Welche Farbe hat die Angst? - Barbara Rose - E-Book

Welche Farbe hat die Angst? E-Book

Barbara Rose

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Beschreibung

Katta malt für ihr Leben gern. Als sie einen Kurs bei dem bekannten Maler Josef Wild gewinnt, ist der fasziniert, denn ihr Stil ähnelt auf unglaubliche Weise den Bildern einer ehemaligen Schülerin: Auch Miriam hat vor vielen Jahren bei ihm gelernt, sich aber kurz vor Ende des Kurses das Leben genommen. Durch Zufall findet Katta Miriams Maltagebuch und erkennt schnell: Ein Mädchen, das so viele Pläne hatte, kann unmöglich freiwillig in den Tod gegangen sein. Katta ahnt, dass damals etwas Schlimmes passiert sein muss, doch wie soll sie das beweisen?

Während sie immer tiefer in die Vergangenheit eintaucht, häufen sich unheimliche Vorgänge. Katta bekommt anonyme Briefe und ihre Sachen werden durchwühlt. Die Suche nach dem Täter von damals, der immer noch mitten unter ihnen ist, wird zu einem Wettlauf mit der Zeit. Wie gut, dass Katta tatkräftige Unterstützung vom charismatischen Alex bekommt ...

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Seitenzahl: 337

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Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumMotto 1. Puderrosa 2. Aschgrau 3. Lichtblau 4. Gold 5. Crimson 6. Flieder 7. Khaki 8. Signalorange 9. Schwefelgelb10. Pink11. Bordeaux12. Violett13. Anthrazit14. Türkis15. Umbra16. Deep Blue17. Silber18. Indigo19. Schwarz20. Zitronengelb21. Feuerrot22. Menninge23. Kupfer24. Petrol25. Goldgelb26. Sepia27. Nachtblau28. Lila29. Jadegrün

Über die Autorin

Barbara Rose arbeitet als Kinder- und Jugendbuchautorin und Journalistin. Farben, Malerei und Musik spielten schon in ihrer Kindheit eine wichtige Rolle. Im Modeatelier ihrer Mutter lief immer Musik, die Wände hingen voller Gemälde, die Barbara Rose abzumalen versuchte. Leider mit ziemlich mäßigem Erfolg. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, die das Malen zu ihrem Beruf machte. Barbara Rose tröstete sich damit, dass sie beim Radio Sendungen für Jugendliche moderieren und die neuesten Songs hören durfte. Später begann sie, Bücher zu schreiben. Dazu hört sie oft die passende Schreibmusik. An jedem freien Platz ihres Büros hängen und stehen Bilder – in allen Größen und Variationen. Unter anderem die, die ihre Kinder für sie gemalt haben. Die Autorin wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.

Barbara Rose

WELCHE FARBE HAT DIEANGST?

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2014: by Boje Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-5281-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Sieh dich um. Schmecke das Lindgrün der Blätter, die an den Bäumen tanzen. Versinke im Rubinrot der Rosen, im Taubenblau des Himmels. Wärme dich im Goldgelb der Sonne.

1. Puderrosa

Zart. Unschuldig. Schützenswert.

»He du, warte mal. Du mit der Wuscheljacke!«

Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Katta inne und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Am Anfang der Treppe, die sie gerade nach oben lief, stand ein Junge mit wilden, dunkelblonden Locken und winkte aufgeregt. Katta spürte einen Anflug von Panik, der sie blitzartig durchzuckte. Meinte der etwa sie? Mit einem Ruck zog sie ihre Mohairjacke wie einen Schutzpanzer um sich, beschleunigte die Schritte und versuchte möglichst unauffällig noch einmal über ihre Schulter zu sehen, während sie rannte. So ein Mist! Der Typ hechtete jetzt mit großen Sätzen die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er kam genau auf sie zu.

»Jetzt warte doch mal. Du! Mit der rosa Jacke!«

Katta biss sich auf die Lippen. Verflixt, warum musste sie ausgerechnet heute diese grässliche blassrosa Jacke tragen? Damit hatte Katta ihrer Mutter eine Freude machen wollen. Eigentlich hasste sie Rosa. Und mit dem wuscheligen Ding war sie ungefähr so unauffällig wie eine Leuchtreklame in stockdunkler Nacht. Instinktiv schüttelte sich Katta, als wolle sie eine lästige Fliege loswerden, und versuchte gleichzeitig, so schnell wie möglich die Treppe hochzulaufen und in den unendlichen Gängen der Schule zu verschwinden, sich in Luft aufzulösen. Sie war schon auf der obersten Stufe angekommen, da spürte sie eine warme Hand auf der rechten Schulter.

»He, bist du taub? Du rennst ja, als wäre der Teufel persönlich hinter dir her!«

Mit einem kräftigen Druck drehte der Junge sie zu sich rum. Katta hielt den Atem an, als sie in seine jadegrünen, blitzenden Augen sah. Diese Augen waren so schön, so tief und klar, dass sie den Jungen, der jetzt dicht hinter ihr stand, nur völlig idiotisch anstarren konnte.

»Alles klar mit dir?«, fragte er.

Katta nickte verwirrt und drehte sich ganz um.

»Du bist doch Katharina, oder?«

»Katta. Ich werde Katta genannt.«

Sie legte den Kopf schief. Ihr Blick strich über sein Gesicht, wanderte von den Augen über die schmale Nase zu seinem Mund. Seine Lippen waren sanft geschwungen, dazu voll und weich. Ein perfekter Kussmund, würde ihre Freundin Melanie jetzt sagen. Katta musste lachen, als sie daran dachte.

Der Junge lachte auch. Bezaubernd und leise. »Puh, bin ich froh, dass du mich nicht umbringen willst. So hast du nämlich vorhin ausgesehen. Dabei hast du wirklich allen Grund zu lächeln«, seufzte er. »Ich habe dein Bild gesehen. Es ist toll! Du hast den Preis echt verdient. Ein Malkurs bei Josef Wild, verdammt, das ist so ziemlich das Beste, was einem passieren kann. Oh, sorry, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Alex.«

Als ob ich das nicht wüsste, wäre Katta beinahe herausgerutscht. Unten an der Treppe hatte sie ihn noch nicht erkannt. Aber als er jetzt vor ihr stand, intensiv und frisch nach einem lässigen Duft riechend, da war ihr sofort klar, wer er war. Jeder an der Schule kannte Alex. Katta hatte ihn bisher zwar immer nur aus der Ferne oder in einer Gruppe von Leuten gesehen, aber sie wusste, dass Alex Schlagzeuger in einer Band und ziemlich beliebt war, vor allem bei den Mädchen. Einige von Kattas Freundinnen schwärmten für ihn. Katta hätte nicht im Traum daran gedacht, mal mit so einem Typen zu sprechen.

Verdattert hielt sie ihm die Hand hin: »Oh, hey Alex. Nett, dich kennenzulernen.« Hilfe! Nett dich kennenzulernen, so ein gequirlter Quatsch! Das klang ja wohl völlig daneben.

»Dein Bild«, wiederholte Alex jetzt und drückte flüchtig ihre Hand. »Es ist sensationell!«

»Hm, es ist ganz gut, glaube ich«, flüsterte Katta, damit es kein anderer hören konnte. Bestimmt hätten sie sonst alle für eine Angeberin gehalten.

Alex runzelte die Stirn. »Ganz gut? Mensch, du bist unglaublich begabt. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hab vor zwei Jahren einen Kurs bei Josef gemacht. Aber ich male nicht annähernd so gut!«

Später würde sich Katta noch oft an diese Szene auf der Treppe erinnern. An ihre Nervosität und an sein Lächeln aus so unglaublich grünen Augen, dass sie vom Anblick betrunken wurde. An seine weiche Stimme, zart wie eine sanfte Berührung, seinen Geruch und an seine Einschätzung ihres Bildes. Dieses wunderbar ehrliche Lob, das alles in ihrem Leben veränderte.

»Du malst?« Katta versuchte sich Alex mit einem Pinsel in der Hand und Tuben voll Ölfarben vor einer Leinwand vorzustellen. Aber das Bild wollte nicht in ihren Kopf. Sie sah immer nur diesen durchtrainierten Kerl vor sich, mit ausgewaschener Jeans und weißem T-Shirt.

Alex lachte laut auf. »Hallo? Suchst du gerade nach den Farbflecken? Tut mir leid, meinen Kittel habe ich heute ausnahmsweise zu Hause gelassen.« Er sah Katta in die Augen und legte theatralisch den Finger an die Lippen. »Ich weiß, ich sollte eine Baskenmütze tragen oder mindestens lange, fettige Haare haben. Oder einen Vollbart und Nerdbrille. Dazu am besten ein total grelles Outfit oder … hm, mehr fällt mir grade nicht ein. Aber so ähnlich stellst du dir doch einen Typen vor, der ab und zu eine Leinwand bepinselt, oder?«

Katta musste lachen. »Ertappt. Was malst du denn? Also, welche Technik, meine ich.«

Alex legte den Rucksack ab, der die ganze Zeit über seiner Schulter gehangen hatte. »Pastellkreide.« Er grinste. »Hättest du nicht gedacht, was? Aber ich mag es, wenn ich die Farben so richtig an den Händen spüre, sie mit den Fingern verwischen kann, wenn ich das raue Papier fühle, wenn … äh, ich quatsche zu viel, stimmt’s?«

Katta zuckte mit den Schultern. »Ich höre dir gern zu.«

»Trotzdem. Es geht ja nicht um mich, sondern um dich und dein Bild. Und den Kurs bei Josef in Goldbach. Also, wann fährst du?«

»Ich weiß noch gar nicht, ob ich mitmache. Ich … äh … ich habe noch nicht mit meinen Eltern gesprochen. Und … vielleicht kann ich gar nicht, weil …«

Alex schüttelte heftig den Kopf. »Deine Eltern müssen es dir erlauben. Du musst dahin, wirklich. Du musst!«

Verlegen knabberte Katta an ihrem Daumennagel. Was sollte sie darauf bloß antworten? Zu gern würde sie in zehn Tagen den Kurs bei dem berühmten Maler Josef Wild machen. Der Zeitpunkt war genial, sie würde gerade mal zwei Schultage verlieren, und dann wären schon Sommerferien. Fünf Tage nichts als Leinwände und Papier, Acrylfarben, Pinsel und Schwämme, der sinnliche Duft nach Ölfarbe, würzigem Leinöl, der scharfe Geruch von Terpentin. Katta seufzte. Aber ihr Vater würde das nie erlauben. Der hatte längst die Reise nach Italien geplant. Ins Haus von Carlo, seinem alten Geschäftsfreund. Allein der Gedanke an Carlo Wötzel ließ sie innerlich würgen. Bloß nicht an den Typen denken. Nicht jetzt!

»Mein Vater hat eigentlich schon einen Urlaub mit meiner Mutter und mir gebucht, das mit dem Kurs kommt irgendwie total blöd.«

»Ist doch scheißegal, lass die beiden fahren, du kannst auch allein zum Kurs, alt genug bist du ja wohl …?«

»Bald sechzehn«, murmelte Katta verlegen.

»Siehst du. Ich kann dir in Goldbach eine Adresse vermitteln, wo du wohnen kannst. Total nette Leute. Die haben immer ein Zimmer frei.«

Aber Katta schüttelte nur den Kopf. »Du weißt nicht, wie mein Vater ist, das erlaubt der nie. Ich alleine! Und dann noch etwas Künstlerisches. Dem reicht es schon, dass er zu Hause meine Mutter sitzen hat, die …«

Sie brach ab und biss sich auf die Lippen. Verrückt, wie kam sie eigentlich dazu, diesem fremden Typen so viel von sich anzuvertrauen?

»Hast du Lust, in der Kantine eine Cola zu trinken? Dann erzähle ich dir von Josefs Kurs.« Alex sah Katta an. Seine Augen strahlten wie kleine Sterne.

Ihre Hände wurden feucht, hektische Flecken bildeten sich an ihrem Hals. Katta spürte, wie die Aufregung von ihrem Körper Besitz nahm. Auch dafür hasste sie sich.

»Kann nicht. Ich muss los«, log sie, denn auf dem Vertretungsplan hatte sie längst gesehen, dass der Nachmittagsunterricht heute ausfiel. »Bio. Wir schreiben eine Bioarbeit. Jetzt.« Sie beobachtete, wie sich sein Gesicht verdunkelte.

»Na, dann nicht. Vielleicht ein anderes Mal.« Alex klang plötzlich mürrisch und leicht genervt. Er hob die Hand, rannte die Treppe hinunter und verschwand um die Ecke.

Mist, dachte Katta, Mist, Mist, Mist. Ich Idiot! Wieder ein Gespräch versiebt, das passierte ihr dauernd. Katta war zum Heulen zumute. Zu Hause rannte sie die Treppe hoch in ihr Zimmer, schleuderte den Rucksack in die Ecke und vergrub sich unter ihrer Bettdecke.

2. Aschgrau

Dunkler als Weiß. Heller als Schwarz. Unentschieden.

Als Katta erwachte, war der Himmel wolkenverhangen, die Bäume standen wie dunkle Schatten vor dem Fenster. Ein kräftiger Wind ließ Äste und Blätter erzittern. Das Geräusch erinnerte Katta an das Klappern von Kastagnetten. Ein kühler Luftzug wehte durch das offene Fenster, es roch nach Gewitter. Katta strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und sah auf ihre Armbanduhr. Fast fünf. Sie hatte drei Stunden geschlafen! Und geträumt, wild und intensiv geträumt. Ganz deutlich hatte sie mehrere Personen vor sich gesehen, aber je verbissener sie darüber nachdachte, desto weniger konnte sie sich die Gesichter wieder ins Gedächtnis rufen. An was sie sich aber noch gut erinnerte, war ein Bach. Kein sanftes Rinnsal, sondern wildes, strudelndes Wasser. Eine Brücke hatte genau über die Stelle geführt, an welcher der Bach einen unglaublich kräftigen Sog entwickelte. Hatte sie auf dieser Brücke gestanden? War sie vielleicht genau dort ins Wasser gefallen? Katta zog die Beine an, sie fröstelte. Ihr T-Shirt unter der warmen Mohairjacke war komplett durchgeschwitzt, die Hose klebte wie eine zweite Haut an ihr. Sie träumte häufig, eigentlich fast jede Nacht. Früher war sie oft schreiend und weinend aufgewacht und konnte lange nicht mehr einschlafen.

Einmal hatte sie einige Male hintereinander davon geträumt, dass Gulliver, ihr geliebtes Meerschweinchen, das zu dieser Zeit schon ziemlich alt und krank war, gestorben sei. Als Gulliver wenige Tage später tatsächlich tot in seinem Käfig lag, weigerte sich Katta für lange Zeit, abends ins Bett zu gehen, und hielt krampfhaft die Augen geöffnet. Wochenlang legte sie sich einfach im Schlafanzug zwischen ihre Eltern auf das große Sofa im Wohnzimmer, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen. Doch auch hier, in Gesellschaft, waren die nächtlichen Bilder immer wiedergekommen.

Ihr Vater hatte sie deshalb schon als achtjähriges Kind ziemlich genervt zu einem Psychoanalytiker geschleppt, aber der hatte nur ganz pragmatisch festgestellt, dass Katta ein völlig normales Mädchen sei, um das man sich keine großen Sorgen machen müsse. Träume gehörten zu Entwicklung, hatte er erklärt, und Kattas Vater war wutschnaubend mit seiner Tochter im Schlepptau aus der Praxis gerauscht. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, machte er sich große Sorgen um seine Tochter. Sein einziges Kind, sein Augenstern. Doch er konnte seine Gefühle nicht in Worte fassen, damals nicht und heute immer noch nicht. Und er war viel zu beherrscht, um Katta einfach in den Arm zu nehmen und ihr auf diese Weise Sicherheit und Zuversicht zu vermitteln.

Ihre Mutter dagegen hatte in vielen Nächten ihre Decke gepackt und sich zu Katta ins Bett gelegt, Bauch und Oberschenkel ganz eng an den Rücken und ihre Beine gepresst. Löffelliegen nannte sie das, und Katta hatte es geliebt, mit der weichen Hand ihrer Mutter auf dem Kopf und ihrem Körper als Schutz gegen böse Träume einzuschlafen.

Zwei Jahre später machte eine Zeichenlehrerin in der Grundschule Kattas Eltern auf das Talent der Tochter aufmerksam, Katta begann zu malen, und die Träume wurden weicher, bunter, sie waren nicht mehr so dunkel und angsteinflößend.

Katta setzte sich mit einem Ruck im Bett auf. Jetzt wusste sie es wieder: Alex, der Junge aus der Schule, hatte in ihrem Traum auch eine Rolle gespielt. Aber da war noch ein Mädchen gewesen, Katta versuchte mit aller Macht, ihr Bild wieder hervorzurufen. Klein und zierlich war sie, mit elfenbeinfarbener Haut und kurzen blonden Haaren. Katta überlegte. Kannte sie dieses Mädchen? Vielleicht aus der Schule? Aber ihr wollte niemand einfallen. Egal, vielleicht erinnerte sie sich noch. Das Bild des Jungen gefiel ihr sowieso viel besser, das Bild von Alex.

Katta kicherte und angelte sich ein paar frische Klamotten aus dem Schrank, die rosa Mohairjacke, die Jeans und das feuchte T-Shirt warf sie achtlos auf den Schreibtischstuhl, dann hüpfte sie pfeifend die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.

Ihre Mutter saß mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa und starrte hypnotisiert auf den Fernseher. Wehmütige klassische Musik floss aus den Boxen und verwandelte den Raum in einen Konzertsaal. Zwei Tänzerinnen schwebten auf dem Bildschirm über eine riesige Bühne, die in ein warmes Orange getaucht war.

Katta hörte auf zu pfeifen und blieb auf der untersten Treppenstufe stehen. Die Szene wirkte wie die Fotografie in einem Modemagazin, schoss es ihr durch den Kopf: die samtig graue Hose, die sich um die schlanken Beine ihrer Mutter schmiegte, der weiße Pullover, der ihre schmale Figur umhüllte. Dazu die kastanienroten Haare, zu einem Dutt aufgesteckt, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Zu schade, dass sie die Haare immer so streng nach hinten kämmt, dachte Katta wieder einmal und wuschelte sich gedankenverloren eine Haarsträhne um den Finger. Eine alte Gewohnheit, wenn sie nervös war oder ihren Gedanken nachhing. Katta hatte zwar die gleiche rote Mähne wie ihre Mutter, bei ihr fielen die Haare allerdings glatt und seidig auf die Schultern. Auch sonst gab es einige Unterschiede zwischen Mutter und Tochter. Ida war groß, sehr dünn und hatte ein Gesicht, das jeden Betrachter sofort an eine dieser Sammlerpuppen aus Porzellan erinnerte, die vor allem bei älteren Leuten zur Zierde auf Sofakissen oder Fensterbänken sitzen: Schmollmund, große, dunkelbraune Murmelaugen, kleine Nase. Sich selbst fand Katta dagegen völlig durchschnittlich, mittelhübsch, mittelgroß und schlank, aber keineswegs dünn, und ihr leicht gebräuntes Gesicht war voller Sommersprossen.

Katta hielt ihre Hände trichterförmig vor den Mund und brüllte gegen die Musik an: »He, Vögelchen, gibt es in diesem Haus auch etwas zu essen, oder ernährst du dich nur von Körnerfutter?«

»Katta, na endlich!« Ihre Mutter drehte sich um und lächelte. »Ich habe schon gedacht, du willst gar nicht mehr aufstehen. Schau mal, meine Kollegen haben mir einen Mitschnitt von den Proben für ihr neues Stück geschickt. Ich könnte vor Neid platzen!«

Katta seufzte. »Deine Exkollegen, Mum, du bist keine Tänzerin mehr. Kannst du nicht mal damit aufhören, dir ständig diese Filme anzutun?«

Ida sah ihre Tochter irritiert an. »Ich kann nicht damit aufhören. Das Tanzen, die Musik, das ist meine Welt. Auch du wirst bestimmt nie aufhören zu malen, Katta. Eine echte Leidenschaft steckt in einem drin, lässt einen nie mehr los, niemals!«

»Ach, Mum! Ich will doch nur, dass du nicht immer so traurig bist, weil du nicht mehr auftrittst.«

Bis zu Kattas Geburt war Ida Voss eine bekannte Balletttänzerin gewesen, hatte auf großen Bühnen getanzt und mit den besten Choreografen gearbeitet. Bei einer Premierenfeier hatte sie Kattas Vater kennengelernt, Gregor Voss, Kunstliebhaber und Besitzer eines großen Sanitär-Betriebes. Die bildhübsche Ida und der smarte Gregor, die beiden waren ein Traumpaar, und schon nach einem halben Jahr feierten sie Hochzeit. Kurze Zeit später, Katta war gerade zur Welt gekommen, ging das Ensemble ihrer Mutter auf große Tournee, doch Ida war nicht mehr dabei. Der Leiter der Truppe hatte ihr telefonisch zu verstehen gegeben, dass sich Kind und Karriere nicht vereinbaren ließen. Ida war am Boden zerstört.

Gregor hatte sofort versucht, seiner Frau andere Engagements zu vermitteln, auf Bühnen in der näheren Umgebung. Aber das hatte Ida mit Hinweis auf ihre frühere Bedeutung abgelehnt. Seitdem war sie nicht mehr aufgetreten.

Jetzt packte sie energisch die Fernbedienung und drückte auf die Pausentaste. »Ist schon okay, ich habe ja jetzt zumindest mein Häkelkränzchen, wie dein Vater immer so schön sagt.«

Als Katta zwölf war und ihrer Mutter so langsam vor Langeweile die Decke auf den Kopf fiel, nahm sie für ein paar Stunden in der Woche einen Job als Handarbeitslehrerin an einer Privatschule an, die von einer Freundin geleitet wurde. Ihr Mann freute sich über diese neue Beschäftigung, wenn er sie auch nicht ganz ernst nehmen konnte. Von nun an stellte er seine Frau jedem Gast als seine Strickliesel vor, und er konnte es auch nicht lassen, sie ständig mit kleinen Bemerkungen über ihre Arbeit aufzuziehen.

Ida hielt einen halb fertig gestrickten Pullover in Taubenblau in die Höhe. »Gefällt er dir?«

Katta verdrehte die Augen. »Boah, mal ganz im Ernst, Mum, warum muss ich eigentlich immer wie ein Baby rumlaufen? In Rosa, Himmelblau oder Mintgrün? Geht es nicht mal in Grau, damit fällt man wenigstens nicht auf. Von meinem nächsten Taschengeld kaufe ich mir eine schwarze Lederjacke und Biker Boots, ich schwör’s!«

»Untersteh dich! Möchtest du etwa, dass die Leute glauben, dir – und ganz nebenbei auch mir – sei es egal, wie du rumläufst?«

Katta öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Aber dann schluckte sie es lieber hinunter. Ihre Mutter würde sowieso nicht verstehen, dass Mode, Schminke, all dieser Klimbim, den Ida täglich betrieb, Katta längst nicht so viel bedeutete. Aber darüber hatten sie schon oft gestritten, das Thema war durch. Zumindest für Katta.

»Was ist denn jetzt mit dem Essen, Mum? Ich hab ein totales Loch im Bauch!«

»Na, jetzt können wir gerade noch abwarten, bis dein Vater kommt. Dann gibt es Abendessen, okay?«

»Meinetwegen.« Katta ließ sich neben ihre Mutter aufs Sofa plumpsen. »Kann ich was mit dir besprechen?«

»Hm, ich würde gerne erst meinen Film fertig sehen. Später ist doch immer noch Zeit, Schätzchen.«

Katta schnaubte. »Nee, dann ist keine Zeit mehr. Es hat mit den Ferien zu tun. Und es muss jetzt entschieden werden, am besten, bevor Papa kommt. Es geht um einen Malkurs, den ich machen könnte, und es ist wichtig!«

»Habe ich da gerade etwas von einem Ferien-Malkurs gehört?« Eine dunkle Stimme unterbrach das gerade begonnene Gespräch. Kattas Vater stand plötzlich neben dem Sofa, wuschelte seiner Tochter sanft übers Haar und hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. »Du weißt doch, dass wir unseren Urlaub wie jedes Jahr in Italien verbringen, Katharina. Ich habe alles schon fest ausgemacht.«

»Das verstehst du nicht, Gregor«, sagte Kattas Mutter, »hier geht es um künstlerische Ambitionen.«

Katta zuckte genervt mit den Schultern, ihr Vater hob die Augenbrauen: »Und ob ich das verstehe, meine liebe Ida. Unser ganzes Leben dreht sich um sogenannte künstlerische Ambitionen. Deine künstlerischen Ambitionen, wohlgemerkt.« Ruckartig band er sich die Krawatte ab, zog das Sakko aus und warf beides auf einen Sessel. »Und jetzt habe ich Hunger. Können wir drei das Ganze beim Essen besprechen?«

Das Letzte, was Katta vernahm, bevor sie in ihr Zimmer flüchtete und die Tür hinter sich zuknallte, war das Klirren von Gläsern und die schrillen Schreie ihrer Mutter. Während des gesamten Abendessens hatten sich ihre Eltern heftig gestritten. Dass Katta den Schulwettbewerb und damit einen Ferienkurs bei dem renommierten Maler Josef Wild gewonnen hatte, war nur der Auslöser für eine Auseinandersetzung, die Katta schon häufig miterlebt hatte und die ihre Eltern immer wieder und ziemlich lautstark führten: Berufung gegen Beruf. Oder – wie Katta es für sich weniger kompliziert ausdrückte – Bauch gegen Kopf. Auch die Worte ihrer Mutter hatte sie bereits tausendmal in immer neuen Variationen gehört, und obwohl sie ihr in manchen Punkten recht gab, nervte Katta es doch, wie übertrieben Ida sich ausdrückte: »Warum kannst du nicht ertragen, wenn jemand für etwas brennt? Deine Tochter ist begabt, sie ist eine Künstlerin wie ich, nun lass sie ihre Leidenschaft doch endlich leben!«

»Was du für unsere Tochter willst, ist eine Zukunft voll bunter Seifenblasen. Was ich für sie will, ist Zufriedenheit«, hatte Kattas Vater geantwortet. Ruhig und beherrscht, obwohl er innerlich schäumte, das erkannte Katta an den roten Flecken an seinem Hals.

Sie war ihrem Vater für seine Worte nicht böse. Er liebte Ballett, Theater, Malerei und gab im Namen seiner Firma viel Geld aus, um Projekte von jungen Künstlern aus dem Umkreis zu fördern, aber er wollte auf keinen Fall, dass seine Tochter sich in dieser schillernden Welt so verlor, wie er es bei seiner Frau empfand.

Mit dem Bild von den Seifenblasen im Kopf zog Katta sich in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür ab. Mit einer Hand griff sie sich ihren iPod aus der Schultasche, mit der anderen setzte sie die Kopfhörer auf und drehte die Musik so laut, dass sie mit Sicherheit alle anderen Geräusche schluckte. Ein weiterer Handgriff, Katta angelte einen Bogen Papier aus der untersten Schreibtischschublade und brachte eilig eine Skizze zu Papier. Zart schillernde Kugeln in sanften Farbnuancen: Vanillegelb, Pistaziengrün, Himmelblau, Flieder und Aprikose. Als Katta fertig war, sah sie ihre Hände an. Sie hatte mit Pastellkreide gemalt, buntes Farbpulver klebte wie das Magnesiumcarbonat, mit dem sie sich beim Geräteturnen im Schulsport die Hände einreiben musste, an ihren Fingerspitzen, unter den Nägeln und auf den Handflächen. Alex’ Bemerkung fiel ihr wieder ein: Ich mag es, wenn ich die Farben so richtig an den Händen spüre, sie mit den Fingern verwischen kann, wenn ich das raue Papier fühle. Dazu sein Grinsen, der Blick aus diesen grünen Augen. Unwillkürlich musste Katta lächeln. Sie lächelte beim Ausziehen, sie lächelte beim Abschrubben der Kreide von ihren Händen, beim Waschen und Zähneputzen. Lächelnd schlief sie schließlich ein.

3. Lichtblau

Feeling blue

Die letzten Tage in der Schule verliefen ereignislos. Katta hatte gehofft, Alex noch einmal zu treffen und ihn damit überraschen zu können, dass sie nun doch nach Goldbach zu Josef Wild fuhr. Vor dem Spiegel hatte sie sogar ein paar Sätze geübt. Ganz beiläufig sollten sie klingen, und dieses Mal wollte sie vorschlagen, ob sie gemeinsam in der Schulkantine etwas trinken und über den Kurs quatschen könnten. Aber Alex war wie vom Erdboden verschwunden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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