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Ich weiß, dass ich dich schon geliebt habe, bevor ich überhaupt deinen Namen kannte
Als Kierra Hughes auf einer Dinnerparty plötzlich Gabriel Sinclair gegenübersteht, wird sie mit voller Wucht von ihrer Vergangenheit eingeholt. Gabriel war ihre erste große Liebe und derjenige, mit dem sie ihre schönsten Momente teilte - den sie aber nach einem tragischen Unfall nie mehr wiedersah. Die Gefühle von damals sind sofort zurück, und sich von ihm fernzuhalten scheint unmöglich - zu groß ist Kierras Sehnsucht nach einer glücklichen Zukunft mit ihm. Aber Gabriel kann sich seit dem Unfall weder an Kierra noch an ihre gemeinsame Zeit erinnern...
»Brittainy Cherry zerbricht Herzen mit Worten und setzt sie in stiller Schönheit Stück für Stück wieder zusammen. Sie ist die Queen der Sad Books!« lenisbuchgedanken
Der neue Roman von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy Cherry
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Prolog
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Epilog
Dank
Die Autorin
Die Romane von Brittainy Cherry bei LYX
Impressum
Brittainy Cherry
Weil wir es uns versprochen haben
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katia Liebig
Kierra Hughes ist überhaupt nicht glücklich darüber, wie ihr Leben verlaufen ist. Seit sie vor einigen Jahren bei einem Unfall von einem Moment auf den anderen alles verlor, was ihr je etwas bedeutet hat, wird sie außerdem von schrecklichen Schuldgefühlen geplagt. Und als sie auf einer Dinnerparty plötzlich Gabriel Sinclair gegenübersteht, holt ihre Vergangenheit sie mit voller Wucht wieder ein. Gabriel war ihre erste große Liebe und derjenige, mit dem sie ihre schönsten Momente teilte – bis der Unfall alles zwischen ihnen zerstörte und sie nie wieder etwas von ihm hörte. Kierra konnte Gabriel jedoch nicht vergessen, und die Gefühle von damals sind sofort zurück. Sich von ihm fernzuhalten scheint unmöglich – zu groß ist ihre Sehnsucht nach einer Zukunft, in der sie doch noch zusammen sein können. Aber Gabriel kann sich seit dem Unfall weder an Kierra noch an ihre gemeinsame Zeit erinnern. Hat ihre Liebe noch eine Chance oder wird sie ihn diesmal für immer verlieren?
Liebe Leser:innen,
dieses Buch entstand aus größtem Mitgefühl für alle Personen, die finstere Zeiten erlebt haben und hart kämpfen mussten, um wieder ins Licht zu finden. Ich wollte eine wahrhaftige Geschichte über ein schwieriges Thema schreiben, um allen zu helfen, die ähnliches Leid erfahren haben wie die Heldin in dieser Geschichte, damit sie wissen, dass es am Ende des Tunnels wieder Licht geben kann.
Deshalb möchte ich hier anmerken, dass Teile dieser Geschichte einigen meiner Leser:innen möglicherweise sehr nahegehen könnten.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Brittainy und euer LYX-Verlag
Für alle gequälten Seelen.
KIERRA
Neunzehn Jahre alt
Blut rann über meine Stirn und tropfte auf meine leicht geöffneten Lippen. Ich leckte es ab und sah Gabriels Mutter Amma an, suchte in ihren braunen Augen nach einem Hinweis darauf, dass sie mir vergab. Dass sie mich verstand und nicht für all das hier verantwortlich machte. Ich wollte mich vergewissern, dass sie mich immer noch als Mensch betrachtete und nicht als ein Monster, das das Leben ihrer Familie zerstört hatte. Ich wollte in ihren Augen sehen, dass es nicht meine Schuld war – auch wenn ich es besser wusste.
Alles war meine Schuld.
Trotzdem suchte ich in Ammas Gesicht nach Anzeichen von Verständnis, doch es war hoffnungslos.
Stattdessen sah ich die Wahrheit in ihren Augen. Den Moment, in dem sie mir die Schuld für alles gab. Die Sekunde, in der jegliche Zuneigung zu mir erstarb. Reglos stand sie da, während ich in meinen nassen Kleidern zitterte.
Bebend vor Angst, was sie als Nächstes sagen oder tun würde, trat ich einen Schritt auf sie zu. Ich fühlte mich, als hätte ich vergessen, wie das Atmen funktionierte, wie ich Luft in meine Lunge hinein- und wieder herauslassen konnte. Alles war mühsam und schwierig und verwirrend und …
Was habe ich nur getan?
»Amma …«
Sie hob die Hand, und ich verstummte. Mit einem einzigen stummen Schütteln ihres Kopfes sagte sie mir, was sie fühlte.
Sie wollte nicht, dass ich näher kam. Sie wollte, dass ich in meinem Leid ertrank, während sie in ihrem eigenen litt.
»Geht es … geht es ihnen gut?«, fragte ich. »Sind Elijah und Gabriel okay?«
»Sie werden noch operiert. Sie …« Amma schloss die Augen und stieß ein gequältes Schluchzen aus.
Oh mein Gott.
Sie waren nicht okay.
Mir wurde ganz schlecht.
Die Krankenhausbeleuchtung über uns flackerte, und der Schmerz in meinem Herzen wurde immer schlimmer. Tränen vermischten sich mit dem Blut, das noch immer von meiner Stirn rann, und ließen meinen Blick verschwimmen. Ein wimmerndes Schluchzen entwich meiner Kehle, als ich den Kopf schüttelte und zu ihr lief. Ich zog an ihrer Arbeitsuniform, bettelte, flehte, betete um Vergebung, um mehr Informationen, um einen Hinweis darauf, dass es Elijah und Gabriel vielleicht doch gut ging. »Es tut mir so leid, es tut mir so leid. Bitte, Amma.« Schluchzend krallte ich die Finger in den Stoff ihrer Bluse und zog, als hinge mein Leben davon ab.
»Lass los, Kierra«, flüsterte sie. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie schüttelte den Kopf. »Lass mich los.«
»Nein«, wimmerte ich und hielt sie nur noch fester. Denn ich wusste, wenn ich jetzt losließ, würde mich die Realität dieser ganzen Situation überwältigen. Wenn ich jetzt losließ, würde ich für immer loslassen.
»Schick mich nicht weg, Amma«, flehte ich. Wie gern wollte ich mich an sie drücken und nach Trost suchen, den ich nicht verdiente. Ich wollte die Zeit einen Tag zurückdrehen, als das Leben noch in Ordnung und von Freude erfüllt gewesen war. Als nicht jeder verdammte Atemzug so furchtbar wehgetan hatte.
Als Amma mich noch geliebt hatte wie eine Tochter.
Bevor sie etwas erwidern konnte, bog ihr Ehemann Frank um die Ecke. Er rieb sich mit dem Daumen über die Nase und schniefte. »Ich habe gerade mit den Ärzten gesprochen … Eli … Er hat … Er …« Frank schluchzte. Er konnte nicht weitersprechen.
Amma stieß einen markerschütternden Schrei aus, und ihre Knie gaben nach.
Elijah.
Er hatte es nicht geschafft.
Elijah war Franks Sohn, Gabriel sein Stiefsohn.
Amma und Frank hatten sich vor ein paar Jahren bei einer Gruppentherapie für Menschen kennengelernt, die ihren Partner verloren hatten. Durch ihre Trauer hatten sie zueinander gefunden und sich ineinander verliebt. Und aus dieser Liebe war Elijah, Gabriels Halbbruder, geboren worden.
Gabriel …
Wie ging es ihm?
Was war mit ihm? Ich musste wissen, wie es um ihn stand.
Oh mein Gott, Elijah hat es nicht geschafft.
Mein Herz fühlte sich an, als würde es lichterloh brennen, als Amma zu Boden fiel und vor Schmerz laut aufheulte. Frank lief zu ihr, schloss sie in seine Arme, und sie zerbrachen gemeinsam.
Panik raubte mir den Atem, als mir die Realität dieser ganzen Situation bewusst wurde. In dem Versuch, Amma und Frank zu trösten, trat ich vor, doch Amma wedelte abwehrend mit der Hand. »Nein!«, rief sie. »Geh weg, Kierra! Du warst das! Du hast ihn umgebracht. Du hast das getan!«
Ich taumelte zurück, und als ich ihr in die Augen schaute, sah ich es. Ich sah, wie ihr Herz blutete. Frank fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. Immer schneller und schneller flossen seine Tränen. »Fuck!«, brüllte er, als seine Wut sich mit seiner Trauer vermischte. Eine Wut, die nur meinetwegen existierte.
Elijah war tot. Er war von uns gegangen. Er hatte gelebt, und jetzt war er tot. Meinetwegen. Alles nur meinetwegen.
Frank fluchte noch einmal und schlug sich die Hände vors Gesicht. Diesmal jedoch war sein »Fuck« von einem Schmerz erfüllt, von dem sich sein Herz vielleicht niemals erholen würde. Einem Schmerz, so tief, dass es vielleicht für immer darin gefangen blieb. Es war ein stiller Schmerz. Wie ein Flüstern. Ein Ende. Ein endgültiger Abschied. »Fuck.«
»Geh«, befahl Amma mir. »Sofort.«
Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, also ging ich. Ich verließ das Krankenhaus, trat wieder hinaus in den Schneesturm und blieb mitten auf dem Parkplatz stehen. Ein Auto kam angefahren. Die Scheinwerfer erfassten mich und erinnerten mich daran, dass ich noch lebte, auch wenn ich kaum noch lebendig war. Ich hätte sterben sollen, nicht Elijah. Das war nicht fair. Das war nicht richtig.
Oh, Elijah … Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid …
Meine Eltern sprangen aus dem Wagen und sahen mich an.
»Kierra!«, rief meine Mom, als sie und Dad zu mir rannten.
»Bist du verletzt?«, fragte mein Vater voller Sorge.
Die Scheinwerfer reflektierten die Schneeflocken, die vom Himmel fielen.
Meine Eltern warteten gar nicht erst auf eine Antwort. Als sie ihre Arme um mich legten, gaben meine Knie nach, und ich fiel, von brutalen Schluchzern überrollt, auf den harten Beton. Meine Eltern hielten mich fest, während ich immer wieder die gleichen Worte wiederholte. »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid«, wimmerte ich stockend.
»Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid«, schrie ich, während meine Eltern verzweifelt versuchten, mich zu trösten und die Scherben meiner Seele zusammenzuhalten.
Jeder Atemzug war noch mühsamer als der vorherige, jeder Schrei noch schmerzlicher.
Fuck.
KIERRA
Gegenwart
Claire Dune hatte einen schlechten Tag. Oder eine schlechte Phase. Sie war davon überzeugt, ein schreckliches Leben zu haben. Seit einigen Monaten saß sie mir nun schon dreimal pro Woche in einem meiner gemütlichen Sessel gegenüber, um mich darüber zu informieren, wie schrecklich ihr Leben war.
Mit meinem Notizbuch in der Hand hörte ich ihr aufmerksam zu. Dabei konzentrierte ich mich nicht nur auf ihre Wortwahl, sondern auch auf ihre Körpersprache, wobei mir auffiel, dass ihre Schilderungen im Laufe der Zeit immer emotionaler wurden. Und wenn ich ihr bei irgendetwas einmal nicht zustimmte, erklärte sie jedes Mal, ich würde mich genauso verhalten wie ihre Mutter.
»Sie verstehen mich einfach nicht«, lamentierte sie und ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen. »Niemand versteht mich.«
»Ich verstehe Sie, Claire. Ich sehe Sie, und ich lerne jedes Mal ein wenig mehr über Sie. Wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber ich finde, wir haben schon einige Durchbrüche erzielt. Ich bin sehr stolz auf Ihre Fortschritte in den letzten Wochen. Leider aber ist für heute unsere Zeit vorbei.«
Sie sah zur Uhr hinauf, verzog das Gesicht und wandte sich dann wieder mir zu. »Aber ich muss Ihnen noch mehr erzählen.«
»Ja, und ich freue mich schon darauf, in unserer nächsten Sitzung davon zu hören«, antwortete ich und stand auf. »Und denken Sie daran, jeden Tag eine Liste zu machen. Jedes Mal, wenn sie einen negativen Gedanken haben, überlegen Sie sich, wie wohl der gegenteilige Gedanke aussehen könnte. Und versuchen Sie, es zu spüren. Zum Beispiel das Gegenteil von …«
»Grauen?«
Ich lächelte. »Egal, welche Emotionen es auch sind. Und dann schauen Sie mal, welche Schritte sie unternehmen könnten, um dieser Emotion ein wenig näherzukommen.«
»Meinetwegen. Aber wenn es nicht funktioniert, kriegen Sie kein Geld von mir«, warnte sie mich.
»Nun, so funktioniert das leider nicht. Aber jetzt wünsche ich Ihnen erst mal ein schönes Wochenende. Wir sehen uns nächste Woche.«
Sie stand auf. »Wenn ich dann noch lebe.«
»Sie müssen. Ich habe gelesen, dass Kehlani nächste Woche einen neuen Song rausbringt.«
Sie horchte auf. »Wirklich?«
»Ja. Ich habe gerade einen Post im Internet gesehen. Und demnächst kommt auch der neue Film mit Zendaya in die Kinos. Sie haben noch keinen einzigen ihrer Filme verpasst, da wäre es doch zu schade, wenn Sie jetzt damit anfangen würden.«
Claires kräftige braune Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie schob die Unterlippe vor und kratzte sich den Nacken. »Nun, es wäre wohl nicht sehr Girl’s Girl von mir, mich aus dieser Welt zu verabschieden, ohne den beiden vorher noch meine Unterstützung zukommen zu lassen.«
»Absolut. Schließlich sind wir Girl’s Girls«, bestätigte ich und stieß sie leicht mit der Schulter an. »Bevor Sie gehen: drei Dinge, ohne Kehlani und Zendaya.«
»Och. Dürfen die nicht mitzählen?«
»Nein. Drei Dinge, die Sie diese Woche haben lächeln lassen.« Am Ende jeder Sitzung ließ ich meine Patienten drei Dinge aufzählen, die sie zum Lächeln gebracht hatten, ganz egal, ob es etwas Großes war oder nur eine Kleinigkeit. Es ging einfach nur darum, ihnen bewusst zu machen, dass um sie herum nicht nur Dunkelheit herrschte, sondern dass das Leben auch gute Dinge bereithielt.
Mürrisch drückte Claire die Finger auf ihre Augenbrauen. »Okay«, sagte sie. »Also, mein Garten ist umgegraben. Mein Nachbar hat mir dabei geholfen und mir ein paar Samen gegeben, die ich dort einpflanzen kann.«
Ich hob die Brauen. »Peter?«
»Ja, Peter.« Sie errötete ein wenig. »Er war einfach nur nett. Interpretieren Sie da jetzt nicht zu viel rein.«
Abwehrend hob ich die Hände. »Ich interpretiere gar nicht.« Was nicht ganz stimmte. Claire hatte mir erzählt, dass sie schon seit zwei Jahren auf ihren Nachbarn Peter stand, jedoch nie den Mut gefunden hatte, mit ihm zu sprechen. Das hier war also ein weit größerer Schritt, als ihr bewusst war. Wir würden nächste Woche noch einmal darauf zurückkommen.
»Oh! Und ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen. Nur einen Dollar mehr die Stunde, aber das war gut«, erklärte sie, und ihre Mundwinkel bogen sich ein wenig nach oben.
»Claire! Das ist wundervoll und eine großartige Leistung. Ich weiß, wie nervös Sie waren, nach mehr Geld zu fragen, aber es hat funktioniert.«
»Ja. Hin und wieder muss man wohl auch mal für sich selbst eintreten … Oh! Und das Dritte weiß ich auch.« Sie lächelte richtiggehend, als sie sich wieder erinnerte. »Meine Nichte hat ihr erstes Wort gesprochen, und es war ›Claire‹.«
Bei der Erwähnung des kleinen Mädchens spürte ich ein leises Flattern im Bauch. »Du liebe Güte. Das gehört wirklich unter die Top 3. Sie muss Sie sehr gern haben.«
»Das hat sie«, stimmte Claire mir zu. »Sie ist ein tolles Mädchen.«
»Die Sie sehr gern hat«, ergänzte ich. »Es gibt so viele Menschen, die Sie gern haben, Claire, und deren Welt schöner ist, weil Sie ein Teil davon sind.«
Claire zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. »Vielleicht sind Sie doch nicht ganz so schlecht in Ihrem Job.«
Ich lachte. »Weshalb Sie vermutlich immer wieder zurückkommen.«
»Ja, vermutlich. Und wegen der Süßigkeiten«, erwiderte sie halb scherzhaft und schnappte sich noch eine von meinem Schreibtisch. Dabei hielt sie kurz inne und betrachtete das Foto von meiner Tochter Ava. Ihr Lächeln verschwand. »Ist das Ihre Tochter?«
»Ja, das ist sie.«
»Ist sie eins Ihrer guten Dinge?«
Ich nickte. »Das beste.«
»Sie beide sehen sich nicht sehr ähnlich.« Claire neigte den Kopf. »Sie kommt wohl mehr nach ihrem Dad?«
Ich antwortete nicht, auch wenn es tatsächlich so war. Meine Tochter sah ihrem Vater ähnlicher, als sie mir je sehen würde, und Claire diesen Umstand ansprechen zu hören, machte mich trauriger, als es das hätte tun sollen.
Also lächelte ich nur, denn ich hatte keinerlei Bedürfnis, tiefer in mein Privatleben einzusteigen. Ava war durch meine Hochzeit mit Henry zu meiner Tochter geworden. Ich kannte sie, seit sie fünf Jahre alt war. Vor Kurzem war sie vierzehn geworden und mit Abstand das Beste, das mir je passiert war. Trotzdem wollte ich mit Claire nicht über mein Privatleben sprechen. Es war wichtig, die Dinge zwischen mir und meinen Klienten professionell zu halten. Je mehr sie über mich wussten, desto unangenehmer konnte es werden.
Claire runzelte die Stirn, was sie häufig tat. Dabei hatte sie so ein wundervolles Lächeln, wenn sie es denn zeigte. »Ich wollte immer Kinder haben.«
»Es ist immer noch möglich.«
»Ich weiß nicht. Manchmal kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich noch Mutter werden sollte.« Sie trat von einem Bein auf das andere und wies mit dem Kinn auf das Foto. »Ist Ihr Mann auch so wie Sie?«, fragte sie, und ihre Stimme krächzte ein wenig.
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wie ich?«
»Sie wissen schon …« Claire verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte mit der linken Schulter. »So gut.«
Wieder lächelte ich, doch diesmal fühlte es sich nicht so gut an wie die Male zuvor. »Er liebt seine Tochter.« Die Falten auf Claires Stirn vertieften sich, doch bevor sie etwas erwidern konnte, sagte ich: »Wir sehen uns dann also nächste Woche.«
»Ja, richtig. Okay. Bis nächste Woche, Kierra.«
Sie verließ mein Büro genauso niedergeschlagen – wenn nicht sogar noch niedergeschlagener –, wie sie hereingekommen war, was mir sehr leidtat. Doch mir war bewusst, dass die Fortschritte in einer Therapiestunde für jeden anders aussehen konnten. Manche meiner Patienten gingen unter Tränen und fühlten sich schlechter als vor Beginn der Sitzung. Aber auch das gehörte zum Heilungsprozess dazu. Manchmal wurde es erst schlimmer, bevor es besser wurde.
Meine Mom sagte immer, Probleme zu lösen, sei, wie ein Haus zu entrümpeln. Du musstest erst mal alle Schränke leerräumen und das ganze Zeug ins Wohnzimmer tragen, wo zwangsläufig ein gigantisches Chaos entstand, bevor du anfangen konntest, alles neu zu ordnen und den ganzen Müll zu entsorgen, der dich runterzog. Es war ein wichtiger Teil des ganzen Prozesses.
»Lass alles los, was dich belastet, Schatz. Dann kannst du wieder freier atmen«, sagte meine Mutter immer.
Es war ein guter Rat, auf den ich oft zurückgriff.
Genau wie Claire es gerade getan hatte, erinnerte auch ich mich an drei gute Dinge, die mir in der vergangenen Woche Kraft geschenkt hatten:
Auf Ava und mich wartete zu Hause noch eine ordentliche Portion Geburtstagskuchen.Beim Mittagessen hatte ich bei meinem Lieblingsmexikaner eine Gratisportion Guacamole bekommen.Vor ein paar Monaten waren wir umgezogen. Wir hatten ein großes Stück Land gekauft und würden dort nun bald mit dem Bau unseres neuen Hauses beginnen. Bis dieses fertig war, wohnten wir in dem alten Haus, das noch auf dem Grundstück stand.Als ich meine Sachen zusammenpackte, um mich auf den Heimweg zu machen, klopfte es an der Tür. Ich hob den Kopf und sah Joseph, der ebenfalls Therapeut im Healing Waters Therapy Center war und es damals selbst gegründet hatte.
Healing Waters bot diverse unterschiedliche Therapien an. Josephs Spezialitäten waren Musik- und Wassertherapie, die vielen Menschen erstaunlich gut halfen. Er war ein echtes Genie auf seinem Gebiet und mir im Laufe der Jahre zu einem engen Freund geworden. Joseph war ein wahrer Ausbund an Optimismus und fand in jeder Situation noch etwas Positives. Zudem war er unglaublich gebildet und einer der intelligentesten Menschen, den ich kannte. Vor ein paar Wochen hatten wir hier in der Klinik seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert, doch so abenteuerlustig, wie er war, hätte man ihn eher für Anfang zwanzig gehalten. Vor ein paar Wochen hatte er sich ein paar Tage freigenommen, um einen verflixten Berg zu besteigen – einfach aus Spaß. Josephs Vorstellung von Spaß war eindeutig eine andere als meine. Für mich bedeutete Spaß, sich Essen zu bestellen und im Schlafanzug Below Deck zu bingen.
»Bist du schon auf dem Weg, um deine Dinnerparty vorzubereiten?«, fragte er.
»Ja. Es ist so schade, dass du nicht dabei bist. Henrys Freunde und Kollegen sind furchtbar langweilig«, antwortete ich halb scherzhaft. Die Dinnerpartys, die mein Mann veranstaltete, waren nicht bloß schlichte Abendessen, sondern richtige Partys. Ein paar davon waren sogar aufwendiger und schicker gewesen als unsere Hochzeit vor ein paar Jahren – inklusive Feuerwerk und allem Drum und Dran. Und die Party an diesem Abend war für Henry etwas ganz Besonderes, denn es war die erste nach unserem Umzug. Leider kamen zu Henrys Partys immer nur seine Freunde und Kollegen, nie meine. Unsere Gruppen waren wie Öl und Wasser – sie ließen sich nicht gut mischen. Während meine Freunde anderen Leuten gegenüber warmherzig und offen waren, waren seine … nun, genau das nicht. Meine beste Freundin Rosie bezeichnete Henrys Dinnerpartys immer als Pinkelwettbewerb für reiche Snobs, bei denen es vor allem darum ging, wer die fetteste Jacht hatte.
Und damit lag sie gar nicht so falsch.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es bei unseren Dinnerpartys eine Below-Deck-Binging-Session gegeben. Im Pyjama. Mit Essen vom Chinesen. Natürlich. Noch ein paar Folgen Vanderpump Rules dazu, und wir würden erst nach Mitternacht ins Bett gehen.
Joseph grinste, denn er wusste, wie sehr mir vor Henrys Dinnerpartys graute.
»Wenn ich könnte, würde ich kommen. Aber nächstes Mal bin ich dabei, wenn ich dann in der Stadt bin.«
Ich lächelte. »Wohin geht es denn dieses Wochenende?«
»Nach Austin«, sagte er. »Ich besuche einen alten Freund, der gerade ein Kind bekommen hat. Aber glaub mir, ich würde viel lieber zu einer von Henry Hughes’ legendären Partys gehen. Man sagt, bei euch gibt’s den besten Champagner.«
»Für meinen Ehemann nur das Beste«, erwiderte ich spöttisch.
»Genau deswegen hat er dich«, erwiderte Joseph und stieß mir gegen den Arm, bevor er sich verabschiedete.
Als er weg war, nahm ich mir ein paar Minuten Zeit, um mich mental auf meine Aufgabe als Gastgeberin am Abend vorzubereiten. Einige Leute waren mit dem Talent gesegnet, große Menschengruppen mühelos stundenlang unterhalten zu können. Ich dagegen war immer besser, wenn ich eins zu eins mit jemandem sprechen konnte. Was einer der Gründe war, weshalb ich so in meiner Arbeit aufging. Ich liebte es, mich ganz auf einen Menschen zu konzentrieren und zu lernen, wie er oder sie tickte. Bei den großen Partys, die Henry so gern veranstaltete, gab es immer jede Menge Alkohol und eher plumpe Persönlichkeiten, bei denen es mir schwerfiel, eine Verbindung aufzubauen.
Ich mochte es, tiefgehende Gespräche mit anderen Menschen zu führen, was auf diesen Partys jedoch beinahe unmöglich war, denn bei dem ganzen Trubel kam man kaum dazu, einen anderen Menschen wirklich kennenzulernen. Und so tat ich einfach, was ich am besten konnte: Ich gab vor, glücklich zu sein und mich zu amüsieren.
Denn sonst würde es am Ende des Abends nur Streit mit Henry geben. Und mit Streit meine ich, dass er mir detailliert all die Dinge aufzeigen würde, in denen ich als Ehefrau versagt hatte.
Ich wählte meine ehelichen Kämpfe sehr sorgfältig.
Und Dinnerpartys gehörten zu denen, die ich freiwillig verlor.
KIERRA
Manche Menschen liebten Dinnerpartys. Sie träumten von der perfekten Location mit eleganten Blumenarrangements, goldenem Besteck und perfekt gedeckten Tischen. Von klassischer Hintergrundmusik, schick angezogenen Gästen und Unmengen von Wein und Champagner. Die Dinnerpartys reicher Leute waren immer unglaublich elegant, doch eines schien ihnen zu fehlen: die Herzlichkeit.
Henry war ein Perfektionist. Und daneben einer der brillantesten Köpfe des Staates Maine, wenn nicht gar der ganzen Welt. Doch wenn mein Mann mal nicht damit beschäftigt war, ein Supergenie zu sein, war er damit beschäftigt, mir das Herz zu brechen.
Ich hatte Henry Hughes im schwierigsten und schmerzhaftesten Kapitel meines Lebens kennengelernt, und seine Frau zu werden, war wohl einer der drei größten Fehler, die ich je gemacht hatte. Ich liebte ihn nicht mehr. An den meisten Tagen war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich ihn überhaupt mochte. Die roten Flaggen waren von Anfang an sichtbar gewesen, doch ich hatte sie stillschweigend ignoriert. Wahrscheinlich dachte ich damals, dass dies die Liebe sei, die ich eben verdiente. Dass ich froh sein konnte, wenn mich überhaupt jemand wollte – mit all meinen Narben.
Genau das ist das Problem, wenn du dich in einen anderen Menschen verliebst, ohne dich selbst zu lieben: Damals schienen mir selbst Monster noch begehrenswert. Manche sagen, dass wir am Tiefpunkt unseres Lebens einem anderen Menschen begegnen können, der uns die wärmsten Sommer oder die kältesten Winter bescheren wird. Henry war meine Kaltfront, die eisige Strafe in meiner Jahreszeit der Verzweiflung.
Wir liebten uns nicht; wir waren gefangen in einer lieblosen Ehe. Jedenfalls galt das für mich. Lange Zeit glaubte ich, Henry sei die Rache des Universums für meine Vergehen.
Jetzt fragte ich mich manchmal, warum ich diese qualvolle Ehe mit ihm nicht einfach beendete, doch dann sah ich jedes Mal ihr Gesicht vor mir – Ava Hughes. Das schönste Geschenk, das Henry mir je gemacht hatte. Tief in meinem Herzen fürchtete ich, dass er mir verbieten würde, sie jemals wiederzusehen, falls ich ihn verlassen sollte. Und das reichte, um zu bleiben.
Unsere Tochter Ava war ein wahrer Profi darin, sich während der Dinnerpartys in ihrem Zimmer zu verstecken und zu lesen. Wie sehr wünschte ich, mich mit ihr verstecken zu können. Mit einem Buch in der Hand natürlich. Ich hätte die fiktiven Welten mit Drachen der Realität mit Henry und seinen Freunden jederzeit vorgezogen.
»Solltest du dich nicht für deine Gäste zurechtmachen?«, fragte Ava, als ich mit zwei Stücken drei Tage altem Geburtstagskuchen in ihr Zimmer trat. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich jetzt eine vierzehnjährige Tochter hatte.
»Ich brauche noch einen Moment für mich, bevor es losgeht. Kuchen?«, fragte ich und setzte mich auf die Kante ihres Bettes.
»Immer«, antwortete sie, nahm das Stück entgegen und stürzte sich sofort darauf. »Weißt du, du könntest Dad jederzeit sagen, dass du Dinnerpartys nicht magst«, erklärte sie nüchtern. Als ob sich Henrys Plänen entgegenzustellen tatsächlich eine Option gewesen wäre. Wenn er seinen Willen nicht bekam, verwandelte er sich in einen wahren Albtraum. Ich musste mir jedes Mal gut überlegen, worüber ich mit ihm streiten wollte, was zwangsläufig dazu führte, dass ich seine Dinnerpartys still ertrug und Leute anlächelte, die ich nicht ausstehen konnte.
»Die Dinnerpartys sind wirklich nett«, log ich.
»Lügnerin«, erwiderte sie.
Ava konnte mich lesen wie ein offenes Buch. An manchen Tagen hätte ich schwören können, dass sie mich besser kannte als mein Mann.
»Ich glaube, das Dinner heute Abend ist wichtig«, erklärte ich.
»Dads Dinnerpartys sind immer wichtig«, kommentierte Ava und schob sich eine Gabel voll Funfetti-Cake in den Mund. »Weil er wichtig ist.«
Da lag sie nicht falsch. Henry war nicht nur brillant, sondern auch sehr einflussreich in seinem Tätigkeitsfeld. Er dachte nicht wie andere Menschen, und gerade das war so erfrischend gewesen, als wir uns damals kennengelernt hatten. Seine Firma, Sweet, war ein Hightechunternehmen, das die Smart-Home-Technologie auf ein vollkommen neues Niveau hob. Henry und seine Kollegen machten einfach alles – und damit meine ich wirklich alles. Ihre neueste Technologie nutzte künstliche Intelligenz, um Menschen in ihrem Zuhause genau zu erforschen und so zum Beispiel zu wissen, wann sie eine Tasse Kaffee wollten – noch bevor die Menschen überhaupt selbst daran dachten. Oder zu lernen, wie man Licht einsetzen konnte, um die menschliche Stimmung zu verbessern.
Doch auch wenn Henrys Errungenschaften wahrlich beeindruckend waren, machte es mir ein wenig Angst, wie wenig Kontrolle seine Technologie den Menschen noch zugestand. Wenn künstliche Intelligenz dafür genutzt werden konnte, die Stimmung eines Menschen zu verbessern, konnte sie doch sicher ebenso gut auch dafür verwendet werden, die Persönlichkeit eines Menschen zu verschlechtern. Diese Vorstellung gefiel mir überhaupt nicht, doch Henry meinte nur, dass ich zu wenig Ahnung von diesen Dingen hätte, um zu verstehen, was er da machte.
Er sprach mit Ava und mir nicht nur über seine Technologie, nicht selten kam sie auch mit zu uns nach Hause. Denn natürlich war unser Haus ein Praxislabor. Ich lebte in einem vollständig technologisierten Smart Home, das mich besser kannte als ich mich selbst.
Wobei die Sache mit dem Kaffee mir schon manchmal zu denken gab. Es war wie die Sache mit der Henne und dem Ei: Wusste die KI wirklich, dass ich Lust auf Kaffee hatte, oder roch ich den Kaffee, nachdem sie ihn zubereitet hatte, und bekam erst dadurch überhaupt Lust darauf?
Jedenfalls machte Sweet seinem Slogan Let us take care of the small tasks so we can make your life Sweet alle Ehre.
Es verging keine Woche, in der Henrys Name nicht in den Nachrichten stand. Im Bereich der technischen Innovation war er so was wie der nächste Steve Jobs. Anfangs hatte er sogar eine Phase gehabt, in der er fast ausschließlich schwarze Turtlenecks und blaue Jeans getragen hatte.
Wie gesagt, Henry Hughes war ein brillanter Geschäftsmann. Und ein guter Vater, wenn er nicht gerade um die Welt jettete oder in irgendeinem Meeting saß. Und was Freundschaften betraf? Ganz große Klasse. Dieser Mann wurde von so vielen Menschen geliebt, dass ich fast schon neidisch auf die Version war, die er der Welt präsentierte. Wenn mein Mann mit anderen Menschen sprach, vermittelte er ihnen das Gefühl, als wären sie das Zentrum seines Universums. Er drehte sich allein um sie. Und wenn ich dabei war, bekam auch ich ein Fünkchen seines Lichts ab. Vor anderen Leuten war ich sein Ein und Alles. Ich war die Liebe seines Lebens, seine Sonne, seine Galaxie. Doch sobald die Türen sich hinter uns schlossen, war alles Licht verschwunden.
Das war nicht immer so gewesen. Es hatte Momente gegeben, in denen ich geglaubt hatte, dass er mich wirklich liebte. Mich wertschätzte. Doch die waren mittlerweile rar gesät. Trotzdem tat ich so, als wäre ich glücklich mit ihm, um meine Beziehung zu Ava nicht zu gefährden. Denn Ava war nicht meine biologische Tochter. Doch sie war der hellste Stern und das größte Geschenk in meinem Leben. Und als Henry und ich unsere erste schwierige Phase durchlebten, sagte er zu mir, wenn ich mich scheiden ließe, würde ich Ava niemals wiedersehen.
Diese Drohung reichte, um mich bei ihm bleiben zu lassen, selbst wenn es bedeutete, in dieser lieblosen Ehe zu verharren. Denn ein Leben ohne Ava war kein Leben für mich. Ihr gegenüber erwähnte ich jedoch niemals, wie schwer es mir fiel, in Henrys Schatten zu leben, denn ich wusste, wie sehr sie ihren Vater liebte.
Ehrlich gesagt wünschte ich mir oft, ebenso für Henry empfinden zu können wie Ava. Vielleicht hätte ich ihn und seine Dinnerpartys dann deutlich mehr gemocht.
»Wie ist das Buch?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Auf welcher Seite bist du?«
»295. Oh mein Gott, Mom! Du wirst nicht glauben, was Fania jetzt macht.«
»Keine Spoiler!«, sagte ich und schlug ihr auf den Arm. »Und wieso bist du so viel weiter als ich? Vielleicht sollte ich die Dinnerparty sausen lassen und lieber weiterlesen …«
Sie lachte. »Sei nicht so introvertiert.«
»Ist das so offensichtlich?«
»Ist es«, bestätigte sie. »Du trägst immer noch deinen Schlafanzug. Und die Gäste kommen …«
Es klingelte an der Haustür.
Ich sah auf die Uhr.
»Mist!«, rief ich und sprang vom Bett. »Ich muss mich umziehen.«
»Sei froh, dass Dad dir immer rauslegt, was du anziehen sollst«, sagte Ava. »Sonst würde es noch Jahre dauern, bis du fertig bist.«
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir sehen uns nach dem Dinner. Ich bitte Lena, dir einen Teller mit Essen hochzubringen.«
Lena war die Köchin, die seit einigen Monaten während der Woche für uns kochte. Sie war einfach großartig und das Einzige, das nicht von irgendeinem Hightechprogramm gesteuert wurde. Wobei sie manchmal fast schon zu perfekt war. Es hätte mich nicht gewundert, wenn auch sie ein Batteriefach an der Wirbelsäule gehabt hätte. Trotzdem war ich während der Dinnerpartys dankbar, dass wir sie hatten, denn ich schlich mich nicht selten in die Küche, um mit ihr zu plaudern statt mit Henrys arroganten Freunden.
Lena war nicht nur eine grandiose Köchin, sie war mir auch zu einer guten Freundin geworden. Mit ihrer lebendigen Art war sie wie ein Sonnenstrahl an einem kalten Abend. Ich liebte es, mit ihr über unsere Dinnergäste zu lästern.
»Kannst du sie bitten, mir eine Extraportion Sauce auf die Spaghetti zu geben?«, fragte Ava.
»Natürlich. Aber ich bin mir sicher, sie weiß es bereits.«
Ava Hughes brauchte immer ein bisschen mehr Dip oder Sauce.
Eine Frau ganz nach meinem Geschmack.
»Wo warst du?«, flüsterte Henry, als ich die Treppe ins prachtvolle Esszimmer hinunterstieg. Er legte einen Arm um meine Taille und zog mich an sich, um mich leicht auf die Wange zu küssen. Er roch nach Bourbon und Zimt. Der Duft seines Parfüms umwehte seinen teuren grauen Anzug, zu dem das apfelrote Kleid, das er für mich rausgelegt hatte, perfekt passte. Obwohl ich gern eins meiner eigenen Stücke getragen hätte. In meiner Jugend hatte ich mich sehr viel mit Mode beschäftigt, jedoch schon lange nichts mehr für mich oder meinen Mann genäht. Henry fand es ausgesprochen plump von mir, meine selbst entworfenen Kleidungsstücke zu tragen. Er bevorzugte die bekannten Luxusmarken.
Wie charmant von ihm.
Ich konnte mich schon gar nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt eine Nähmaschine benutzt, geschweige denn ein Kleidungsstück skizziert hatte. Es fehlte mir ein wenig.
»Ich musste mich noch rasch umziehen.« Ich lächelte ihm zu und spürte, wie seine Finger sich ein wenig zu fest in meine Seite bohrten. Meine Verspätung ärgerte ihn, doch vor seinen Gästen würde er es jetzt nicht kommentieren. »Wie sehe ich aus?«, fragte ich und löste mich aus seinem Arm.
»Spät«, erwiderte er mit einem arroganten Lächeln und zeigte dann in den Raum. »Geh schon rein und misch dich unter die Gäste. Freddricks Frau Wendy hat bereits nach dir gefragt.«
Tapfer lächelnd sah ich mich im Raum um. Ein Roboter mit einem Tablett voll Champagnerflöten glitt auf Henry und mich zu und hielt direkt vor uns an. »Mrs Hughes, kann ich Ihnen ein Glas Champagner anbieten?«, fragte er.
»Danke, Jacob«, antwortete ich und griff nach dem vollsten Glas. Wenn ich diesen Abend überleben wollte, musste ich jede Gelegenheit nutzen, um Champagner nachzufüllen. Mit einer Hand strich ich über meinen straffen Pferdeschwanz. Es hatte mich eine Ewigkeit gekostet, ihn glatt zu bekommen. Normalerweise fielen mir die Haare in engen Locken bis auf die Schultern, doch geglättet reichten sie mir bis zum Verschluss meines BH hinunter. Mom sagte immer, meine Haare strotzten nur so vor schwarzen Genen, und jede kleinste Locke trüge die Liebe meiner Ahnen in sich.
Als Kind hatte ich meine Haare gehasst, doch je älter ich wurde, desto mehr lernte ich, sie zu lieben. Sie definierten mich und meine Persönlichkeit. Wenn ich in den Spiegel schaute, blickten meine Mutter und meine Großmutter zu mir zurück. Ich glättete meine Haare nur für die Dinnerpartys, weil Henry es so haben wollte. Er fand, es sähe kultivierter und eleganter aus. Einmal hatte ich ihm widersprochen, doch er ließ mich nie einen Streit gewinnen. Am Ende war irgendwie immer ich diejenige, die sich nach seinen zahlreichen schlauen rhetorischen Kniffen entschuldigte.
Henry griff nach meiner Hand und zog mich erneut an sich, um mich zu küssen. »Du siehst wunderschön aus, Kierra.«
Seine Worte klangen ehrlicher, als ich erwartet hatte. Verwirrt und benommen von seinem sanften Tonfall neigte ich den Kopf ein wenig zur Seite, und ganz kurz flatterten die Schmetterlinge von früher in meinem Bauch auf. Henrys Blick war so von Zuneigung erfüllt, dass mir fast die Tränen in die Augen stiegen.
Leicht öffnete ich die Lippen und zögerte einen Moment. Hatte er wirklich mit mir gesprochen? »Danke, Henry«, antwortete ich, noch immer verwirrt von seinem Kompliment. Ich musste wirken, als hätte ich gerade einen Geist gesehen. Den Geist meines Ehemanns aus einer Zeit, als er mich tatsächlich geliebt hatte.
Bis sich jemand hinter mir räusperte und erklärte: »Es ist doch immer schön, einen Mann zu sehen, der seine Frau liebt.«
Und mein rasendes Herz? Es schlug langsamer. Dieser süße Moment war alles andere als privat gewesen. Plötzlich schämte ich mich, so emotional auf etwas reagiert zu haben, das nichts als Show gewesen war.
»Sie haben es tatsächlich geschafft«, rief Henry, und sein Blick glitt von mir zu der Person, die hinter mir stand. Er trat noch ein wenig enger an mich heran, umfasste erneut mein Handgelenk und drehte mich um, als wäre ich einer seiner Roboter, wobei er nach vorn zeigte und erklärte: »Das ist meine wundervolle Frau Kierra. Kierra, das ist Gabriel Sinclair, der großartige Kerl, von dem ich dir erzählt habe.«
Hatte er gerade Gabriel Sinclair gesagt?
Ich hob den Blick, um den Mann vor mir anzusehen, und mein Herz setzte für einen Schlag aus. Mein Verstand verwandelte sich in eine Matschpfütze, als ich in seine Augen blickte. Augen, die ich einst so gut gekannt hatte.
Braune Augen, wunderschöne dunkelbraune Haut und ein dichter, voller Bart, kombiniert mit einem außergewöhnlichen Lächeln.
Ein Lächeln, das ich ebenfalls einmal so gut gekannt hatte.
Das konnte …
Das Glas in meiner Hand glitt mir durch die Finger und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.
Alle im Raum sahen mich an. Schon lustig, dass etwas so Solides so leicht kaputtgehen konnte. Während alle Blicke auf mir lagen, lag meiner noch immer auf ihm. Gabriel Sinclair. Der Gabriel Sinclair. Mein Gabriel Sinclair.
Einige Sekunden lang vergaß ich zu atmen, und unter dem Blick seiner tiefbraunen Augen wuchs der Druck, der auf meiner Brust lastete, noch weiter. Alle möglichen Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Unsere Blicke begegneten sich nur kurz, und doch lange genug, um zu wissen, dass er mich gesehen hatte. Und zugleich nicht gesehen hatte. Er erinnerte sich nicht mehr an mich, sondern sah mich an wie alle anderen auch – als wäre ich einfach nur Henry Hughes’ Frau.
»Tut mir leid«, platzte ich heraus in diesem Raum voll wichtiger Leute in teuren Klamotten, die mich anstarrten, als wäre ich der ungeschickteste Mensch dieser Welt. Hastig zerrte ich meine Aufmerksamkeit von Gabriel fort, beugte mich hinunter und versuchte, die Scherben aufzusammeln. Doch gleich darauf spürte ich, wie eine Hand nach meiner griff.
»Schon gut, lass es liegen«, sagte Henry und packte mich am Arm.
»Nein, es tut mir leid. Ich wollte keine Szene machen«, sagte ich mit zitternder Stimme, Ausdruck meiner zitternden Seele. Warum stand Gabriel hier in diesem Raum? Warum stand er hier vor mir? Was in aller Welt war hier los?
»Kierra«, knurrte Henry mit zusammengebissenen Zähnen. »Du blamierst mich. Jacob wird sich darum kümmern. Mach dir keine Gedanken. Du solltest nach oben gehen und dich umziehen.« Natürlich sagte er es mit einem Lächeln auf den Lippen. In Gegenwart anderer Menschen vergaß Henry niemals zu lächeln. Doch ich wusste genau, dass ich heute Abend noch ein paar Worte zu hören bekommen würde, später, wenn die Gäste gegangen waren.
Ich sah hinunter auf mein nasses Kleid, und dann wieder hinauf zu Gabriel. In seinem Blick lag ehrliches Mitgefühl.
In diesem Moment trat eine wunderschöne Frau mit roten Haaren zu uns, stellte sich sehr nah neben Gabriel und fragte: »Ist alles in Ordnung?«
Mir wurde übel.
Wer war sie?
Waren die beiden verliebt?
Liebte er sie?
Warum glitt mein Blick sofort zu ihren Händen, um zu sehen, ob sie Eheringe trugen?
Keine Ringe.
Aber warum, oh, warum sah ich überhaupt nach, wo ich doch selbst einen schweren Ring am Finger trug?
Was passierte hier?
»Kierra«, drängte Henry, während Jacob herbeiglitt und begann, die Scherben aufzusaugen. »Geh und zieh dich um.«
Ich zwang mich, Gabriel und die Frau, die buchstäblich an seiner Seite klebte, anzulächeln. »Bitte entschuldigen Sie. Es ist mir wirklich peinlich. Normalerweise bin ich nicht so ungeschickt«, erklärte ich.
Gabriel lächelte. Es war ein so beruhigendes Lächeln. Er rieb sich den Nacken und zuckte mit den Schultern. »Ich bin vermutlich der ungeschickteste Mensch der Welt. Wenn mein Kopf nicht angewachsen wäre, würde ich selbst den noch irgendwo verlieren.«
Die Frau lachte. Ein bisschen übertrieben, wenn ihr mich fragt. Sie warf den Kopf in den Nacken, schob die Brust raus und schlug Gabriel mit der flachen Hand gegen den Brustkorb. Henry lachte ebenfalls, doch es klang eher nach einer Warnung an mich, endlich zu verschwinden.
Ich versuchte, mich so gut wie möglich wieder zu sammeln, wenn auch nicht allzu erfolgreich. »Ich ziehe mich nur schnell um, und dann werde ich einen besseren zweiten Eindruck hinterlassen«, versprach ich und lief die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.
Dort schloss ich die Tür und legte eine Hand auf meinen Bauch. Mein protestierender Magen ließ mich einen Moment innehalten. Ich schluckte, doch bevor es mir ganz gelingen konnte, war ich schon auf dem Weg ins Badezimmer, wo ich den Geburtstagskuchen wieder von mir gab, den ich eben erst gegessen hatte.
Ich fühlte mich furchtbar schwach, und mir war schwindelig.
Langsam ließ ich mich nach hinten auf den schwarz-weiß gefliesten Boden sinken und wischte mir den Mund ab.
Mir war, als würden sich meine Vergangenheit und Gegenwart vermischen.
Gabriel Ayodele Sinclair.
Leib- und wahrhaftig.
Innerhalb von Sekunden stürmten die Erinnerungen an diesen Mann und mich auf mich ein. Jedes Lachen, jede Träne, die wir miteinander geteilt hatten, trafen mich mit der Wucht Tausender Ziegelsteine. Er sah so anders aus – und hatte sich doch kaum verändert.
Sein Aussehen erinnerte mich an seinen Vater, damals, als wir noch jünger gewesen waren. Gabriels Mutter war eine wunderschöne Frau aus Nigeria, und sein Vater ein auffallend attraktiver Franzose. Gabriel war nach ihm benannt worden. Sein zweiter Vorname, Ayodele, war Yoruba und bedeutete »Freude kommt ins Haus«.
Freude kommt ins Haus.
Gabriel sah aus wie die perfekte Mischung aus seinen Eltern. Sein einst schlanker Körper war mittlerweile deutlich massiger geworden, als hätte er die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, in seiner Freizeit Autos zu stemmen. Und er trug sein nachtschwarzes Haar ein wenig länger als früher. An den Seiten war es kurz rasiert, auf dem Kopf dagegen länger, sodass es sogar ein paar Locken zeigte. Auf seiner Nase saß eine Brille mit dickem schwarzem Gestell, und obwohl er einen perfekt geschnittenen Anzug trug, kam ich nicht umhin, die Tattoos zu bemerken, die sich von seiner leicht entblößten Brust ausgehend an seinem Hals hinaufzogen. Er hatte seine Liebe zur Tinte also nicht verloren.
Wir waren damals erst sechzehn gewesen, als ich zugeschaut hatte, wie er sich sein erstes Tattoo im Keller eines Freundes hatte stechen lassen. Es war eine dieser typischen dummen Ideen gewesen, auf die Jugendliche manchmal kommen. Ob er wohl immer noch die Tattoos hatte, die er sich damals für mich hatte stechen lassen? Und ob er die Bedeutung dahinter überhaupt kannte?
Um den Hals trug er mehrere Goldketten, eine mit einem Kreuz, eine andere mit einem Adler als Anhänger. Es waren noch immer dieselben Ketten wie damals. Sie stammten von seinem Vater. Gabriel hatte sie zu tragen begonnen, nachdem Mr Sinclair gestorben war.
Gabriel war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, doch in seinen Augen lag ein helles Licht. Ein Licht, das ich einmal so sehr geliebt hatte. Ein Licht, das mich wieder und wieder gerettet hatte. In seinen Augen jedoch lag kein Wiedererkennen. Sie sahen mich an, als wäre ich für ihn nichts weiter als Henry Hughes’ Frau.
Warum nur erfüllte es mich mit einer solchen Scham?
Ich öffnete den Reißverschluss an meinem Rücken und stieg, noch immer ein wenig benommen, aus dem Kleid. Nachdem ich mir rasch die Zähne geputzt hatte, ging ich zu meinem Schrank, um mir etwas anderes zum Anziehen zu suchen. Rasch schnappte ich mir ein enges marineblaues Kleid und wechselte in ein Paar cremefarbene Schuhe.
Nachdem ich mein Make-up ein wenig aufgefrischt hatte, starrte ich mich im Spiegel an. »Verhalte dich ganz normal, Kierra«, befahl ich mir mit einem leisen Kopfschütteln. »Mach bloß keine Szene.«
Dabei war mir sehr bewusst, wie unangenehm die Situation für mich sein würde, sobald ich wieder nach unten ging. Denn dann würde ich vor meinem Ehemann und meiner ersten großen Liebe stehen.
Meiner ersten großen Liebe, die sich nicht einmal mehr an meinen Namen erinnerte.
GABRIEL
Acht Jahre alt
Sie tippte immer weiter.
Tipp, tipp, tipp. Ihre Fingernägel schlugen auf die Holzplanken, während sie mich anglotzte.
Tipp, tipp, tipp, glotz.
Es war echt so was von nervig.
»Kannst du das mal lassen?«, fuhr ich die dämliche Kuh an, die einfach nicht aufhörte, mich anzustarren. Sie saß da und starrte mich mit ihren riesigen braunen Insektenaugen an, als raffte sie überhaupt nicht, dass ich sie nicht leiden konnte. Sie saß überhaupt nur da, weil unsere blöden neuen Nachbarn vor einem Jahr meiner Mom gesagt hatten, dass Kierra sich schwertat, neue Freunde zu finden. Und natürlich hatte Mom sich gedacht, dass es doch perfekt wäre, wenn ich mich mit ihr anfreundete, und mich gezwungen, nett zu Kierra zu sein.
Ich hasste es, dass unsere Eltern einfach taten, was sie wollten, ohne sich darum zu kümmern, was wir Kinder eigentlich wollten. Das Letzte, worauf ich nämlich Bock hatte, war, mit dieser Irren abzuhängen, die auch noch so einen komischen Käfig um den Kopf trug, der angeblich irgendwas mit ihrer Zahnspange zu tun hatte.
Ein paar aus unserer Klasse nannten sie Kettengesicht. Ich nicht. Das war echt zu gemein. Aber ich wünschte wirklich, sie würde endlich aufhören, mich so anzuglotzen, als wäre sie in mich verknallt. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich gezwungen wurde, nach der Schule mit ihr rumzuhängen, aber Dad meinte, so was würden nur blöde Wichser tun.
Ich wusste nicht mal, was ein Wichser überhaupt war. Mom hatte mit ihm geschimpft und ihm auf den Hinterkopf gehauen, weil er das gesagt hatte. Und zu mir hatte sie gesagt, ich solle dieses Wort niemals benutzen, und mein Vater hätte einen schlechten Einfluss auf mich. Aber ich fand nicht, dass er einen schlechten Einfluss auf mich hatte. Für mich war er der coolste Dad der Welt. Wenn ich groß war, wollte ich genau so sein wie er. Ich wollte einmal sein Architekturbüro übernehmen, wenn ich konnte, und die gleichen Wörter benutzen, wie er sie immer benutzte. Dementsprechend hatte ich am nächsten Tag in der Schule die anderen Kinder bei jeder Gelegenheit, die sich mir bot, Wichser genannt.
»Ich meine es ernst«, fuhr ich Kierra an. »Hör auf!«
»Womit?«, summte sie und wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. Sie lag bäuchlings in meinem Baumhaus und trat mit den Beinen in die Luft.
»Damit«, sagte ich und zeigte auf sie. »Hör auf mich anzustarren, als wärst du verknallt oder so was.«
»Ich bin nicht in dich verknallt!«, fauchte sie mich ganz offensichtlich verletzt an. So sensibel hätte sie jetzt auch nicht reagieren müssen.
»Kein Grund, sich wie ein Wichser zu benehmen«, murmelte ich.
Sie stemmte sich hoch und setzte sich auf. »Ich bin kein Wichser!«
»Aber du benimmst dich wie einer.«
»Nein, tu ich nicht!« Sie kniff die Augen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte. »Was ist ein Wichser?«
»Du«, sagte ich, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich es ihr erklären sollte. Schließlich wusste ich es ja selbst nicht. Ich wusste nur, dass ich nicht die nächsten Stunden und unendlichen Minuten mit ihr hier in meinem Baumhaus festsitzen wollte.
»Du bist ein noch viel größerer Wichser!«
Ich sprang auf die Füße und baute mich vor ihr auf. »Nein, bin ich nicht!«
»Doch, das bist du! Du bist der größte Wichser, der je gewichst hat!«
»Du weißt ja nicht mal, was das bedeutet!«
»Ist mir egal. Ich weiß, dass es stimmt. Deshalb läufst du ja auch rum wie eine hässliche Kröte!«
Empört schnappte ich nach Luft. »Ich laufe nicht rum wie eine hässliche Kröte!«
Sie nickte und stand auf, sodass wir jetzt nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Oh doch. Du trägst die furchtbarsten Klamotten, die man überhaupt finden kann. Wenn du nur ein bisschen Verstand in deinem Schädel hättest, würdest du mich deine Sachen auswählen lassen, denn ich bin die beste Modekünstlerin aller Zeiten. Aber du stehst offensichtlich auf hässlich.«
»Wenigstens watschele ich nicht wie ein Pinguin!«
»Ich watschele nicht wie ein Pinguin!«, schrie sie empört zurück.
»Doch, das tust du! Letztens hab ich gesehen, wie du aus eurem Pool geklettert bist, und du bist gewatschelt wie ein verflixter Pinguin!«
»Nun, dein Pech. Ich mag Pinguine!«
»Gut, Pinguin!«
»Nenn mich nicht Pinguin! Nur weil ich sie mag, heißt das nicht, dass du mich so nennen darfst.«
»Ich nenn dich, wie ich will! Und jetzt verschwinde aus meinem Baumhaus, Pinguin!«, befahl ich.
»Ich gehe, wann ich will, Kröte!«
»Halt die Klappe, hörst du? Ich wollte dich überhaupt nicht hier haben.«
»Doch, das wolltest du.«
»Nein«, zischte ich. »Wollte ich nicht.«
Sie schob den Kopf vor und wedelte mit einem Finger vor meinem Gesicht herum. »Warum hast du mich dann eingeladen?«
»Weil meine Eltern es wollten, du Hohlkopf! Deine Mom hat meiner Mom erzählt, dass du ein Loser bist und keine Freunde hast, also hat meine Mom mich gezwungen, mit dir abzuhängen!«
Sie schnappte nach Luft. »Ich bin kein Loser!«
»Doch, bist du. Deshalb hast du ja auch keine Freunde!«
»Ich will keine Freunde«, sagte sie. »Ich bin gern allein. Andere Leute nerven nur. So wie du!«
»Nun, dann verschwinde, und sei wieder allein!«
»Das tu ich auch!«
»Gut!«
»Sehr gut!«
»Noch besser gut!!«
»Super besser gut!!«
»Wie auch immer, Loser. Geh einfach«, sagte ich und rollte mit den Augen. Ich war es satt, sie hier zu haben und meine Baumhausluft atmen zu lassen. Ich hasste es, dass ein Mädchen wie sie dieselbe Luft atmete wie ich. Ich hasste alles an Kierra und wollte sie so schnell wie möglich wieder aus meinem Leben haben. »Du bist so ein Weirdo, Kettengesicht!«, rief ich, um ihr noch mal klarzumachen, dass ich nichts mit ihr zu tun haben wollte.
Ich sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und fühlte mich sofort schlecht.
Ich war nicht besser als die anderen Kinder.
Ich war so ein blöder Wichser.
Noch bevor ich mich bei ihr entschuldigen konnte, schob Kierra die Brust raus und schlug mir so fest mit der Faust in den Bauch, dass ich zu Boden fiel.
»Au!«, stieß ich hervor und rieb mir den Ellbogen, mit dem ich auf den harten Boden geknallt war. »Das hat wehgetan.«
»Das hast du davon, du dummer Junge! Ich will nie wieder was mit dir zu tun haben.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich Mom draußen vor dem Baumhaus rufen: »Gabriel! Gabriel, komm runter. Und Kierra, du auch.«
Mein Magen verknotete sich, denn ich wusste, dass sie jetzt vermutlich mit uns schimpfen würde, weil wir uns gestritten hatten. Ich stemmte mich auf die Füße. »Siehst du, was du getan hast? Deinetwegen kriegen wir jetzt Ärger.«
»Gar nichts hab ich getan«, erklärte Kierra und kletterte die Leiter runter. Ich folgte ihr und bereitete mich darauf vor, mich zu verteidigen.
»Es war alles ihre Schuld, Mom! Sie …« Auf der untersten Stufe angekommen, drehte ich mich zu meiner Mutter um und verstummte, als ich ihre Augen sah. Sie schluchzte und schüttelte immer wieder den Kopf. »Was ist passiert?«, fragte ich. Ich hatte meine Mom noch nie weinen sehen, außer wenn sie furchtbar lachen musste. Aber das hier war ein anderes Weinen. Dieses hier machte mir Angst.
Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und lief zu mir. »Wir müssen ins Krankenhaus, Gabriel, okay? Sofort. Kierra, ich habe versucht, deine Eltern zu erreichen, aber sie sind nicht ans Telefon gegangen. Du musst also mit uns kommen.«
»Wieso fahren wir ins Krankenhaus?«, fragte ich verwirrt.
»Es …« Moms Stimme brach. Sie schniefte und weinte jetzt noch heftiger. »Dein Vater, Gabriel. Es ist etwas passiert. Wir müssen los. Sofort.«
KIERRA
Gabriel und ich saßen mit seiner Mom im Wartezimmer. Wir sagten kein Wort, und seine Mom lief im Zimmer auf und ab, während wir warteten. Immer wieder schaute sie auf die Uhr an der Wand, ging dann zur Anmeldung, um zu fragen, ob es Neuigkeiten über Gabriels Vater gab, und beschwerte sich, wenn sie keine konkrete Antwort bekam.
Und dann ging sie wieder auf und ab.
Mit uns warteten noch ein paar andere Leute. Ich war noch nie in einem Krankenhauswartezimmer gewesen. Mir war ein bisschen übel, und ich hatte Angst.
Gabriel konnte ich nicht leiden, aber seinen Dad mochte ich sehr. Mr Sinclair steckte mir immer ein bisschen Geld zu, wenn ich bei ihnen war, weil er mir wegen der Zahnspange keine Süßigkeiten geben konnte. »Spar es für ein paar Sour Patch Kids und Skittles, wenn du die Spange wieder los bist. Und dann komm rüber und gib mir ein paar ab. Das sind meine Lieblingssüßigkeiten«, sagte er immer.
Dank ihm hatte ich schon ganze fünfzig Dollar für Süßigkeiten.
Und jedes Mal, wenn ich aus dem Schulbus stieg, fragte er mich, wie mein Tag gewesen war und wie es mit meinem Modedesign lief, und beim Softball. Denn diese beiden Dinge liebte ich am meisten. Mode und Softball. Gabriel spielte auch Softball, aber im Gegensatz zu ihm war ich wirklich gut darin.
Und Mr Sinclair sorgte dafür, dass ich es auch wusste. Wann immer er Zeit fand, kam er sogar gemeinsam mit meinen Eltern mit zu meinen Spielen.
Ich wünschte mir so sehr, dass er wieder gesund wurde.
Er musste einfach wieder gesund werden. Wenn nicht für mich, dann für die Kröte neben mir.
Gabriel sah so traurig aus. Trauriger als ich jemals einen Menschen gesehen hatte. Er hielt den Kopf gesenkt und spielte mit den Fingern in seinem Schoß. Seine Beine zuckten hoch und runter, und er hatte noch kein einziges Wort gesagt, seit wir im Krankenhaus waren. Ich auch nicht. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.
Ich fragte mich, was Mom wohl gesagt hätte, wenn sie hier gewesen wäre. Sie war wirklich gut darin, Menschen zu trösten, wenn sie traurig waren, und auch wenn ich Gabriel hasste, wollte ich nicht, dass er traurig war.
Als endlich ein Arzt kam, um mit Mrs Sinclair zu sprechen, blickten Gabriel und ich auf. Wir konnten nicht hören, was er sagte, doch ich wusste, dass es nicht Gutes war. Der Blick des Arztes war traurig, und er schüttelte seinen Kopf.
»Es tut mir leid«, hörte ich ihn sagen, bevor Mrs Sinclair auf die Knie fiel und in ein lautes Wimmern ausbrach. Gabriel rannte zu ihr, schlang die Arme um seine Mutter und hielt sie fest, während sie zusammenbrach. Und dann fing auch er ganz furchtbar an zu weinen, und so tat ich das Einzige, das mir einfiel.
Ich ging zu ihm und nahm ihn in die Arme, denn er hatte niemanden, der ihn in dieser traurigen Situation festhielt. Jeder sollte einen Menschen haben, der ihn in den Arm nimmt, wenn er traurig ist.
Und während ich zuhörte, wie Gabriel weinte, fing auch ich an zu weinen.
Es war ein Herzinfarkt.
Mr Sinclairs Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Die Ärzte hatten getan, was sie konnten, um ihn wieder zurückzuholen, doch es hatte nicht funktioniert. Mom sagte, es sei das Schlimmste, das sie je erlebt hatte. Daddy sagte nicht viel. Er und Mr Sinclair waren gute Freunde, und als er von seinem Tod hörte, ging er in sein Arbeitszimmer und kam stundenlang nicht mehr heraus.
Eine Woche später war die Beerdigung. Ich saß zwischen Mom und Daddy in der Kirchenbank, zwei Reihen hinter Gabriel und seiner Mom. Die beiden saßen ganz vorn in der ersten Reihe. Mom sagte, die erste Reihe sei für die Menschen, die dem Verstorbenen am nächsten gestanden hatten, was wohl hieß, dass es die schlimmste Reihe war. Hoffentlich würde ich niemals dort vorn in der ersten Reihe sitzen müssen … Und hoffentlich würde Gabriel niemals wieder dort sitzen müssen.
Ich konnte einfach nicht aufhören, zu den Sinclairs hinüberzustarren. Gabriel war die ganze Woche nicht in der Schule gewesen. Was ich verstehen konnte. Wenn ich meinen Vater verlieren würde, würde ich niemals wieder zur Schule gehen wollen. Ich würde überhaupt gar nichts mehr tun wollen.
»Alles okay, Champ?«, fragte Daddy flüsternd.
Ich nickte.
Er nahm meine Hand und drückte sie leicht. Mom nahm meine andere und tat dasselbe.
Von dort, wo ich saß, konnte ich nur Gabriels Hinterkopf mit den dunklen Haaren sehen. Er trug einen schwarzen Anzug, wie alle anderen, und hob kein einziges Mal den Kopf, als immer wieder einer der Erwachsenen zu ihm trat und versuchte, mit ihm zu reden. Einmal versuchte sein Onkel, ihn dazu zu bringen, an den offenen Sarg zu treten, um sich zu verabschieden, doch er weigerte sich.
Ich hätte auch viel zu viel Angst gehabt, um dort hinzugehen.
Der Pastor hielt eine Rede, und ein paar Leute teilten ihre Erinnerungen an Mr Sinclair. Es gab Musik, und nach dem Gottesdienst wurde der Sarg in ein Auto geladen. Gabriel und seine Mutter mussten hinter dem Sarg herlaufen, und ich dachte, wie gemein es war, sie zu so etwas zu zwingen. Jede Sekunde rechnete ich damit, dass sie einfach vor Schmerz zusammenbrechen würden.
Einmal sah Gabriel zu mir herüber, und seine Augen waren so rot und voller Tränen, dass auch ich anfing zu weinen. Ich wusste nicht, warum, aber jedes Mal, wenn ich Gabriel in der vergangenen Woche hatte weinen sehen, hatte ich ebenfalls angefangen. Es war, als würden seine Tränen einen grässlichen Schmerz in meiner Brust entfachen, sodass ich einfach nicht anders konnte, als mitzuweinen. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Tränen so sehr mit denen eines anderen Menschen verbunden sein konnten.
Am Ende warf jeder eine Rose auf den Deckel des Sargs, und dann wurde er in die Erde hinuntergelassen.
»Nein, nein, nein«, wimmerte Mrs Sinclair. Sie sank auf die Knie und streckte die Hand nach ihrem Mann aus, und es brach mir das Herz, dass Mr Sinclair nicht länger da war, um sie zu ergreifen.
Ich verstand den Tod nicht. Warum war er so grausam?
Gabriel trat zu ihr und nahm ihre Hand.
»Es ist okay, Mom. Es ist okay«, sagte er, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob er es selbst glaubte. Wie hätte er auch glauben können, dass alles okay war? Er hatte keinen Vater mehr. Und trotzdem gab er sein Bestes, um seine Mutter zu trösten.
Vielleicht war das der Moment, in dem ich begann, ihn nicht mehr ganz so zu hassen.
Vielleicht war es der Moment, in dem ich begann, mich zu fragen, wer sich um ihn kümmerte, während er seine Mutter tröstete.
