Welfengold - Rolf Aderhold - E-Book

Welfengold E-Book

Rolf Aderhold

4,5

Beschreibung

Hannover 1966. Jarre Behrend ist Kunsthistoriker und Unternehmer für Abenteuertouren. Einer seiner ersten Kunden ist der britische Colonel Kendrick-Wales. Sein Vater hatte angeblich nach dem Zweiten Weltkrieg Teile des verschwundenen Welfenschatzes gefunden, kurz danach wurde er ermordet. Zusammen begeben sich Jarre und der Colonel auf die Suche nach den als verschollen geltenden Kostbarkeiten. Dabei werden ihnen viele Steine in den Weg gelegt, bis sie schließlich selbst in einen Hinterhalt geraten …

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Rolf Aderhold

Welfengold

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2013–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © FPG–

Prolog: Freitag, 10. Juni 1966

Als die Sonne schon längst über Aktöbe am Rand der kasachischen Steppe aufgegangen war, herrschte in dem Büro noch immer eine beklemmende Dunkelheit. Die hölzernen Fensterläden, die die vier großen Fenster des Raumes verschlossen, ließen wenig von dem warmen Licht dieses Sommertags herein. Bereits seit vielen Jahren waren die Helligkeit und Wärme des Frühlings und des Sommers in diesem Haus nicht willkommen. Das ganze Haus roch nach altem Staub, nach alten Idealen.

In dem Büro saß ein Mann, dessen Haut so durchscheinend blass war, dass sie dem Weiß seiner Locken glich, die seinen Kopf umrahmten. Der Mann saß zusammengesunken hinter einem Schreibtisch, der nahezu die Stirnseite des Zimmers einnahm. In seinen vor Nervosität zitternden Händen hielt er ein Stück Papier. Es war das einzige Papier auf der riesigen Arbeitsplatte und der alte Mann betrachtete es mit einer Miene, als würde das Blatt für ihn alles Böse dieser Welt symbolisieren, und tatsächlich tat es das.

Als er das Papier zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte, hatte er gewusst, dass die Vergangenheit ihn eingeholt hatte, wenn auch auf eine ganz unerwartete Weise. Er hatte nie geglaubt, dass die Geister, die seinen Vater seit so vielen Jahren plagten, auch ihn eines Tages heimsuchen würden, doch jetzt war es so weit.

Noch einmal sah er auf das Blatt. Es war ein Artikel von einer der wenigen Zeitungen der Stadt, die nicht nur die vom ZK verordneten Nachrichten druckte, sondern gelegentlich eigene Artikel veröffentlichte. ›Wertvolles Reliquiar aus Deutschland in Aktöbe gefunden‹ lautete die Überschrift.

Der Artikel beschrieb, wie die Familie von Oberstleutnant Rishkov, einem verdienten Veteranen der Roten Armee, der letztes Jahr im Alter von 69Jahren gestorben war, in dessen Nachlass ein besonders hochwertiges Reliquiar entdeckt hatte. Die Tochter des Soldaten hatte den Fund Experten der Universität vorgelegt, die nach langen Untersuchungen zu dem Schluss gekommen waren, dass das Reliquiar ein überaus wertvolles Stück sein musste, das vermutlich im frühen 15.Jahrhundert in Deutschland gefertigt worden war. Dabei verwiesen die Experten auf ein Inventar des sogenannten ›Welfenschatzes‹ aus dem Jahr1482, das dem Stück sehr ähnlich war.

Hier endete der Artikel, aber der alte Mann wusste trotzdem, was geschehen würde. Der Fund würde in Europa bald bekannt werden, und Raissa Rishkova würde dadurch zu einer berühmten Frau werden. Fragen nach der Herkunft des Reliquiars würden gestellt werden, und dann würde Colonel Kendrick-Wales, der schon seit Langem die Nemesis seines Vaters war, auf ihre Spur kommen, und er würde diese Spur ohne Zweifel bis zum Werk Tanne weiterverfolgen, wo einst alles angefangen hatte.

Eins: Montag, 1. August 1966

Oberst Leonid Leonow warf einen Blick auf die Leuchtzeiger seiner Poljot Sturmanskie, einer Uhr, wie sie Juri Gagarin, der Eroberer des Weltraums, bei seinem glorreichen Flug getragen hatte. Deswegen trug er diese Uhr, denn er konnte sich gut daran erinnern, wie seine Einheit am 1.Mai1961 nach einer dreitägigen Zugfahrt in Moskau zum Roten Platz marschiert war, um dem großen Helden der Sowjetunion zuzujubeln. Der Wagen mit dem kühnen Piloten war nur wenige Meter von ihnen entfernt vorbeigefahren. Das war damals ein Tag des Triumphs gewesen, dachte er reumütig, doch die waren seitdem selten geworden. Er wollte dafür sorgen, dass es bald wieder mehr wurden.

Dann sah er in den dunklen Nachthimmel hinauf. Es blieb ihnen wohl knapp eine Stunde bis zum Morgengrauen, vielleicht etwas mehr bei diesem Wetter mit dem ständig bedeckten Himmel. Trotzdem, es wurde Zeit, zusammenzupacken und zu verschwinden, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, von irgendwelchen Jägern oder anderen Frühaufstehern gesehen zu werden, die sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Teichen gemacht hatten.

Leonow war ein großer, durchtrainierter Mann mit einer harten Miene und kalten blauen Augen, deren Unerbittlichkeit ihn als professionellen Soldaten kennzeichnete. Er befehligte einen kleinen Trupp, den er eigens für die gefahrvolle Arbeit in der kapitalistischen Bundesrepublik angeworben hatte. Er war Pragmatiker und allein seine Aufgabe bestimmte, wie er die Gegend um das kleine Städtchen Clausthal-Zellerfeld wahrnahm, denn für den eigentlichen Reiz der Landschaft fehlte ihm jeder Sinn. Er fand seine Freude viel eher in der Betrachtung einer gut erledigten Arbeit oder beim Anblick des kalt schimmernden Stahls, aus dem Waffen geschmiedet wurden. Angeblich waren diese Teiche ein reizvolles Wandergebiet, das viele Deutsche hierher zog, aber es war ihm unverständlich, wieso das so sein sollte. Hier war alles grün und weich, es gab nichts, was einen forderte, nichts, was die Instinkte eines echten Mannes geprüft hätte, so wie in der Tundra an den eisigen Küsten Sibiriens, wo er bis vor Kurzem seinen Dienst versehen hatte.

Auf jeden Fall war es Zeit zu gehen, denn er wusste, dass einige Studenten der Technischen Hochschule von Clausthal frühmorgens hierher kamen, um ihrem Frühsport nachzugehen, egal ob es regnete oder nicht. Schon bei seinen ersten Erkundungen vor Ort wäre er beinahe einer Gruppe in die Arme gelaufen, und es hätte ihm damals gar nicht gepasst, wenn sie sein Gesicht gesehen hätten. Doch der Ärger, den er darüber empfunden hatte, war rasch verflogen, während er sich ausmalte, was er mit diesen jungen Leuten gemacht hätte, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, Rücksicht zu nehmen. Es hätte Spaß gemacht, zu sehen, wie lange sie seine Methoden ausgehalten hätten…

Plötzlich knackte ein Zweig, knapp 20Meter hinter ihm, auf der 5-Uhr-Position. Sofort wirbelte der Oberst herum und in der Drehung, während sich ihm die Schritte von hinten näherten, fuhr seine Hand in seinen Kampfanzug. Er holte seine TokarevTT-30 heraus, die ihm mit ihrem 7.62erKaliber schon mehrfach gute Dienste geleistet hatte. Ehe er die halbe Drehung beendete hatte, zielte die schwere Pistole mit tödlicher Genauigkeit auf den Kopf des Mannes, der durch das feuchte Gelände stapfte. Einen Augenblick später erkannte Leonow den jungen Mann, der arglos auf ihn zukam.

Irritiert steckte er die Pistole wieder ein, wischte sich mit dem Handrücken die Regentropfen aus dem Gesicht und musterte Chang Lin Wang, einen jungen Mann Anfang 20 aus Nanking, der Haltung annahm und zackig vor ihm salutierte. Chang war Archäologe und das jüngste Mitglied des Trupps, den Leonow in den letzten Nächten auf das Gelände der alten Sprengstofffabrik geführt hatte. In den zwei Wochen seit ihrer Ankunft hatte der Chinese rasch gelernt, sich Leonow gegenüber angemessen zu benehmen. Der Oberst freute sich, dass er ihm, seinem Vorgesetzten, den nötigen Respekt erwies und dass er Disziplin kannte. Das war gut, denn Leonow verlangte von seinen Leuten beides in hohem Maß–Respekt und Disziplin. Warum also, war der Kerl so plötzlich hier aufgetaucht?

»Haben Sie sich verlaufen?«, brummte Leonow und hob eine in Plastik gebundene Landkarte auf, die er mit dem Gelände abgeglichen und beim Ziehen seiner Waffe fallen gelassen hatte. Ruhig verstaute er sie in der Innentasche seines Militärparkas, so als habe er sie nur aus Versehen fallen lassen.

»Ein Gespräch für Sie, Herr Oberst«, meldete der junge Mann. Tatsächlich trug er das Funkgerät der Gruppe auf dem Rücken und hielt ihm jetzt das Mikrofon und einen schmalen Kopfhörer entgegen. Chang, der nebenbei für die Kommunikation zuständig war, hatte für das anstandslose Funktionieren der Funkgeräte zu sorgen, was besonders das Laden der unförmigen Akkus und die stete Überwachung der Frequenzen einschloss. Daher war natürlich er es, der jedes Gespräch als Erster annahm.

Er war sicher einer der Begabtesten des Teams, was den Umgang mit technischem Gerät anging, und er hatte bei archäologischen Grabungen im chinesischen Xi’an bewiesen, dass er es verstand, Luftbilder auf Spuren versunkener Schätze hin auszuwerten.

Leonow nickte ihm knapp zu und streckte die Hand aus, um das Mikrofon entgegenzunehmen. Mit dieser wortkargen Geste verbarg er sein Erstaunen, denn obwohl er erwartet hatte, dass ihr Auftraggeber sich melden würde, war er überrascht, wie früh die Nachricht kam. Er hatte gedacht, dass sie mindestens eine weitere Woche Zeit für ihre Arbeit hatten. So bewahrte er eine eiserne Miene und bedeutete Chang, sich umzudrehen, damit er die Frequenzanzeigen im Auge behalten konnte. Der junge Mann salutierte ein weiteres Mal, bevor er sich auf den Hacken drehte, damit Leonow den Anruf beantworten konnte.

»Aljo«, brummte er in das klobige Mikrofon und hörte die verzerrte, heisere Stimme seines Auftraggebers. Aufgrund der schlechten Verbindung war sein Gesprächspartner kaum zu verstehen.

»Er kommt heute am Flughafen in Hannover an, um ein Uhr, mit einer Maschine der BEA aus London«, murmelte der Mann.

»Ya budu tam«, entgegnete Leonow. »Ich werde da sein.« Er beendete ohne jeden weiteren Gruß das Gespräch und entband Chang seiner Aufgabe. Mit schweren Schritten folgte er ihm in Richtung der großen Halle der Fabrik und wandte sich dort an Lew Tzarkas, seinen Leutnant.

Genau wie Leonow war Tzarkas ein ehemaliges Mitglied der glorreichen russischen Armee, doch mittlerweile bot auch er seine beim Militär erlernten Fähigkeiten auf dem freien Markt an. Während Leonow das Ende seiner Karriere einer Knieverletzung zu verdanken hatte, war Tzarkas entlassen worden, weil er einen Unteroffizier im Streit erstochen hatte.

Tzarkas arbeitete bereits zum dritten Mal mit Leonow zusammen, und abgesehen davon, dass der hünenhafte Mann aus Leningrad darauf bestand, mit seinem ehemaligen Titel angeredet zu werden, hatte Tzarkas bei seinen Unternehmungen mit Leonow nie etwas zu klagen gehabt. Der Oberst erledigte seine Aufträge effizient, rasch und mit einträglichem Ergebnis, vorzugsweise in amerikanischen Dollars.

»Wir packen zusammen«, befahl der Oberst. »Wir kommen heute Nacht wieder.«

»Jawohl«, quittierte Tzarkas den Befehl und deutete einen Salut an, der gerade ehrerbietig genug war, um nicht den Zorn hinter den sonst so emotionslosen Augen des Obersts zu wecken. Der Leutnant wusste, dass Geheimhaltung im Moment von höchster Bedeutung war und dass sie sich deswegen zurückziehen mussten. Obwohl das Gelände, auf dem sie sich befanden, abgesperrt war, gab es immer wieder abenteuerlustige junge Leute, die sich über das Verbot hinwegsetzten und eine der ehemals größten Sprengstofffabriken des Dritten Reichs erkundeten. An einem Abend hatten sie sogar eine Gruppe beobachtet, die einen Plattenspieler mitgebracht hatte, um hier ungestört die neuesten Beat-Platten zu hören. Leonow hatte sich beim Anblick von so viel Dekadenz sehr aufgeregt.

Auf jeden Fall wäre es fatal, wenn einer dieser Neugierigen auf den Trupp mit der unübersehbaren Ausrüstung träfe. Eine Elimination des Eindringlings wäre unausweichlich, aber keinesfalls erstrebenswert, da dessen Entsorgung immer mit Schwierigkeiten verbunden war. Daher packte der Trupp von zehn Mann, die alle in Militäruniformen ohne Rang- und Hoheitsabzeichen gekleidet waren, wie jeden Abend die schwere Ausrüstung wieder zusammen.

Die Männer schulterten die Pakete und machten sich auf den Weg zu der Stelle, an der sie gestern Nacht in das Gelände eingedrungen waren, so wie sie es in den Nächten zuvor getan hatten. Nach einem weiteren Marsch von 30Minuten durch den Wald gelangten sie zur Bundesstraße, an der sie ihre Fahrzeuge, vier dunkelgrüne Land Rover IIA, geparkt hatten. Es war Routine, dass sich der Trupp jedes Mal, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, aufteilte und in unterschiedliche Richtungen davonfuhr. Die Männer sollten in verschiedenen Orten ihre Zimmer beziehen, um ein paar Stunden schlafen zu können.

Auch Oberst Leonow und Leutnant Tzarkas fuhren wie in den letzten zwei Wochen in ihre Pension zurück, die südlich des kleinen Ortes Seesen lag, gut 20 Kilometer von Clausthal-Zellerfeld und der Fabrik entfernt. Ruhig und konzentriert steuerte der Oberst den Land Rover durch die noch schlafende Bergstadt, vorbei an der alten Holzkirche, die von den beiden keines Blickes gewürdigt wurde, und hinaus aus dem Ort, bis sie auf der kurvigen Harzhochstraße die Berge hinabfuhren. Erst als die Straße sie aus dem Harz hinausführte und sie die Berge hinter sich hatten, wandte sich Leonow wieder an seinen Leutnant.

»Das Paket kommt heute in Hannover an. Wir sollen es abholen.«

»Heute schon?« Im Gegensatz zu dem Oberst verbarg Tzarkas seine Überraschung nicht.

Leonow nickte. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Leutnants aus. Er fühlte unwillkürlich die Pistole, die er wie Leonow unter seinem Parka verborgen hatte.

»Das wird bestimmt ein Spaß«, stellte er überflüssigerweise fest. Als ihm das auffiel, machte er sich auf eine Zurechtweisung von Leonow gefasst, doch diesmal nickte der Oberst sogar. Jetzt war sich der Leutnant sicher–es würde ein Spaß werden, das Paket abzuholen. Nur für das Paket selbst, für Colonel Daniel Kendrick-Wales, würde es sicherlich nicht lustig werden.

*

Es war noch recht früh, und aus dem Radio tönte Paul McCartney, der aller Welt mitteilte, dass er ein ›Paperback Writer‹ sein wolle. Das Lied, das dem Ansager zufolge der neueste Hit der Beatles war, erwies sich als die richtige Untermalung, während Jarre Behrend durch seine Wohnung hastete. Der Titel ging in die Beine und er war laut genug, um das Zetern von Frau Nölke wenigstens etwas zu übertönen. Er suchte unter dem Küchentisch nach dem Hannover-Teil der Zeitung, während er sich wunderte, dass die Beatles endlich ein Lied rausgebracht hatten, das kein Liebeslied war und bei dem der Bass richtig gut klang. Doch seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, da Frau Nölke, seine Wirtin, mit besonders hoher Stimme zu wissen verlangte, warum er denn so lange brauchte.

Zugegeben, wenn man es genau nahm, hatte Jarre den Tag mit einem Diebstahl begonnen. Abgesehen davon, dass es kein schwerer Diebstahl gewesen war, und das Opfer genau wusste, wo die Beute und der Täter zu finden waren, war es trotzdem ein Eigentumsdelikt gewesen. Jedenfalls regte sich Frau Nölke vor seiner Tür ziemlich darüber auf und verlangte die Herausgabe ihrer Zeitung. Eigentlich fand Jarre, dass der ganze Aufstand, den sie machte, recht unverhältnismäßig war, doch er wusste es besser und wagte nicht, ihr zu widersprechen. Rasch drehte er das Radio leiser, raffte die Zeitung zusammen und spurtete zur Tür, wo er sie seiner Wirtin mit einem Grinsen übergab. Leider zeigte es sich, dass Frau Nölke damit nicht zufrieden war.

»Sehen Sie nur, Herr Behrend! Sie haben die Zeitung ja völlig ruiniert! Da, sehen Sie nur, Sie haben sie falsch zusammengelegt und völlig verkrumpelt!«, beschwerte sich Frau Nölke und wies auf die relativ normal aussehende Zeitung.

»Ich habe doch nur einen Blick hineinwerfen wollen, und ich dachte, Sie seien gar nicht da«, behauptete Jarre, der genau wusste, dass die einzige Person im Haus, die später aufstand als er, seine Wirtin war, und sie ihre Zeitung oft erst am Nachmittag hereinholte.

»Aber jetzt ist sie nicht mehr neu!«, fuhr Frau Nölke fort, die ihn offenbar gar nicht gehört hatte. »Dabei muss eine Zeitung neu sein, wenn man sie liest, sonst…« Nun, offenbar wusste sie nicht, warum das so war, also ließ sie es vorerst sein, ihren unbelehrbaren Mieter zu einem anständigeren Menschen zu erziehen. Sie schimpfte noch ein bisschen mit Jarre, dem großen, gut aussehenden Akademiker mit seinen unzähmbaren schwarzen Haaren, dem man eigentlich gar nicht böse sein konnte, dann stapfte sie wieder in ihre Wohnung, wo sie die nächsten Stunden darauf warten würde, einen ihrer anderen Mieter bei einer Missetat zu entdecken.

Jarre gestand sich ein, dass er wohl eine Zeitung kaufen musste, wenn er wissen wollte, was am Wochenende los war. Und wenn er einmal vor der Tür war, konnte er sich eigentlich auch gleich Brötchen besorgen und richtig frühstücken, statt nur eine Tasse Kaffee zu trinken. Er wühlte in seinen Hosentaschen und fand eine Mark, die leicht für drei Brötchen und eine Zeitung reichen würde. Dann warf er sich sein Jackett über und lief rasch zum Bäcker zwei Straßen weiter, wonach er einen kleinen Umweg zum nächsten Kiosk machte, um eine Zeitung zu kaufen. Schon 20Minuten später saß er wieder an seinem Küchentisch.

Da er das Gedudel von Radio Luxemburg mittlerweile leid war, stellte er die Frequenz von BFBS Radio 1 ein. Die Briten spielten wenigstens hin und wieder etwas anderes als die Beatles oder ›Strangers in the Night‹. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie regelmäßig die Rolling Stones auflegten, was bei den Luxemburgern seltener der Fall war. Außerdem war der Empfang auf UKW einfach besser, selbst mit seinem Telefunken Opus2550, den er sich Anfang des Jahres gegönnt hatte und auf den er besonders stolz war. Das Riff von ›Satisfaction‹ klang auf dem Apparat besonders klar und es ging ihm jedes Mal in die Knochen, was die Beatles bis heute nicht geschafft hatten. Er wünschte sich, dass die Briten heute Morgen noch das eine oder andere Stück der Stones spielen würden.

Jarre war erleichtert, denn die Moderatoren hatten bisher nicht allzu viele Bemerkungen über die gewonnene Weltmeisterschaft verloren. Er rechnete ihnen das hoch an und fragte sich, was sein Kunde, den er heute Mittag vom Flughafen abholen musste, Colonel Kendrick-Wales, zum Sieg der englischen Mannschaft zu sagen hatte. Nicht viel vermutlich, hoffte er, wenn er wirklich Waliser war.

Dann goss er sich einen zweiten Kaffee ein und warf endlich einen Blick in die Zeitung, die er bislang nur überflogen hatte. Natürlich war auf der ersten Seite ein Foto der deutschen Nationalmannschaft, die als moralische Weltmeister aus England zurückgekehrt waren. Immerhin drei Seiten widmete die Zeitung dem Vizeweltmeister, und die Berichterstattung ließ ahnen, dass man eine Weile darüber reden würde, ob das 3:2 der Engländer nun ein Tor war oder nicht. Leider gab es auch ganz andere Schlagzeilen, die einen grimmigen Ausdruck auf Jarre Behrends Miene zeichneten. Die USA weiteten offenbar ihr Bombardement der entmilitarisierten Zone in Vietnam aus, während U Thant weiter versuchte, eine Eskalation des Krieges zu verhindern. Das war keine dankbare Aufgabe, die sich der Generalsekretär der UNO gestellt hatte, dessen war sich Jarre sicher, zumal die bundesdeutsche Regierung erklärt hatte, den Krieg der USA in Vietnam zu unterstützen. So ein Quatsch! Der Anblick der brennenden Trümmer Hannovers, der sich ihm in seiner Kindheit unauslöschlich eingeprägt hatte, erinnerte ihn immer wieder daran, dass es sich niemand erlauben durfte, einen Krieg zu unterstützen.

Kopfschüttelnd blätterte Jarre weiter, aber auf den nächsten Seiten stand wenig, was ihn aufheitern konnte. Die Üstra wollte einmal wieder die Preise für Bus- und Straßenbahnkarten erhöhen, und die Briten hatten weiterhin Probleme mit dem hoffnungslos überbewerteten Pfund. Naja, das ging höchstens Colonel Kendrick-Wales etwas an, nicht ihn. Interessanter war da die Geschichte, dass eine Diebesbande in den letzten Minuten des Endspiels am Samstag in ein Geschäft am Friedrichswall eingebrochen war und Schmuck im Wert von 15.000DM gestohlen hatte. Offenbar hatte sich in der Aufregung über das Finale niemand darum gekümmert, dass jemand dabei war, die Schaufensterscheibe des Kunstsalons einzuschlagen. Jarre nahm amüsiert zur Kenntnis, dass die Diebe offensichtlich richtig geraten hatten, welche Prioritäten eventuelle Zeugen setzen würden. Manchmal waren die Menschen doch zu leicht zu durchschauen, dachte er.

Egal, es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg zum Flughafen machte. Mit einem Seufzen legte er die Zeitung beiseite, schaltete das Radio aus, schnappte sich sein Jackett und seine Autoschlüssel. Er lief die vier Treppen nach unten zu seinem vor dem Haus geparkten Auto.

Seit letztem Jahr war Jarre stolzer Besitzer eines dunkelroten VW 1600TL. Er hatte sich damals gegen einen Variant und für einen Gepäckträger auf der Heckklappe entschieden. Er fand, dass das einfach besser aussah, und selbst in seiner Rolle als Veranstalter von Kulturreisen hatte er selten so viel Gepäck zu transportieren, dass es in der Limousine keinen Platz hatte. Das Auto hatte seinen neuen Geruch noch nicht ganz verloren, und er freute sich jedes Mal wieder, wenn er sich hinter das Steuer setzen konnte, mit dem er auf der Autobahn schon 130 Stundenkilometer gefahren war. Auch diesmal würde er ein gutes Stück Autobahn fahren, und er nahm sich vor, die 130 zu knacken, wenn er die Hildesheimer Börde hinabfuhr. Der Colonel war Soldat, dem würde das gefallen.

Jarre, der vor zwei Jahren mit ausgezeichneten Leistungen in Kunstgeschichte promoviert hatte, fand Spaß an kleinen Abenteuern und war daher seit einigen Monaten Eigentümer eines Reiseunternehmens für ausgefallene Kulturreisen. Colonel Kendrick-­Wales, den er am Flughafen abholte, war sein erster Klient aus dem Ausland. So wie es aussah, würde er Hannover nicht von seiner schönsten Seite kennenlernen, sondern eher von seiner typischen Seite, grau und nicht besonders warm. Andererseits war er sicher nicht Besseres gewohnt, denn Jarre kannte das Wetter in London und wusste, dass es im Sommer weit entfernt davon war, selbst den bescheidensten Sonnenanbeter zu begeistern. Außerdem hatte sein Klient sowieso sonderbare Ideen, was die Gestaltung seines Urlaubs in Deutschland anging. Er hatte sich einige Ziele ausgesucht, die ziemlich sonderbar waren, und zahlte dafür sehr gut. Jarre freute sich auf das Treffen mit dem Colonel, denn er schien ein interessanter Kunde zu sein, und seine Pläne versprachen ein paar aufregende Tage.

Leider wusste Jarre in diesem Moment nicht, wer sich noch alles für den Colonel interessierte und dass ihm in der Tat Tage bevorstanden, die mehr als aufregend sein würden.

Als Jarre Behrend wenig später auf der Vahrenwalder Straße vor einer Ampel stand und auf die Autos vor ihm sah, hatte er wieder einmal Gelegenheit, sich einer seiner Lieblingsideen zu widmen–herauszufinden, welche wohl Hannovers langwierigste Straße war. Zugegeben, die Hildesheimer Straße mit ihren acht Kilometern Länge war sicher die längste Straße Hannovers, aber vermutlich nicht die langwierigste. Er hatte jedes Mal wieder den Eindruck, dass es weitaus länger dauerte, auf der deutlich kürzeren Vahrenwalder Straße voranzukommen. Auf dieser Straße war es schon ein Erfolg, wenn man eine Ampel gleich bei grün erwischte und nicht mehrere Phasen warten musste. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass es mittlerweile fast 100.000Autos in Hannover gab, und er war der festen Überzeugung, dass alle im Moment auf der Vahrenwalder Straße unterwegs waren.

Ganz wie erwartet hatte Jarre an diesem Morgen genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, wobei er die Gelegenheit wahrnahm, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, die neben ihm in ihren Autos saßen. Den besten Anblick bot heute eine Dame unbestimmbaren Alters, die ebenso stolz aus dem Auto schaute, wie der Windhund auf dem Sitz hinter ihr.

Während er den Mittellandkanal überquerte, kam er letztendlich zu dem Resultat, dass Wolken im August, übermäßige Zeitungslektüre am Morgen und Staus auf der Vahrenwalder seiner Laune weitaus abträglicher waren, als es gut für ihn war. Deswegen riss er sich zusammen und machte gute Miene zu einem Sommertag in Hannover, der so recht keiner sein wollte.

Wenig später erreichte Jarre Behrend den Flughafen in Langenhagen und fand sogar direkt vor dem Eingang der Abflughalle einen Parkplatz, was er als gutes Omen betrachtete. Nachdem er den VW abgestellt hatte, überquerte er rasch das kleine Rasenstück und hielt auf das weit geschwungene Dach vor dem alten Hangar zu, der in den Fünfzigerjahren zur Abflughalle des Flughafens umgebaut worden war. Er ertappte sich dabei, dass er die ersten Takte von ›Paperback Writer‹ summte, was ihm fast wie ein Verrat an den Rolling Stones vorkam. Er versuchte, sich an ›Get Off My Cloud‹ zu erinnern, blieb jedoch bei den Beatles, denn er merkte, dass das Stück der Stones eigentlich von ihm verlangt hätte, lauthals singend durch den Hangar zu laufen.

In der Halle mit ihrer kühlen, funktionalen Atmosphäre warf er einen Blick auf die Anzeigetafel und stellte fest, dass der Flug aus London, mit dem Kendrick-Wales ankommen sollte, sich etwa 20Minuten verspäten würde–endlich einmal eine positive Überraschung, denn dadurch hatte er genug Zeit, sein Frühstück um eine weitere Tasse Kaffee zu ergänzen, die seinen Koffeinspiegel auf einen erträglichen Wert heben würde.

Mit langen Schritten nahm er die Treppe am anderen Ende der Halle, die in einem weiten Bogen zur Galerie mit dem Café gleich hinter der Glasfassade der Halle führte. Dort fand er einen Platz auf der Außenterrasse, bestimmt ein gutes Zeichen. Bei der adretten Kellnerin mit der frisch gestärkten Schürze bestellte er ein Kännchen Machwitz-Kaffee und streckte behaglich die Beine aus, während er über den Flugplatz blickte. Er dachte darüber nach, was Colonel Kendrick-Wales für ein Mensch sein mochte. Aber der einzige Colonel, an den er sich erinnern konnte, war Alec Guinness in ›Die Brücke am Kwai‹. Irgendwie passte das zu dem Bild, das er sich gemacht hatte, denn Alec Guinness wirkte immer ausgesprochen geheimnisvoll und die erste Nachricht des Colonels hätte fast aus einem Agentenfilm stammen können.

Die Nachricht des Colonels war an Behrends Firma KultTouren gegangen, die ihren Kunden die einmalige Chance bot, kultur- und kunsthistorische Zeugnisse in Norddeutschland und in einem Großteil Europas auf ganz eigene Art zu erleben. Jarre hatte die Firma hauptsächlich zu seinem eigenen Vergnügen gegründet, nicht um viel Geld damit zu verdienen. Denn obwohl er es nie zugab, so war Behrends Leben doch viel einfacher geworden, als er mit 18Jahren 20Prozent der Firma seines Vaters überschrieben bekommen hatte, obgleich er nie darum gebeten hatte. Direkt nach seinem Studium hatte er erhebliche Provisionen dafür kassiert, dass er einige im Zweiten Weltkrieg verschwundene Kunstwerke wieder aufgetrieben hatte. Somit konnte er es sich leisten, etwas zu warten, bis seine neue Firma Erfolg haben würde. Außerdem wusste er, wie abenteuerlich die Beschäftigung mit Kunst sein konnte, und er war fest überzeugt, dass auch andere Menschen seine Leidenschaft teilen würden. Er war sich sicher, dass er mit Touren, bei denen das Abenteuer im Vordergrund stand, gutes Geld zu verdienen war, selbst wenn es nur darum ging, die alten Stadtmauern von Hildesheim zu erkunden.

Daher hatte er ein Programm entwickelt, das seinen Kunden ein ungewöhnliches Angebot machte, indem sie Kunst und Kultur Deutschlands durch abenteuerliche Exkursionen näher kennenlernten. Dazu gehörten Klettertouren in den alten Bergwerken des Harzes genauso wie Kajaktouren auf den Flüssen, die durch die sehenswerten Städte Niedersachsens flossen. Natürlich durfte die Suche nach Schätzen jeder Art in seinem Programm nicht fehlen, obwohl er selbstredend keine Erfolgsgarantien gab, schon gar nicht, wenn die Kunden wieder einmal in irgendeiner Grube im Harz nach dem Bernsteinzimmer suchen wollten. Behrend erlaubte sich sogar, sehr wählerisch in Bezug auf seine Kunden zu sein. Denn für ihn waren der Erfolg und der Spaß an seinen Touren fast wichtiger als für seine Kunden. Es war sinnlos, eine Tour durchzuführen, bei der er sich selbst langweilte, und so verzichtete er lieber darauf, solche Angebote überhaupt durchzuführen.

Colonel Kendrick-Wales war für Jarre ein in vieler Hinsicht typischer Kunde. Er hatte anscheinend genug Geld, um sich seine Dienste leisten zu können, und er war versponnen genug, um mit Jarres Hilfe hinter den Geistern der Vergangenheit herzujagen. Der kurze Brief, den er vor ein paar Wochen geschickt hatte, hatte Jarre besonders hellhörig gemacht. Alle seine Sinne hatten automatisch auf ›Achtung! Interessanter Kunde!‹ geschaltet, als er die Zeilen las, die der Colonel auf Deutsch an ihn geschrieben hatte: ›Ich biete ihnen die besten Grusse von Trevor Haines. Seine Nachricht ist Roma Eterna. Das Angebot ist interessant. Rufen Sie mich an unter 0044-01-555736.‹

Das war der ganze Text, der handschriftlich auf einem kleinen Blatt gestanden hatte. Die Telefonnummer war offenbar eine der brandneuen Nummern, die es jetzt in London gab und die nur noch aus Ziffern bestanden. Dabei wies nicht allein die Telefonnummer, sondern auch die etwas barocke Ausdrucksweise des Schreibers darauf hin, dass die Nachricht von einem Briten stammte, und zwar von einem, der sein Deutsch eher mühsam gelernt hatte. Doch das war nicht das wirklich Spannende an dem Brief, sondern der Hinweis auf Trevor Haines, der voriges Jahr Jarres erster Kunde gewesen war.

Jarre musste unwillkürlich lächeln, als er an den exzentrischen Millionär dachte. Er hatte dessen Sohn, Gerald Haines, einen feingeistigen Snob, während seines Studiums am Courtauld Institute of Art in London kennengelernt. Geralds Vater besaß ein Transportunternehmen und etliche Schiffe, die bereits früh auf die neuen Container vorbereitet gewesen waren, wodurch er eine unanständige Menge Geld verdient hatte. Er konnte sich jeden Luxus leisten, den er wollte, und meistens hatte dieser Luxus etwas mit Geschichte oder Kunst zu tun. Nachdem Jarre Trevor Haines bei einer Party kennengelernt und der gerissene Geschäftsmann an dem unkonventionellen jungen Studenten einen Narren gefressen hatte, versuchte er immer wieder, Jarre zu unorthodoxen Unternehmungen anzustacheln.

Irgendwann hatte sich Jarre geschlagen gegeben und sich bereit erklärt, Trevor zusammen mit Gerald an eine Stelle im Nettetal am sogenannten ›Harzhorn‹ bei Northeim zu führen, wo den Gerüchten nach einst eine Schlacht zwischen Römern und Germanen stattgefunden hatte. Trevor Haines war geradezu besessen von der Idee gewesen, dass er dort alte Römerhelme und Schwerter finden könnte, die er seiner Sammlung einverleiben wollte.

Also war Jarre ins Nettetal gefahren und hatte anhand alten Kartenmaterials einen Plan entworfen, wo und wie er als römischer Feldherr die Germanen, die immerhin einst den großen Varus geschlagen hatten, angegriffen hätte, um herauszufinden, an welcher Stelle sie am ehesten die Überreste der Schlacht finden würden. Am nächsten Wochenende hatte er dann Trevor Haines an genau diese Stelle begleitet, wobei Gerald den leicht nöligen und gelangweilten Anhang gebildet hatte.

Nach intensiven Stunden, die die drei mit den neuesten Metalldetektoren verbracht hatten, hatten sie–sehr zu Jarres Erstaunen–tatsächlich Überreste einer Römerschlacht gefunden. Dabei waren sie über mehr Römerrüstungen gestolpert, als alle drei tragen konnten. Sogar Gerald Haines war begeistert gewesen, und sein Vater hatte noch vor Ort Behrends Honorar verdoppelt. Jarre hatte in den nächsten Tagen sehr lange überlegt, was er wohl richtig gemacht hatte.

Nachdem Haines sich einen reichlichen Finderlohn an römischen Schwertern und Helmen gesichert hatte und wieder abgefahren war, hatte Behrend ein paar Tage im Schock verbracht, ehe er ans Harzhorn zurückgekehrt war, um die Spuren von Haines’ Raubzug und die Reste der Fundstelle möglichst gut zu verdecken, bis die Überbleibsel der Römerschlacht irgendwann einmal offiziell entdeckt werden würden. Das war sicherer so, und auch Trevor Haines, dem die aufpolierten römische Helme in seinem Arbeitszimmer weitaus wichtiger gewesen waren als jeder Entdeckerruhm, hatte mit dieser Lösung gut leben können. Das ungewöhnliche Ergebnis dieser Tour und sein beachtliches Honorar hatten Jarre überzeugt, dass er einen Job gefunden hatte, der ihm wirklich lag.

Dass sich der geheimnisvolle Briefschreiber auf dieses Abenteuer bezogen hatte, war vielversprechend gewesen, und Jarre hatte nicht lange mit seinem Anruf in London gezögert. Noch interessanter war die Summe, die ihm Colonel Kendrick-Wales bei ihrem ersten Ferngespräch angeboten hatte, falls Behrend sich nicht nur bereit erklärte, mit ihm zwei Wochen lang deutsche Archive und bestimmte Orte im Harz aufzusuchen, die mit dem Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang standen, sondern auch versprach, darüber absolutes Stillschweigen zu bewahren. Da das eine von Behrends leichtesten Übungen war, hatte er schnell zugestimmt, den Colonel an die gewünschten Orte zu bringen. Dass dabei sogar Orte in der Ostzone vorgesehen waren, hatte ihn nur wenig berührt, da die Einreiseregelungen für Briten trotz des Mauerbaus nach wie vor relativ großzügig waren. Schließlich war es den Bonzen des Polit­büros durchaus recht, wenn jemand ins Land hineinwollte. Sie wollten lediglich verhindern, dass jemand es verließ.

Nachdem der Colonel ihm eine präzise Wunschliste bezüglich der Orte, die er ansehen wollte, übermittelt hatte, waren arbeitsreiche Wochen für Jarre angebrochen. Er hatte feststellen müssen, dass es schwierig war, die sehr detaillierten Wünsche seines Kunden zu erfüllen. Aber da man im Harz offenbar auf jeden Besucher Wert legte und nicht vorhatte, einen zahlungswilligen englischen Colonel mit kleinlichen Vorschriften abzuschrecken, hatte Behrend alle Termine arrangieren können, selbst wenn es dazu mehrerer Ausnahmegenehmigungen bedurfte.

Behrend wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er hörte das laute Dröhnen einer Maschine, die sich dem Flughafen näherte. Das musste der Flieger der British European Airways sein. Tatsächlich konnte er wenig später die Vickers Vanguard sehen. Sie flog noch mit Propellern, obwohl alle davon sprachen, dass das Zeitalter der Düsenjets angebrochen sei. Jarre musste daran denken, wie die Briten an längst überholten Traditionen festhielten. Das war eine Eigenheit, die er sehr charmant fand. Ob das auch für den Colonel galt?

Auf jeden Fall freute sich Jarre auf die sicherlich interessante Begegnung mit dem Engländer. Und als er wenig später auf das Rollfeld hinausging, um Daniel Kendrick-Wales zu begrüßen, konnte er nicht ahnen, wie interessant das Treffen mit dem Colonel wirklich werden würde.

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Tatsächlich warteten in der Flughafenhalle zwei Männer auf Colonel Kendrick-Wales. Oberst Leonid Leonow und Leutnant Lew Tzarkas versuchten ihr Bestes, um nicht aufzufallen. Aber man sah ihnen an, dass sie sich in Zivilkleidung nicht wohlfühlten. Sie trugen ihre Anzüge mit den tadellos gebügelten Hemden und den schmalen Krawatten, als wären sie Kostüme, die man am liebsten rasch loswerden möchte. Der Eindruck wurde dadurch unterstrichen, dass Tzarkas seinen dunkelbraunen Hut in den Händen immer wieder kreisen ließ. Selbst an den anderen Reisenden, die fröhlich plaudernd durch die Halle eilten, nahmen sie sich kein Vorbild, sodass sich ihre Stimmung nicht einmal so weit besserte, dass sie zumindest den Anschein von Lockerheit erweckt hätten. Niemand hätte in den beiden Männern, die vor dem Schalter der Deutschen Bank standen, etwas anderes vermutet als Polizisten oder Soldaten.

»Wie erkennen wir ihn?«, fragte Tzarkas, nachdem die beiden sich mit finsteren Mienen fast zehn Minuten angeschwiegen hatten.

»Ich erkenne ihn schon«, brummte der Oberst und legte eine Hand auf die Tasche seiner Jacke, in der sich ein Foto des Colonels befand.

Tzarkas nickte, denn das war alles, was er wissen wollte. Solange von ihm nicht verlangt wurde, den Colonel zu identifizieren, würde er sich nicht darum reißen, dafür wurde er nicht bezahlt. Dann merkte der Leutnant, dass Leonows Haltung sich versteifte, als er zur Tür sah, die auf das Flugfeld führte. Dort betraten gerade die ersten Passagiere des Flugs aus London die Halle. Noch war das Paket nirgendwo zu sehen, aber es konnte nicht mehr lange dauern.

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