren Eltern und Lehrer vor neue Herausforderungen stellte, stand die Ablösung des jungen Menschen von seiner Familie im Vordergrund. Heute, im Zeitalter einer allgemeinen Verunsicherung durch die Globalisierung, wird die Einbindung in die familiären Beziehungszusammenhänge wieder wichtig.
Wie das NIG sowohl die Notwendigkeit der individuellen Entwicklung als auch die Tatsache der Familienzugehörigkeit gleichermaßen berücksichtigt, hat Barbara Innecken im vorliegenden Buch eindrucksvoll und gut verständlich dargestellt. Darüber hinaus halte ich die Art, wie sie die Erfahrungen und Erkenntnisse anderer. im pädagogischen Feld tätiger systemischer Beraterinnen – wie Marianne Franke-Gricksch und Ingrid Dykstra – in ihre Darstellung einbezieht, für gut gelungen. Dies ist besonders wertvoll für alle, die sich eingehender über systemische Vorgehensweisen in der Pädagogik informieren wollen.
Ich wünsche dem Buch Leserinnen und Leser, die die in ihm enthaltenen Anregungen aufnehmen und anwenden und sich zu kreativen Weitentwicklungen anregen lassen.
Dr. Eva Madelung
Einleitung
Liebe Leserin und lieber Leser, als dieses Buch seinen Weg zu Ihnen fand, fühlten Sie sich vielleicht spontan von einem Detail angesprochen: War es das Titelbild mit dem zufrieden lächelnden Kind, eingerahmt von Vater und Mutter? War es der Titel Weil ich euch beide liebe? Oder war es der Untertitel »Systemische Pädagogik für Eltern, Erzieher und Lehrer«?
Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die mit dem Begriff »systemisch« in Zusammenhang mit Pädagogik und Erziehung bestimmte Inhalte verbinden, vielleicht fragen Sie sich aber auch: Was ist eigentlich mit »systemischer Pädagogik« gemeint? Dieser Frage möchte das Buch nachgehen: mit Erkenntnissen aus verschiedenen systemischen Ansätzen, mit vielen Beispielen aus der Praxis, mit Anregungen für praktische Übungen, die Sie für sich selber, mit den Kindern, der Familie oder den Kollegen erproben können. Bevor wir damit beginnen, möchte ich gerne erzählen, wie ich selber dazu gekommen bin, Kinder auf ihrem Weg systemisch zu begleiten.
In meinen beiden pädagogischen Studiengängen habe ich eine Menge über den Werdegang des Individuums »Kind« erfahren: Als werdende Grundschullehrerin machte ich mit den verschiedenen Theorien, wie Lernen und Entwicklung im kindlichen Alter vonstattengehen, Bekanntschaft. Auch darüber, wie ich bestimmte Lerninhalte methodisch und didaktisch aufbereiten kann in Stundenbildern, in der Erstellung von Wochen-, Monats- und Jahresplänen, habe ich viel gelernt. Später, beim Studium der Sonderpädagogik, kamen dann noch spezielle Kenntnisse über Wahrnehmungs- und Lernstörungen hinzu. Für all diese Dinge bin ich sehr dankbar – denn wie hätte ich sonst all die Jahre als Lehrerin meinen Unterricht halten können?
Es gab aber auch etwas, über das in meinem Studium nur sehr wenig oder gar nicht gesprochen wurde: die Tatsache, dass Unterrichten und Lernen in sozialen Zusammenhängen erfolgt. Das Beziehungsgeflecht der am Lernprozess beteiligten Menschen kam in meinem Studium kaum vor: Lehrer und Schüler, die Schüler mit ihren Eltern und Familien, die Klassengemeinschaft, das Kollegium, die Schulleitung, die Schulbürokratie. Als junge, begeisterte Lehrerin mochte ich meine Schüler sehr gerne und sie mich wohl auch, aber ich erlebte den Schulalltag trotzdem oft als belastend. Einerseits wollte ich meinem Auftrag, die Kinder zu unterrichten, gerne nachkommen, andererseits sah ich mich mit einer Fülle von Beziehungserfahrungen konfrontiert, auf die ich nur wenig vorbereitet war: Elternabende und -gespräche, der Umgang mit »schwierigen« Kindern, der Kontakt zu Kollegen, dem Seminarleiter, dem Rektor, dem Schulrat … Ich hatte beste Absichten und wohl auch einige gute pädagogische Fähigkeiten und fühlte mich doch so manches Mal rat- und hilflos.
Erst später lernte ich, dass in der Interaktion zwischen Menschen ein großes, nicht immer sichtbares Beziehungsgeflecht eine Rolle spielt. Ich war in das Beziehungsgeflecht, das System »Schule« eingetreten, ohne die Ordnungen und Strukturen zu kennen, die in Familien und Organisationen wie zum Beispiel der Schule wirken. Erst zu einem späteren Zeitpunkt bekam ich in meinen systemischen Aus- und Weiterbildungen die große Chance, diese oft im Verborgenen wirkenden Ordnungen kennenzulernen. Heute macht es mir sehr große Freude, Kolleginnen und Kollegen aus dem pädagogischen Bereich systemisch zu begleiten und mit ihnen Lösungen für Probleme zu finden, die sie in ihrem Schul- und Erziehungsalltag haben. Mitten hinein in meine Tätigkeit als Lehrerin bekam ich aber zunächst einmal meine eigenen drei Kinder. Mein Mann und ich waren überglücklich und glaubten, wenn wir ihnen all unsere Fürsorge und Liebe inklusive der notwendigen Grenzen geben und die vermeintlichen »Fehler« unserer Eltern vermeiden würden, dann müssten unsere Kinder doch einfach glücklich werden. Im Laufe der Jahre, die uns und unsere Kinder reich beschenkten, kamen wir jedoch auch immer wieder an unsere Grenzen: Wir erlebten manche Schwierigkeiten mit unseren Kindern, die wir nicht einordnen konnten und deren Hintergrund wir nicht verstanden. Auch in unserer Beziehung als Partner waren wir guten Willens – trotzdem schlugen manchmal die Wellen über uns zusammen und wir fragten uns, wie das geschehen konnte.
In dieser Zeit begann ich eine Reihe von Aus- und Weiterbildungen, zunächst in der Angewandten Kinesiologie, in denen ich Wissen nicht nur wie bisher gewohnt aus Büchern und Vorlesungen erwarb, sondern auch durch Selbsterfahrung und Selbsterprobung. Hier begann ich zu begreifen, dass Pädagogik nicht nur etwas ist, was ich den Kindern »angedeihen« lasse, sondern dass sie bei mir als »Erziehende« ganz persönlich beginnt. So machte ich zunächst die Beobachtung, dass meine kinesiologische Ausbildung, mit der ich meinen eigenen Kindern und den Kindern in der Schule weiterhelfen wollte, erst einmal mir selber half, klarer und stabiler zu werden – und das hatte bereits eine positive Wirkung auf meine Familie und mein Berufsfeld!
In meiner sich anschließenden Ausbildung im Familienstellen und anderen systemischen Methoden wurde mir dann immer deutlicher, in welchem Umfang ich als Mutter und Lehrerin in ein großes Beziehungsgeflecht eingebettet bin. In meiner eigenen Familie wurde mir beispielsweise bewusst, dass mein Mann und ich uns nicht nur als Einzelpersonen begegnen, sondern dass jeder von uns überraschend stark die Werte und Vorstellungen seiner Familie, aus der er kommt, in die Ehe und die Kindererziehung mitbringt. Es bedeutet für uns eine große Erleichterung, auftretende Konflikte zwischen uns auf diesem Hintergrund zu sehen und zu lösen – und diese Veränderung ist für die Kinder sofort spürbar! Je mehr wir als Eltern in Einklang mit uns und unseren Herkunftsfamilien sind, desto unbelasteter fühlen sich unsere Kinder. So manches Problem mit den Kindern, das uns Sorgen oder Kopfzerbrechen bereitet, können wir auf diese Weise lösen. Natürlich ist das immer wieder »Arbeit« - regelmäßige Gespräche miteinander führen, sich ab und an eine systemische Beratung einholen, eine Familienaufstellung machen –, aber diese Form der systemischen Begleitung unserer Kinder hat sich für uns alle immer wieder gelohnt.
Kinder systemisch begleiten – diese Erfahrung darf ich seit 1994 auch in meiner eigenen Praxis für Sprach- und Psychotherapie machen. Zu meinem »systemischen Repertoire« haben sich noch weitere lösungsorientierte Sichtweisen und Methoden gesellt und so findet meine systemische Begleitung von Kindern heute auf ganz verschiedenen Ebenen statt: Arbeit mit dem Kind selber, Elternberatung, therapeutische Unterstützung von Vater oder Mutter, Familienaufstellungen, »Arbeitskreis systemische Pädagogik«, Supervision für Lehrer und Erzieher und natürlich dieses Buch…
Ich habe das Buch in vier große Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel »Was heißt hier ›systemisch‹?« geht es um Grundannahmen und Methoden der verschiedenen systemischen Richtungen und um die Frage, was es heißen kann, Kinder systemisch zu begleiten. Das zweite Kapitel »Wir gehören zusammen – das Kind und seine Familie« beschäftigt sich in vielen praktischen Beispielen mit den Bindungen des Kindes an seine Familie. Im dritten Kapitel »Der Schritt nach draußen – das Kind und die öffentliche Erziehung« begleiten wir das Kind und seine Beziehungen in den Kindergarten, die Schule oder andere pädagogische Einrichtungen. Obwohl sich dieser Teil zuallererst an im pädagogischen Bereich Tätige wendet, können auch Eltern hiervon profitieren, da, wie wir noch sehen werden, die familiäre und die öffentliche Erziehung untrennbar miteinander verbunden sind. Im vierten Kapitel »Systemisches Handeln – Beispiele für die Praxis« stelle ich Ihnen zum Abschluss praktische Übungen vor, mit denen Sie Kinder und Jugendliche, aber auch sich selber als Eltern oder Pädagogen auf kreative Weise systemisch begleiten können.
Dieses Buch möchte Ihnen, liebe Eltern und im pädagogischen Bereich Tätige, ein Handbuch bei der Begleitung der Ihnen anvertrauten Kinder sein. Es möchte Ihnen einige der Ordnungen, die in Beziehungen in der Familie und in der öffentlichen Erziehung wirken, mit Worten und vielen Bildern sichtbar machen. Es möchte Ihnen Mut machen, auf Ihre Familie und Ihren Arbeitsplatz einmal »mit anderen Augen«, sozusagen mit dem »systemischen Blick« zu schauen. Es möchte Sie auch ermutigen, das Gelesene praktisch zu erproben, selbst zu erfahren und sich bei Bedarf Unterstützung zu holen. Für mich wäre es eine große Freude, wenn Sie im einen oder anderen Fall die Erfahrung machen könnten, dass systemisches Denken, Fühlen und Handeln den pädagogischen Alltag entlasten, die berufliche Kompetenz erweitern und vor allem die Beziehungen zu uns selber, zu unseren Familien, unserem Arbeitsplatz und damit auch zu den uns anvertrauten Kindern liebevoller und friedlicher gestalten können.
Was heißt hier »systemisch«?
Mit dieser etwas flapsig klingenden Frage starten wir in das erste Kapitel dieses Buches – es geht hier um die Entwicklungsgeschichte systemischen Gedankenguts und systemischer Methoden, um verschiedene systemische Ansätze und um die Menschen, die diese vorangetrieben haben.
Das griechische Wort »systema« bedeutet »Zusammenstellung«, in einem System sind also Dinge, Elemente oder Menschen, die zueinandergehören, »zusammengestellt«. In der allgemeinen Systemtheorie wird seit Mitte des 20. Jahrhunderts versucht, so unterschiedliche Systeme wie beispielsweise den menschlichen Körper, Flugzeuge, Biotope oder unsere Sprache zu verstehen und zu lenken. Die Begriffe der Systemtheorie werden in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen angewendet, so in der Informatik, der Elektrotechnik, der Chemie oder der Philosophie. Die Systemtheorie lässt sich aber auch auf das Gebiet der sozialen Systeme anwenden, zum Beispiel auf die Soziologie, die Psychologie und die Pädagogik. Zu den Wegbereitern dieses Anwendungsbereiches gehören unter anderem die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela, der deutsche Soziologe Niklas Luhmann und der österreichische Physiker und Philosoph Heinz von Foerster. Aus dem riesigen Feld der sozialen Systeme suchen wir uns hier in diesem Buch diejenigen Systeme heraus, in denen Erziehung und Pädagogik stattfinden: die Familien, Kindertagesstätten, Schulen und andere pädagogische Einrichtungen.
Die Systemtheorie ist eine relativ junge Wissenschaft und so gibt es eine Fülle von unterschiedlichen Systembegriffen, die sich teilweise ergänzen, teilweise miteinander konkurrieren. Auch im Bereich der sozialen Systeme, zum Beispiel in der systemischen Psychotherapie und der systemischen Pädagogik, gibt es in Fachkreisen unterschiedliche Auffassungen zum Begriff »systemisch«1. Wie immer, wenn eine neue Idee in lebendigem Wachstum entsteht, gibt es verschiedene Strömungen, die sich in der Abgrenzung voneinander, aber auch im Austausch miteinander entwickeln. Im Wesentlichen geht es hier um zwei verschiedene systemische Ansätze, den systemisch-konstruktivistischen und den systemisch-phänomenologischen. Beide stelle ich im Folgenden in einem kurzen Überblick vor.
Zu Beginn dieses Kapitels stand die Frage »Was heißt hier systemisch?«. Hier, in diesem Buch, heißt systemisch, dass beide Ansätze ihren Platz haben. Wie wir sehen werden, wirken sie auf verschiedenen Ebenen und können sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Mit dem Neuro-Imaginativen Gestalten (NIG) stelle ich Ihnen darüber hinaus eine systemische Methode vor, in der beide Ansätze vertreten sind – eine Methode, die es ermöglicht, Kinder kreativ und mit dem »weiten systemischen Blick« auf ihrem Weg zu begleiten.
Eingebundenheit und Eigenständigkeit
Die Entwicklung des Kindes geschieht in Bindungen und in Beziehungen und damit in Systemen. Ein Kind kann nicht ohne Beziehungen, ohne Zugehörigkeit zu einem System aufwachsen. Sein Vater und seine Mutter sind das erste System, zu dem es gehört und von dem es immer ein Teil bleibt, sein ganzes Leben lang. Auch seine Geschwister gehören beispielsweise in dieses System – wir nennen es die Herkunftsfamilie des Kindes. Je nach individuellem Lebenslauf kann das Kind aber auch in einem anderen, neu dazugekommenen System aufwachsen: Das kann eine Adoptivfamilie sein, eine neu gegründete Patchworkfamilie, ein Kinderheim. In jedem Fall aber kommen wechselnde soziale Systeme hinzu: Krabbelgruppe, Krippe, Kindergarten, Schule, Kirche, Freundeskreis, Verein … All diese Gemeinschaften beeinflussen die Entwicklung des Kindes, das Kind steht in vielfältiger und wechselseitiger Beziehung zu ihnen. Auf die besondere Bedeutung der Herkunftsfamilie hierbei werde ich später noch ausführlich eingehen: Auch wenn das Kind in späteren Jahren das Elternhaus verlässt und beispielsweise eine eigene Familie gründet, so bleibt es doch immer ein Teil seines Herkunftssystems. Damit ein Kind sich gut entwickeln kann, braucht es die Sicherheit von Bindungen. An erster Stelle steht dabei die Bindung an die leiblichen Eltern und an die erweiterte Herkunftsfamilie, an zweiter Stelle stehen die Beziehungen zu neu dazugekommenen Gemeinschaften. Das Kind fühlt sich in der Bindung sicher und möchte dazugehören. Die Angst, es könnte diese Zugehörigkeit verlieren, spielt für das Kind immer wieder eine wichtige Rolle.
Gleichzeitig zu diesem Wunsch nach Bindung hat das Kind aber auch den Wunsch, seine eigene Persönlichkeit zu entfalten, seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, auf seine Weise einzigartig zu sein. Schon das dreijährige Kind ist voller Stolz, wenn es zu seinen Eltern sagen kann: »Das kann ich schon!« Es möchte in seinem Bestreben, eine eigenständige, autonome Person zu werden, anerkannt und unterstützt werden. Man könnte sagen, dass diese beiden paradox anmutenden Wünsche in einem »Spannungsfeld« zueinander stehen, in dem die Entwicklung des Kindes geschieht. Mir gefällt die Bezeichnung »Wirkfeld« in diesem Zusammenhang besser, denn in diesem Begriff ist die Wechselwirkung des Wunsches nach Bindung einerseits und nach Eigenständigkeit andererseits gut ausgedrückt.2
Hat das Kind in seiner Familie einen anerkannten und sicheren Platz, so kann es seinen eigenen Wert spüren und entfaltet mit Neugier und Freude seine individuelle Persönlichkeit. Muss es aber um die Zugehörigkeit zu seiner Familie kämpfen oder um sie fürchten, so sind seine Kräfte daran gebunden und seine persönliche Entwicklung verzögert sich oder stagniert. Eine gut entwickelte Eigenständigkeit bewirkt im Gegenzug, dass das Kind beispielsweise später als Jugendlicher die Bindung zu seiner Herkunftsfamilie bewahren kann und sie nicht abschneiden muss, wenn es seine eigenen Wege gehen möchte.
Oben habe ich von zwei systemischen Ansätzen gesprochen, die sich ergänzen und befruchten können. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kindes lässt sich das verdeutlichen: In der systemisch-phänomenologischen Sichtweise steht der Aspekt der Bindung und der Zugehörigkeit zu einem System im Vordergrund. Hierzu gehören die bereits erwähnten Ordnungen, die in Familien und sozialen Systemen wirken. In der systemisch-konstruktivistischen Sichtweise wird eher die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Kontext der Familie und von Gemeinschaften betont, hierzu gehören Themen wie Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Ressourcen-, Lösungs- und Zielorientierung. In dem in diesem Buch vorgestellten Neuro-Imaginativen Gestalten finden wir beide Aspekte, die Eingebundenheit und das Streben nach Eigenständigkeit, berücksichtigt. Im Folgenden möchte ich diese verschiedenen systemischen Ansätze, ihre Gründer und wichtigen Vertreter kurz vorstellen.
Der systemisch-konstruktivistische Ansatz
Ausgehend von der allgemeinen Systemtheorie wurden seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA systemische Konzepte entwickelt, die sich mit sozialen Systemen, vor allem im Rahmen der Familientherapie, beschäftigten. Führend wirkten hier der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson und seine Mitarbeiter am Palo Alto Institut sowie der Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick und seine Mitarbeiter am Mental Research Institut in Kalifornien. Diese Wissenschaftler leisteten bedeutende Beiträge zur Entstehung des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes. Eine zentrale These des Konstruktivismus lautet, dass der Mensch als wahrnehmendes Wesen sich seine Wirklichkeit »konstruiert« oder »erfindet«. Die Konstruktivisten gehen also davon aus, dass es viele subjektive Möglichkeiten gibt, die Welt wahrzunehmen, statt nur eine einzige »objektive« Wirklichkeit. In seinem Bestseller Anleitung zum Unglücklichsein gibt Paul Watzlawick viele amüsante Beispiele, wie leicht es ist, sich mit einer negativen Sichtweise auf sein Leben den eigenen Alltag unerträglich zu machen.3 In den nachfolgenden 70er- und 80er-Jahren entwickelten sich unter dem Dach des »konstruktivistischen Hauses« eine Reihe psychotherapeutischer Methoden, die sich unter dem Namen »systemische Kurztherapien« zusammenfassen lassen.4 Hierzu gehören Familienrekonstruktionen nach Virginia Satir, die Mailänder Schule, die Heidelberger Schule, die Kurztherapie nach Steve de Shazer und das Neurolinguistische Programmieren (NLP).
Die Erkenntnisse der Systemtheorien und der systemischen Kurztherapien fließen seit den 90er-Jahren auch in die Pädagogik und Erziehung ein. Frühe Vertreter sind hier Wilhelm Rotthaus5 und Reinhard Voß, aktuelle Weiterentwicklungen werden in den folgenden Kapiteln dieses Buches immer wieder zu Wort kommen.
Grundannahmen
Nach diesem kleinen Spaziergang durch die Entwicklungsgeschichte des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes werfen wir nun noch einen Blick auf einige Grundannahmen, die ihren Platz in der systemischen Pädagogik und Erziehung gefunden haben und die Sie auch in diesem Buch wiederfinden werden.
Eine ganz wichtige systemische Haltung und Grundeinstellung ist das Prinzip der Allparteilichkeit. Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, allen Mitgliedern eines Systems mit Wertschätzung zu begegnen. Man geht davon aus, dass hinter jedem Verhalten eines Familienmitgliedes, eines Schülers oder eines Kollegen eine positive Absicht steht. Dadurch werden die Verdienste jedes Einzelnen anerkannt. Es geht also darum, allen Mitgliedern eines Systems eine positive Stellung zu geben. Die Einübung dieser hohen Kunst sollte man bereits in jungen Jahren beginnen ich betrachte es als ein sehr lohnendes Ziel für die systemische Begleitung unserer Kinder! Im letzten Kapitel dieses Buches finden Sie hierzu eine praktische Übung mit dem Titel »›Durch die Augen des anderen schauen‹ – ein Beitrag zur Konfliktbewältigung«.
Der Grundsatz der Lösungsorientierung stammt von Milton Erickson, einem der bedeutendsten Therapeuten des 20. Jahrhunderts aus den USA, und wurde von Steve de Shazer und seiner Frau Insoo Kim Berg konsequent weiterentwickelt. In der lösungsorientierten Sichtweise wird das Hauptaugenmerk nicht auf die Probleme und Defizite eines Menschen gerichtet, sondern auf deren Lösung. Es wird davon ausgegangen, dass jedes Problem auch eine Lösung in sich trägt. Begegnen wir als Eltern und Pädagogen Kindern und Jugendlichen mit einer lösungsorientierten Haltung, so spüren sie das sofort und beginnen ihrerseits, Lösungen in den Blick zu nehmen, anstatt sich als »Problemfall« zu empfinden. Im letzten Kapitel dieses Buches finden Sie auch eine praktische Übung zur Lösungsorientierung mit dem Titel »Das will ich können!«.
In engem Zusammenhang mit der Lösungsorientierung steht die Zielorientierung, die vor allem im NLP, dem Neurolinguistischen Programmieren, von großer Bedeutung ist. Auf dem Weg vom Problem zur Lösung erweist es sich oft als sehr hilfreich, ein Ziel vor Augen zu haben. In diesem Sinne werden Ziele im NLP als »Attraktoren« bezeichnet, die uns anziehen und aktivieren: Wenn ich weiß, wohin ich will, dann mache ich mich auch auf den Weg. Kinder und Jugendliche werden in ihrer Entwicklung und in ihrem Verhalten in hohem Maße von Zielen und Wünschen geleitet. Sie auf ihrem Weg der angemessenen Zielfindung zu begleiten, ist wiederum ein lohnendes Ziel für Eltern, Erzieherinnen und Lehrer. Eine praktische Übung zur Zielorientierung finden Sie wieder im letzten Kapitel, sie trägt den Titel »Mein Wunschbild«.
Ebenfalls im engen Zusammenhang mit der Lösungsorientierung steht die Ressourcenorientierung. Mit Ressourcen sind Stärken und Kraftquellen gemeint, die jeder Mensch hat, auch wenn sie ihm vielleicht nicht immer bewusst sind. De Shazer sah Defizite und Probleme als Ressourcen für Lösungen an. Blicken wir als Pädagogen und Erziehende auf die Ressourcen und die Fähigkeiten eines Kindes statt auf die Defizite und Mängel, dann nehmen wir das Kind völlig anders wahr. Die sogenannten Defizite eines Kindes können unter diesem Blickpunkt eher als Motivation gesehen werden, etwas Neues zu lernen. Eine praktische Übung zur Ressourcenorientierung finden Sie wiederum im letzten Kapitel unter dem Titel »Kraftbilder«.
Der systemisch-phänomenologische Ansatz
Im Buch Unsichtbare Bindungen beschrieb der ungarische Psychiater und Familientherapeut Ivan Boszormenyi-Nagy 1973 die Kräfte, die im System »Familie« wirken. Seine Erkenntnisse und die vieler anderer Therapeuten griff der Theologe, Pädagoge und Therapeut Bert Hellinger in den 80er-Jahren auf. Hellinger verdichtete und erweiterte die bisherigen Erkenntnisse in den von ihm entwickelten Familienaufstellungen. Im Gegensatz zum systemisch-konstruktivistischen Ansatz, in dem es um die Konstruktion, also um die »Gestaltung der Wirklichkeit« geht, betont der phänomenologische Ansatz die »Wahrnehmung dessen, was ist«. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Wahrnehmung von Phänomenen, die sich in der Aufstellungsarbeit zeigen.
Der Arzt und Familientherapeut Gunthard Weber machte den systemisch-phänomenologischen Ansatz in den 90er-Jahren in dem von ihm herausgegebenen Buch Zweierlei Glück im deutschsprachigen Raum bekannt.6 Seit dieser Zeit wurde die Methode von vielen Systemtherapeuten weiterentwickelt und findet inzwischen weltweit Beachtung und Anerkennung – vor allem in Deutschland gibt es parallel dazu aber auch zum Teil kontrovers geführte Diskussionen.
Von Bert Hellinger ursprünglich für den Bereich der Familie konzipiert, werden Aufstellungen heute in die Arbeit unterschiedlichster Disziplinen mit einbezogen. Hierzu gehören neben der Psychotherapie auch Anwendungsgebiete wie Pädagogik, Sozialarbeit, Coaching, Unternehmensberatung, Seelsorge oder Mediation – Aufstellungen unterstützen sogar den Entstehungsprozess von Drehbüchern und Romanentwürfen! Neben den Familienaufstellungen werden in den genannten Bereichen auch andere Aufstellungsformen verwendet, die inzwischen von einer Vielzahl namhafter Fachleute entwickelt worden sind. Hierzu zählen Organisationsaufstellungen, zum Beispiel für Firmen, Schulen oder Kindertagesstätten, und Strukturaufstellungen, beispielsweise für Symptome, Ziele oder Ressourcen. Auch in der Arbeit mit Kindern hat die Aufstellungsarbeit ihren Platz gefunden. Jirina Prekop, Ingrid Dykstra und Thomas Schäfer berichten in ihren Veröffentlichungen ausführlich über ihre Erfahrungen im therapeutischen Kontext. Im Bereich der familiären und schulischen Erziehung leistet Marianne Franke-Gricksch Pionierarbeit. Sie befasst sich sowohl mit dem adäquaten Einsatz von Aufstellungen auf diesem Gebiet als auch damit, wie sich die Erkenntnisse der Aufstellungsarbeit im pädagogischen Alltag einsetzen lassen.7
Für diejenigen von Ihnen, denen »Aufstellungen« zwar ein Begriff sind, die aber noch nicht näher damit in Kontakt gekommen sind, möchte ich diese systemische Vorgehensweise kurz näher beschreiben.
Aufstellungen – eine systemisch-phänomenologische Methode
Für eine Aufstellung treffen sich Menschen, denen ein bestimmtes Problem oder Anliegen am Herzen liegt, in einer Gruppe, um mithilfe dieser Gruppe einen Lösungsweg zu finden. Beispielsweise kommen Eltern, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen um ihr Kind Sorgen machen, um die Probleme ihres Kindes im familiären Zusammenhang zu betrachten und zu lösen. Aufstellungsgruppen gibt es auch im Bereich der beruflichen Supervision, hierhin kommt beispielsweise eine Erzieherin wegen Spannungen in ihrem Team oder ein Lehrer wegen Disziplinschwierigkeiten mit einem Schüler.
Diese »suchende« Person, wir nennen sie hier der Einfachheit halber den Klienten, sucht nach einem Gespräch mit dem Gruppenleiter aus den in der Gruppe anwesenden Personen Stellvertreter aus. Die Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind macht, wird beispielsweise auf Anraten der Gruppenleiterin Stellvertreter für sich, den Vater des Kindes und das Kind auswählen. Die Erzieherin wählt Stellvertreterinnen für sich und ihre Kolleginnen aus, der Lehrer beginnt mit einem Stellvertreter für sich und einem für den Schüler. Diese Stellvertreter positioniert der Klient dann zueinander im Raum, das heißt, er führt sie zu einem Platz, der seinem Gefühl nach stimmig ist. So wird das innere Bild, das der Klient von seiner Familie, einem Team oder einer Beziehung hat, nach außen sichtbar. Sind die Stellvertreter aufgestellt, setzt sich der Klient hin und der Gruppenleiter bittet nun die einzelnen Stellvertreter, mitzuteilen, welche körperlichen Reaktionen oder Gefühle sie wahrnehmen.
An dieser Stelle ereignet sich nun immer wieder ein Phänomen, das viel beschrieben wird, aber letztlich noch nicht schlüssig erklärbar ist: das sogenannte wissende Feld. In einer Art »repräsentierenden Wahrnehmung« äußern die Stellvertreter auf ihrem Platz ganz selbstverständlich Empfindungen, die zu der Person gehören, die sie vertreten, obwohl sie diese Person nie kennengelernt haben und in der Regel auch nichts oder nur wenig von ihr wissen. Ich erlebe es immer wieder, mit welchem Erstaunen Klienten diese Empfindungen der Stellvertreter bestätigen: »Ja, genau so stand mein Opa immer da!« oder: »Das war einer der Lieblingssätze meiner Mutter!«.
Nun kann es sein, dass das Gesamtgefüge des Systems unruhig oder nicht »im Lot« ist, dass sich einer oder mehrere Stellvertreter auf ihrem Platz unwohl oder »nicht richtig« fühlen, zuweilen werden auch sehr heftige Gefühle von Stellvertretern geäußert. Je nach Situation bittet der Aufstellungsleiter dann die Stellvertreter, ihren Bewegungsimpulsen, beispielsweise einem Wunsch nach einem Platzwechsel, nachzugeben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Leiter die Stellvertreter umgruppiert oder aber, dass er offensichtlich fehlende Mitglieder eines Systems dazustellt. Auch kann es wichtig und für das System lösend und stabilisierend sein, an dieser Stelle einen kurzen Satz zu sprechen oder ein Mitglied des Systems mit einer Verneigung zu würdigen. Die Aufstellung kommt zur Ruhe, wenn sich jeder Stellvertreter auf seinem Platz »richtig« und angekommen fühlt. In unserem Beispiel des Kindes, um das sich die Mutter Sorgen macht, kann diese Ruhe durch das Hineinnehmen und Würdigen einer Tante einkehren, die ein schweres Schicksal hatte und mit der das Kind sehr verbunden ist. Im Beispiel der Erzieherin kann die Lösung in der Anerkennung der Leitung des Teams liegen. Für den Lehrer schließlich könnte die Lösung darin liegen, dass er die Eltern des Kindes mit in den Blick nimmt - im weiteren Verlauf des Buches werden Sie zu diesen Beispielen noch ausführliche Fallbeschreibungen finden. Ist die Dynamik oder der Lösungsweg in einer Aufstellung klar geworden, so stellt sich der Klient manchmal zum Schluss selbst auf den Platz, den bisher sein Stellvertreter eingenommen hat. So kann er das neu geordnete System »am eigenen Leib« spüren und in sich aufnehmen.
Die Erkenntnisse, die Bert Hellinger durch seine Familienaufstellungen gewann, fasste er in vielen Veröffentlichungen zusammen. Eine seiner ersten ist das Buch Ordnungen der Liebe8. In diesem Buch beschreibt er Grundordnungen, die in allen Familien wirken. Mit dem Begriff »Ordnungen« sind nun aber keine »ewig gültigen Wahrheiten« zu verstehen, sondern vielmehr »nützliche Muster und Regeln«. So verstanden, beschreiben Ordnungen »bessere und schlechtere Plätze« in Familien und anderen sozialen Systemen und haben das Gedeihen von guten Beziehungen zum Ziel.
Wenn die Mitglieder einer Familie sich im Einklang mit diesen Ordnungen befinden, können sie sich von der Familie gehalten und gefördert fühlen. Häufig geschieht es jedoch, dass Familienmitglieder diesen Ordnungen zuwiderhandeln. Das passiert meist unbewusst, nicht aus bösem Willen, sondern aus »blinder« Liebe. Dann kann es zu Beziehungsstörungen kommen und oft sind es die Kinder, die ausdrücken, dass die Familie nicht im Gleichgewicht ist: Sie fühlen sich nicht angenommen, finden keinen guten Platz in der Familie, werden vielleicht aggressiv, traurig, machen ins Bett oder haben Schulschwierigkeiten.