Welcome to Hell - Jörg Kroschel - E-Book

Welcome to Hell E-Book

Jörg Kroschel

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Beschreibung

Der Tag, der Hamburg veränderte Am 6. Juli 2017 eskaliert die Situation auf dem G20-Gipfel in Hamburg. Die Polizei sprengt die Demonstration "Welcome to Hell" unter Einsatz von Wasserwerfern, da sich radikale Globalisierungsgegner weigern, ihre Vermummung abzulegen. In der Folge ziehen marodierende Kleingruppen von Autonomen durch St. Pauli und das angrenzende Schanzenviertel und hinterlassen eine Spur der Verwüstung. Tom Herrmanns und Fidel Raul Tietze, zwei Hamburger Abiturienten, befinden sich mitten unter den Demonstranten und erleben die Gewaltexzesse hautnah mit. Sie ahnen nicht, dass ihnen zwei Kidnapper durch das Chaos folgen, vorbei an zerstörten Autos, brennenden Barrikaden und geplünderten Läden. Wer könnte ein Interesse daran haben, zwei mittellose Jugendliche zu entführen? Und was hat Donald Trump mit der ganzen Sache zu tun?

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Seitenzahl: 547

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Jörg Kroschel

Impressum

Text Copyright © 2019 Jörg Kroschel

Umschlagfoto Copyright © 2019 Jörg Kroschel

Selbstverlag

Alle Rechte vorbehalten

Autor

Freitag, 7. Juli 2017, 12.30 Uhr

Luftraum über der Nordsee

Langsam dämmerte Tom wieder in den Wachzustand hinüber. Die Wirkung des Betäubungsmittels schien nachzulassen. Er wusste noch, dass er sich nach dem Pinkeln erbrochen hatte, danach musste er das Bewusstsein verloren haben. Tom ließ die Augen geschlossen. Erst einmal musste er langsam zu sich finden, die Müdigkeit und den Schwindel überwinden.

Sie hatten ihn offenbar tatsächlich in das kleine Flugzeug geschleppt, das er auf der Rasenfläche des Flugplatzes Uelzen gesehen hatte. Aber jetzt bewegte es sich. Der Sitz, auf dem er mehr lag als saß, schwankte sowohl von rechts nach links, als auch von oben nach unten. Er befand sich definitiv in keinem Straßenfahrzeug, das war auch mit geschlossenen Augen eindeutig festzustellen.

Um ihn herum war es laut. Richtig laut. Er hätte nicht gedacht, dass so ein kleines Flugzeug einen solchen Lärm machen konnte. Er war schon mehrfach in Düsenjets geflogen, ganz leise war es dort auch nicht, aber der Lärm im Inneren eines Verkehrsfliegers war nichts im Vergleich zu dem hier.

Vorsichtig wagte er es, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Er hing in dem Gurt nach links, sein Kopf war halb nach unten gerichtet. Er blickte auf den Steuerknüppel des Flugzeugs sowie die Hüfte und die Beine des neben ihm sitzenden Piloten. Auch einen Teil des Armaturenbrettes konnte er aus den Augenwinkeln erkennen. An dem Gürtel des Piloten hing ein mit einem Druckknopf gesichertes Etui, das aussah, als könnte es ein Messer enthalten. Tom befand sich auf dem rechten Platz im Cockpit des kleinen Zweisitzers. Offenbar war es wie im Straßenverkehr, der Pilot saß links, der Passagier rechts.

Den Steuerknüppel, der sich auf einer Konsole zwischen ihm und dem Piloten befand, umfasste eine Hand, eine Männerhand, soviel konnte Tom erkennen. Er wanderte mit dem Blick den Arm des Mannes hinauf und versuchte dabei, den Kopf nicht ruckartig zu bewegen, damit der Pilot möglichst nicht bemerkte, dass er wieder bei Bewusstsein war. Tom erkannte den Piloten. Neben ihm saß derjenige der beiden Entführer, den Jasminka Igor genannt hatte. 

Igor hatte ein Headset auf und sprach jetzt in das kleine Mikrofon, das mit einem Bügel unmittelbar vor seinen Mund gebogen war. Leider konnte Tom nicht verstehen, was Igor sagte, dafür war es viel zu laut in dem Flugzeug. Wahrscheinlich sprach er mit der Stelle, die für die Kontrolle des Luftraums zuständig war, vermutete Tom.

Igor bewegte nun den Steuerknüppel nach links. Das Flugzeug reagierte sofort, es neigte sich zur linken Seite und flog eine weite Kurve. Nach einigen Sekunden richtete Igor das Flugzeug mit einer weiteren Bewegung des Steuerknüppels wieder zurück in den Horizontalflug aus.

Langsam ließ der Schwindel nach und Tom konnte wieder etwas klarer denken. Wie ein Schock drängte sich nun die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass er sich noch immer in Lebensgefahr befand. Was mochte Igor mit ihm vorhaben? Igor, Sergej und Jasminka würden ihn wohl kaum am Leben lassen, da war er sich sicher. Er konnte alle drei beschreiben und kannte ihre Namen. Naja, zumindest ihre Vornamen. Aber das würde doch vermutlich ausreichen, damit die Polizei die drei identifizieren konnte, oder?

Während Tom noch angestrengt darüber nachdachte, was er tun sollte, und dabei immer mehr in Panik verfiel, beugte sich Igor plötzlich über ihn hinweg und öffnete mit einem Handgriff die Tür auf Toms Seite des Flugzeugs. Die Tür klappte nach oben, der Fahrtwind kam mit voller Wucht ins Innere des kleinen Fliegers und der ohnehin schon ohrenbetäubende Lärm multiplizierte sich nochmals.

Bevor Tom wusste, wie ihm geschah, hatte Igor bereits mit einem weiteren Handgriff Toms Sicherheitsgurt geöffnet und versuchte jetzt, ihn nach rechts zur Türöffnung zu schieben. Offenbar wollte er den lästigen Zeugen aus dem Flugzeug werfen. Nun begann Tom sich zu wehren. Er schlug verzweifelt auf Igor ein, als dieser ihn weiter zur Türöffnung drücken wollte. Igor hatte von Tom keine Gegenwehr erwartet, das Betäubungsmittel war stark genug gewesen, um ihn für mehrere Stunden außer Gefecht zu setzen. Nach einem kurzen Moment der Überraschung reagierte Igor aber mit der gewohnten Brutalität. Er schlug mit der Rechten gegen Toms Schläfe und befreite so seinen linken Arm, den Tom sich gegriffen hatte. Für diese Aktion musste Igor allerdings den Steuerknüppel loslassen. Das Flugzeug begann leicht zu schlingern und neigte sich nach rechts. Igor versetzte Tom mit beiden Händen einen heftigen Stoß, so dass dieser von seinem Sitz zur Türöffnung rutschte. Im letzten Moment, er war schon fast draußen, gelang es Tom, mit der linken Hand den Gurt zu fassen, mit dem Igor sich angeschnallt hatte.

Das Flugzeug war jetzt deutlich nach rechts geneigt, Tom lag quer über dem rechten Sitz, auf dem er zuvor gesessen hatte, mit einer Hand den Sicherheitsgurt des links sitzenden Piloten festhaltend. Toms Beine hingen aus der Türöffnung hinaus ins Freie, der Fahrtwind zerrte an seinen Beinen. Igor drückte gegen seinen Kopf und versuchte, Tom aus der offenen Tür hinauszuschieben. Der Fahrtwind unterstützte Igor dabei, indem er Tom aus dem Flugzeug zog. Dazu der ohrenbetäubende Lärm von Motor und Fahrtwind.

Mittlerweile hatte Tom auch den zweiten Arm hinter Igors Sicherheitsgurt geschoben und seine Arme dort verschränkt. Igor ließ einen Moment von Tom ab und verstärkte den Querruderausschlag mit dem Steuerknüppel, so dass sich die Rechtsneigung des Flugzeugs noch weiter erhöhte. Es flog nun eine extreme Rechtskurve, der Winkel zwischen Tragfläche und Horizont betrug beinahe 60 Grad. Tom hatte aufgrund der starken Querneigung keine Berührung mehr mit dem Copilotensitz, er hing frei schwebend mit den Beinen voran aus dem schräg fliegenden Flugzeug hinaus. Der Fahrtwind, der an seinen Beinen zerrte, schlug seine Hüfte gegen den Türrahmen. Zudem flog das Flugzeug aufgrund der rechtslastigen Gewichtsverteilung nun keinen sauberen Kurvenflug mehr, sondern sackte in der Kurve deutlich spürbar nach unten ab. Die heftige Abwärtsbeschleunigung erzeugte bei Tom ein ähnliches Gefühl im Magen wie auf einer Achterbahn. Krampfhaft hielt er seine Arme hinter Igors Gurt verschränkt. Ein kurzer Blick nach unten zeigte ihm, dass sie sich in vielleicht zwei oder drei Kilometern Höhe über dem offenen Meer befanden. Wenn er hier hinunterstürzte, würde er für immer vom Wasser verschlungen werden. Besser konnte man sich eines lästigen Zeugen nicht entledigen.

Igor begann jetzt wieder damit, Toms Kopf mit Schlägen zu bearbeiten, um ihn zu zwingen, den Gurt loszulassen. Tom versuchte, den Schlägen auszuweichen, was aber in seiner Position nur schwer möglich war. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, das Adrenalin tat seine Wirkung. Trotz der heftigen Schläge gegen seinen Kopf verspürte er kaum Schmerzen. Er musste jetzt irgendwie handeln, und zwar sehr schnell. Lange würde er sich in dieser Stellung nicht mehr halten können.

Erneut fiel Toms Blick auf das Etui an Igors Gürtel. Er zog einen Arm hinter Igors Sicherheitsgurt hervor. Igor erkannte, dass Toms Position damit geschwächt war und versuchte, Toms anderen Arm aus dem Gurt zu ziehen. Tom öffnete nun mit der freien Hand den Druckknopf des Etuis. Blitzschnell hob er die Lasche an und atmete auf. Es war tatsächlich ein Messeretui. Tom zog das Messer heraus. Er drückte den seitlichen Knopf am Messergriff, worauf eine zehn Zentimeter lange Klinge hervorsprang.

Nun hatte auch Igor die Bedrohung erkannt. Er ließ Toms andere Hand, die hinter den Sicherheitsgurt geschoben war, los und versuchte, den Messergriff zu fassen. Da er sich dabei zu dem aus dem Flugzeug hängenden Tom nach rechts beugen musste, verstärkte sich die Querneigung des Flugzeugs weiter, mittlerweile waren die 60 Grad Neigungswinkel deutlich überschritten. Das Flugzeug sackte im Kurvenflug immer stärker nach unten ab, es hatte schon erheblich an Höhe verloren, die Wasseroberfläche kam rasend schnell näher.

Igor und Tom kämpften verzweifelt um das Messer. Zugleich musste Igor sich um das Flugzeug kümmern, das kurz davor war, unkontrolliert abzusacken. Igor griff mit der linken Hand nach dem Steuerknüppel, um die Querneigung wieder auf etwas weniger als 60 Grad zu verringern. Mit der Rechten hielt er weiterhin Toms Hand gepackt, in der sich das Messer befand. Da Igor zugleich mit der Linken den Steuerknüppel bedienen musste, ließ seine Konzentration auf das Messer für einen Moment nach. Tom nutzte diesen kurzen Augenblick, um seine Hand, die das Messer hielt, mit einer ruckartigen Bewegung zu befreien und dem Russen das Messer in die Seite zu rammen.

Für einen winzigen Moment schien die Zeit still zu stehen. Igor blickte ungläubig auf Tom herab, der immer noch unter ihm hing, mit einem Arm in Igors Sicherheitsgurt verschränkt. Dann löste sich Igors Hand wie in Zeitlupe vom Steuerknüppel. Das Leben erlosch aus seinen Augen, sein Kopf fiel zur Seite herab. Sein ganzer Körper rutschte nach rechts unten, wodurch sich die Querneigung des Flugzeugs erneut gefährlich erhöhte.

Tom hing immer noch mit den Füßen voran aus dem quergeneigten Flugzeug heraus. Das Flugzeug sackte weiter nach unten ab, die Meeresoberfläche war nur noch wenige hundert Meter unter ihm und kam näher.

Während er sich weiterhin mit der Linken an Igors Gurt festhielt, drückte Tom mit der rechten Hand den Steuerknüppel, der sich auf der Mittelkonsole zwischen ihm und Igor befand, nach links. Zunächst spürte er kaum eine Wirkung. Er drückte den Knüppel weiter nach links und ganz langsam hob sich die rechte Tragfläche wieder, die Querneigung reduzierte sich. Mit dem Beenden der Rechtskurve hörte das Flugzeug auch auf, in der Kurve nach innen wegzusacken. Der Flug stabilisierte sich, das Flugzeug verlor nicht weiter an Höhe. Es befand sich jetzt vielleicht noch zweihundert Meter über dem Meer.

Tom zog sich langsam wieder in das Flugzeug hinein und verschnaufte einen Augenblick. Vermutlich hatte er sich nur retten können, da er sich kurz nach dem Schlucken des Betäubungsmittels auf dem Flugplatz übergeben hatte. Den größten Teil des Giftes musste er so wieder ausgespuckt haben. Die Wirkung hatte daher wohl nicht so lange angehalten, wie dies von den Entführern geplant worden war.

Andererseits konnte von einer Rettung keine Rede sein. Nüchtern betrachtet hatte sich seine Situation kaum verbessert. Er saß jetzt auf dem Copilotensitz eines kleinen Zweisitzers, neben ihm der tote Pilot, und er hatte keine Ahnung, wie das Flugzeug zu steuern war. Geschweige denn, wie er es landen sollte.

ZWEI TAGE ZUVOR

Mittwoch, 5. Juli 2017, 22.15 Uhr

Kneipe im Hamburger Schanzenviertel

„Scheiß Bullen – All Cops are Bastards!”

Fidel Raul Tietze brachte sich langsam in die erforderliche Stimmung für die bevorstehenden Tage mit den unausweichlichen Konfrontationen mit der Polizei. Und irgendwie freute er sich darauf. Mal so richtig die Sau rauslassen, im Schwarzen Block unerkannt mitlaufen und ungehemmt drauf los prügeln auf diese Polizistenschweine, und das für eine zweifellos richtige Sache. Mit gutem Gewissen. Das war das Schöne am Fanatismus. Wenn man sich einmal festgelegt hatte, was gut und was böse war in dieser Welt, dann konnte man seinen ureigenen Instinkten und Gewaltfantasien völlig freien Lauf lassen. Alles war gerechtfertigt. Vielleicht war es ja genau das, was den fundamentalen Islamismus so attraktiv für deutsche Konvertiten machte. Wenn man sich einmal dafür entschieden hatte, dass Gott den heiligen Krieg guthieß, dann konnte man töten und vergewaltigen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Schlimmstenfalls kam man selbst zu Tode, aber die 72 Jungfrauen im Paradies entschädigten doch für einiges. Und bei ihm war es eben nicht die Religion, sondern der Hass auf diese Kapitalistenärsche und alle, die das System aufrechterhielten. Ein paar Bier noch, ein Joint natürlich, und ein Abend voller anregender Diskussionen über den internationalen Kapitalismus, diese hinterfotzigen Spekulanten, die mit ihrer Geldgier die Armen dieser Welt versklavten und ausbeuteten und das Übel waren, das es auszutilgen galt. Dann hätte er sich in die richtige Stimmung hineingesteigert.

„Das wird eine Demo, wie es sie in Hamburg noch nie gegeben hat. Ach was, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat. Das wird die Anti-AKW-Bewegung, und selbst die 68er-Demos weit in den Schatten stellen. Die Welt wird sehen, dass es so nicht weitergehen kann.“ Tom Herrmanns vertrat in der Sache weitgehend dieselben Ansichten wie sein Freund, allerdings würde er wohl nicht in der ersten Reihe der Autonomen mitlaufen, sondern sich eher im Hintergrund halten. Gewalt war nicht seine Sache, er setzte auf gewaltfreien Widerstand gegen die Staatsmacht.

Fidel Raul Tietze und Tom Herrmanns saßen an einem kleinen Tisch im hinteren Bereich einer Szenekneipe im Hamburger Schanzenviertel. Sie waren achtzehn bzw. neunzehn, beide aus Hamburg, kannten sich aus der Schule und hatten vor wenigen Monaten gemeinsam das Abitur bestanden. Tom würde im Herbst ein freiwilliges soziales Jahr in der Entwicklungshilfe in Afrika beginnen, Raul war sich noch nicht sicher, er wollte studieren, irgendwas im sozialen Bereich, Psychologie, Soziologie oder Sozialarbeit zum Beispiel. Vielleicht auch Betriebswirtschaft, oder besser noch Volkswirtschaft, um den Feind genauer kennen zu lernen und ihn dann von innen heraus besser zersetzen und bekämpfen zu können. Mit den eigenen Waffen schlagen sozusagen. Naja, zu Ende überlegt hatte er das noch nicht.

Tom trug ein einfarbiges schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans, Raul eine Bluejeans und ein langärmeliges schwarzes Sweatshirt, auf das vorne eine große, krumme, gelb-schwarze Banane aufgedruckt war. Nur echte Fans erkannten darin heute noch die Andy-Warhol-Banane, die dieser als Cover für das Debütalbum der Band The Velvet Underground 1966 entworfen hatte.

Beide trugen einen blonden Vollbart, so dass man sie trotz der unterschiedlichen Figur durchaus miteinander verwechseln konnte, wenn man sie von weitem sah.

Tom und Raul wohnten im Schanzenviertel, nur ein paar Blocks von der Kneipe entfernt. Es war kurz nach 22 Uhr, die Kneipe füllte sich langsam, überwiegend mit jungen Burschen unter 25. Der bevorstehende G20-Gipfel hatte aber auch ältere Globalisierungsgegner nach Hamburg gespült, nach dem Äußeren zu urteilen offenbar Grüne und Alternative aus der Anti-AKW-Bewegung, viele davon waren über fünfzig. Beide Gruppen ließen sich optisch nicht nur auf Grund des deutlich unterschiedlichen Alters auseinanderhalten. Die Jüngeren waren fast ausschließlich dunkel gekleidet, das gehörte sich für den Schwarzen Block schließlich so, viele mit Tattoos oder Piercings; die Älteren in lässiger Kleidung, oder was sie dafür hielten. Abgenutzte Jeans, nicht allzu eng, und karierte Leinenhemden, ordentlich gebügelt, das war der typische Look. Gar nicht ganz billig, sich alternativ zu kleiden und sich so von dem Banker, Wirtschaftsprüfer oder anderem Schlipsträger abzugrenzen. Was der eine oder andere nun zufällig auch war, im wirklichen Leben.

Dazu zwei Männer vielleicht Ende vierzig oder Anfang fünfzig, die so gar nicht hierher passen wollten. Beide hatten die Örtlichkeit unmittelbar nach Tom und Raul betreten und sich einen Platz an der Theke gesichert, von dem aus sie den Tisch der beiden Jungen unauffällig im Blick behalten konnten. Kantiges Gesicht, kahler Schädel, schwarzes Jackett über weißem T-Shirt, beinahe wie Zwillinge, nur dass der eine etwas größer war als der andere. Sie sahen aus wie der Prototyp osteuropäischer Geldeintreiber. Eine Einschätzung, mit der man gar nicht so ganz weit danebenliegen würde.

„Morgen werden wir die Bullen mal ordentlich durch die Mangel drehen!“, wiederholte Raul sich. Zwar hatten ihm seine ebenfalls sozialistisch eingestellten Eltern den schönen Doppelnamen Fidel Raul gegeben, zu Ehren des kubanischen Präsidenten sowie seines Bruders, der ihm später auf den Präsidentenstuhl folgen sollte. Bereits in der Grundschule hatte man sich dann aber auf Raul als Rufnamen geeinigt, da Fidel doch als etwas zu provokant wahrgenommen und von einem Heranwachsenden eher als Belastung empfunden werden könnte. Nur wenige gute Freunde wussten von dem ersten Vornamen.

„Die werden noch lange an diesen Tag denken“, pflichtete Tom ihm etwas unspezifischer bei. Ihm schwante nichts Gutes, wenn er beobachtete, wie sein Freund, aber auch viele andere Linke und Autonome im Schanzenviertel, ihrem Hass gegen die Polizei und das Establishment in den Tagen vor dem Gipfel freien Lauf ließen und sich so in eine unglaubliche Gewaltbereitschaft hineinsteigerten. Und wie viele Autonome in den letzten zwei bis drei Tagen in Hamburg angekommen waren! Er selbst hatte in den vergangenen beiden Tagen mit G20-Touristen aus Leipzig und Berlin, aber auch aus Italien, Tschechien, Österreich und Griechenland gesprochen. Ein bunt gemischter Haufen – sozusagen – auch wenn sie morgen überwiegend in schwarz antreten würden. Da gab es zum einen die Überzeugungstäter, echte Globalisierungsgegner, die nicht bloß wegen der zu erwartenden Gewaltexzesse gekommen waren, aber Gewalt als legitimes Mittel zum Widerstand gegen die Staatsmacht ansahen. Und dann diejenigen, die zwar auch betonen würden, gegen Kapitalismus und Globalisierung zu sein, aber die bei näherer Betrachtung wohl weniger an Ideologien interessiert waren als an Krawall, Straßenschlachten und Bullenjagen. Kriegstouristen könnte man sagen. Und vor diesen grauste es Tom dann doch. Welche Gruppe die Mehrheit stellte, konnte Tom nicht genau einschätzen, wahrscheinlich schon erstere. Aber die zweite Gruppe war sicher gefährlicher, und die Grenzen waren ja auch fließend.

„Unser entscheidender Vorteil gegenüber den Bullen ist, dass die nur reagieren können“, sagte Raul. „Wir bestimmen, wann und wo es losgeht, wir können uns den richtigen Zeitpunkt aussuchen. Wir schlagen zu, wenn wir in Überzahl sind und die Schweine fertigmachen können.“

„Die Polizei ist mit einem riesigen Aufgebot in Hamburg“, warf Tom ein. Die aufgeladene Rhetorik seines Freundes gefiel ihm gar nicht. „Die sind aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengezogen worden. Ich habe heute schon Polizeiwagen aus Berlin und Nordrhein-Westfalen durch Hamburg fahren sehen. Insgesamt sollen 19.000 Polizisten zum G20-Gipfel hier sein, da werden wir wohl kaum jemals in der Überzahl sein.“ Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob er wir oder ihr sagen sollte, wenn er von dem gewaltbereiten Block sprach, hatte sich dann aber doch für das wir entschieden, schließlich wollte er die Freundschaft mit Raul nicht aufs Spiel setzen.

„Aber die können nicht überall gleichzeitig sein. Wenn wir an verschiedenen Stellen Randale machen, zwingen wir die, sich aufzuteilen. Dann können wir kleine Gruppen isolierter Polizisten an den Stellen angreifen, wo sie in der Minderheit sind.“ Die Vorfreude war Raul deutlich anzumerken. „Die mach ich mit bloßen Händen fertig.“

Hände, das war so ein Punkt. Raul war mit fast 1,90 m etwas größer als sein Freund. Allerdings hatte er für seine Körpergröße auffallend kleine Hände, die schon oft Anlass für Spott waren. Schließlich war das Netz da sehr eindeutig: wenn die Hände klein sind, dann ist etwas Anderes auch eher klein. Worauf er sich bei solchen Spötteleien reflexartig genötigt sah zu betonen, dass es an dieser Stelle überhaupt kein Problem gebe. Vermutlich war das der Grund dafür, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Kraft seiner Hände anpries.

„Und ein zweiter wichtiger Vorteil für uns ist, dass die mehr riskieren als wir“, fuhr Raul fort.

„Was riskieren die denn?“, warf Tom ein. „Die Polizei ist top ausgerüstet. Körperpanzer, Schutzwesten, Helme, verstärkte Handschuhe. Flammenabweisende Unterwäsche, Sicherheitsschuhe, Genitalschutz. Da riskierst du im Schwarzen Block deutlich mehr; du hast keine entsprechende Ausrüstung.“

„Naja, ob die Ausrüstung echt ein Vorteil ist, weiß ich nicht. Die schleppen locker zwanzig zusätzliche Kilo mit sich rum, zwei Kästen Bier sozusagen. Wenn der Einsatz über mehrere Stunden geht, kann sich das auch als Nachteil erweisen.“ Raul war da entspannt.

„Aber das meinte ich auch gar nicht, als ich gesagt habe, dass die ein größeres Risiko haben. Wenn ein Bulle Fehler macht, vielleicht zu brutal auf einen Demonstranten einschlägt, und das gefilmt wird, dann riskiert er seinen Job. Selbst wenn er angegriffen wurde und sich nur verteidigt. Er muss immer damit rechnen, dass nur die Filmsequenz mit seiner Prügelei an die Öffentlichkeit kommt. Sicherer Beamtenjob futsch, Pension futsch, und bei dem was er gelernt hat, kann er höchstens noch für einen Hungerlohn bei einem privaten Sicherheitsdienst anheuern. Und das Schöne ist, er kann in unserem Staat nicht einmal damit rechnen, dass sich die Politiker hinter ihn stellen und aus der Schusslinie nehmen.“

„Aber du riskierst Gefängnis, das ist auch kein Zuckerschlecken“, warf Tom ein.

„Quatsch, als Ersttäter unter 21 riskiere ich allenfalls ein paar Sozialstunden. Selbst beim zweiten oder dritten Mal stecken die mich noch nicht in den Bau, allenfalls mal ein paar Monate Bewährungsstrafe, wenn es richtig krass war. Und dafür müssten sie mich auch erst zwei- oder dreimal erwischen.“

„Aber dann wäre es ja doch eine Freiheitsstrafe, wenn auch nur zur Bewährung.“

„Ganz ehrlich, den Unterschied zwischen Freiheitsstrafe zur Bewährung und Freispruch habe ich nie so ganz begriffen“, höhnte Raul. „Für mich ist das praktisch das Gleiche. Sobald ich zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt werde, muss ich mich für die Zukunft einschränken, klar. Knast würde ich nicht riskieren. Aber solange ich nicht erwischt werde, kann ich rumprügeln wie ich will. Solange ich nicht tatsächlich einen Polizisten totschlage, gibt es schlimmstenfalls eine Bewährungsstrafe, also quasi einen Freispruch. Danach muss ich natürlich vorsichtig sein, aber einmal erwischt zu werden hab ich auf jeden Fall frei.“

„Außer du möchtest dich für den öffentlichen Dienst bewerben, da versaust du dir dein Führungszeugnis.“

Tom Herrmanns gab einen prima Sparringspartner ab, das hatte Raul schon immer gefunden. Halbherzige Einwände, die man schnell wegwischen konnte.

„Mein lieber Tom, ich bekämpfe das System, da werde ich mich bestimmt nicht für einen Job im System bewerben wollen. Als was denn wohl, Polizist vielleicht?“ Ja, das hatte wirklich gesessen, fand Raul.

„Erinnerst du dich an den Postmanager, wie hieß der noch gleich?“, setzte Raul fort.

„Klaus Zumwinkel.“

„Genau. Der hat eine runde Million an Steuern hinterzogen und dafür eine Freiheitsstrafe mit Bewährung erhalten. Statt im Gefängnis zu sitzen, lebt er jetzt am Gardasee und genießt seinen Reichtum. Was glaubst du, hat er zu sich selbst nach der Verurteilung gesagt: Juhu, nicht in den Knast oder Mist, jetzt bin ich doch tatsächlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden?“

Tom antwortete nicht, es lag ja auf der Hand.

„Und wenn die Kapitalisten von unserer laschen Strafjustiz profitieren, warum dann nicht auch wir?“

Raul war jetzt richtig in Fahrt. „Ich kann tun, was ich will. Ich bin Gott. Ich kann jeder Polizistenfotze zwischen die Beine fassen, ohne dass mir irgendwas passiert. Und ich wette, nicht eine würde sich überhaupt dagegen wehren…“

Mittwoch, 5. Juli 2017, 22.30 Uhr

Luftraum über Warschau

Die Maschine hatte bereits die Reiseflughöhe verlassen und den Anflug auf den Frédéric-Chopin-Flughafen in Warschau begonnen. Es war nach 22 Uhr Ortszeit am Mittwochabend, sie waren am Vormittag in Washington gestartet. Donald Trump konnte in Flugzeugen generell nicht gut schlafen und war auch diesmal nur ein- oder zweimal kurz eingenickt. Nun saß er an seinem Schreibtisch in der Air Force One, blickte bisweilen gelangweilt auf die wenigen Lichter der Warschauer Peripherie unter ihm und versuchte, sich auf seine bevorstehende Rede zu fokussieren, die er in der polnischen Hauptstadt halten wollte. Seine Konzentrationsfähigkeit hatte in den letzten Tagen wieder etwas nachgelassen, es musste wohl mit der Erkrankung zusammenhängen, die seine Ärzte vor einigen Monaten diagnostiziert hatten und an die er nun immer häufiger erinnert wurde, besonders beim Wasserlassen{1}.

Er hatte bewusst Warschau als erste Station seiner Europareise auf dem Weg zum G20-Gipfel in Hamburg ausgewählt, zum einen um die polnische Regierung für ihre Trump-freundliche Politik zu hofieren, und zum anderen, und das war eigentlich der wichtigere Punkt, um die Regierungen des Alten Europa, Deutschland und Frankreich insbesondere, mal auf den Teppich zurückzuholen und daran zu erinnern, dass sie nicht der Mittelpunkt der westlichen Welt waren.

In seiner Rede würde er sich zur Beistandsverpflichtung in der NATO bekennen. Von vielen Kritikern wurde ein solches Bekenntnis längst für überfällig gehalten, und auch ihm war klar, dass er ein solch wichtiges Bündnis trotz all seiner berechtigten Kritik an dem Verfehlen des Militärbudgetzieles einiger Verbündeter nicht völlig vor den Kopf stoßen konnte, wenn es weiter von den USA dominiert und kontrolliert werden sollte. Aber er würde der Welt, und das hieß erneut natürlich insbesondere den Old-Europe-Staaten, schon ordentlich ins Gewissen reden, er würde warnen vor den Gefahren des internationalen Terrorismus, aber eben auch vor den Gefahren, die aus dem Inneren kommen, und die darin bestehen, dass der Westen immer mehr seine Werte und Traditionen vergisst. Veranschaulichen würde er dies mit einem Vergleich der Situation des Westens mit jener der Aufständischen des Warschauer Ghettos von 1944. Ihm war schon klar, dass viele dies als unangemessen und geschmacklos ansehen würden, aber wenn er etwas hasste, dann diese alberne politische Korrektheit, die Journalisten generell von Politikern einforderten, wenn sie nicht von diesen Schreibtischtätern verbal in der Luft zerrissen werden wollten. Dem würde er sich nicht beugen. Überhaupt, Journalisten – da bewunderte er seine polnischen Gastgeber schon ein wenig. Mit einem Doppelschlag, der ihn trotz des etwas anderen Inhaltes durchaus an das Ermächtigungsgesetz der Nazis erinnerte – ein Vergleich, den er aber mit Rücksicht auf seine polnischen Freunde natürlich nicht öffentlich aussprechen würde – hatten die Polen zuerst die Journaille und, so alles planmäßig verlaufen würde, bald auch noch die Justiz weitgehend kaltgestellt. Andererseits war er schon Demokrat genug – nein, das nun auch wieder nicht, demokratisch genug, hier sollte man lieber das Adjektiv und nicht das Substantiv verwenden – um journalistische Meinungsfreiheit und eine freie Justiz zu schätzen. Er hatte nichts prinzipiell gegen linke Journalisten – wenn es nur auch andere gäbe. Dann könnte sich eben jeder die Nachrichtenquelle aussuchen, mit der er sich einigermaßen identifizierte, und die Welt wäre in Ordnung. Das Problem mit den Journalisten war aber, dass dies offenbar samt und sonders linke Schreiberlinge waren, die ihm den offenen Kampf angesagt hatten, so dass von einer fairen und ausgewogenen Berichterstattung längst keine Rede mehr sein konnte. Und er konnte nicht, wie die polnische Regierung, mal eben ein Gesetz durchs Parlament bringen, das ihn ermächtigte – wieder dieses Wort –, die Chefs der wichtigsten Fernsehsender des Landes in die Wüste zu schicken und durch eigene Leute zu ersetzen.

Und die Justiz: natürlich war Gewaltenteilung ein hohes Gut, natürlich war jeder Politiker, auch er selbst, an die Verfassung gebunden, und er schätzte die amerikanische Verfassung ganz außerordentlich – insbesondere das liberale Waffenrecht, aber wir wollen jetzt nicht abschweifen – die Richterschaft sollte sich aber auf ihre Aufgaben beschränken und nicht selber Politik machen wollen. Dazu war er, Donald Trump, gewählt worden, dazu hatte er die demokratische Legitimation, nicht irgend so ein dahergelaufener Bundesrichter aus Hawaii, der meinte, seine Einreisebeschränkungen für Muslime kassieren zu können.

Man kam schon in Rage, wenn man daran dachte. Aber nun sollte er sich doch wieder auf den bevorstehenden Besuch in Polen konzentrieren, die Maschine würde in wenigen Minuten landen. Sein Protokollchef hatte ihm ein Foto der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydło gereicht, damit er sie bei der Begrüßung am Flughafen nicht versehentlich mit der Ehefrau des Präsidenten verwechseln würde. Rundes Gesicht – typisch polnisch, vom Aussehen her könnte sie durchaus die jüngere Schwester von Jarosław Kaczyński sein –, etwas zu klein für seinen Geschmack allerdings, und zu dicke Beine. Bloß eine Marionette des Parteichefs Kaczyński, hatte man ihm gesagt. Nicht das gleiche Kaliber wie seine Gastgeberin übermorgen auf dem G20-Gipfel in Hamburg, aber daran wollte er jetzt noch nicht denken. Nun wollte er sich erst einmal bei Freunden feiern lassen. Hatte er als Präsident auch noch nicht so oft.

Mittwoch, 5. Juli 2017, 22.45 Uhr

Kneipe im Hamburger Schanzenviertel

Kaum war es raus, da bereute Raul auch schon, so einen Unsinn gesagt zu haben. Tatsächlich passierte es ihm viel zu oft, dass er sich so richtig schön in etwas hineingesteigert hatte, und dann mit irgendeinem dummen Macho-Spruch deutlich über das Ziel hinausschoss.

Besonders peinlich war es ihm, da die junge Frau vom Nachbartisch nun zu ihm hinüberblickte. Offenbar hatte sie einiges von ihrem Gespräch mitbekommen, sie waren schließlich nicht allzu leise gewesen. Die Frau erhob sich mit einem Bier in der Hand und schlenderte zu ihnen hinüber, kritisch beäugt von den beiden Geldeintreibertypen an der Theke, die immer wieder verstohlen zu Raul und Tom hinüberblickten. Dass sich jetzt eine weitere Person zu den beiden setzte, war ihnen scheinbar nicht so ganz recht.

Die Frau war etwas älter als Tom und Raul, vielleicht Ende zwanzig. Kurze dunkle Haare, athletischer Körper. Neutral gekleidet, Jeans und einfaches helles T-Shirt, keine sichtbaren Tattoos oder Piercings, was an diesem Ort fast schon konservativ wirkte. Auch ansonsten passte sie irgendwie nicht ganz hierher, sie strahlte zu sehr Mainstream aus, selbstbewusst, aber angepasst. Kein etwas verträumter links-alternativer Charme, wie bei den meisten anderen Frauen in der Kneipe.

„Ich bin Julia“, sagte sie und gab den beiden etwas verblüfften, aber dennoch ob des unerwarteten Zuwachses erfreuten Revoluzzern die Hand. „Darf ich mich zu euch setzen?“ Offenbar war sie nicht aufgebracht wegen Rauls letzter Bemerkung. Vielleicht hatte sie es ja auch gar nicht so genau verstanden. 

„Gerne. Ich bin Tom.“

„Fidel Raul.“ Er wusste selbst nicht genau, wieso er ihr auch seinen ersten Vornamen genannt hatte, den er normalerweise nicht verwendete. Vermutlich lag es irgendwie an ihrer konservativen Ausstrahlung, die einen Protestimpuls in ihm ausgelöst hatte. Sowie an der Tatsache, dass er sie wahrscheinlich ohnehin nach diesem Abend nicht wiedersehen würde.

„Fidel? Wie der kubanische Revolutionsführer?“, fragte sie verblüfft.

„Ja, tatsächlich, jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf.“

„Heißt du wirklich so?“ Sie ging auf seine ironische Erwiderung nicht ein.

„Steht so in meinem Ausweis“, antwortete er nun doch ein wenig stolz. „Raul ist aber mein Rufname.“ Mist, das war ihm rausgerutscht, damit hatte er den Revoluzzer-Charme wieder ein wenig aus der Hand gegeben.

Fidel Raul Tietze war 1999 als Sohn eines Deutschen und einer Kubanerin in Berlin geboren worden. Ein Jahr später verabschiedete sich das Paar aus dem kapitalistischen Deutschland und zog zusammen mit dem kleinen Fidel Raul nach Kuba, ins sozialistische Paradies des Fidel Castro. Zu diesem Zeitpunkt war die Wirtschaftskrise Kubas, die nach dem Wegfall der finanziellen Unterstützung durch die zusammengebrochene Sowjetunion zu Beginn der 90er Jahre folgte, weitgehend überwunden. Der Sozialist Hugo Chávez hatte 1998 die Präsidentschaftswahl in Venezuela gewonnen, es kam zu einer zunehmenden Annäherung der beiden Staaten. Hohe Subventionen aus Venezuela führten wieder zu wirtschaftlichem Wachstum in Kuba, das kostenlose Gesundheits- und Bildungssystem konnte schließlich doch aufrechterhalten werden und in der Bevölkerung war wieder eine deutliche Aufbruchstimmung spürbar, die dann auch die Familie Tietze, immer schon Anhänger des kubanischen Präsidenten, ins Land zog. Bereits 2003 hatte die Familie das Experiment aber wieder beendet und war nach Deutschland zurückgekehrt. Fidel Raul hatte nur wenige Erinnerungen an die Zeit in Kuba, allerdings sprach er perfekt spanisch. Nach der offiziellen Version, wie sie Raul berichtet worden war, war die Erkrankung von Rauls Großmutter, der Mutter seines Vaters, der Grund für die Rückkehr gewesen. Dass sich Rauls Vater nach der Rückkehr in den Kapitalismus endlich wieder ein eigenes Auto leisten konnte, wurde in der offiziellen Familienchronik nicht als Begründung für den Umzug zurück nach Deutschland erwähnt.

„Ihr seid gegen den G20-Gipfel, soviel habe ich von eurem Gespräch mitbekommen“, begann Julia. Ihr Bruder Henrik würde sie in der Luft zerreißen, wenn er erführe, dass sie ihre Anonymität aufgegeben und sich zu Tom und Raul an den Tisch gesetzt hatte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Den Unsinn, den sie von den beiden gehört hatte, konnte sie aber nun wirklich nicht ohne Widerspruch so stehen lassen.

„Das versteht sich wohl von selbst“, entgegnete Tom. „Oder siehst du das anders?“

„Naja, der Gipfel ist ein Treffen, bei dem sich demokratisch gewählte Regierungschefs mit anderen demokratisch gewählten Regierungschefs an einen Tisch setzen, über weltpolitisch wichtige Fragen sprechen und nach Lösungen für drängende Probleme suchen. Das kann ja wohl nicht falsch sein.“

„Demokratisch gewählte Regierungschefs?“, fragte Tom. „Sprichst du da von der Türkei, wo die Opposition massiv unterdrückt wird, wo zehntausende Staatsbedienstete wegen angeblicher Unterstützung von Terroristen entlassen werden – ohne rechtsstaatliches Verfahren –, wo ein Pups in die falsche Richtung ausreicht, um für Monate oder Jahre im Gefängnis zu verschwinden? Sprichst du von Russland, wo Demonstranten schikaniert und Journalisten eingeschüchtert werden? Da kann man kaum von fairen und demokratischen Wahlen sprechen, oder? Von Saudi-Arabien und China ganz zu schweigen... Gehören allesamt zu den G20-Staaten.“

„Punkt für dich“, erwiderte Julia, doch ein wenig überrascht, ein so deutliches Demokratiebekenntnis ausgerechnet von einem linken Globalisierungsgegner zu vernehmen. Naja, die Türkei war ja auf dem Weg in eine rechtsextreme Diktatur. Ob Tom wohl für linke Diktaturen, Kuba und ganz aktuell Venezuela unter Maduro zum Beispiel, mit ähnlichem Enthusiasmus demokratische Standards einfordern würde?

„Beispiel Türkei: trotz aller Menschenrechtsverletzungen steht die Bevölkerung offenbar mehrheitlich hinter Erdoğan“, setzte Julia fort. „Und auch Putin, Kaczyński und Orbán erhalten bei Wahlen regelmäßig satte Mehrheiten, obwohl sie jeweils ein sehr eigenes Demokratieverständnis haben. Man hat schon den Eindruck, dass die Demokratie als Staatsform weltweit auf dem Rückzug ist und durch die Staatsform der gewählten Diktatur abgelöst wird. Der Wunsch nach einem starken Mann ist in vielen Staaten so groß, dass die Mehrheit Einschränkungen der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit und anderer Grundrechte hinnimmt, oder vielleicht sogar als Zeichen der Stärke begrüßt. Die Unterdrückung kritischer Stimmen erleichtert es der gewählten Diktatur wiederum, auch die nächsten Wahlen zu gewinnen, so dass trotz aller Menschenrechtsverletzungen stets auf eine demokratische Legitimierung verwiesen werden kann, auch wenn Wahlen, die von Einschränkungen der Pressefreiheit begleitet werden, nicht in unserem Sinne demokratisch sind.“

Julia holte tief Luft und fuhr fort: „Aber dennoch muss man sich mit solchen Machthabern doch an einen Tisch setzen und reden. Den Dialog fortsetzen. Also zurück zum Thema: Was habt ihr gegen den G20-Gipfel?“

„Der neoliberale westliche Kapitalismus beutet die Dritte-Welt-Staaten in Afrika, Lateinamerika und Indochina aus. Der hohe Lebensstandard in Deutschland und anderen westlichen Staaten geht zu Lasten der Schwächeren in der Dritten Welt, das ist alles nur eine Fortsetzung des Kolonialismus“, wetterte Raul. Tom ergänzte: „Finanz- und Rohstoffspekulanten maximieren ihre Gewinne, dadurch steigen die Rohstoffpreise, die dann von den Ärmsten in dieser Welt nicht mehr bezahlt werden können.“

Wieder Raul: „Das ist doch die reine Gier nach immer mehr, ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt. Der Kapitalismus ist unethisch, unmenschlich und unökologisch. Der Kapitalismus muss insgesamt abgeschafft werden, er ist nicht reformierbar.“ Raul hatte sich halb erhoben, und brachte nun seinen ganzen massigen Körper in Stellung, um seiner Aussage das angemessene Gewicht zu verleihen.

„Da bin ich aber ganz anderer Ansicht“, widersprach Julia. „Zunächst einmal: Der Kapitalismus ist zutiefst menschlich. Seien wir doch mal ehrlich: Wir vergleichen unseren Wohlstand, unseren Konsum, unsere letzte Urlaubsreise, doch damit, was Freunde, Bekannte und Nachbarn sich leisten können. Wenn der Nachbar einen schicken 5er BMW fährt…“

„Diesel?“, warf Tom grinsend ein, auf die jüngsten Abgasskandale der Automobilindustrie anspielend. Er fand zwar Julias Aussage über einen menschlichen Kapitalismus völlig unangebracht, ja geradezu gefährlich, noch dazu in dieser Umgebung, aber er mochte Julia und wollte die Schärfe aus der Diskussion nehmen, schon ahnend, wie Raul reagieren würde.

„Jetzt bleib doch mal beim Thema“, wurde Julia etwas ruppig. Ihr war jetzt nicht nach Scherzen zumute. „Wenn der Nachbar einen 5er BMW fährt, der Freund vier Wochen Urlaub in Australien macht oder der eigene Bruder ein schickes Einfamilienhaus erwirbt, dann wollen wir da auch irgendwie mithalten. Wir vergleichen uns mit den Menschen in unserem Umfeld, und wenn wir den Eindruck haben, dass unser Einkommen, unser Konsum, unser Lebensstandard unter dem Durchschnitt liegt, dann sind wir unzufrieden mit uns und der Welt. Selbst wenn wir eigentlich alles Notwendige zum Leben und sogar ein wenig Luxus haben. Selbst wenn wir verglichen mit Menschen in Afrika oder Lateinamerika steinreich sind.“

„Ich weiß noch nicht genau, worauf du hinauswillst, aber ich bin sicher, es gefällt mir nicht“, sagte Raul.

„Worauf ich hinauswill, ist doch klar. Es liegt in der Natur des Menschen, immer mehr zu wollen, den Konsum der anderen übertreffen zu wollen. Wer überdurchschnittlich viel verdient, ist zufrieden; wer ein Einkommen unter dem Durchschnitt hat, ist unzufrieden und beklagt die Ungerechtigkeit in dieser Welt.“

„Schau dir die Situation nach der Wiedervereinigung an“, fuhr Julia fort. „Wie erklärst du dir die Unzufriedenheit vieler Bürger der ehemaligen DDR in den Jahren nach der Wende?“

„Unzufriedenheit, da der Kapitalismus ein Klima sozialer Kälte geschaffen hat, in der nur derjenige weiterkommt, der die Ellbogen benutzt und sich ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzt“, dozierte Tom aus seinem Fundus sozialistischer Rhetorik.

„Mag schon sein, dass viele das so empfunden haben“, konstatierte Julia. „aber ich glaube nicht, dass das die ganze Wahrheit ist. Ich denke, es liegt in erster Linie daran, dass sich viele als Verlierer der Einheit gesehen haben. Zu DDR-Zeiten, im Sozialismus, hatten alle ungefähr gleich viel, ganz grob vereinfacht natürlich, zumindest waren die Unterschiede nicht allzu groß, wenn man von ein paar Parteibonzen absieht. Helmut Kohl hatte zur Wende blühende Landschaften versprochen. In einem gewissen Sinne hat er auch Recht behalten. Zehn Jahre nach der Wende ging es nahezu jedem materiell besser als vor der Wende. Selbst ein Arbeitsloser konsumiert doch heute mehr als ein durchschnittlicher DDR-Bürger 1989, um es mal ganz deutlich zu sagen. Aber anders als zu DDR-Zeiten hat eben nicht jeder gleich viel. Und wer sich heute am unteren Rand der Einkommensverteilung wiederfindet, der ist unzufrieden, da er sich mit den übrigen Menschen in der Gesellschaft vergleicht und erkennen muss, dass er sich vieles nicht leisten kann, was für andere selbstverständlich ist. Obwohl er objektiv mehr Wohlstand hat als zu DDR-Zeiten, fühlt er sich subjektiv ärmer.“

„Der relative Wohlstand ist also viel wichtiger als der absolute Wohlstand, darauf willst du hinaus“, bemerkte Tom, dem Julias Enthusiasmus gefiel.

„Genau“, stimmte Julia zu. „Und das ist doch das Wesen des Kapitalismus. Sich mit den anderen in der Gesellschaft zu vergleichen. Mehr haben zu wollen als die übrigen Mitglieder der Gesellschaft. Danach zu streben, reicher zu sein als andere, ein größeres Auto zu fahren, ein schöneres Haus zu haben. Nicht deshalb zufrieden zu sein, weil mein Auto groß ist, sondern weil es größer ist als das Auto meines Nachbarn, um es auf den Punkt zu bringen. Das ist es doch, was den Menschen antreibt, das ist die menschliche Natur. Um es ganz brutal zu sagen, der Kapitalismus ist die natürliche Wirtschaftsform für eine Kreatur wie den Menschen, der Kapitalismus ist zutiefst menschlich. Der Kommunismus auf der anderen Seite ist widernatürlich, da er der Natur des Menschen widerspricht.“

„Das ist doch alles gequirlte Kacke!“ Das war jetzt wirklich zu viel für Raul. Während Tom nur sprachlos dasaß, und mit ungläubigem Staunen mitanhörte, wie seine sozialistischen Träume in Grund und Boden gestampft wurden, war Raul aufgestanden und brüllte Julia wütend an.

„Mag sein, dass du unseren Tom schon um den kleinen Finger gewickelt hast, aber mich kannst du so nicht beeindrucken!“ Raul wirkte schon etwas bedrohlich, wie er so mit seinem schweren Körper, der bereits mit achtzehn erste Anzeichen künftigen Übergewichts zeigte, und rot angelaufenem Gesicht vor ihr stand. Die rote Gesichtsfarbe kam unter seinen dunkelblonden Haaren deutlich zur Geltung. Den Halbkubaner sah man ihm nicht an. Aber irgendwie sah es auch lustig aus, wie er so aufgeplustert vor ihr stand mit der großen, gelben Andy-Warhol-Banane auf der Brust.

„Der Kommunismus ist nicht widernatürlich, er wird sich auf lange Sicht durchsetzen. Die Revolution hat bereits begonnen, das wirst du bei der Demo morgen schon sehen.“ Ganz langsam entspannte er sich wieder. Julia hatte ihn gereizt, und er hasste es, die Kontrolle zu verlieren. „Außerdem bin ich sehr glücklich mit dem, was ich habe“, sagte er dann deutlich ruhiger. „Ich beneide niemanden um materiellen Wohlstand. Mir ist Freundschaft viel wichtiger.“

„Naja, vielleicht ist da schon ein Fünkchen Wahrheit in dem, was Julia sagt“, kam Tom ihr zu Hilfe und erntete dafür ein dankbares Lächeln. „Du bist schon ganz schön stolz auf den gebrauchten Mazda 2, den deine Eltern dir zum Abi geschenkt haben.“

„Bin ich nicht.“ Jetzt schlug sich Tom auch noch auf die Seite dieser Kapitalistenbraut, das hatte noch gefehlt. „Und selbst wenn, eine schrottreife Rostlaube für 2.000 Euro macht mich ja wohl noch nicht zum Kapitalisten.“

„Aber so fängt es doch an“, widersprach Julia. „Vor ein paar Jahren warst du noch mit einem Fahrrad total glücklich. Mit sechzehn musste es dann ein Mofa sein und mit achtzehn eben ein erstes Auto. Jetzt bist du mit einer schrottreifen Rostlaube noch zufrieden, aber in fünf Jahren, wenn deine Freunde auch alle Auto fahren, dann sollte es schon ein Golf in ordentlichem Zustand sein. Und was ist schon ein Golf verglichen mit dem Audi A6, den dein Zahnarzt fährt, sagst du dir dann. In deiner Vorstellung wirst du immer noch ein überzeugter Antikapitalist sein. Aber du bist schon drin in der Mühle, ohne dass es dir so richtig klar ist. Das schaukelt sich hoch, ganz langsam, und irgendwann, mit vierzig oder so, fährst du dann selbst einen A6.“

„Aber es gibt doch so viel Ungerechtigkeit auf der Welt“, Tom wechselte jetzt wieder die Seite. „Fast eine Milliarde Menschen leidet Hunger. In Afrika sterben täglich 10.000 Kinder an Unterernährung, hab ich mal irgendwo gelesen. Da kann man doch nicht einfach so zusehen und weitermachen. Wie wird dein Kapitalismus denn damit fertig?“

„Wirklich gut wird er damit nicht fertig“, gab Julia zu. „Naja, die Theorie ist doch folgende: Der Kapitalismus motiviert die Menschen, hart zu arbeiten und sich um Wohlstand zu bemühen. Und davon profitieren dann irgendwie alle. Wenn ein Unternehmer gute Produkte am Markt anbietet und erfolgreich ist, dann steigert er seinen Gewinn und seinen Wohlstand. Aber er schafft auch Arbeitsplätze und zahlt Steuern und trägt damit auch zum Wohlstand der übrigen Menschen in der Gesellschaft bei.“

„Wenn er die Arbeitskräfte nicht bloß zu einem Hungerlohn ausbeutet“, warf Raul ein.

„Und wenn er denn wirklich Steuern zahlt“, ergänzte Tom. „Die profitieren doch alle von irgendwelchen Steuerschlupflöchern und Abschreibungsmodellen oder was auch immer. Im Ergebnis zahlen die doch gar keine Steuern.“

„Na, ganz so stimmt das ja nicht“, widersprach Julia. „Aber du hast schon Recht, um Auswüchse zu verhindern, um die Macht der Arbeitgeber zu begrenzen, muss der Staat klare Regeln aufstellen, und diese Regeln müssen dann auch durchgesetzt werden. Eine Soziale Marktwirtschaft eben. Und solche Regeln haben wir doch. Um zu verhindern, dass Arbeitskräfte beliebig ausgenutzt werden, gibt es Gewerkschaften, die Tarifautonomie, das Streikrecht und vielfältige Arbeitsschutzvorschriften; und seit kurzem den Mindestlohn.“ 

„Neun Euro die Stunde, das reicht doch hinten und vorne nicht“, sagte Tom.

„Wie hoch der Mindestlohn sein sollte, darüber kann man natürlich diskutieren“, entgegnete Julia. „Was der eine als gerecht empfindet, muss der andere nicht auch als gerecht ansehen. Aber am Ende muss dann in einer Demokratie auch mal abgestimmt und entschieden werden. Was dabei herauskommt, das spiegelt dann quasi das Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft wider.“

„Und wenn wir mal ehrlich sind, das funktioniert doch in Deutschland ganz gut. Euch steht es natürlich frei, euch für höhere Sozialleistungen einzusetzen. Aber wirklich schlecht geht es den Menschen in Deutschland doch nicht“, schloss Julia ihr Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaft.

 „Aber die Ungleichheit nimmt auch in Deutschland immer mehr zu, die soziale Schere zwischen Arm und Reich klafft immer mehr auseinander“, protestierte Raul dann doch. Bei ihm zeigte sich noch ein Rest an Widerstand, während Tom immer mehr an Julias Lippen hing und ihr wahrscheinlich bereitwillig zum nächsten FDP-Parteitag gefolgt wäre. Und soweit ihren Argumenten noch Überzeugungskraft fehlen sollte, taten ihr voller, sinnlicher Mund, die hohen Wangenknochen und die rehbraunen Augen ihr Übriges.

„Naja, die Zunahme der Ungleichheit in Deutschland ist doch zu einem großen Teil eine importierte Ungleichheit“, entgegnete Julia. „Deutschland ist faktisch seit vielen Jahren ein Zuwanderungsland, und die Mehrzahl der Zuwanderer ist arm, deutlich ärmer zumindest als der durchschnittliche Bundesbürger. Und damit meine ich gar nicht nur die Flüchtlinge der letzten Jahre, die mit kaum mehr als dem Hemd auf dem Leib kommen und daher zwangsläufig die Ungleichheit in Deutschland erhöhen. Das betrifft auch die Zuwanderung von EU-Bürgern insbesondere aus osteuropäischen Staaten seit Einführung der Freizügigkeit innerhalb der EU. Wenn ein Staat, der deutlich reicher ist als der Rest der Welt, seine Grenzen für Zuwanderer öffnet, kommt es quasi automatisch zu einer ungleicheren Einkommens- und Vermögensverteilung im Inland. Das kann man wohl kaum einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik anlasten.“

„Aber da sind wir doch gleich bei dem wirklichen Problem, um das es beim Widerstand gegen den G20-Gipfel geht“, sagte Tom. „Kann man nicht eben doch von einer verfehlten deutschen Wirtschaftspolitik sprechen, wenn diese die Ungleichheit in der Welt immer mehr verfestigt hat?“

„Der Kapitalismus in der westlichen Welt beutet die Staaten der Dritten Welt aus, wir sind doch schuld an der Armut und dem Leid in Afrika und in Lateinamerika“, setzte Raul noch einen drauf.

„Wenn ein auf Profit ausgerichtetes deutsches Unternehmen die Wahl hat, Kaffeebohnen bei einem Lieferanten aus Mexiko für 1,40 Euro je Pfund zu beziehen oder von einem Lieferanten aus Bolivien für 1,20 Euro, dann wird es in Bolivien kaufen“, sagte Julia. „Damit ergibt sich ein Druck auf die Kaffeepreise, da dann auch der Lieferant aus Mexiko seine Preise senken muss. Und wenn ein einzelnes deutsches Unternehmen aus sozialen Gründen anders handeln würde, also 1,40 Euro bezahlte, müsste es den Kaffee in Deutschland an Endverbraucher auch teurer verkaufen und würde damit im Wettbewerb mit anderen deutschen Kaffeeanbietern an Boden verlieren. Denn den deutschen Endverbraucher interessiert es wirklich nicht die Bohne, welchen Einkaufspreis Tchibo oder Jacobs in Lateinamerika gezahlt haben.“

„Also, klar, ein kapitalistisches System nimmt erstmal keine Rücksicht auf soziale Belange“, setzte Julia fort. „National lösen wir das durch gesetzliche Vorschriften, die den Kapitalismus beschränken. Durch soziale Komponenten, also zum Beispiel Mindestlohn, Arbeitsschutzvorschriften, Streikrecht und soziale Sicherungssysteme.“

„Im internationalen Kontext gibt es das aber gerade nicht“, entgegnete Tom. „Wenn ein deutsches Unternehmen in Bolivien oder Nigeria einkauft, dann sind die Produkte von Arbeitern hergestellt worden, die keinen Mindestlohn erhalten haben, die kein Streikrecht und keine Krankenversicherung haben und für die keine Arbeitsschutzvorschriften gelten.“

„Also brauchen wir so etwas wie eine Soziale Marktwirtschaft nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Kontext“, zeigte sich nun auch Raul interessiert an Julias Ausführungen. „Genau“, stimmte diese ihm zu. „Aber wie könnte das in der Praxis aussehen?“, fragte Raul.

„Bisher helfen wir den Dritte-Welt-Staaten doch eher durch Entwicklungshilfe. Also Hilfe zur Selbsthilfe, Mittel zum Brunnen-Bohren oder so was zum Beispiel.“ Tom war froh, dass sich die Diskussion mit Julia trotz der unterschiedlichen Auffassungen über den Kapitalismus nun doch lösungsorientierter entwickelte. Er war nicht der Kämpfertyp wie Raul, weder rhetorisch noch körperlich. Außerdem mochte er Julia und fand es deutlich interessanter, gemeinsam mit ihr nach Lösungen für die Probleme der Welt zu suchen, als sich gegenseitig irgendwelche sozialistischen oder kapitalistischen Parolen entgegenzubrüllen.

„Aber die klassische Entwicklungshilfe hat sich doch als wenig erfolgreich herausgestellt, oder sehe ich das falsch?“, ergänzte Tom.

„Ja, das denke ich auch“, stimmte Julia zu. „Die Korruption in fast allen armen Staaten insbesondere in Afrika ist so ausgeprägt, dass man vier oder fünf Euro Entwicklungshilfe zahlen muss, damit ein Euro sinnvoll ankommt. Damit das Geld nicht völlig unkontrolliert im Neubau von Präsidentenpalästen verschwindet, werden Projekte gefördert, die der Bevölkerung zu Gute kommen sollen. Insbesondere Infrastrukturprojekte, Straßen, Wasserleitungen, Brunnen, solche Dinge. Aber auch dabei sacken sich die Herrschenden einen gehörigen Anteil ein, in Form von Gebühren für Baugenehmigungen zum Beispiel. Nicht zu vergessen die administrativen Kosten. Die Entwicklungshilfe hat sich zu einer handfesten Industrie mit über einer halben Million Beschäftigten entwickelt. Wenn man die traditionelle Entwicklungshilfe hinterfragen und vielleicht durch ein besseres System ersetzen wollte, würden die natürlich um ihre Besitzstände kämpfen. Aber so, wie es im Moment läuft, ist es eher Sterbehilfe als Entwicklungshilfe.“

„Aber wie kann man denn sinnvoll helfen, wenn die meisten armen Länder von verrückten raffgierigen Despoten regiert werden, die zudem noch ständig im Krieg mit irgendwelchen konkurrierenden Stämmen oder Milizen stehen?“, fragte Tom. „Du hast gesagt, wir bräuchten eine Art Soziale Marktwirtschaft, so ähnlich wie im nationalen Bereich, nur eben im internationalen Kontext. Wie könnte das denn aussehen?“

„Sorry, so richtig hab ich da auch keine Idee“, räumte Julia ein. „Insbesondere, da so viele der hilfsbedürftigen Länder zu den Krisenherden der Welt zählen. Völliges Chaos und Anarchie in Libyen, die Regierung kontrolliert nur einen Bruchteil des Landes; in Nigeria sorgt die Islamistenmiliz Boko Haram für Terror und versucht einen islamistischen Staat zu gründen und tötet systematisch Christen; im Südsudan herrscht blutiger Bürgerkrieg; in Somalia kämpft eine wenig funktionierende Regierung gegen islamistische Terrororganisationen. Dasselbe gilt für Mali. In Kenia unterdrückt die Regierung gewaltsam oppositionelle Gruppen, und so weiter, und so weiter.“

Rückblick: April 1998

Hilton Hotel Chicago, Conrad Hilton Suite

Amanda Rodriguez starrte noch immer ungläubig auf die 200 Dollar, die der freundliche Herr mit dem ausländischen Akzent ihr in die Hand gedrückt hatte. Ihr war schon klar, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn das herauskam; als Illegale war sie da völlig schutzlos. Aber die Gelegenheit konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen. 200 Dollar! Was würde ihr José für Augen machen, wenn sie ihn mit dem rosafarbenen Seiden-Negligé überraschte, das sie gemeinsam in der kleinen Boutique in Downtown bewundert hatten. Wo José doch so viel Wert auf ein verführerisches Outfit legte. Naja, früher wäre das nicht nötig gewesen, aber sie wurde nicht jünger, ihre Brüste waren schon lange nicht mehr so fest und knackig, dass man ein Ei hätte darauf aufschlagen können.

Amanda gehörte zum Reinigungspersonal im Hilton Hotel Chicago. Heute hatte sie sechzig Minuten, um die Conrad Hilton Suite für den nächsten Gast vorzubereiten. Für ein normales Zimmer waren zehn Minuten vorgegeben, das war eigentlich nicht zu schaffen, sie musste nahezu täglich ein bis zwei Stunden dranhängen, um ihr Pensum zu erledigen. Aber für die Suite galten andere Maßstäbe, schließlich wohnten hier ganz andere Kaliber als in den gewöhnlichen Zimmern. Erst letzte Nacht hatte Donald Trump hier übernachtet, ohne seine Frau Marla leider, von der er sich wohl mittlerweile getrennt hatte.

Die Conrad Hilton Suite war das absolute Prachtstück des Hilton Chicago, 460 Quadratmeter auf zwei Etagen für 7.000 Dollar die Nacht. Klavier, Billardtisch, drei Balkone, drei Schlafzimmer, luxuriöseste Ausstattung in jeder denkbaren Beziehung. Jeder Präsident seit Ronald Reagan hatte hier übernachtet, was der Suite den Spitznamen Midwest White House eingebracht hatte. Insbesondere das Wasserbett im mittleren der drei Schlafzimmer auf der unteren Etage der Suite hatte es ihr angetan. Vor einiger Zeit hatte sie sogar einmal ihren José in die Suite geschmuggelt, in das Schlafzimmer mit dem Wasserbett. Wie gesagt, in ihrem Alter musste sie schon einiges tun, um ihren José in Stimmung zu bringen.

In Anbetracht ihrer Erfahrungen mit dem eigenen Ehemann fand Amanda das Anliegen des netten ausländischen Herrn aus einer der kleineren Suiten in der Etage unterhalb der Conrad Hilton Suite gar nicht so abwegig. Er hatte gesagt, seine Freundin hätte da so einen Tick, so richtig in Fahrt käme sie nur, wenn sie sich in einem Bett räkeln könne, in dem sie noch die Anwesenheit einer anderen Person spüren und riechen könne, am besten einer bekannten Person, einer weltbekannten, so wie Donald Trump. Er hatte ihr verschwörerisch zugezwinkert. Seine Freundin – wie hatte er sie noch genannt, Jasminka, richtig – sei vielleicht etwas eigen, aber er würde alles tun, um sie glücklich zu machen. Bloß eine halbe Stunde im ungemachten Schlafzimmer und im Badezimmer. Sie könnte ja in der Zwischenzeit die restlichen Zimmer der Suite sauber machen, und wenn sie damit fertig wäre, wären sie auch schon wieder draußen.

Und da hatte sie an ihren José gedacht und die 200 Dollar genommen. Eine halbe Stunde, sie musste lächeln. Als ihr José noch so jung war wie dieser feine Herr, da wäre er nach einer halben Stunde noch lange nicht mit ihr fertig gewesen…

Mittwoch, 5. Juli 2017, 23.45 Uhr

Kneipe im Hamburger Schanzenviertel

„Zurück zum Thema. Was läuft falsch in der Welt? Was kann der Westen tun, um die Armut in der Dritten Welt zu verringern?“, fragte Tom. „Wie könnte deine Soziale Marktwirtschaft im internationalen Kontext besser funktionieren?“

„Wir beuten die Arbeiterklasse in Entwicklungsländern doch aus, indem wir Rohstoffe zu absoluten Dumpingpreisen kaufen“, ereiferte sich Raul erneut. „Die Arbeiter dort bekommen einen Hungerlohn, von dem sie kaum leben können. Und die Arbeitsbedingungen sind menschenunwürdig. Nur damit wir in Deutschland Kleidung und Lebensmittel zu extrem billigen Preisen kaufen können. Nur damit die kapitalistischen Konzerne im Westen enorme Profite machen können. Wir müssen einfach mehr für die Produkte aus der Dritten Welt bezahlen. Wir müssen die Konzerne zwingen, menschenwürdige Preise zu bezahlen.“

„Wenn wir einfach bloß mehr für die Produkte zahlen“, widersprach Tom, „profitiert davon in den Dritte-Welt-Staaten doch nur die herrschende Klasse, irgendwelche Großgrundbesitzer. Und in Krisenregionen funktioniert das sowieso nicht, dort wird ein höherer Erlös einfach in mehr Waffen investiert. Wie können wir sicherstellen, dass ein höherer Preis wirklich bei den notleidenden Menschen ankommt?“

„Tja, einen Königsweg gibt es da wahrscheinlich nicht“, sagte Julia.

„Wie können wir darauf einwirken, dass soziale Standards in Bangladesch oder Indien eingehalten werden?“, fragte Raul, der nun auch Spaß daran gefunden hatte, mit Julia zu diskutieren.

„Man könnte den Unternehmen vorschreiben, dass sie Produkte in bestimmten Staaten nur kaufen dürfen, wenn dort soziale Standards eingehalten werden“, schlug Tom vor, froh, dass nun auch Raul auf Julias Argumentation einschwenkte. „Wenn eine soziale Absicherung für die Arbeiter besteht und wenn ein Mindestlohn gezahlt wird. Der müsste natürlich dem Lebensstandard in dem jeweiligen Land angepasst sein und wäre sicher niedriger als in Deutschland. Aber er müsste deutlich höher sein als das, was den Arbeitern dort heute gezahlt wird. Und er könnte bei guter Entwicklung in dem Land von Jahr zu Jahr steigen.“

„Es müsste also eine Art Qualitätssiegel für Lieferbetriebe in Dritte-Welt-Staaten geben, das von einer unabhängigen Einrichtung überprüft werden müsste“, ergänzte Julia. „Und Unternehmen, die in Deutschland Waren verkaufen, z.B. Bananen“, sie zeigte lächelnd auf Rauls gelbes Bananen-Sweatshirt, „müssen nachweisen, dass sie Rohstoffe nur bei Unternehmen in Dritte-Welt-Staaten gekauft haben, die über dieses Qualitätssiegel verfügen.“

„Aber würden die Unternehmen nicht versuchen, die Vorschriften zu umgehen? Bei der Erteilung des Qualitätssiegels betrügen? Offiziell Mindestlöhne zahlen, aber tatsächlich eben doch nicht?“, spielte Raul den Advocatus Diaboli.

„Klar würde da erst mal ganz viel schief laufen“, war auch Julias Meinung. „Aber vielleicht sollte man es trotzdem versuchen. Immer noch besser als alles beim Alten zu belassen. Und wenn das System einmal eingeführt ist, werden die Kontrollen von Jahr zu Jahr besser und Betrügereien nach und nach weniger werden. Hoffentlich.“

„Es gibt ja bereits entsprechende Qualitätssiegel, zum Beispiel das Fairtrade-Siegel“, sagte Tom. „Da muss es doch Erfahrungen geben, auf denen man aufbauen kann.“

„Man müsste das Qualitätssiegel auf jeden Fall verpflichtend vorschreiben. Freiwillige Selbstverpflichtungserklärungen und ähnlicher Quatsch funktionieren doch nicht. Das hatten wir schon zu oft, man denke nur an die freiwillige Selbstverpflichtung der Automobilindustrie zur Senkung des CO2-Ausstoßes“, meinte Raul.

„Damit es wirklich etwas bringt, müssten es aber möglichst alle entwickelten Staaten gemeinsam einführen“, sagte Julia. „Und dass die USA unter Trump einem System zustimmen, das den Einkauf von Rohstoffen teurer macht, ist ja wohl kaum vorstellbar.“

„Und auch in der EU sind da die üblichen Verdächtigen: Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei würden sich wieder mal verweigern, da würde ich drauf wetten“, meinte Raul pessimistisch.

„Was gibt es sonst noch für Ansatzpunkte? Wie kann man zum Beispiel die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung erhöhen? Was müsste sich ändern, damit du einen Teil deines Einkommens regelmäßig für Hilfsprojekte in armen Ländern spendest?“, fragte Tom.

„Tja“, entgegnete Julia. „wenn ich konkrete Ergebnisse meiner Hilfe sehen könnte, vielleicht würde ich dann ja fünfzig oder sogar hundert Euro jeden Monat geben. Aber wenn ich jetzt an irgendeine Hilfsorganisation spende, dann ist das Geld weg und die Welt ist für mich nicht erkennbar besser geworden. Als Spender möchte ich das Ergebnis meiner Spende sehen, irgendwie daran teilhaben. Beispielsweise eine bestimmte Familie in Afrika unterstützen, damit die Kinder der Familie eine Ausbildung machen können. Ich möchte mit dem Empfänger der Spende kommunizieren können, per Email oder WhatsApp zum Beispiel, im täglichen Kontakt stehen, auch von den kleinen alltäglichen Problemen erfahren, ihn auf dem Weg durch das Leben begleiten.“

 „Sowas ähnliches gibt es doch, manche Hilfsorganisationen bieten Kinderpatenschaften an“, sagte Tom.

„Ja, dann bekommt man ein schönes Foto von dem Kind, das man sich an die Pinnwand heften kann. Und zu Weihnachten gibt es ein von dem Kind gemaltes Bild. Aber das war es dann auch. Und wenn das Kind nicht mehr von der Hilfseinrichtung betreut wird, bekommt man irgendwann den Hinweis, dass die Kinderpatenschaft auf ein anderes Kind übergegangen ist. Das ist ja alles schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, aber es ist mir bei weitem noch nicht konkret genug.“

„Du meinst also, die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung wäre größer, wenn es individuelle Familienpatenschaften gäbe?“, fragte Raul.

„Ja, genau. Wenn ich sehe, dass meine Hilfe ankommt, und ich täglich Freude daran habe, wäre ich viel eher bereit, zu spenden. Wenn ich den Empfänger kenne und ihn mag und mich mit ihm und seinen Problemen identifizieren kann“, sagte Julia. „Es müsste eine Stelle geben, die solche Familienpatenschaften vermittelt. Und zwar nur vermittelt, die eigentliche Hilfe würde dann unmittelbar vom Spender an die afrikanische Familie erfolgen.“

„Und wie wird sichergestellt, dass tatsächlich die Ärmsten der Armen ausgewählt werden, und nicht Menschen in armen Ländern, denen es noch vergleichsweise gut geht? Es würde doch dort zu einem Wettkampf um Patenfamilien in Europa kommen. Einigen würde geholfen, anderen würde nicht geholfen…“, wandte Raul ein.

„Tja, ist ja nur eine erste Idee. Aber vielleicht sollte man das mal in Ruhe zu Ende denken“, war Toms Meinung.

„Und es ist doch immer noch besser, einigen armen Familien zu helfen, als keinen“, ergänzte Julia.

„Vielleicht könnte man das auch auf die nationale Ebene übertragen“, schlug Tom vor. „Ein Staat wie Deutschland sucht sich einen Partnerstaat in der Dritten Welt, z.B. Tansania oder Nigeria. Oder irgendeinen anderen Staat. Und hilft dann vorrangig der Bevölkerung in diesem Staat. Durch individuelle Familienpatenschaften, wie du vorgeschlagen hast. Aber auch durch Investitionen deutscher Unternehmen, für die es dann Steuervergünstigungen gibt, aber eben nur für Investitionen in diesen einen Staat. Durch deutsche Subventionen für Infrastrukturprojekte. Man könnte das als große nationale Aufgabe ansehen.“ 

„Und andere Industriestaaten suchen sich ebenfalls einen Partnerstaat. Dänemark hilft Ghana, Österreich hilft Liberia und so weiter. Vielleicht könnte die EU ganz Afrika abdecken, wenn alle mitziehen“, war jetzt auch Raul begeistert.

„Und weil die Hilfe individueller ist, weil man die Ergebnisse tagtäglich sieht, weil meine Spende nicht einfach in einem großen Topf verschwindet, sondern die Welt durch meine Spende tatsächlich sichtbar ein klein wenig besser wird, bin ich doch viel eher bereit, etwas von meinem Wohlstand abzugeben“, stimmte Julia zu. „Entwicklungshilfe kann nur funktionieren, wenn man die Menschen in Europa dafür begeistert.“ Sie war jetzt wirklich froh, dass sie sich zu ihren Zielobjekten an den Tisch gesetzt hatte. Sollte Henrik, ihr Bruder, doch sagen, was er wollte.

„Dann wollen wir mal hoffen, dass irgendjemand von den Verantwortlichen in unserem Land dies liest und sich zu Herzen nimmt“, sagte Tom mit einem Augenzwinkern.

„Wer möchte noch etwas trinken?“, wechselte Julia das Thema.

Die kurze Umfrage ergab zwei Bier für Raul und Julia sowie ein Radler mit etwas mehr Bier als Limonade für Tom. Julia erhob sich und ging zur Bar, um die Bestellung aufzugeben. Die beiden Kahlgeschorenen an der Theke atmeten auf, offenbar vermuteten sie, Julia würde die beiden jungen Männer nun wieder ihrem Schicksal überlassen.

„Neue Freundin, was, Tom?“, beugte sich ein Kumpel mit unzähligen Ohrpiercings vom Nachbartisch augenzwinkernd zu Tom hinüber. Diesem war es sichtlich unangenehm. Er hoffte, dass Julia das schon nicht mehr gehört hatte. Er streckte dem Kollegen die Zunge heraus und wandte sich wieder Raul zu. 

„Wie findest du sie?“, fragte Raul, als Julia ihn nun sicher nicht mehr hören konnte.

„Richtig hübsch, süß, sexy“, war das erste, das Tom in den Sinn kam. Julia stand an der Theke und kehrte ihnen den Rücken zu. Er konnte sich nicht von ihrem Anblick losreißen, und alle Gedanken an die zurückliegende Diskussion waren für den Moment vergessen. Er war hingerissen von ihrem durchtrainierten Körper, ihrer dennoch fraulichen Figur, genau die richtigen Proportionen für seinen Geschmack.

„Schade, dass wir sie wohl kaum dazu bewegen können, morgen an der Demonstration gegen den G20-Gipfel teilzunehmen“, sagte Raul.

„Das wäre dann wohl wirklich zu viel verlangt“, stimmte Tom zu.

Es ging auf Mitternacht zu und auf der Straße vor der Kneipe schien nun einiges los zu sein. Trotz des erheblichen Lärmpegels im Raum drangen Rufe ins Innere. Ein dunkel gekleideter Jugendlicher, der das Lokal vor wenigen Minuten verlassen hatte, um sich auf irgendeinem Hinterhof zu erleichtern – auf der Toilette der Kneipe stank es dermaßen widerlich nach Urin, dass man schon sehr große Not verspüren musste, um es dort zu tun – kam durch die Tür und rief: „Ich glaub es geht los. Die Autonomen sammeln sich schon. Ich würde jetzt lieber kein Auto hier stehen haben.“