Weißt du, warum ich tot bin? - Kim Lock - E-Book

Weißt du, warum ich tot bin? E-Book

Kim Lock

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Beschreibung

Fairlie Winter erhält einen Brief von ihrer besten Freundin Jenna. Doch Jenna ist seit einigen Tagen tot. Den Brief hat sie abgeschickt, bevor sie starb. Jennas kleine Familie schien perfekt, aber jetzt wird Fairlie klar, dass ihre Freundin Geheimnisse vor ihr hatte. Geheimnisse, die sie das Leben gekostet haben. Fairlie muss die Wahrheit herausfinden. Eine Wahrheit, für die sie möglicherweise nicht bereit ist.

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Seitenzahl: 421

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Das Buch

An einem ganz normalen Nachmittag erhält Fairlie Winter eine schockierende Nachricht: Ihre beste Freundin ist tot. Jenna Rudolf war eine hingebungsvolle Mutter und Ehefrau, sie hinterlässt ihren kleinen Sohn Henry und ihren tieftrauernden Ehemann Ark. Die Umstände um Jennas Tod sind tragisch, doch eindeutig. Und dennoch kann Fairlie das Gefühl nicht abschütteln, dass Jenna etwas vor ihr verheimlichte. Als Fairlie einen Brief erhält, den Jenna wenige Tage vor ihrem Tod an sie adressierte, nehmen die offenen Fragen in ihrem Kopf überhand. Sie muss die Wahrheit über Jenna herausfinden. Stück für Stück enthüllt Fairlie die Vergangenheit zweier verzweifelter Mütter und die folgenschweren Entscheidungen, die sie für ihre Kinder trafen. Und am Ende muss Fairlie sich selbst fragen, ob es möglich ist, sein Kind zu sehr zu lieben.

Über die Autorin

Kim Lock wurde 1981 in Australien geboren. Sie arbeitet als Grafikdesignerin und als Stillberaterin. Außerdem schreibt sie für verschiedene Zeitschriften, darunter The Guardian und Daily Life. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Barossa Valley in Süd-Australien. Weißt du, warum ich tot bin ist ihr erster Roman im Diana Verlag.

Kim Lock

WEISST DU,

WARUM ICH

TOT BIN

Roman

Aus dem Englischen

von Andrea Brandl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 8/2018

Copyright © 2016 by Kim Lock

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Like I Can Love bei Pan Macmillan Australia.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Shelley Richmond/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-18880-1V001

www.diana-verlag.de

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Für Stace, die mein Leben auf den Kopf gestellt hat

KAPITEL 1

Heute

I.

Gerade als Fairlie Winter die Haustür aufschließen will, klingelt ihr Handy.

Sie stößt einen leisen Fluch aus, stemmt das Knie gegen die Tür, die sich in der Hitze verzogen hat und klemmt, und wühlt hektisch in ihrer Handtasche. Seit drei Tagen will sie Katzenfutter kaufen und hat es jedes Mal vergessen. Mit der Lebensmitteltüte im Arm kramt sie nach ihren Schlüsseln und hofft, dass es Yodel nichts ausmacht, schon wieder Cornflakes serviert zu bekommen.

Schwer atmend versucht sie, die Fliegentür mit dem Hintern zu öffnen. In ihrer Handtasche läutet es weiter. Die Stoffhenkel der Tüte schneiden ihr in die Finger, die Fliegentür prallt gegen ihr Hinterteil. Ächzend stößt sie die Haustür mit ihrem Fuß auf. Einen Augenblick lang verliert sie das Gleichgewicht, und die Schlüssel landen klirrend auf der Schwelle. Eine Schachtel mit Zimt-Donuts macht sich selbstständig und purzelt zu Boden – Puderzucker stäubt aus der Packung, und ein dicker Donut kullert die Stufen herunter. Im selben Moment hört das Handy auf zu klingeln.

»Mist!«, zischt Fairlie.

Obwohl es bereits nach sechs ist, sind die Wände aufgeheizt von der Januarsonne, die den ganzen Tag auf das braune Backsteinhaus geschienen hat. Fairlie riecht den Schweiß unter ihren Armen, seufzt leise, als ihr ein Riss im Saum ihrer marineblauen Stretchhose ins Auge springt; ihre Mutter wird ihr garantiert eine Standpauke halten und missbilligend mit der Zunge schnalzen, wenn sie die Hose ausbessert.

»Sechsundzwanzig Jahre alt, aber mit deinen Sachen gehst du immer noch um wie ein Kleinkind«, äfft Fairlie sie nach.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blöken ein paar frisch geschorene Schafe, scharren mit den Hufen im staubigen Erdboden. Ein Hund bellt zweimal gelangweilt.

»Tja, Yodel«, sagt sie zu dem fetten roten Kater, der mit einem Plumps vom Sofa gesprungen ist, aufgestört durch das Getöse an der Haustür. »Sieht so aus, als gäbe es bloß wieder Cornflakes zum Abendessen.« Sie streicht sich eine schlaffe braune Locke aus der Stirn. »Warum stellt einem Mrs. Soblieski eigentlich keinen Auflauf vor die Tür, wenn man gerade einen braucht?« Sie lässt die Donuts liegen und stolpert über die Schwelle. Der Knall der zuschlagenden Fliegentür hallt laut in dem engen Innenhof der Sechs-Apartment-Anlage wider.

Wieder beginnt ihr Handy zu klingeln.

»Wo ist das verdammte Ding?«, murmelt Fairlie, fegt eine zusammengerollte Ausgabe des Penola Pennant beiseite, hievt die Einkaufstüten auf den Küchentresen und beginnt abermals in ihrer Handtasche zu wühlen.

Beim Anblick der Nummer auf dem Display zögert sie einen Moment lang – es ist, als würde der Takt der Zeit einen Sekundenbruchteil aussetzen. Aber dann geht sie doch ran: »Megamuckis & Waschbrettbauch, Dominic am Apparat.«

Ein seltsames Knirschen dringt an ihr Ohr, dann herrscht Stille.

»Hallo?«, sagt Fairlie. »Jen? Ich bin’s. War bloß ein Witz.« Hektisch reißt sie einen Küchenschrank nach dem anderen auf, um etwas Essbares für den Stubentiger zu finden, der um ihre Beine herumstreicht. »Hast du dein Handy fallen lassen oder was?«

Am anderen Ende räuspert sich jemand, als sie gerade die Speisekammertür öffnet. »Ich bin’s, Ark.«

Überrascht hält Fairlie inne, zwingt sich, presst ein lockeres »Oh, hi« hervor, um die verlegene Stille zu überbrücken. »Ist lange her.« Das kann sie sich nicht verkneifen.

»Es geht um Jenna«, sagt Ark. »Sie …«

»Was?« Fairlie greift nach einer offenen Packung Cornflakes. »Was ist mit ihr?«

Im selben Moment fällt ihr die Packung aus der Hand, und der gesamte Inhalt verteilt sich auf dem Linoleumboden, während Arks Worte in ihren Ohren widerhallen: »Sie ist tot.«

*

Fairlies Zunge fühlt sich an, als hätte sie Schmirgelpapier im Mund. Es ist über ein Jahr her, dass sie zuletzt hier war, aber auf den ersten Blick hat sich nichts verändert.

Das schwindende Abendlicht erhellt schwach die Fassade des langen Sandsteinhauses mit dem rotbraunen Wellblechdach; der Schatten zweier uralter Roter Eukalyptusbäume fällt über die Schuppen hinter dem Haus. Orangefarbenes Sonnenlicht stiehlt sich durch die Reihen der Rebstöcke, die das Haus und die Auffahrt säumen, schimmert auf den üppigen violetten Trauben; die knorrigen Weinreben erinnern an verkrümmte Greisenfinger, die nach einem Ausweg suchen. Neben dem Haus befindet sich ein Schuppen mit Rolltor, und die Zufahrt ist längst zugewachsen und unter einem Rasen verschwunden. Nun steht da ein blaues Trampolin mit blauem Netz, und neben der Trampolinleiter liegt ein gelber Spielzeuglaster.

Ein fremder Wagen – ein in die Jahre gekommener, schmutzig weißer Holden Commodore – parkt am Ende der breiten Kiesauffahrt, halb auf dem ausgedörrten Gras unter einer Goldakazie.

Wie in Trance steigt Fairlie aus dem Auto. Sie hört ihre Schritte, als sie über die Holzbohlen der großen, düsteren Veranda geht. Der zarte Duft des jungen Jasmins steigt ihr in die Nase, der sich um die Verandapfosten rankt – im letzten Frühling haben sie und Jenna ihn in ein altes Weinfass gepflanzt und mit einem Zwei-Dollar-Sack Hühnermist gedüngt. Sie erinnert sich noch, wie sie den Sack aus Jennas Kombi auf die Veranda geschleppt haben. Der süße Duft macht sie benommen. All das scheint so lange her.

Die Haustür steht halb offen, und gedämpftes Licht fällt auf die Veranda. Fairlie klopft zögernd an, ehe sie die Tür ganz öffnet und eintritt. Die Dielen knarren.

»Ark?«

Aus dem Wohnzimmer hört sie leise Stimmen. Männerstimmen. Als sie hineingeht, fällt ihr Blick zuerst auf Ark, der mit dem Rücken zu ihr steht und aus dem Fenster in die Dämmerung starrt. Ein anderer Mann sitzt auf dem Sofa, die Hände zwischen den Knien. Er hält mitten im Satz inne, als er Fairlie erblickt.

»Ark«, sagt Fairlie.

Sie bemerkt, wie Ark sich versteift. Seine Arme, dick wie Birkenstämme, hält er hinter dem Rücken, als trage er Handschellen. Die Hände hat er so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortreten. Doch so angespannt er auch sein mag, beherrscht er den Raum wie ein Planet, der seine eigene Schwerkraft besitzt. Er dreht sich weder um noch gibt er zu verstehen, dass er sie wahrgenommen hat.

»Sie sind bestimmt Fairlie.« Der andere Mann erhebt sich. Als er auf sie zutritt, bemerkt sie, dass er leicht hinkt – keine frische Wunde, die ihm Schmerzen bereitet, sondern eine längst verheilte Verletzung, an die er sich gewöhnt hat. Die dunklen Locken an seinen Schläfen sind von silbrigen Streifen durchzogen. Er hat markante, weit auseinanderstehende, freundliche Augen, die von feinen Linien umgeben sind. Er mustert sie eingehend.

»Ich bin Detective Dallas Morgan«, stellt er sich vor. »Von der Mordkommission Mount Gambier.« Er schüttelt ihr die Hand; seine Haut ist sogar noch dunkler als ihre.

Mordkommission? Fairlie zieht abrupt ihre Hand weg.

»Mein aufrichtiges Beileid.«

»Moment mal.« Fairlie runzelt die Stirn. »Was?«

Jetzt dreht sich auch Ark um und blickt sie mit zusammengepressten Lippen an. Seine rot geränderten Augen verraten, dass er geweint hat; das feuchte Haar klebt an seinem Nacken. Seltsamerweise trägt er sein T-Shirt verkehrt herum, und sie überkommt eine leise Scham, als hätte sie einen Blick auf eine entblößte Brustwarze erhascht. Verkehrt. Alles hier ist verkehrt.

Sie stehen sich verlegen gegenüber. Die nächsten Worte des Detectives kommen wie aus weiter Ferne.

Unmöglich. Jenna kann nicht tot sein. Fairlies Gedanken überschlagen sich. Nein, Jenna kann nicht tot sein. Sie schaut Ark in die Augen, doch sein Blick ist starr vor Schmerz.

Niemals. Jenna ist nicht tot.

Ihre Brust zieht sich zusammen, als wäre sie plötzlich zu klein für ihr Herz, das ihr bis zum Hals schlägt. Arks Schulter zuckt kaum merklich. Das betretene Schweigen zwischen ihnen dehnt sich weiter und weiter aus, und in diesem schier endlos erscheinenden Moment wird Fairlie schlagartig klar, dass sie nicht träumt.

»Nein«, flüstert sie. »O nein.«

In der Stimme des Detectives liegt eine kaum merkliche Autorität, aber noch etwas anderes, das sie nicht richtig einordnen kann. Bedauern? Resignation? Er spricht langsam, fast bedächtig, während er ihr erklärt, dass er mit seiner Tatortbesichtigung fertig ist, aber noch Fairlies Aussage benötigt, bevor er der Gerichtsmedizin seinen Bericht übermitteln kann.

Aussage? Gerichtsmedizin? Fairlie schüttelt den Kopf. »Ich kann das alles nicht glauben.«

»Jenna hat sich umgebracht«, sagt Ark so emotionslos, als würde er ihr die Uhrzeit nennen.

»Aber das kann nicht sein«, gibt Fairlie zurück. »Ich habe ihr heute Morgen vor der Arbeit noch eine SMS geschickt, und sie hat mir sogar geantwortet. Es ging um Aufläufe – meine Nachbarin, Mrs. Soblieski …« Sie wirft dem Detective einen entschuldigenden Blick zu, er kennt schließlich den Insiderwitz nicht. »Sie glaubt, ich kriege nichts auf die Reihe, weil ich mit sechsundzwanzig immer noch Single bin und allein lebe.« Allein, bei dem Wort muss sie kurz schlucken. »Es … es muss sich um einen Irrtum handeln.« Sechsundzwanzig. Wir sind doch erst sechsundzwanzig.

»Es tut mir leid«, sagt Detective Morgan. »Sie standen sich offenbar sehr nahe.«

»Ja.« Sie blickt einen Moment lang auf ihre Hände, ehe sie fortfährt. »Na ja, in letzter Zeit haben wir uns nicht mehr so oft … Aber wir kennen uns schon seit einer Ewigkeit.« Fairlie sieht, wie Ark sein unrasiertes Kinn reckt. »Sie war meine beste Freundin, daran hat sich nie etwas geändert.« Sie blickt zwischen den Männern hin und her. »Was ist passiert?«

Ark tritt zum Wohnzimmertisch und greift nach einem Glas, in dem sich ein Rest brauner Flüssigkeit befindet. »Sie … sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Im Badezimmer.« Er kippt das Glas auf einen Zug hinunter.

Das Bad liegt am anderen Ende des Flurs.

Sie verlässt die Küche und geht zögernd darauf zu. Was würde sie jetzt vorfinden? Vor gar nicht so langer Zeit hatte sie auf dem Boden des Badezimmers gehockt und Jenna die Fußnägel in knalligem Violett lackiert, weil sie es wegen ihres dicken Bauchs nicht mehr selbst machen konnte. Damals, als sie sich noch so gut wie jeden Tag gesehen haben.

Ist die Wanne noch mit Jennas Blut besudelt, wie ein weißer Knochen, an dem noch Fetzen frisches Fleisch hängen?

Wo ist Jenna überhaupt? Wo haben sie ihre Leiche hingebracht? Vor Fairlies innerem Auge blitzen die kalten Stahlfächer im Leichenschauhaus auf.

Urplötzlich scheint sich eine eisige Hand um ihr Inneres zu legen und drückt ihr die Luft ab. Ihre Beine geben unter ihr nach, und der Fußboden rast auf sie zu. Ihr wird schwarz vor den Augen.

»Miss Winter?«

Eine ferne Stimme dringt an ihr Ohr wie in einem Traum. Sie liegt auf dem knarrenden Deck eines Schiffs, über ihr kreischen die Möwen am Himmel. Alles sieht so friedlich aus, die anmutigen Seevögel mit ihren gespreizten Schwingen vor den watteweichen Wölkchen. Abermals hört sie die Stimme, eine Männerstimme, und plötzlich bewegt sich ihr Körper von einer Seite zur anderen, während sie die warmen Planken unter sich spürt.

»Miss Winter? Können Sie mich hören?«

Wessen Stimme ist das?

»Komm, Fairlie, steh auf.«

Wieso ist Ark Rudolph auf dem Boot?

Eine Hand umfasst ihren Ellbogen, und als sie sich mühsam aufsetzt, kehrt sie langsam in die Wirklichkeit zurück. Arks Atem riecht nach Alkohol. Jenna ist tot. Ein leises Stöhnen dringt aus ihrem Mund.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen auf.«

Der Detective ergreift ihren anderen Arm, und mit vereinten Kräften hieven die beiden Männer Fairlie auf die Beine. Ark grunzt und schnauft wie ein Gewichtheber, wohingegen der Detective höflicherweise keinen Ton von sich gibt. Als Fairlie wieder aufrecht steht, kommt ihr die Galle hoch, und einen Augenblick später erbricht sie sich auf den Läufer in der Diele. Ark springt beiseite und stößt einen unterdrückten Fluch aus.

»Es tut mir leid«, sagt Fairlie mit schwacher Stimme.

»Machen Sie sich keine Gedanken.« Im Beschwichtigen scheint der Detective reichlich Erfahrung zu besitzen. Er legt ihren Arm um seine Schultern und bugsiert sie zurück ins Wohnzimmer. »Setzen Sie sich«, sagt er und führt sie zur Couch. »Beugen Sie sich nach vorn und atmen Sie ruhig und tief durch. Ich bin gleich wieder da.«

Fairlie gehorcht. Tief sinkt sie in die Lederpolster, spürt ihren Herzschlag in den Beinen, als sie sich vorbeugt und den Kopf zwischen den Knien hängen lässt. Der Detective legt ein frisches Handtuch auf das Sofa, drückt ihr ein Glas Wasser in die Hand und stellt einen Eimer neben sie.

Als sie den Kopf hebt, sieht sie Ark, der wieder am Fenster steht, reglos wie ein Baumstumpf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt – die Hände, mit denen er Jennas leblosen, triefnassen Körper aus dem blutroten Wasser gehoben hat.

Jenna ist tot. Jenna hat sich umgebracht.

Aber die Worte wollen keinen Sinn ergeben. Ihr ist immer noch übel. Sie fühlt sich so benommen, als hätte ihr jemand Morphium gespritzt.

Jenna ist tot. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.

Ihre Leiche ist bereits mit einem Notarztwagen abtransportiert worden. Ohne blinkende Scheinwerfer, ohne Sirenengeheul, ohne Eile – wozu noch Kurven schneiden und die Straßen entlangrasen, wenn jemand sein Leben wie Seifenschaum durch den Abfluss gespült hat und ohnehin nicht mehr zu retten ist.

»Und was jetzt?«, hört Fairlie sich krächzen. Spielt das überhaupt eine Rolle? Es ist doch sowieso zu spät.

»Wie gesagt.« Der Detective hat sich auf einen Sessel gesetzt. »Sie müssten noch mit aufs Revier kommen, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.« Er beugt sich vor und mustert sie besorgt. »Es wird nicht lange dauern. Nur ein paar Fragen, mehr nicht.«

Nackte Angst ergreift Besitz von ihr. »Was für Fragen?«

»Reine Routinefragen, versprochen. Ich möchte nur ein wenig mehr über Jenna erfahren. Auch über ihre psychische Verfassung«, fügt er vorsichtig hinzu.

Fairlie presst die Fingerspitzen auf ihre Lider, bis schmerzhafte Sterne vor ihren Augen tanzen.

Sie hätte es ahnen müssen.

Ark schweigt. Er ist ein Bild des Jammers und der Resignation. Fairlie erträgt es nicht, ihn anzusehen, und richtet den Blick auf die pfirsichfarbenen Wände, die Jenna butterblumengelb streichen wollte, auf das breite Regal mit den fein säuberlich aufgereihten Büchern und die hübsch arrangierten, getrockneten Banksien an dem unbenutzten offenen Kamin. Rechts von Fairlie steht ein Klavier an der Wand; das lackierte Holz glänzt, der Deckel über den Tasten, die sonst wie eine makellose Reihe von Zähnen schimmern. Einmal hat Jenna ihr den Flohwalzer vorgespielt – okay, mit drei Gläschen Apfelwein intus, keine wirklich virtuose Darbietung.

Hastig wendet Fairlie den Blick ab. Unter dem Erkerfenster stehen ein paar Weidenkörbe mit Henrys Spielzeug. Bunte Bauklötze und ein umgekippter Plastiklaster liegen auf dem Boden. Abrupt setzt Fairlie sich auf. »Wo ist Henry?« Hat er etwa vor dem Badezimmer ausgeharrt, in dem seine Mutter sich eingeschlossen hatte? Hat er vor der Tür geweint, während Jenna …

»Er schläft«, antwortet der Detective.

»Aber wo war er, als …«

Ark dreht sich um. »Ich weiß es nicht, Fairlie. Das alles ist Stunden her. Ich war arbeiten. Henry war bester Dinge, als ich nach Hause kam. Anscheinend hat er mit seinen Bauklötzen gespielt, während sie …« Er beißt die Zähne zusammen und blickt wieder zum Fenster hinaus. »Ich weiß genauso wenig wie du.«

Fairlie springt auf, stolpert hinaus in den Flur zum Kinderzimmer. Sie hält den Atem an. Wo früher die Wiege stand, befindet sich jetzt ein Kinderbett mit pastellfarbener Biberbettwäsche. Im Dämmerlicht kniet sich Fairlie hin. Neben Henry liegen eine kuschelige Spielzeuggiraffe und ein großer bunter Legostein.

Wie groß er geworden ist.

Henry schläft tief und fest, die Ärmchen weit von sich gestreckt, seine Pausbacken schimmern rosig, rötlich-blonde Löckchen kräuseln sich auf seinem Kopf. Er trägt einen lindgrünen Schlafanzug mit aufgedruckten blauen Elefanten, der sich über seiner Windel beult. Als sie aufsteht, vernimmt sie die verhaltene Stimme des Detectives. Er möchte wissen, wie Jenna mit ihrem Kind zurechtgekommen ist.

Der Zweijährige stöhnt leise und regt sich im Schlaf.

»Sie hat ihn geliebt«, flüstert Fairlie und schluckt. In ihrer Kehle hat sich ein Kloß gebildet, der ihr beinahe die Luft abschnürt. Und dann wiederholt sie es noch einmal, als müsse sie sich selbst davon überzeugen: »Sie hat ihn über alles geliebt.«

Detective Morgan entschuldigt sich erneut, und Fairlie fragt sich, wann sie endlich aus diesem bizarren Albtraum erwachen wird. Das ergibt doch alles keinen Sinn. Erst neulich hat Jenna stolz erzählt, wie Henry die Welt der Wörter für sich entdeckt, ganz selbstbewusst vollständige, wenn auch noch ein wenig unbeholfene Sätze formuliert, eine unbändige Freude am Sprechen entwickelt hat. Und schon allein deshalb, schießt Fairlie durch den Kopf, kann Jenna sich nicht umgebracht haben. Henry braucht sie doch, um mit ihr reden zu können.

Henry spürt ihre Gegenwart, bewegt unruhig die zarten Ärmchen, blinzelt ein paar Mal und beginnt, leise zu wimmern, dann zu plärren. Mit zitternden Händen hebt Fairlie den Kleinen aus dem Bett und nimmt ihn in die Arme. Henry beruhigt sich wieder und betrachtet aufmerksam ihr Gesicht. Eine Art atemloses Schweigen breitet sich im Zimmer aus, als er sie einen Moment lang argwöhnisch anstarrt, doch dann entspannt er sich, schenkt Fairlie sogar ein zaghaftes Lächeln.

Ark steht in der Tür, und Fairlie hält ihm den Kleinen hin. Henry gähnt und sagt: »Mummy?«

»Ark?«

Teilnahmslos blickt Ark seinen Sohn an. Henry berührt Fairlies Gesicht mit seinen Patschhändchen, als müsse er sich erst wieder mit ihren Zügen vertraut machen. Fairlie wirft dem Detective einen Blick zu.

»Wie konnte das nur passieren?«, sagt Ark tonlos. Mit hängenden Schultern steht er da. »Sie war mein Ein und Alles. Erst durch sie hat mein Leben richtig angefangen. Was soll ich jetzt nur machen?« Er sieht das Kind einen langen Augenblick an, ehe er schließlich sagt: »Ich kann das jetzt nicht. Nimm du ihn erst mal.« Abrupt dreht er sich um und verlässt das Zimmer.

*

Henry erstarrt in Fairlies Armen, als Ark die Haustür hinter sich zuknallt.

Der Polizist fährt herum. »Mr. Rudolph!«, ruft er und läuft hinter Ark her; seine Schritte poltern über die Veranda. »Mr. Rudolph!« Seine Stimme wird vom Röhren des Landcruisers übertönt, dem jähen Aufheulen des Dieselmotors, als Ark den Rückwärtsgang einlegt und die Auffahrt hinunterdonnert.

Der Detective kehrt ins Kinderzimmer zurück und blickt Fairlie an, die hilflos mit dem Kleinen neben dem Bett steht.

»Mummy?«, fragt Henry, und dann spricht er das Wort ohne Fragezeichen aus: »Mummy.« Strahlend sieht er sich nach ihr um.

Fairlie gibt sich alle Mühe, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. »Mummy ist nicht da.« Sie sieht Henry in die Augen und zwingt sich zu lächeln. »Magst du etwas essen?«

Henry schaukelt von einer Seite zur anderen und spielt mit den Knöpfen ihrer Bluse. »Magst du eine Banane?«

Ein nachdrückliches Nicken. »Nane.«

In der Küche setzt Fairlie den Kleinen in seinen gepolsterten Hochstuhl. Die Bananen im Früchtekorb sind reif, süß duftende goldgelbe Halbmonde inmitten von Mandarinen und grünen Äpfeln. Neben dem Früchtekorb liegt ein in Frischhaltefolie eingeschlagenes Brot, daneben eine Schale mit Weintrauben und ein Glas Erdbeermarmelade. Der Anblick hat etwas leicht Abstoßendes – wer soll das alles essen?

Nachdem sie Henry seine Banane geschält hat, bittet Fairlie den Detective, einen Moment auf ihn aufzupassen. »Das ist Mr. Morgan«, erklärt sie Henry. »Er ist ein Freund von Mummy. Ich bin gleich wieder da, okay? Ich muss nur etwas aus meinem Auto holen.«

Leise, um ihn nicht unnötig in Aufregung zu versetzen, schlüpft Fairlie aus der Küche, läuft den Flur hinunter und stößt mit beiden Händen die Fliegentür auf, die gegen den Rahmen knallt. Sie rennt über den Kiesweg zu ihrem Wagen. Stickige Luft schlägt ihr aus dem Auto entgegen. Sie kramt auf dem Beifahrersitz herum und findet schließlich das Handy.

Die Sonne ist mittlerweile nur noch ein grellorangener Strich am Horizont. Die Trauben an den im Schatten liegenden Weinstöcken schaukeln sanft in der milden Brise. Es klingelt sieben Mal, dann springt Arks Voicemail an.

»Scheiße«, murmelt sie und drückt auf Wahlwiederholung. Abermals ertönt Arks Stimme, die sie freundlich auffordert, eine Nachricht zu hinterlassen, und er verspricht, dass er so bald wie möglich zurückruft.

»Ark, ich bin’s, Fairlie. Wo zum Teufel steckst du? Komm sofort zurück!«

Das Handy fest umklammert, eilt sie wieder ins Haus, wo Henry gerade seine Finger auf dem Küchentisch abwischt. Detective Morgan lehnt sich gegen die Kücheninsel. »Haben Sie ihn erreicht?«

Fairlie schüttelt den Kopf. »Voicemail.« Abermals drückt sie auf Wahlwiederholung, doch Ark geht immer noch nicht ran.

Während Henry eine weitere Banane vertilgt und ein Glas Saft nach dem anderen trinkt, versucht Fairlie weiter, Ark zu erreichen. Sieben Mal vergebens, und beim achten Mal springt die Voicemail sofort an. »Ark, bitte«, fleht sie hinter vorgehaltener Hand, mit dem Rücken zu dem Kleinen. »Wann kommst du wieder nach Hause? Melde dich doch, damit ich mich wenigstens um Henry kümmern kann.«

»Er hat sein Handy abgeschaltet«, erklärt sie dem Detective. »Verdammter Mist.« Sie starrt auf das dunkle Display.

Schier endlose Sekunden lang herrscht Stille, lediglich durchbrochen von Henrys leisem Schmatzen, der sich die zweite Banane schmecken lässt, und dem Geräusch von Fairlies Schritten, während sie ruhelos auf und ab geht.

Schließlich ergreift der Detective das Wort. »So leid es mir tut, ich muss gehen«, entschuldigt er sich und deutet mit einer Kopfbewegung auf den Kleinen, der sich gähnend die Augen reibt. »Haben Sie jemanden, der Ihnen zur Seite steht?«

Plötzlich fühlt sich Fairlie völlig erschöpft. »Meine Eltern wohnen in Mount Gambier.« Doch beim Gedanken an ihre Eltern sieht sie unvermittelt Jennas Mutter vor sich. Evelyn. Jenna und Evelyn werden sich nie mehr aussöhnen, für immer zerstritten bleiben. Die Vorstellung trifft sie wie ein Faustschlag in die Magengrube.

Schlüssel klirren in der Hand des Polizisten. »Können Sie über Nacht bei ihnen unterkommen?«

Unvermittelt sieht Fairlie Jenna vor sich, ihr Blut, das in den Abfluss läuft, jetzt in den Rohren irgendwo unter dem Fußboden. Das Badezimmer, das Jenna nicht mehr lebend verlassen hat. Das riesige Haus inmitten der Weinberge, Pilgerstätte von Weinkennern und Touristen, in das Jenna mit dem Mann gezogen ist, der ihr geben konnte, wozu sie nicht imstande war.

»Mummy?«

Durch einen Tränenschleier lächelt sie Henry an. »Ich nehme ihn mit zu mir.«

II.

Am nächsten Morgen steht Fairlie mit Henry auf dem Arm an ihrem Briefkasten. Sie ignoriert das geschäftige Summen der Bienen in den nahe gelegenen Lavendelsträuchern und greift in den Briefkastenschlitz. Benommen fragt sie sich, ob sie den Stich einer Biene, ihre Nerven das Eindringen des Stachels, das Gift überhaupt wahrnehmen würden.

Die rauen Steinplatten unter ihren Füßen sind bereits warm. Als sie den Arm fester um den Kleinen schlingt, fällt ihr das Handy aus den Pyjamashorts und landet auf den Platten. Ächzend setzt sie Henry ab, hebt das Handy auf und stößt einen leisen Fluch aus, als sie bemerkt, dass das Display gesplittert ist.

Mit dem Saum ihres Unterhemds reibt sie darüber. Es scheint noch zu funktionieren, und nachdem sie Ark eine weitere ebenso deftige wie unmissverständliche SMS geschrieben hat, steckt sie es wieder ein – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Henry auf die Lavendelsträucher zustolpert, die Händchen nach den lila Blüten ausgestreckt, unbeirrt von den Bienen, die ihn wie eine summende Wolke umgeben. Zu Tode erschrocken, reißt Fairlie ihn zurück. »Sorry, mein Lieber. Das ist keine gute Idee.«

Als sie ihn am Abend zuvor auf den Rücksitz ihres Autos gesetzt hat, wollte Henry erst nicht mit ihr kommen, sondern hat wieder und wieder nach seiner Mummy gefragt. Es war nicht leicht, ihn zu beschwichtigen, doch schließlich ist es ihr gelungen, mit ihm nach Hause zu fahren und ihn in ihr Bett zu packen, auch wenn seine Unterlippe verdächtig gezittert hat. Im Dunkeln hat er seine Ärmchen an ihren Hals gelegt und ist eingeschlafen, während Fairlie die ganze Nacht im Halbschlaf verbracht hat, irgendwo zwischen Albtraum und Wirklichkeit.

Die Sonne brennt erbarmungslos auf sie herab, als sie zur Haustür zurückgeht. Auf der von Unkraut überwucherten Wiese nebenan strecken zwei Alpakas ihre langen, giraffenartigen Hälse über den Zaun und glotzen sie an. Das winzige Örtchen Penola liegt still und schläfrig da. Vögel zwitschern in den Bäumen, eine Autotür schlägt zu, eine Kuh muht mürrisch. Am strahlend blauen Himmel zieht ein Flugzeug einen Kondensstreifen hinter sich her. Die Welt weiß nichts von der gestrigen Tragödie, sondern dreht sich einfach weiter. Doch Fairlie ist gefangen in einem Stillleben aus Schmerz, Verwirrung, will einfach nicht wahrhaben, was geschehen ist.

Drinnen sind die Vorhänge zugezogen, und es dauert einen Moment, bis sich ihre Augen daran gewöhnt haben. Henry klammert sich an ihr Bein, und sie muss ihm erst einmal gut zureden und eine Belohnung versprechen, ehe er sie schließlich loslässt und die Katze zu fangen versucht, die unter dem Sofa lautstark protestiert.

Das Klingeln ihres Handys erschreckt Fairlie zu Tode. Ark, schießt ihr durch den Kopf. Aber es ist ihre Mutter.

»Ist Henry noch bei dir?«, fragt sie.

»Ja.« Fairlie wirft die Post auf die Arbeitsplatte und öffnet den Kühlschrank. »Der arme Kleine.«

Ihre Mutter stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich packe noch ein paar Sachen ein, dann fahre ich los. In spätestens einer Stunde bin ich da.«

»Okay«, sagt Fairlie. Im Kühlschrank stehen die Reste eines drei Tage alten Fertigkuchens. »Danke.«

»Was macht Ark?«

Ein billiger Magnetpapagei fällt zu Boden, als sie die Kühlschranktür zuschlägt. »Keine Ahnung, wo der Scheißtyp steckt.«

»Fairlie!«

»Tut mir leid.«

»Nur mit der Ruhe. Bis gleich.«

Sie durchforstet die Küchenschubladen, findet aber keine saubere Gabel, erspäht eine in der Spüle und wischt sie mit einem Geschirrtuch ab. Der Kuchen ist ein bisschen trocken, aber kalt und herrlich schokoladig. Sie stellt die Kuchenplatte neben die ungeöffnete Post und bricht ein kleines Stück für Henry ab. Gerade als sie sich ein drittes Stück in den Mund steckt, läutet ihr Handy erneut.

»Miss Winter, hier spricht Detective Dallas Morgan, Mordkommission Mount Gambier.«

Fairlie braucht einen Moment, bis der Groschen fällt. Unwillkürlich beißt sie die Zähne zusammen, als die Bilder des gestrigen Nachmittags wieder auf sie einströmen: das gelbe Licht im Wohnzimmer, ihre Schreckensvision des leeren, blutbesudelten Badezimmers, der kleine Henry, wie er aus dem Schlaf erwacht und nach seiner Mummy fragt.

»Hat sich Mr. Rudolph inzwischen bei Ihnen gemeldet?« Im Hintergrund hört sie Stimmen und Rascheln, irgendwo klingelt ein Telefon.

»Leider nein«, antwortet Fairlie, noch immer kauend. »Ich weiß nicht, wo er steckt.«

Ein leises Seufzen. »Versuchen Sie es weiter.« Er zögert einen Moment, hüstelt. »Haben Sie jemanden, der Sie unterstützt? Ihre Eltern?«

»Ach, das mit Henry kriege ich schon hin«, sagt Fairlie. »Über kurz oder lang taucht Ark bestimmt wieder auf. Wahrscheinlich hat er im Pub ein paar Bier getrunken und in seinem Auto geschlafen.« Während sie mit der Hand über Henrys Löckchen streicht, erfüllt sie die Vorstellung, den Kleinen – Jennas Fleisch und Blut – wieder seinem Vater übergeben zu müssen, mit einer seltsamen Traurigkeit.

»Danke, Miss Winter«, sagt Detective Morgan. »Wir bleiben in Verbindung.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ist wirklich alles so weit okay bei Ihnen?«

»Nein«, erwidert Fairlie leise. »Aber ich habe ja keine andere Wahl.«

Sie beendet das Gespräch. Ganz oben auf dem Stapel Post liegt ein Schreiben von Telstra, ihrem Handy-Provider. Ein blauer Umschlag – sie hat ihre Rechnung wieder mal nicht bezahlt. Als sie noch zusammenwohnten, hat Jenna sich immer um solche Dinge gekümmert. Sie haben oft darüber gewitzelt, dass Jenna der Mann in ihrer Beziehung war, bestens organisiert, in finanziellen Belangen sowieso, während Fairlie nichts geregelt bekam, ein echt hoffnungsloser Fall. Du kannst mich nicht erziehen, hat Fairlie immer gesagt. Ich habe keine Wurzeln, Baby.

Der Mahnbrief scheint sie regelrecht zu verspotten mit seinem himmelblauen Umschlag, eine Farbe, die offenbar dafür sorgen soll, dass der Empfänger nicht sauer wird. Aber was für eine Arschgeige schickt einem eine Mahnung über 48,50 Dollar, wenn sich gerade eine Frau das Leben genommen hat, die einem nahestand? Mehr noch: Mutter. Tochter. Ehefrau. Beste Freundin.

Fairlie fegt die Post vom Küchentresen, die wie Herbstlaub zu Boden flattert. Tränen laufen ihr über das Gesicht, als sie die Briefe zornig mit dem Fuß unter das Sofa befördert.

Weil ihr Blick von Tränen verschleiert ist, sieht sie nicht den Brief, die Adresse geschrieben mit grüner Tinte, in einer Handschrift, die ihr so vertraut ist wie ihre eigene.

KAPITEL 2

Damals

I.

Er war blass. Selbst im schummrigen Licht des proppenvollen Pubs wirkte seine Haut weiß wie Schnee. Er trug eine Jeans mit breitem Gürtel, hatte den Hemdkragen hochgeschlagen und strahlte ein geradezu unbändiges Selbstbewusstsein aus, vor allem, wenn er den Kopf zurückwarf und sein siegessicheres Lachen erklang. Im Licht der Bar hinter ihm schimmerten seine abstehenden Haare rotgolden, doch aus der Nähe betrachtet stellte Jenna fest, dass sie in einem tiefen Kastanienbraun leuchteten.

Zuerst hatte sie den Blick des Fremden gar nicht bemerkt, als sie ein wenig zögernd hinter Fairlie den Pub betrat. Fairlie hakte sich bei Jenna ein und zog sie sanft an ihren üppigen Körper.

»Nur ein, zwei Drinks«, sagte sie und zerrte sie zur Bar. »Damit du auf andere Gedanken kommst.«

Als Jenna nach rechts gesehen hatte, war er ihr aufgefallen. Er beobachtete sie. Der Typ, der einen halben Kopf größer war als die Kerle um ihn herum, hatte eindeutig ein Auge auf sie geworfen. Er starrte sie an, doch es war kein Glotzen; er wirkte eher neugierig. Als Jenna seinen Blick erwiderte, hob er unmerklich das Kinn und lächelte. Zwischen ihnen taumelten, johlten, drängten sich einige mehr oder minder betrunkene Gäste wie eine Horde Pinguine auf einer Eisscholle, doch einen Moment lang bekam sie von alldem nichts mit.

Fairlie, der ihr kurzer, wortloser Austausch nicht entgangen war, musterte Jenna mit hochgezogener Augenbraue, worauf diese aus ihrer Trance erwachte.

»Das ging aber schnell«, bemerkte sie.

»Wir sind ja wohl nicht extra nach Mount Gambier gefahren, um bloß ein paar Drinks zu kippen«, gab Jenna zurück.

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Fairlie. »Ich genehmige mir ein paar Drinks, und du schaust dich ein bisschen um.«

Ein paar andere Gesichter, den einen oder anderen Cocktail und ein bisschen Partystimmung, genau das brauche Jenna jetzt, hatte Fairlie beharrlich erklärt. Und obwohl Jenna wusste, dass es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren, hatte sie ihr während der vierzigminütigen Fahrt von Penola nach Mount Gambier deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht in Feierlaune war. Starr hatte sie aus dem Fenster geblickt, ohne die weißgrauen Stämme der vorbeihuschenden Eukalyptusbäume wahrzunehmen. Unablässig sah sie das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge. Und während Fairlie alle möglichen Tricks und Kniffe angewendet hatte, um Jenna aufzumuntern, waren ihr die Worte ihrer Mutter nicht aus dem Sinn gegangen.

Der Mann lächelte sie breit an und nickte ihr über die Köpfe der Umstehenden hinweg zu.

An der Bar herrschte Hochbetrieb, doch es gelang ihnen, zum Barkeeper vorzudringen, einem jungen Typen mit tätowierten Unterarmen. Fairlie grinste ihn an, klimperte mit ihren dick getuschten Wimpern und presste die Ellbogen in die Seiten, um ihr Dekolleté zur Geltung zu bringen, aber seine Miene blieb ausdruckslos, als er ihnen die Drinks herüberschob und zwölf Dollar verlangte.

»Verdammt, Jen, das kann doch alles nicht so schlimm …«, begann Fairlie.

Plötzlich stand er neben ihnen. Im selben Moment fielen sich zwei Frauen hinter ihm mit einer derart penetranten Hysterie in die Arme, dass alle Umstehenden zurückwichen wie bei einer Explosion und Ark jäh gegen Jenna gedrückt wurde.

»Oh, tut mir leid«, sagte er.

Jenna errötete. Er stand so dicht neben ihr, dass sie den Kopf heben musste, und einen Moment lang strich sein feuchter Atem über ihren Hals. Sie bekam eine Gänsehaut.

Er beugte sich zu ihr und griff über ihre Schulter. Jenna hielt die Luft an, als er den Kragen ihrer Bluse zwischen zwei Finger nahm. Er beugte sich noch ein Stück weiter vor, und nun spürte sie seinen Atem an ihrem Ohr, während er das Etikett in Augenschein nahm. Ihre Muskeln spannten sich an, und sie ballte die Hände unwillkürlich zu Fäusten.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Hätte sie seine unmittelbare Nähe nicht völlig gefangen genommen, hätte sie gesehen, wie Fairlie die Kinnlade herunterfiel.

Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Wollte nur mal sehen«, sagte er achselzuckend.

»Was denn?« Jenna fasste sich in den Nacken.

Er lehnte sich wieder vor. »Ob da Made in Heaven steht.«

»Oh, bitte!«, platzte Fairlie heraus, kippte ihren Wodka hinunter und gab dem Barkeeper ein Zeichen.

Jenna war drauf und dran, die Augen zu verdrehen und sich mit Fairlie darüber kaputtzulachen, dass manche Männer offenbar nur mit dem Schwanz dachten. Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie; etwas hinderte sie daran, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Es schien, als wäre sie mit all ihren erprobten Reaktionen aus den bewährten Bahnen geworfen worden wie eine Nadel aus der Plattenrille.

Und so lächelte sie wider Willen. »Was war denn das für eine unterirdische Nummer?«

Sein Lachen war so selbstironisch und gleichzeitig ansteckend, dass Jenna gleich noch einmal lächeln musste. Er schüttelte den Kopf und hielt trotz der wogenden Menge respektvoll Abstand.

»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Schönen Abend noch.«

Und im selben Moment berührte Jenna ihn aus einem Impuls heraus am Arm.

Er hielt inne, musterte sie mit seinen ozeanblauen Augen. Sie beugte sich zu ihm. »Nächster Versuch.«

Seine Schultern bebten, als er abermals lachte.

»Okay.« Er streckte die Hand aus. »Hi. Ich heiße Ark, Ark Rudolph. Sorry, aber sobald mich eine schöne Frau anlächelt, verwandele ich mich in ein echtes Arschloch.«

Jenna schüttelte ihm die Hand. »Jenna«, stellte sie sich vor. »Ich bin Krankenschwester und weiß genau, dass du morgen einen ganz fiesen Kater haben wirst.«

Ark Rudolph grinste, hielt ihr sein Bierglas hin, und sie zögerte einen Moment, bevor sie mit ihm anstieß. Er sah ihr tief in die Augen, während er einen großen Schluck trank.

Die Menge um sie herum schien förmlich zu verschwimmen, als Jenna dem rätselhaften Blick des Mannes begegnete. Sie wusste, dass Fairlie ihr nicht von der Seite weichen, sie beinhart abfüllen und später versuchen würde, ihr die Wahrheit zu entlocken. Im selben Augenblick traf sie die kalte, nackte Erkenntnis: Was war schon Wahrheit? Gab es so etwas überhaupt?

Christina Aguileras Dirty dröhnte aus den Lautsprechern. Um sie herum bewegten sich Leiber, und der Raum lud sich mit Hitze, Alkohol und Hormonen auf. Fairlie pflanzte sich auf einen Barhocker, starrte in ihr Glas und machte zwischendurch den tätowierten Barkeeper mit Sprüchen an, die mit jedem Drink billiger wurden. Ab und zu warf sie einen neugierigen Blick zu Jenna hinüber, setzte dabei eine Miene auf, als wollte sie sagen: Na, das ist aber eine Überraschung. Und in der Tat war es erstaunlich, höchst ungewöhnlich, wie Jenna ranging – sich treiben ließ wie in einem schäumenden Fluss, einfach wissen wollte, wohin die Reise führte.

Ark sagte ihr etwas ins Ohr. Jenna schien alles überdeutlich wahrzunehmen – die Hitze seines Körpers, seinen alkoholgeschwängerten Atem, die Bässe, die den Boden unter ihren Füßen vibrieren ließen. Wenn sie ihn zum Lachen brachte, spürte sie das Beben in seiner Brust, und später, als er mit seiner Hand in die Gesäßtasche ihrer Jeans glitt und sie noch enger an sich zog, ein jähes Verlangen zwischen ihren Schenkeln. Als er sich von ihr löste – noch immer waren kaum mehr als ein paar Zentimeter Platz zwischen ihnen –, bemerkte sie eine Begierde in seinem Lächeln, die ihr den Atem verschlug.

Nach einer Weile wandte sich Jenna nach Fairlie um, die bereits reichlich angetrunken war und kichernd bündelweise Strohhalme in ihr leeres Glas stopfte. Der ganze Tresen war mit schwarzen Plastikröhrchen übersät, und Fairlie beugte sich vor, um den letzten verbliebenen Strohhalm aus dem Halter zu nehmen, wobei ihre üppigen Brüste sich gegen die Tresenkante drückten. Der Barkeeper stieß einen Fluch aus, und Jenna versuchte, ihn mit einer entschuldigenden Geste zu beschwichtigen. »Los, wir gehen jetzt mal für kleine Mädchen«, rief Jenna ihrer Freundin zu und nahm ihr vorsichtig die Strohhalme aus den Fingern.

»He, Süßer!«, rief Fairlie dem Barkeeper zu, der ihr einen Blick zuwarf und den Kopf schüttelte. »Du passt solange auf meine Skulptur auf, okay?« Sie deutete auf ihr Glas. »Das ist Kunst. Wird ein Vermögen wert sein, wenn ich mal tot bin. So wie bei Van Gogh.« Als sie sich von ihrem Barhocker hievte, verrutschte ihr Ausschnitt und gab den Blick auf einen breiten, beigefarbenen BH-Träger frei, der in ihr weiches braunes Fleisch schnitt. Sie grinste Ark breit an. »Schreibt sich G-O-G-H, spricht sich aber wie ›Koch‹. Merkwürdig, oder? Aber egal. Wir sind gleich wieder zurück, Schätzchen.« Sie strich mit den Fingern über Arks Schulter.

Sie drängten sich durch die Gästeschar, stolperten über den grell gemusterten, klebrigen Teppichboden. Bier, Parfüm, Zigarettendunst – die Luft war zum Schneiden. Die Toilette war in weißes Kunstlicht getaucht. Jenna betrat eine Kabine und zog sich die Jeans herunter, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür zu schließen.

Fairlie lehnte sich an den Türrahmen. »Heißt der Typ wirklich ›Ark‹?«

Achselzuckend riss Jenna einen Streifen Klopapier ab. »Warum nicht?« Sie grinste. »Ist das wichtig?«

Fairlie musterte sie skeptisch. »Willst du ihn abschleppen? Du?«

Wieder zuckte Jenna mit den Schultern. Sie schwieg, doch ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Wird auch langsam mal wieder Zeit«, sagte Fairlie. »Ich bearbeite den Burschen hinter der Bar jetzt schon den ganzen Abend, aber leider zieht er so gar nicht mit. Aber du … mal im Ernst. Sonst baggerst du doch auch nie jemanden an.«

»Du tust ja grad so, als wäre ich eine Nonne.« Jenna stand auf und zog ihre Jeans hoch; der hellblaue Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Hüften.

»So kommt es mir manchmal vor.« Fairlie trat vor den Spiegel. Das schwarze Baumwollshirt spannte sich über ihren Brüsten; an einer Seite war es hochgerutscht, und ein Speckröllchen hing über ihren Gürtel. Sie klatschte mit der Hand darauf und zog das T-Shirt wieder herunter. »Du hattest zwei feste Freunde. Beide hast du bei der Arbeit kennengelernt, und keiner hat dich von den Socken gehauen.«

»Ich trage auch lieber Strümpfe.«

»Und erinnerst du dich an den Typen in der Tavern? Dem hast du in die Eier getreten.«

»Das war ein Versehen.«

»Ach ja? Mit dem Knie? Gegen die Schwerkraft?«

»Er hat mir an die Titten gefasst.«

»Mehr Sex hast du im ganzen Jahr nicht gehabt.«

»Aber so wollte ich das nun mal nicht.«

»Dieser Ark hat es dir ja ziemlich angetan. Also, ran an den Speck. Am besten gleich. Geh doch einfach mit ihm raus, treib es auf der Straße mit ihm, al fresco, dann sagst du ciao und hilfst mir, den Barkeeper klarzumachen.« Fairlie begutachtete ihr Gesicht in dem trüben Spiegel, wo in einer Ecke eine verdächtige, schmierige Substanz klebte. »Ark Rudolph.« Fairlie betonte jede einzelne Silbe. »Klingt wie ausgedacht.« Blinzelnd nahm sie ihre kurzen, nach allen Seiten abstehenden Locken in Augenschein. »Meine Haut ist echt schlimm«, sagte sie dann. »Sieht aus wie kalt gewordener Kaffee, oder?«

Jenna wusch sich die Hände, ohne zu antworten.

»Die ganzen Nachtschichten diese Woche – ich sehe todmüde aus.« Fairlie zog die Lider mit den Fingerspitzen hoch. »Schon besser.« Sie drehte sich zu Jenna um und wiederholte: »Ark Rudolph. Gehört er irgendeiner Sekte an oder was?«

Jenna wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. »Er betreibt ein Weingut. Ganz in der Nähe.«

»Und wie heißt es? Noahs Weindepot?«

Jenna lachte. »ArkAcres. Na, klingelt’s?« Sie nahm Lippenbalsam aus ihrer Handtasche und strich sich über ihre Lippen. »Da, wo früher der Stone-Block-Estate war. Der ist doch vor ein paar Jahren verkauft worden, weißt du noch?«

Fairlie pfiff durch die Zähne. »ArkAcres, ja, klar. Erinnerst du dich an die Gerüchte, was das Gelände gekostet haben soll?« Sie warf noch einen Blick in den Spiegel und kniff sich in die Wangen. »Tja, hoffentlich will er mit der pompösen Auffahrt kein Defizit in seiner Hose kaschieren.«

Verstohlen betrachtete Jenna sich im Spiegel: hohe Wangenknochen, spitze, schmale Nase, ein dunkler Pony, der ihr in die runden blauen Augen fiel. Knochige Schultern, mehr Nippel als Brust, deutlich hervortretende Schlüsselbeine und ein blasser Teint, der einen deutlichen Kontrast zum Rot ihres ärmellosen Tops bildete. Rasch wandte sie den Blick ab.

Fairlie drehte sich um, ergriff Jenna an den Schultern und blickte ihr ernst ins Gesicht.

»Sei doch mal ehrlich. Der Typ wäre dir doch völlig egal, wenn du nicht …«

Jenna spannte sich an, doch sagte nichts.

Fairlie ließ sie los. »Wahrscheinlich stehst du einfach ein bisschen neben dir, weil deine Mutter …«

»Lass gut sein, Süße.« Jenna hob abrupt die Hand, wandte das Gesicht ab.

»Trotz allem ist sie deine Mutter, Jen. Sie ist alles, was du hast.«

Jenna sah sie irritiert an. »Nur weil mein Dad uns verlassen hat, als ich klein war, heißt das noch lange nicht, dass ich ihr irgendwas schuldig wäre.« Sie straffte sich und warf ihr Haar zurück. »Mal abgesehen davon, dass du das am besten wissen solltest.«

»Was?«

»Dass Blut eben nicht dicker als Wasser ist.«

Unwillkürlich biss Fairlie die Zähne zusammen. »Mag sein. Aber du weißt wenigstens, wo deins herkommt.«

Der Bass wummerte durch die Wände, und es stank nach Desinfektionsmittel. Im grellen Licht starrten sie einander an.

»Entschuldige«, sagte Jenna schließlich. Sie massierte ihren Nasenrücken und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte das nicht sagen.«

»Mir tut es auch leid«, erwiderte Fairlie. »Du hast recht. Natürlich kannst du auf deine Mutter so sauer sein, wie du willst. Ich bin weiß Gott nicht das Maß aller Dinge.« Seufzend wandte sie sich zur Tür und streckte die Hand nach der Klinke aus, griff aber ins Leere. »Scheißtür!«, lallte sie. »Sind das aufgemalte Türklinken hier?«

Jennas schallendes Gelächter hallte durch die Toilette; sie legte den Arm um Fairlies Schultern, öffnete die Tür und führte ihre sichtlich angeschlagene Freundin zurück zur Bar. Das Herz schlug Jenna bis zum Hals, als sie Ark entdeckte, der bereits Ausschau nach ihr hielt.

»Wir müssen los«, rief Jenna über den Lärm. Fairlie schien im Stehen zu schlafen. Sie lächelte Ark an. »Wir haben morgen eine Menge vor.«

»Schade«, gab er zurück. »Kann man wohl nichts machen. Kommst du so weit klar mit ihr?«

Murmelnd ließ Fairlie sich gegen Jenna sinken, die alle Mühe hatte, sich aufrecht zu halten.

»Kann ich helfen?« Ark streckte die Hand aus, und nach kurzem Zögern hakte sich Fairlie bei ihm ein. Sie steuerten mit ihr durch die Menge nach draußen.

Die Luft war feucht und kühl. Nebelfetzen waberten um die Straßenlaternen, und der Asphalt vibrierte leicht vom Wummern der Musik. Die kühle Mitternachtsbrise ließ Jenna erschauern, als sie zu dem dunklen Parkplatz auf der Rückseite der Kneipe gingen, wo nur noch wenige Wagen standen. Die frische Nachtluft schien Fairlie ein wenig wiederzubeleben, jedenfalls hob sie den Blick und sah Ark an, als sie bei ihrem Auto angekommen waren.

»Heilige Scheiße!« Sie sackte gegen den Wagen. »Fährst du jetzt bei uns mit oder was?« Als Jenna ihr die Handtasche abnahm und nach dem Autoschlüssel kramte, schloss Fairlie die Augen und murmelte: »Nonne.«

Die Bemerkung – zwei gelallte Silben aus dem Mund einer Betrunkenen – wurmte Jenna aus irgendeinem unerfindlichen Grund. Wie gemein von ihr. Sie trat einen Schritt zurück, als Ark ihre Freundin behutsam auf den Beifahrersitz bugsierte. Er hatte kräftige, muskulöse Arme und lange Beine. Sein Hemd spannte sich über seinem Rücken, als er sich bei Fairlie entschuldigte und um sie herum griff, um sie anzuschnallen. Augenblicklich sackte Fairlies Kinn auf ihre Brust, und sie schlief ein. Ark schlug die Beifahrertür zu und wandte sich zu Jenna, um etwas zu sagen, doch Jenna verschloss ihm den Mund mit einem Kuss.

Sie stand auf Zehenspitzen und presste sich an ihn, während ihre Finger über seinen warmen Hals wanderten. Er erwiderte ihren Kuss ebenso heftig, und sie ließ die Hand über seinen Bauch und unter seinen Gürtel gleiten.

Ark stieß ein leises Lachen aus. »Nicht so hastig«, sagte er, doch im selben Moment umfasste er sanft, aber fest ihre Brust und eroberte ihren Mund abermals mit seiner Zunge. Sie glitt mit ihrer Hand tiefer; er war steinhart, und sein Schamhaar strich über ihre Knöchel. Sein Atem ging schneller, und sie biss ihn in den Hals, spürte den Puls, bis er erschauderte und sich warm über ihre Hand ergoss.

Jenna lehnte sich seitlich an den Wagen. Ark vergrub das Gesicht an ihrem Hals und lachte atemlos. Sie schüttelte ihre Hand und wischte sie an seiner Jeans ab. Er packte ihr Handgelenk, mit der anderen Hand zog er sein Handy aus der Tasche.

»Gibst du mir deine Nummer?«, fragte er. »Bitte.«

Jenna sah ihn an. Seine Pupillen waren so geweitet, dass seine Augen samtig schwarz glänzten; seine leicht geöffneten Lippen schimmerten rot. Sie nahm sein Handy und gab ihre Nummer ein.

Im selben Moment öffnete sich die Beifahrertür. Fairlie beugte sich aus dem Wagen. »Jen, ich glaube, ich muss …«

Und dann kotzte sie auf das Trittbrett von Arks schwarzem RM Williams.

*

Ihr Handy summte. Schlaftrunken griff Jenna danach, klappte es auf und blinzelte; das grelle Licht des Displays stach ihr schmerzhaft in die Augen. Eine Nummer, die sie nicht kannte. Sie überlegte, ob sie warten sollte, bis sich die Voicemail einschaltete, aber vielleicht war es ja jemand von der Arbeit.

»Hey.« Eine leise Männerstimme. »Habe ich dich geweckt?«

Ein Flattern im Bauch. »Ähm … ja.«

»Oh, tut mir leid.« Aber das klang eher nach einem Lippenbekenntnis. Er sprach noch leiser. »Erinnerst du dich? Vor anderthalb Stunden waren wir noch zusammen im Pub.«

Jenna ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken; aus dem Zimmer nebenan drang Fairlies Schnarchen herüber. Tiefe Scham überkam sie, als sie sich an ihre dicht gedrängten Leiber erinnerte, den wummernden Bass, daran, wie er seinen durchtrainierten Körper an den ihren gepresst hatte, an sein klebriges Sperma an ihren Fingern.

»Ich musste erst mal meine Freundin ins Bett bringen.« Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Handy. »Und seitdem habe ich ungefähr eine halbe Stunde geschlafen.«

»Ich konnte es einfach nicht abwarten«, sagte er.

»Was?«

»Na ja, acht Stunden sind eine echte Ewigkeit.«

Jenna hielt inne. »Wieso acht Stunden?«

»Da treffen wir uns. Am Valley Lake. Zum Picknick.«

»Ach ja?«

»Bring mit, wen immer du magst.«

Ein freches Grinsen spielte um Jennas Mund, während sie spürte, wie sich ganze Schwärme von Schmetterlingen in ihrem Bauch ausbreiteten.

II.

Träges Nachmittagslicht drang durch das Laub der Eichen. Vom Spielplatz wehten Kinderstimmen herüber, und eine schwüle Hitze umfing sie, als sie zusammen auf der fadenscheinigen Karodecke saßen.

Ark lachte. »Noch einen Schluck Wasser, Fairlie?«

Fairlie trug ein wallendes Maxikleid, einen riesigen Schlapphut und eine fast ebenso große Sonnenbrille. Sie zuckte zusammen, als der markerschütternde Schrei eines Kleinkinds von den Schaukeln zu ihnen herüberdrang.

»Alles bestens«, gab Fairlie zurück und ließ sich auf die Seite sinken. »Mach dir da mal keine Sorgen, Sonnenschein.«

»Fairlie Winter, die Optimistin vom Dienst«, bemerkte Abbey Manfried, die zusammen mit Jenna und Fairlie am College gewesen war. Sie trug eine schwarze Brille auf der Stupsnase und griff über die Überreste des Picknicks hinweg nach dem letzten halb zerlaufenen Stück Brie.

»Nur die Miete zahlt sie nie pünktlich«, sagte Jenna. »Wenn überhaupt.«

»Blödsinn.« Fairlie versuchte, sich den Schlapphut tiefer in die Stirn zu ziehen, doch ihre Locken drückten ihn wieder nach oben. »Das Leben ist zu kurz, um sich mit der blöden Miete rumzuärgern«, verkündete sie, resignierte und schleuderte den Hut auf die Decke.

Abbey steckte das Stück Brie ihrem Freund Damon in den Mund. »Dein Vermieter sieht das wahrscheinlich ein bisschen anders.« Sie gab ihm einen innigen Kuss.

Fairlie rümpfte angewidert die Nase. »Dafür habe ich ja Jenna. Sie hat immer alles im Griff.«

Während sie die Ameisen beobachtete, die über die letzten Reste Tsatsiki krabbelten, spürte Jenna Arks Blick, seine Finger, die beiläufig über ihr Knie strichen, seinen Körper, der ihren streifte, wenn er sich ein Häppchen nahm oder sich lachend zurücklehnte. Seine Gegenwart vertrieb das Bild ihrer Mutter, die schlimmen Worte, die am Vortag zwischen ihnen gefallen waren. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an das Beben seines Körpers, als sie seine Lust genossen hatte. Ein glühend heißes Verlangen durchströmte sie, das sie alles um sie herum vergessen ließ.

Jenna stand auf. »Ich gehe mal ein paar Schritte«, sagte sie. »Mir schlafen die Beine ein.«

Ark sprang auf. »Ich komme mit.«

»Also, ich mach erst mal ein Nickerchen.« Fairlie rollte sich auf den Rücken und schirmte die Augen mit dem Unterarm ab.

Der Rasen erstreckte sich bis hinunter zum Kratersee. Jenna schlug rhythmisch mit der flachen Hand gegen ihren Oberschenkel, während sie und Ark gemächlich unter den Eichen entlangschlenderten. Das Sonnenlicht brach sich auf der flaschengrünen Wasseroberfläche, Stockenten dümpelten im Schilf, und drei schwarze Schwäne näherten sich dem halbmondförmigen, von grauem Sand bedeckten Ufer. Ein schmaler Holzsteg führte durch das Schilf und verschwand hinter den tief hängenden Zweigen einer Weide, die über das Wasser strichen.

Jenna deutete auf die Schwäne. »Wusstest du, dass es wild lebende schwarze Schwäne nur hier in Australien gibt?«

»Wirklich?«, sagte Ark. »Ich dachte immer, die aggressiven Biester gäbe es überall. Einer ist mal auf mich losgegangen und hat mir mein Sandwich geklaut.« Argwöhnisch blickte er zu den Vögeln hinüber.

»Sie stehen unter Naturschutz«, erwiderte Jenna. »Also haben sie wohl ein Recht auf dein Sandwich.«

Als sie den Steg betraten, berührten Arks Finger ihre Hand, und die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf. Ihre Schritte klangen hohl auf den von der Sonne ausgebleichten Planken. Das Röhricht schlug sanft gegen den Steg, hin und her getrieben von der Dünung.