Welt unter - Thor Kunkel - E-Book

Welt unter E-Book

Thor Kunkel

1,0

Beschreibung

Liegt im Klimawandel vielleicht die große Chance der Menschheit? Als die Naturaktivistin Freya Velden auf Grönland eintrifft, ahnt sie nicht, dass sie dort inmitten von Inuitsiedlungen die Entstehung einer neuen Welt miterleben wird. Denn während Eurasien im Hochwasser versinkt, hat die Natur längst eine Lösung parat: Menschen, die – mit Kiemen geboren –in der Lage sind, unter Wasser zu atmen. Auch der Hydrotechniker Frodo zählt zu den ersten Mutanten, seine Kiemen wurden allerdings chirurgisch entfernt. Auf der Bohrinsel Devon III, mitten im grönländischen Scorebysund, trifft er zum ersten Mal auf seinesgleichen und eine Sekte namens der "Devonische Zirkel", die den steigenden Meeresspiegel als Waffe gegen die Landbewohner versteht ...

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THORKUNKEL

WELTUNTER

ROMAN

1. eBook-Ausgabe 2022

Deutsche Erstausgabe

© 2022 by Thor Kunkel

© 2022 Golkonda Verlag in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Sharxpierre

Lektorat: Silwen Randebrock, Berlin

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva, Donaueschingen

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-96509-062-0

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.golkonda-verlag.com

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INHALTSVERZEICHNIS

INTRO: Land unter

1. TEIL: Flucht nach Grönland

2. TEIL: Die Devonischen

INTERLOG I: Regenhaut

3. TEIL: Das Ende der Alten Welt

INTERLOG II: Mutter der Tiefe

4. TEIL: Das Versteck

EPILOG: Morgen ist ein neuer Tag

Ich glaube an die friedliche Koexistenzvon Menschen und Fischen.

– GEORGE W. BUSH, 43. Präsident der USA

INTRO

LAND UNTER

Ockholm – Oland – Dagebüll, Hallig-Archipel, 5.12.201354°40′54.8″N 8°45′19.1″E

An Schauer und Nieselregen war die Hebamme Janne Segers nach zehn Jahren Bereitschaftsdienst Nordfriesland gewöhnt, doch an jenem 5. Dezember des Jahres 2013 – als das gewaltige Sturmtief über den Halligen tobte – schien es ihr, als habe Petrus vergessen, den Wasserhahn über den Wolken zu schließen. Als Janne aus dem Bus kletterte, war die Landungsbrücke im Fährhafen Schlüttsiel bereits in der schäumenden Nordsee verschwunden. Sintflutartige Regengüsse peitschten darüber hinweg, selbst der Parkplatz stand eine gute Handbreit unter Wasser. Was ging hier vor? Unterwegs hatte Janne immer wieder Löschzüge der Feuerwehr und Ambulanzen gesehen. Schuld waren vielleicht die vielen ausgefallenen Ampeln, die zu einem allgemeinen Verkehrschaos führten. Mit einem mulmigen Gefühl und eingepackt, als ob es auf den Mount Everest ginge, versuchte sie sich zu orientieren. Scheibenkleister, die Gläser ihrer Brille schienen vom Regen wie mit Vaseline verschmiert, der Trick mit dem Finger-Scheibenwischer, den jede Notfallhebamme kennt, ließ die Dinge noch mehr ineinander verfließen. Was blieb, war ein monochromes Grau, in dem ein paar gelbe und blaue Südwester wie verlorene Farbkleckse wirkten. Schlimmer noch, als sichtbehindert durch knöcheltiefe Pfützen zu waten, war es, sich diesem eiskalten Wind entgegenzustemmen. Irgendwo in der Ferne glaubte sie das Gebimmel einer Glockenboje zu hören und dann zwei Böllerschüsse, was an der Küste als Sturmwarnung gilt. Einmal abgesehen von einem einsamen Licht im Fährgebäude, machte der Hafen einen gottverlassenen Eindruck. Die Wolken hingen so tief, dass sie fast das Flachdach berührten. In der ebenfalls unter Wasser stehenden Auffahrt wirkten zwei Sandsäcke schleppende Arbeiter wie skurrile Tiere, die in den Wellen trieben und Janne besorgte Blicke zuwarfen. Der wild vor sich hin schaukelnde, angedockte Kutter am Ende des Piers war höchstwahrscheinlich ihr Wassertaxi, das letzte, das an diesem Abend Kurs auf die Halligen nahm. Der reguläre Fährbetrieb war bereits um die Mittagszeit eingestellt worden, schließlich hatten die meisten Marschinseln Land unter gemeldet – Tendenz steigend, wie es vonseiten der Pegelmessstelle hieß. Auch auf Jannes Reiseziel Oland musste man sich auf eine ungemütliche Winternacht einstellen. Der riesige Wirbel auf der Wetterkarte – ein Orkan namens Xaver – hatte sich dem Archipel bis auf Tuchfühlung genähert. In einer halben Stunde würde die Schlechtwetterfront mit voller Wucht eintreffen.

»Hier rüber, Sie Blindfisch … Kommen Sie, kommen Sie … wir müssen los!«

Ein hagerer, Pfeife rauchender Mann in einer asymmetrisch zugeknöpften Öljacke und geflickten Watthosen kam ihr mit großen Schritten entgegen. »Dunnerslag noch mal, haben Sie ’nen Umweg über Husum gemacht?« Janne hatte keine Lust, sich groß zu erklären. Im Vorbeigehen warf sie ihm ihre Segeltuchtasche vor die Brust und marschierte freihändig und mit nassen Füßen über die durchgebogene Planke an Bord.

»Was für eine aparte Rostlaube … Sind Sie sicher, dass wir nicht absaufen werden?«

Der Mann schob sich die Kapuze aus der grindig fleckigen Stirn. Sein vom Wetter gegerbtes Gesicht hatte einen verschlagenen, vielleicht auch nur abfälligen Ausdruck. Schließich verzog er den ungewöhnlich wulstigen Mund, als hätte er auf etwas Saures gebissen, und warf die Tasche zurück.

»Wieso haben die nicht die Hinkel geschickt?«, knurrte er, während er die Leinen losmachte. »Die Helma Hinkel-Hebamme. Ich meine, Sie sind ja selbst noch ein halbes Kind …«

»Das habe ich schon öfters gehört«, sagte Janne, die tatsächlich immer jünger eingeschätzt wurde, als sie in Wirklichkeit war. Sie verzog sich ins Steuerhaus, um ihre Schuhe und Füße zu trocknen. »Wahrscheinlich liegt das an meinem netten Gesicht, was meinen Sie?« Seit zwei Jahren zählte die gebürtige Hanseatin zum Inventar einer Hebammenpraxis in Niebüll und war sozusagen mit allen Amnionwassern1 gewaschen. Bereitschaftsdienst, selbst unter diesen Umständen, war nichts Neues für sie. Als die Gemeindeschwester der Hallig Hooge anrief und von einem Notfall auf der Nachbarinsel sprach, hatte sie keine Sekunde gezögert. »Fahren wir jetzt, Herr …?«

»Silas.« Der Mann im Friesennerz schien sich zusammenzureißen. »Wolfjen Silas, von allen hier Sielwolf genannt. Hauptberuflich mach ich den Postschiffer, aber bei dem Schietwetter bleibt halt auch der andere Mist an mir hängen.«

Unter der tief ins Gesicht gezogenen Mütze waren nur ein nasser Vollbart, struppige Brauen und zwei Augenschlitze zu sehen. Und doch, so kerzengerade, wie er ans Steuer trat und den Motor anwarf, entsprach er trotz seines Alters durchaus dem Klischee vom hohen, harten Friesengewächs.

»Nix för ungoot, Fräulein, aber sind Sie wirklich Hebamme?«

»Jo«, sagte Janne in einem patzigen Ton, »wollen Sie meine Zulassung sehen?« Und als er nichts erwiderte: »Ihre Hinkel-Helma liegt leider mit Grippe im Bett. Alles klaro, mein Bester?« Und als er endlich verlegen nickte: »Man sagte mir, die Schwangere besteht auf ’ner Wassergeburt. Ist das korrekt?«

»Könnte sein«, brummte Silas. »Ja, das passt zu Froschtrud wie Arsch auf Eimer. Entschuldigung, das ist so ’ne Redensart hier im Norden.«

Froschtrud? – Janne zog es vor, nicht weiter zu fragen. Bei Hausgeburten lernt man immer ungewöhnliche Menschen kennen – alternative Bäuerinnen, mit Mondzyklus-Tätowierungen und Hippie-Göttinnen, die darauf bestanden, die Nachgeburt zu verspeisen, dann wieder vollverschleierte Frauen, die ununterbrochen vor sich hin beteten, und vergeistigte Akademikerinnen, die unter der elementaren Naturgewalt des Gebärens förmlich zerbrachen. Eine Professorin der Mathematik hatte ihre Schwangerschaft »thalassale Regression zur Amöbe« genannt und die Geburt mit einer Szene aus einem Horrorstreifen verglichen. Die wenigsten hatten die Niederkunft als glorreiches Ich-stehe-meine-Frau-Erlebnis verbucht.

Der alte Kutter hatte inzwischen das tosende Hafenbecken verlassen. Im Radio gemahnte ein Insel-Bürgermeister zur Ruhe, die Halliglüüd2 hätten schon Herberes als dieses Lüftchen gesehen. Er glaube nicht, dass die Marschinseln so wie ’62 bei der Sturmflut blank gehen würden, was wohl bedeutete, dass die Warften und Salzwiesen temporär in den Fluten verschwanden und die Bewohner in ihren auf stählernen Stelzen gebauten Hochbunkern tagelang ausharren mussten. Wer die Einheimischen kannte, der wusste, dass hier niemand Angst vor Überschwemmungen hatte. Immerhin bringt das Wasser neues Land mit sich, es polstert Weidegrund auf und schließt Lücken zwischen den Warften. Der Ruf »Land unter« brachte hier niemanden aus der Ruhe.

»Windstärke sieben«, meinte der Skipper, wobei zunächst nicht klar war, ob er ein Selbstgespräch führte. »Noch geht’s, aber man muss bei Nordwestwind aufpassen, sonst heißt’s plötzlich Kiel oben. Und da die Wassertemperatur mehr als hummerkalt ist, kann’s sein, dass man nur noch als Eisblock aus der See gefischt wird.« Er stieß ein röchelndes Lachen schnell hinterher. »Waren Sie schon mal auf den Halligen, Fräulein?«

»Leider nein«, erwiderte Janne und mimte ein bedauerndes Lächeln. »Entschuldigen Sie, wieso meinten Sie vorhin, eine Wassergeburt passt zu meiner Klientin?«

»Na ja, sie ist ja nicht umsonst mit unserem Beckenrand-Sheriff liiert …« Er drehte langsam den Kopf und schenkte Janne einen schalkhaften Blick. »Sie heißt eigentlich Gjertrud, aber die Lüüd hier nennen sie Froschtrud, wahrscheinlich weil sie mal einen Tauchrekord aufgestellt hat.« Neben der höllischen Geräuschkulisse aus Motorgeräusch und Fahrtwind war er schwer zu verstehen. »Ein Trumm von einem Weib, sag ich Ihnen, aber schwimmt wie ein Fisch.«

»Sportlerherz also, demnach beste Voraussetzungen.« Janne machte sich ihre Notizen. Das ersparte ihr die Aussicht auf sich heranwälzende Wellenberge und dunkles, regenschweres Gewölk, das in den letzten Minuten die Farbe einer reifen Aubergine angenommen hatte. Schließlich war ihre Brille inzwischen geputzt, und in dieser Schärfe war das Naturschauspiel ziemlich bedrohlich. Irgendwann zuckte aus dem Dunkel ein mächtiger, weißer Blitz, der ein Nachbild auf ihrer Netzhaut erzeugte. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ließ die Scheiben des Kutters vibrieren, und zum ersten Mal glaubte Janne durch das von Algen und Tang gesprenkelte Plexiglas in der Ferne eine lang hingestreckte Insel zu sehen. Nach einem schwimmenden Traum – wie Theodor Storm die Halligen einst nannte – sah diese Insel nicht aus.

»Gjertrud ist die beste Rettungsschwimmerin, die ich kenne«, fuhr Silas jetzt fort. »Und sie ist eine Einheimische. Ihr Mann ist ein Zugezogener, aber dann – wer ist das nicht? Früher zogen die Leute auf die Halligen, um was Urtümliches zu erleben. Oder um ihre Ruhe zu haben. Die meisten hatten aber nach ein paar Jahren und unschönen Begegnungen mit dem Blanken Hans wieder genug und zogen aufs Festland zurück. Die echten Einheimischen sind ganz anders … die sind hier wegen dem Meer, man könnte sagen, diesen Leuten kann es nicht nass genug sein.«

»Tja, man muss es mögen, immer mit einem Fuß im Wasser zu stehen.«

»Sie sagen es, Fräulein, manche scheinen sich auf den Anstieg des Meeres sogar zu freuen. Ekke Nekkepenn hätte an denen seine Freude gehabt …«

»Ekke wer?«

»Na, der alte friesische Meeresgott.« Wieder stieß er dieses röchelnde Lachen hervor. »Sie können das natürlich nicht wissen, Ihre Generation kennt Shiva und Shakti, aber von den alten Naturgöttern Europas haben sie noch nie was gehört. Hab ich recht?« Er schaltete die Bordscheinwerfer ein, denn es war schlagartig dunkel geworden. »Hier draußen auf den Halligen, vor allem im Watt, ist Ekkes Wasserreich noch nicht verschwunden. Die Touris haben da kein Auge für, aber es finden sich sogar noch kleine Opferstätten am Strand.«

»Naturheidentum«, frotzelte Janne, »ist voll im Trend …«

»Das würde ich so nicht sagen. Aber die Einheimischen schämen sich nicht, das Ungetüm vor ihrer Haustür günstig zu stimmen. Man tötet Götter, indem man aufhört, an sie zu glauben, verstehen Sie? Aber die echten Arbeiter des Meeres, die Wasserbauern und ihre Familien, haben nie aufgehört, an bestimmte Dinge zu glauben. Der Mann von der Froschtrud ist auch einer von denen, treibt sich immer im Wattenmeer rum, und den alten Friesenspruch hat er holzgeschnitzt über der Tür: Lewwer duad üs Slaav3. Ein Bursche ganz nach meinem Geschmack!«

»Jo, kann ich verstehen!«, unkte Janne, die zum ersten Mal einen Anflug von Seekrankheit empfand. Wie gut, dass sie nichts zu Mittag gegessen hatte, denn ihre Wassertaxe bockte dermaßen, dass sie glaubte, auf einem Walrossbullen zu reiten.

Eher zufällig drehte sie dann den Kopf – vielleicht weil sie glaubte, trotz des heulenden Sturms eine Brandung zu hören – und erkannte in einer Zehntelsekunde den scharf geschnittenen Bug einer Jacht, und dieser Bug hielt genau auf sie zu.

»Backbord!«, hörte sie sich wie eine Sirene aufjaulen, aber der Sielwolf hatte längt reagiert. Das Steuerrad schnurrte, als ob es durchdrehen würde, und im selben Moment schrammte ein schattenhaftes Etwas in einer meterhohen Woge aufspritzender Gischt an ihnen vorbei.

»Die Jolle hat sich wohl irgendwo losreißen können«, erklärte Silas, »das fängt ja gut an.« Er griff nach einer Sturmlaterne, leuchtete in den Maschinenraum und hängte schließlich seinen Kopf in den Sturm.

»Scheint nur ein Kratzer zu sein«, nuschelte er. Der Ausdruck des Erschreckens stand noch in seinem Gesicht, als eine weitere herrenlose Schaluppe vorbeirauschte. Vielleicht war sie das Beiboot der Jacht.

»Dunnerslag noch mal to4! Der Sturm hat scheinbar in den Häfen gewildert. Wir werden aufpassen müssen.«

»Nur eine Frage«, schluckte Janne, »gibt es nicht auch einen Lorendamm rüber zum Festland?«

»Den gibt es«, sagte der Sielwolf. »Nach Dagebül. In Schlüttsiel gibt’s nur die Fähre.« Er war dabei, die Glut seiner erkalteten Pfeife neu zu entfachen. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie das aushalten. Ich meine, bei schönem Wetter ist die Fahrt durchs Wattenmeer ein Genuss, aber jetzt kriegen die Gleise mit Sicherheit einiges ab.« Er packte das Steuerrad wieder fester und machte Fahrt. »Wenn die Seifenkiste so durch die Wellen rauscht und man die Gleise vor lauter Brandung nicht sieht, das ist wirklich nicht schön.«

»Das muss nicht sein«, sagte Janne. Sie sah sich unauffällig nach einer Schwimmweste um und war froh, als sie in einer Ecke wenigstens ein paar Auftriebskörper und diverse Schwimmelemente entdeckte. Wahrscheinlich ein Überbleibsel vom Kindergeburtstag, dachte sie noch.

Während der Sturm sich hochschaukelte und der Sielwolf vor sich hin schwadronierte, schlingerte der Kutter zwischen meterhohen Wellen hindurch. Kaum tauchte der Bug des Schiffs in ein Wellental, da wurde es bereits wieder vom Wasser erfasst, hochgehoben und gegen die nächsten Wellenkeile geschleudert, wobei der Rumpf jedes Mal knarrte, als würde das Schiff auseinanderbrechen. Janne versuchte, die Überfahrt mit dem klassischen Ablenkungsmanöver ihrer Generation zu überbrücken, doch sie hatte keinen Empfang.

Eine halbe Stunde später tauchte endlich ein Leuchtfeuer auf, es gehörte zum einzigen reetgedeckten Leuchtturm der Welt, dem Leuchtturm von Oland, doch von dem Bauwerk war nur ein Schemen zu sehen.

»Da wären wir!«, brüllte der Sielwolf gegen den Wind. Er schlug sich dumpf vor die Brust. »Das ist Oland, mein Kind! – Hätte ehrlich gesagt selbst nicht gedacht, dass wir’s schaffen …«

Janne wusste nur, dass Oland eine kleine, oft übersehene Marschinsel war. Sie lag mitten im nordfriesischen Wattenmeer, rund fünf Kilometer von der größeren Insel Langeneß entfernt. Die grasreichen Gefilde befanden sich allerdings in diesem Moment unter Wasser, nur einige aus den Fluten ragenden Dalben und ein vom Wind mit den Wurzeln aufgehobener Baum ließen ahnen, dass sie sich in einem Hafen befanden.

»Muss mal sehen, wo wir am besten an Land gehen können.«

Jannes Kapitän, der mit seinem Marinescheinwerfer Lichtschneisen in die Dunkelheit bohrte, schien sich selbst orientieren zu müssen. Schließlich tuckerte er das Spalier der Dalben entlang und setzte Anker.

»Watthose an«, sagt er nur.

Froschtruds Warft, ein Haufen dicht gedrängter, reetgedeckter Häuser auf einem matschigen Erdhügel, war nur noch wenige Meter von den schäumenden, schmutzig braunen Fluten entfernt. Einen Landungssteg gab es nicht, auch von Behelfsbrücken war nichts zu sehen, Janne und ihr Begleiter wateten minutenlang in stockfinsterer Nacht durch hüfthohes, schäumendes Wasser. Tote Brachvögel trieben bäuchlings vorbei, aus weiter Ferne war das Brüllen und Blöken von Nutzvieh zu hören.

»Gehen Sie, gehen Sie …!«

Eine Gestalt kam ihnen halber Wege mit einer Sturmlaterne entgegen. Es war ein Junge, die Öljacke, die er trug, hing ihm wie ein langer Mantel um die Knöchel. Sein bleiches, scharf geschnittenes Gesicht wirkte auf eine beunruhigende Weise alt, so wie Kinder, die unter fortgeschrittener Progerie leiden.

»Mama wartet schon«, sagte er nur mit ächzender Stimme. »Bitte machen Sie schnell.«

Der matschige Weg zu dem hell erleuchteten Haus war so vollgesogen, dass er bei jedem Schritt schmatzte. Es ging an einem Gewächshaus und ein paar Regentonnen vorbei, unterwegs sorgten aufgeweichte Kuhfladenbriketts für einen penetranten Plumpsklo-Geruch.

Die Haustür unter dem Reetdach stand offen. Als Janne die Diele betrat, bemerkte sie einen Haufen Schüsseln und Eimer, in die es tropfte, die alten Dächer waren wohl nicht für diesen Dauerregen gemacht.

Das Wohnzimmer – die Döns, wie man auf den Halligen sagt – schien dagegen trocken zu sein. Vor dem Bilegger5 stand ein zierliches, blond bezopftes Mädchen in eine Decke gewickelt und sah sie ausdruckslos an. Die holzverkleidete Decke über dem Ofen war mit bäuerlichen Motiven verziert, alles machte einen folkloristischen Eindruck.

Ein kleiner, untersetzter Mann in einem bis zum Kinn geschlossenen Overall geleitete sie in die Stube. Er hatte etwas von einem Südeuropäer, freilich einem, dem Pasta und Wein die Figur versaut hatten. Unter dem Rand seiner Mütze glänzte ihm der Schweiß auf der Stirn.

»Was für ein Wetterchen«, sagte er zur Begrüßung, »danke, dass Sie gekommen sind … Elmar Peschke. Aber für Sie bin ich einfach der Elmar.«

»Janne Segers. Nett haben Sie’s hier …« Mit einem professionellen Lächeln begann Janne, sich aus ihrer Watthose, der Wachstuchjacke, den Fleecepullovern und Thermoleggins zu quälen.

Während der Sielwolf mit den Kindern scherzte und herumalberte, sah sie sich beiläufig um. Was für ein Chaos! An dieser Einschätzung konnten auch die gediegenen Eichenholzstühle, die Muscheluntersetzer auf dem Esstisch und ein Lüster nichts ändern. Wahrscheinlich hatte die Schwangere ab Schwangerschaftswoche 35 alles stehen und liegen gelassen. Die Regale hatten etwas von einem Exotik-Ramschladen. Vogeleier, Kastanienmännchen, Korken, eine Bleikristall-Muschel, uralte Videokassetten und ein Flaschenschiff kontrastierten mit Teedosen, Stanniolkapseln, Konserven, Zündholzschachteln und gestapelte Klopapierrollen. Die Verdrießlichkeit der jüngsten Sturmflut schien in Gestalt von einem halben Dutzend im Raum verstreuter Gummistiefel allgegenwärtig zu sein. Interessant waren die zu Kerzenleuchtern umfunktionierten Flaschen, Janne hatte dergleichen lange nicht mehr gesehen.

»Wo ist sie?«, erkundigte sie sich, nachdem sie ihre sterilen Handschuhe angelegt hatte, und erntete zunächst nur betretene Blicke.

»Hallo?«

»Kein Problem.« Elmar schien nach den passenden Worten zu suchen. »Eigentlich hatten wir eine andere Hebamme erwartet, doch wenn ich Sie richtig einschätze, dann wird es auch mit Ihnen gehen.«

»Aber ja, es ist nicht meine erste Wassergeburt.«

»Das ist gut … Hast du das gehört, Birte?« Er tätschelte dem kleinen Mädchen den Kopf. »Mama ist bei der Dame in guten Händen. – Wir haben hier im Haus eine Sauna«, sagte er dann, »und da gibt es ein größeres Becken. Gjertrud fühlt sich dort weniger eingeengt als in der Sitzbadewanne.«

»Mir soll’s recht sein.« Janne griff nach ihrer halb aufgeweichten Tasche. »Also, wo ist sie?« Es wunderte sie doch, mit welcher forschenden Eindringlichkeit sie angestarrt wurde. »Liegt sie schon in den Wehen? Braucht sie Schmerzmittel? Was ist denn los?«

»Nichts.« Elmar holte einmal tief Luft.

»Sie müssen jetzt sehr stark sein«, sagte er. Und mit einem Blick auf seine Kinder: »Papa bringt die Frau jetzt nach unten. Dass ihr dem Opa Silas mal nicht auf der Nase rumtanzt, ihr Rasselbande!«

Opa Silas? Diese Vertraulichkeit ließ Janne kurz aufhorchen, doch, natürlich, auf den Halligen kannte jeder jeden, und der Postschiffer war wahrscheinlich den meisten bekannt.

Schon als Elmar die mit d-c-fix-Birkenholzfolie verkleidete Sperrholztür öffnete, schlug Janne ein Geruch in die Nase, der sie eher an einen Fischmarkt erinnerte. Der Saunaraum war nicht groß, vielleicht vier mal fünf Meter, die tropfnasse Decke so niedrig, dass Janne den Eindruck hatte, sie müsse sich bücken. Auch die in einem dunklen Jadegrün gekachelten Wände waren mit Wassertropfen bedeckt. Ein Heizstrahler über der geschlossenen Saunakabine glühte matt vor sich hin. Der in den Boden eingelassene Pool war auf zwei Seiten von Kerzen und Windlichtern gesäumt. Künstliche Palmwedel, mit bronziertem Schilf gefüllte Flechtkörbe und ein Keramikfries, das offenbar eine meeresmythologische Szene darstellte, kontrastierten mit zerwühlten Wolldecken, Flanelltüchern, Thermoskannen fernöstlicher Machart und Überresten gepulter Krabben, die wahrscheinlich für den penetranten Geruch verantwortlich waren. Von einer Schwangeren war allerdings nicht das Geringste zu sehen.

»Nicht erschrecken«, sagte Elmar in diesem Moment. Er zog Janne mit sich zum Beckenrand und richtete den Strahl seiner Lampe direkt in den Pool. Eine vor sich hin dümpelnde Gummiente leuchtete auf, doch da war noch etwas, etwas, das eine innere Alarmsirene in Janne aufheulen ließ: Die Kräusel auf der Wasseroberfläche zauberten nicht nur wabernde Spinnennetze aus Licht auf die Kacheln, nein, sie bedeckten auch den nackten, bewegungslosen Körper einer Frau, deren meterlanges Haar wie die Fangarme einer Fächerkoralle über ihr schwebte. Als das Licht sie streifte, krümmte sich ihr Rücken ein wenig, durch die milchige Haut zeichneten sich Wirbel und ein Schulterblatt ab.

Janne wartete eine halbe Minute, dann hatte sie Mühe, einen in der Kehle steckenden Schrei wenigstens halbwegs zu unterdrücken.

»Wieso taucht sie nicht auf?«

»Ich sagte doch, nicht erschrecken.« Elmar legte Janne beruhigend eine Hand auf den Arm. »Meine Trude hatte immer schon eine besondere Beziehung zum Wasser«, flüsterte er. »Als die Wehen einsetzten, hielt sie es oben nicht länger aus.«

»Darum geht es nicht«, keuchte Janne. Brennende Hitze schoss ihr ins Gesicht, das Blut begann in ihren Schläfen zu pochen. »Für das Baby gibt es nichts Schlimmeres als Sauerstoffmangel, hat Ihnen das keiner gesagt?«

Elmar zuckte hilflos die Achseln. »Wir gehen … selten … zum Arzt. Zum einen sind wir nicht krankenversichert, und Gjertrud hat sowieso eine Pferdenatur.«

»Wie schön für sie«, sagte Janne, die eigentlich immer unter Erkältungen litt.

»Oh nein, wollen Sie damit sagen, es gab noch nicht mal eine gynäkologische Voruntersuchung?«

»Nein … Jede Frau hat das Recht auf eine positive, selbstbestimmte Geburtserfahrung, nicht wahr?« Es klang, als ob er den Satz irgendwo gelesen und auswendig gelernt hatte.

»Keine Blutuntersuchung, kein Abstrich …?«

»Natürlich nicht. Hören Sie …« Er zog einen Bündel Geldscheine aus der Tasche. »Ich bezahle Sie bar. Wo ist das Problem?«

Elmars Unschuldsmiene löste in Janne den lang unterdrückten Wutreflex aus, sie klatschte mit der flachen Hand auf das Wasser – und schreckte augenblicklich wegen der Kälte zurück. Die Fächerkoralle aus Menschenhaar schien sich sanft zu bewegen, doch das konnte auch Einbildung sein.

»Um Gottes willen …« »Was?«

»Das Wasser ist viel zu kalt!«

»Tut mir leid, aber sie mag es nicht wärmer. Wenn Sie wollen, drehe ich den Thermostat wieder hoch. Es wird allerdings etwas dauern.«

»Vergessen Sie’s«, sagte Janne. Und als ob sie einen zynischen Witz machen wollte: »Sind Sie sicher, dass diese Frau da unten noch lebt?«

»Sicher, ja.« Der Mann leuchtete erst Janne, dann sich selbst ins Gesicht. Ein paar Mal ging das so hin und her. »Glauben Sie mir, es geht ihr gut.«

»Es geht ihr gut!«, äffte Janne ihn nach. »Wenn Sie das sagen, muss es so sein!« Ihr Sarkasmus prallte offenbar an ihm ab. »Nur, wieso bin ich davon nicht überzeugt? – Vielleicht weil sich unter diesen Umständen kein gesundes Kind zur Welt bringen lässt? Verstehen Sie überhaupt, was mangelnde Sauerstoffversorgung in der Austreibungsphase bedeutet? Wollen Sie vielleicht ein schwerbehindertes Kind in die Welt setzen? – Holen Sie Ihre Frau da raus, und zwar auf der Stelle!«

Elmar nickte erst bereitwillig, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf.

»Geht nicht, sie will eine Wassergeburt … Das wussten Sie doch, oder nicht?«

Janne nickte mit zusammengekniffenen Augen.

»Gegenfrage: Wie lange unterhalten wir uns jetzt schon?«

»Wir beide? – Ein paar Minuten …«

»Fünf Minuten würde ich sagen«, sagte Janne, wobei sie sich bemühte, gelassen zu klingen. »Als wir diesen Keller betraten, war Ihre Frau bereits unter Wasser, nicht wahr? Wie ist das möglich, Herr Peschke?«

»Ja, gute Frage!« Der Mann im Overall hob abwehrend die Hände. »Sie ist immer schon eine Wasserratte gewesen! Seit einigen Jahren hält sie den Inselrekord im Apnoe-Tauchen.«

»Oh, das erklärt natürlich alles.« Janne – kniend am Rand des Beckens – rang erstmals in ihrer Zeit als Hebamme ernsthaft um Fassung. Noch immer hoffte sie, dass die Klientin auftauchen würde, doch nichts dergleichen geschah. Wieder tauchte sie ihre Hand in das Wasser – und diesmal zog sich die schimmernde Fächerkoralle infolge einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Körpers zusammen. Der lange Hals der Frau und ihre milchig schimmernden Schultern waren erstmals zu sehen. Ihr Kopf pendelte jetzt hin und her, als gäbe es dort in zwei Meter Tiefe eine Strömung, die es vorher nicht gab. Zeichen einer fortgeschrittenen Wehentätigkeit ließ sie allerdings nicht erkennen.

»Herr Peschke«, entfuhr es Janne, während sie krampfhaft in den staubigsten Winkeln ihres Gedächtnisses nach irgendeiner Referenz suchte, »mal ehrlich, kommt Ihre Frau da jemals raus?«

»Wenn sie muss.« Der Mann ging ebenfalls auf die Knie. Obwohl er bemüht war, die Lampe so ruhig wie möglich zu halten, zitterte er. »Sie … sie… hatte an Land immer schon gewisse … Atemprobleme. Vor ein paar Tagen gab sie mir zu verstehen, sie werde hier unten bleiben. Bis zur Geburt. Wir versorgen sie seitdem, so gut es geht … Heringe, Seezunge, Krabben, was anderes rührt sie nicht an.«

Janne wusste nicht, was sie beunruhigender empfand, Elmars surrealistisch anmutenden Vortrag oder dieses merkwürdige, in Delfter Blau gezeichnete Fries hinter den Kerzen – ein Tableau wild grimassierender Tritonen und Meerfrauen, die – mit Tangblättern im Haar und Harpunen bewaffnet – aus den Wogen auftauchten, um das Land zu erobern. Ekke Nekkepenns wüstes Gefolge schien sich in diesem Moment von den Steingutfliesen zu lösen und nach ihr zu greifen.

»Ich glaube, ich werde verrückt!« Ruckartig hatte Janne ihre Tasche geöffnet und begann nach der Blutdruckmanschette zu suchen. Sie zögerte im letzten Moment, denn sie hatte sich nie gefragt, ob das altvertraute Gerät wohl wasserdicht war. Nervös warf sie einen Blick über den Rand, doch ihr Verdacht zerstreute sich, als sie sah, wie die Frau sich jetzt aufrichtete und ihre ausgestreckten Arme gegen die Wände des Schwimmbeckens drückte. Zwischen ihren Beinen war plötzlich eine Verfärbung des Wassers zu sehen.

»Das könnten die ersten Presswehen sein«, sagte Janne. »Bitte, Herr Peschke, es macht meinen Job einfacher, wenn Sie Ihre Frau überzeugen könnten, eben mal aus dem Becken zu kommen. Ich muss mit ihr über die Phasen der Geburt sprechen. Wir … wir müssen … kommunizieren …«

»Mag sein«, flüsterte Elmar, »nur ich fürchte, sie würde Sie nicht verstehen.«

»Und wieso nicht?«

»Weil sie taubstumm ist.«

»Taubstumm?« Janne ließ sich nichts anmerken, doch ihr Blick irrte in Panik zurück zu dem aus der Dunkelheit leuchtenden Becken, auf dessen Grund sich eine werdende Mutter befand. Unter dem schleierhaften Haar, das wie treibender Seetang die Wasseroberfläche berührte, zeichnete sich aus dieser Perspektive ein stattlicher Babybauch ab. »Schön. Aber dass Ihre Frau mich nicht hören kann, heißt nicht, dass ich davon entbunden bin, sie gründlich zu untersuchen …«

»Richtig. Deshalb sind Sie ja hier.« Froschtruds Gatte nickte ihr aufmunternd zu. »Könnten Sie das nicht ausnahmsweise unter Wasser tun? Hören Sie, ich zahle Ihnen was extra … Wie wär’s? Tausend Euro? Ist das ein Wort? Und das Wasser ist nicht so kalt, wie es sich anfühlt. Zwanzig Grad, das ist in vielen Schwimmbädern Standard. Zur Not kann ich Ihnen auch einen Neoprenanzug bringen. He, brauchen Sie vielleicht einen Schnorchel? Ja, ich glaube, das wäre das Beste für Sie …«

Janne war am Ende ihres Lateins: Sie konnte sich an eine Patientin erinnern, die sich – als das Geburtsgeschehen begann – stundenlang unter einer laufenden Dusche verschanzte, doch das war nichts im Vergleich mit dieser Frau, die beschlossen hatte, U-Boot zu spielen.

»Wie Sie wollen«, sagte sie nach reiflicher Überlegung, »aber noch mal – und so werde ich es in meinem Geburtsbericht schreiben: Wenn Ihre Frau aus mir unerfindlichen Gründen die Geburt bei angehaltenem Atem durchstehen will, dann ist es gut möglich, dass das Baby tot auf die Welt kommen wird. Sollte es dann eine Untersuchung geben, könnte ein findiger Staatsanwalt auf die Idee kommen, dass das, was Sie hier abziehen, eine besonders perfide Form von Abtreibung war. Ihre Frau muss bei der Geburt atmen …«

»Aber sie atmet doch«, beharrte Elmar. »Auf ihre Weise, Sie werden sehen.«

Janne hatte sich inzwischen bis auf die Unterwäsche entkleidet, ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, fast war sie froh, in die Hocke zu gehen.

»Das wird ein Nachspiel haben«, sagte sie, während sie sich vom Beckenrand in das Wasser gleiten ließ, »denn das hier ist eine Steinzeitgeburt!«

»Danke«, flüsterte Elmar. Während sie abtauchte, leuchtete er ihr vom Beckenrand nach. Tatsächlich war das Wasser gar nicht so kalt, und Janne musste sich eingestehen, dass sie schon unter weitaus ungewöhnlicheren Umständen entbunden hatte – in Aufzugskabinen, Kirchen, Gerichtssälen, Zugtoiletten, Untergrund-Metros, Diskotheken, auf Messen und Rummelplätzen, selbst in einer McDonald’s-Filiale.

Das Becken war nicht tief, vielleicht zweieinhalb Meter. Würde Janne Luft holen müssen, konnte sie mühelos die Oberfläche erreichen. Unter Wasser wurde sie liebevoll von der werdenden Mutter begrüßt. Sie schien zu wissen, dass Janne die Hebamme war. Vielleicht hatte sie ein Medusenhaupt oder dergleichen erwartet, aber so aus der Nähe betrachtet, wirkte Froschtrud völlig normal – wären da eben nicht die klaffenden, hyperämisch durchbluteten Kiemenspalten unterhalb ihres Kiefers gewesen. Sie atmete, das war deutlich zu sehen. Ihr schmales Gesicht mit dem etwas zu spitzen Kinn schien jede Farbe verloren zu haben. Fraglich, ob es jemals eine Farbe gehabt hatte. Immerhin, ihre Stirn schien von verblassten Sommersprossen gesprenkelt. Wenn es etwas Besonderes gab, dann vielleicht ihre Augen. Das Weiß schimmerte tatsächlich golden, und die schwarze Iris schien rautenförmig zu sein. Etwas berührte Janne an der Hüfte, ein einzelner, verstört wirkender Hering huschte vorbei. Vielleicht Lebendproviant für die Mutter? Janne riss sich zusammen, doch die Gewissheit, dass ihre Klientin in der Lage war, unter Wasser zu atmen, setzte ihrem Vorstellungsvermögen heftig zu. Immerhin, die Frau mit den tubulären Brüsten schien bei bester Gesundheit zu sein. Und wenn es stimmte, dass der direkte Blick in die Augen eines anderen Menschen die unmittelbarste Form der Beziehungsaufnahme war, dann hatte Gjertrud Janne als Geburtshelferin akzeptiert.

Janne ahnte, die Zeit, die ihr blieb, war mehr als knapp. Sie machte daher eine Handbewegung – Lass uns hochgehen, okay? –, doch die Schwangere winkte nur sanftmütig ab. Stattdessen deutete sie auf ihren Bauch und machte mit der anderen Hand eine Fingergeste, die sich nur als Zwei deuten ließ. Zwillinge? Um Gottes willen … Das hätte den Umfang dieser beachtlichen Kugel auf den langen, merkwürdig fleischlosen Beinen erklärt, eine Kugel, die sich plötzlich von Janne wegdrehte und eine Position einnahm, die man gemeinhin den Vierfüßler-Stand nennt. Am Grund des Beckens bemerkte Janne eine rutschfeste Matte, die mehrfache Mutter wusste demnach über die kleinen Finessen Bescheid. Dafür sprach auch die bedächtige Bewegung, mit der sie ihr Gesäß hob und die Beine in einem Winkel von neunzig Grad spreizte.

Janne hatte gerade noch genug Luft in den Lungen, ihr Ohr an die warme, gespannte Haut der Bauchdecke zu pressen. Tatsächlich, der Herzschlag war auffallend kräftig. Zwei Kinder, deren Herzen im gleichen Takt schlagen, es konnte nicht anders sein … Eine große, kräftige Hand packte Janne plötzlich im Nacken. Mühelos zog die werdende Mutter ihre Hebamme zu sich heran. In ihren Augen las Janne tatsächlich Angst, ihre Zähne waren zusammengepresst. Janne tätschelte ihr beruhigend den Arm und formte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis: Alles bestens – was eine hypothetische Annahme war, denn sie hatte noch nicht einmal mit der Untersuchung begonnen.

Ärgerlich tauchte sie auf und herrschte Gjertruds Ehemann an, ihr nicht in die Augen zu leuchten.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass es Zwillinge sind?«, brüllte sie los.

Elmar wirkte komplett von der Rolle. »Macht das einen Unterschied?«

»Und ob!«, schnaubte Janne. Sie hielt sich an der Überlaufrinne fest. »Zwillingsgeburten bergen das doppelte Risiko einer Geburt! Zwei Nabelschnüre auf engstem Raum … Nicht selten hilft da nur ein Notkaiserschnitt! Mit Ihrer Fahrlässigkeit haben Sie mich in eine juristische Grauzone gebracht, und falls etwas schiefgeht, bin ich geliefert!«

»Aber was soll denn schiefgehen?«

»Geben Sie mir Ihre Lampe und halten Sie einfach den Rand!«

Janne war wirklich sauer, doch pflichtbewusst tauchte sie ab. Es ist falsch, bei einer Geburt von vorhersehbaren Stationen zu sprechen und damit immer die gleichen Umstände zu unterstellen, die schließlich zu einer Loslösung der Leibesfrucht führen. Als Janne Froschtruds Unterleib examinierte, hatte sich der Muttermund bereits auf zehn Zentimeter geöffnet, die Zervix war weich, gedehnt und entfaltet. Die Ausstoßphase stand kurz bevor. Der Herzschlag der Zwillinge war schneller geworden. Janne signalisierte ihrer Klientin zu pressen, dabei drückte sie sanft von beiden Seiten gegen die weiß schimmernde Kugel.

Alles gut? Gjertrud schien sie nicht mehr zu hören. Eingetaucht in die Wehen, die in Wellen kamen, verwandelte sich diese Frau in eine Maschine, die nur noch beschäftigt war, das Kind auszutreiben. Janne hielt tapfer die Stellung, wobei sie zwischendurch natürlich nach Luft schnappen musste, und jedes Mal blickte sie dabei in Elmars besorgtes Gesicht.

Das hättest du dir vorher überlegen sollen, du fahrlässiges Aas …

Ein Blick zwischen die Schenkel ihrer Klientin sagte Janne, das Baby gab richtig Gas, ein Kopf wölbte bereits den Damm, ihr Einsatz kam offenbar keine Sekunde zu spät. Sie schluckte, würgte, weil sie jetzt zwischen dem Wasser des Pools und der aus Gjertrud austretenden Flüssigkeit einen deutlichen Unterschied sah.

Die Fruchtblase war geplatzt. Eine Menge biologischer Prozesse, die bis dahin in der Schwebe gewesen waren, traten jetzt in die kritische Phase, es bestand noch immer ein Restrisiko, dass etwas schieflaufen würde. Jannes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Bitte, nicht aufhören zu pressen … Leider musste sie immer wieder auftauchen, Luft holen, und diese Prozedur laugte sie allmählich aus.

Als das Baby endlich in einer rosamilchigen Wolke kam, hätte sie sich vor Freude fast verschluckt. Janne fing das Kind ohne Bodenberührung auf und drückte es an sich. Es geschah alles lautlos – kein Perinatalschrei. Der Junge schien bester Laune zu sein und fasste ihr ins Gesicht. Janne erschauerte, denn sie hatte die halb durchsichtigen Schwimmhäute zwischen den kleinen Fingern bemerkt. Sie schreien nicht, dachte sie, die Mutter hat ja auch nicht geschrien …

Gjertruds geistesabwesender Blick wanderte im selben Augenblick nach oben, fast automatisch griff sie nach diesem vor sich hin paddelnden Kind, das noch nicht abgenabelt war, und sah ihr Baby einen Moment lang unendlich liebevoll an. Doch ihre Arbeit war noch nicht fertig, denn der Damm begann erneut, sich heftig zu dehnen.

Die Schädellage ist schon mal perfekt, dachte Janne, aber guter Gott, hättest du die Frauen wirklich so lieb, du hättest sie eierlegend gemacht.

Sie tauchte kurz auf, beschimpfte Elmar, schnappte nach Luft, beschimpfte ihn noch mal und tauchte dann wieder ab. Sie signalisierte Gjertrud, die sich wieder in die Sitzhocke stemmte, zu pressen, und diesmal flutschte ihr das zweite Baby buchstäblich entgegen.

Laichzeit, ging es ihr durch den Kopf. Aber nein, so etwas kannst du nicht denken … Auch dieses Baby, ein Mädchen, hatte rosig schimmernde Kiemen am Hals und zarte Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen, es sah merkwürdig aus, doch nicht unnatürlich. Janne signalisierte der Mutter, es sei an der Zeit, die feuchte Wiege zu verlassen, doch die Frau deutete verschämt auf ihren Hals, und schüttelte bedauernd den Kopf.

Verstehe … Janne deutete auf die Neugeborenen. Und die Babys?

Wieder schüttelte die Mutter den Kopf. Ihre langen Haare umhüllten ihre Schultern jetzt wie ein wallender Umhang. Unvermittelt presste sie ihren Mund auf Jannes Stirn, küsste sie mehrfach und vermittelte ihr dann mit einem Blinzeln, sie könne gehen.

Zehn Minuten später saß Janne in eine Wolldecke gehüllt vor dem gusseisernen Ofen in Elmars Wohnzimmer. Die Wärme strömte allmählich in ihren feuchten, kalten Körper zurück, selbst ihr Haar war halbwegs getrocknet. Während draußen der Sturm heulte und an den Läden rüttelte, stierte sie auf ihre am Boden liegende Hose. Durch einen merkwürdigen Umstand hatten sich in dem steifen, gummierten Stoff ein paar plastische Falten ergeben, die so im Verband große Ähnlichkeit mit einem Froschschädel hatten. Janne war keine Leuchte in Zoologie, aber sie wusste, dass Frösche – ja, die meisten Amphibien – offenbar eine ungewöhnliche, vielleicht evolutionsgeschichtlich bedingte Metamorphose durchliefen. Die Kiemen, die sie als Kaulquappen hatten, entwickelten sich allmählich zu Lungen …

Würde das vielleicht auch mit Gjertruds Babys geschehen? Aber nein, Gjertrud war doch ein menschliches Wesen … Janne ahnte es nicht, aber sie war erstmals in ihrem Leben in einem halb wachen Zustand irrationaler Erkenntnis, die normalweise auf der interpretierenden Analyse von Wahngebilden beruhte. Janne wusste aber genau, dass sie nicht halluzinierte, und das machte alles noch schlimmer.

»Wie geht es Ihnen?«, rief Elmar aus der angrenzenden Küche.

»Das sollten Sie Ihre Frau fragen«, murmelte Janne.

»Das hab ich schon. Es geht ihr gut.« Elmar reichte Janne einen echt steifen Grog. Der mit braunen Kluntjes gesüßte Tee wirkte wie flüssiger Bernstein, glücklicherweise schmeckte er nach Zitronenkonzentrat und billigem Rum. »Wollen Sie vielleicht etwas essen? Kommen Sie, ich mache Ihnen schnell noch ein Krabben-Rührei auf Toast.«

»Auf keinen Fall, ich habe die heiklen Einzelheiten meines Unterwasserausflugs noch nicht halbwegs verdaut.« Den heißen Grog schlürfend dachte Janne laut vor sich hin. »Zugegeben, ich hatte schon von solchen Babys gehört, doch noch nie eines gesehen. Ich fühle mich ehrlich gesagt nicht wohl nach dieser Geburt, denn sollten bei den Zwillingen in den nächsten Tagen respiratorische Komplikationen entstehen …«

»Die wird es nicht geben«, fiel Elmar grinsend dazwischen. »Wie wär’s mit einem Sanddornschnaps? Wir müssen das doch begießen, was meinen Sie?« Und als sie ihn nur anstarrte: »Verstehe. War nur ’ne Frage.«

Er setzte sich ihr stumm gegenüber und warf einen Blick zu der offen stehenden Tür, die in den Saunaraum führte. Von unten waren aufgeregte Stimmen zu hören, Steff und Birte bestaunten offenbar die neuen Geschwister.

»Werden Sie es melden?«, fragte Elmar ohne erkennbaren Anlass.

»Was für eine Frage!«

»Aber könnten Sie nicht mal eine Ausnahme machen? Also mit Helma Hinkel konnte man reden …«

»Hören Sie auf!« Janne fühlte sich einerseits am Ende ihrer Kräfte, anderseits verpflichtet, diesem Mann reinen Wein einzuschenken. »Vielleicht wissen Sie es nicht, aber in den letzten Jahren wurden an der Küste von Schleswig-Holstein immer wieder Babys mit Abnormitäten der Atmungsorgane geboren. Die Landesregierung sah sich infolgedessen veranlasst, ein sogenanntes Fehlbildungsregister einzurichten. Natürlich hängt man das nicht an die große Glocke, aber solche Register6 gibt es inzwischen in allen europäischen Staaten, die über Küstengebiete verfügen.«

»Warten Sie«, sagte Elmar. »Wollen Sie damit andeuten, dass mit meinen Kindern etwas nicht stimmt?«

Janne entrang sich ein sardonisches Lachen. »Das kann man so sagen, Herr Peschke.«

»Aber sie sind kerngesund!«

»Vom Standpunkt einer anderen Spezies aus gesehen … mit Sicherheit ja. Aber wir sind Menschen, haben Sie das vergessen? Von unserem Standpunkt aus gesehen, sind Ihre bezaubernden Sprösslinge – verzeihen Sie – Freaks of nature, wie die Briten das nennen.«

»Missgeburten? Sind Sie verrückt?«

»Tut mir leid, aber sollte man diese Deformitäten nicht in absehbarer Zeit … äh, korrigieren, werden die Zwillinge niemals in der Lage sein, ein normales Leben zu führen. Die Verantwortung können Sie nicht übernehmen, das steht Ihnen nicht zu!«

»Ein normales Leben.« Elmar grinste bitter. Es sah aus, als ob er seine Tränen wegblinzeln müsse. »Ist ein anderes, nicht so normales, denn nicht auch lebenswert?« Seine Schultern begannen hilflos zu zucken. »Sie erinnern mich leider an meine Ex, die hatte auch Schwierigkeiten zu begreifen, dass die Dinge sich ändern.«

»Wir reden von Mutationen, Herr Elmar, keinen temporären Entwicklungsstörungen …«

»Na, wenn schon.« Elmar wirkte sichtlich gereizt. »Warum glauben Sie, leben wir hier draußen im Halligmeer, weit weg von der sogenannten Zivilisation? – Weil wir mit dieser wasserreichen Umgebung klarkommen! Bestens sogar. Meine Frau liebt das Wasser, manchmal schwimmt sie rüber nach Dänemark und wieder zurück. Wären Sie dazu in der Lage?«

»Darum geht es doch nicht …«

»Doch, darum geht es!« Elmar, der bislang eher einen phlegmatischen Eindruck gemacht hatte, faltete urplötzlich seine Hände, presste sie gegen den Mund, als wolle er sich daran hindern zu sprechen, was doch nicht gelang. »Sie sprechen von Missbildungen, ich von einer Gabe! Nennen Sie mich einen Evolutionisten, aber die Natur kennt nichts Unnatürliches, sie entwickelt sich einfach weiter. Und während die Landratten vor dem Anstieg des Meeresspiegels zittern, während sie so tun, als ob sie mit ein paar demonstrierenden Gören den Klimawandel aufhalten könnten, hat die Natur schon eine Antwort parat. Da ist das Blut, das kreist und keine Rechtfertigung braucht – verstehen Sie, Fräulein Segers? Meine Kinder sind die kommende Rasse, ihnen wird der Blaue Planet eines Tages gehören, nicht den Landratten.«

Da war plötzlich ein offener, feindseliger Unterton, und Janne nickte auf eine Art und Weise, die ihre Skepsis nicht durchschimmern ließ.

»Sind Sie auch einer von denen?«, fragte sie dann.

Elmar versuchte die Frage erst wegzulächeln, doch dann reckte er seinen Hals. Trotz des Schummerlichts waren die geschwungenen Narben deutlich zu sehen. »Vernäht, kurz nach der Geburt«, stieß er mit erstickter Stimme hervor. »So wie bei meinem Erstgeborenen, dem Fritz-Otho … Er war kaum raus aus dem Kreißsaal, da wurde er schon operiert. Meine Ex wollte es so und ich … ich Dämlack wusste es damals nicht besser.« Seine Augen schienen aus ihren Höhlen zu treten. »Heute weiß ich, es war ein Fehler, und nichts auf der Welt könnte mich dazu bringen, meine gesunden Kinder unters Messer zu legen.« Er hielt kurz inne und sagte dann in einem so gekränkt klingenden Ton, als habe man seine Kinder als Ungeziefer bezeichnet: »Sehen Sie, Gjertrud und ich, wir waren füreinander bestimmt. Wir sind uns im Wasser begegnet, und selbst wenn die Lehrmedizin einen Krüppel aus mir gemacht hat, meine Gene sind noch intakt.«

»Sie wissen ja nicht, was Sie sagen … oder Sie sind in einem Fantasiedelirium, was mich – angesichts der Umstände, unter denen Sie in dieser Einöde hausen – auch nicht verwundert.«

»Ich bin in keinem Delirium«, herrschte Elmar sie an, »und es gibt mehr von uns, als Sie denken. Wir haben es satt, unsere Familien vor euch zu verstecken!« Er schnaubte, schien jedoch seine Fassung wiedergefunden zu haben. »Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe?«

»Geht leider nicht.« Ohne Hast, doch mit größter Sorgfalt begann Janne ihre Sachen zu packen. »Wie ich schon sagte, als Hebamme bin ich verpflichtet, solche Vorkommnisse den Behörden zu melden.«

»Sicher im Einklang mit dem Datenschutz, hab ich recht?« Elmar lachte schrill auf. »Unsere Politiker – haben die wirklich nichts Besseres zu tun?«

»Denken Sie doch mal nach«, erwiderte Janne. »Wenn es nun eine überdurchschnittliche Zunahme an Fehlbildungen bei Neugeborenen gibt, dann kann man das nicht ignorieren.«

»Meine Kinder haben keine Fehlbildungen!«, schimpfte Elmar. »Sie haben nur eine besondere … Gabe! Es sind Wunderkinder, verstehen Sie doch!«

»Oh, Verzeihung!« Janne war eigentlich zu erledigt, einen Disput anzugehen, doch in einer Hinsicht wollte sie sich Klarheit verschaffen. »Was ist eigentlich mit Birte und Steff? Sind die ebenfalls mit dieser Gabe gesegnet?«

»Doppelatmer wie ich«, bestätigte Elmar. »Wobei die Gabe unterschiedlich ausgeprägt ist. Bei Steff waren die Kiemenspalten schon bei der Geburt nicht sehr groß und haben sich in den letzten Jahren fast völlig geschlossen. Birte dagegen schlägt glücklicherweise nach ihrer Mutter. Wir lassen einfach der Natur ihren Lauf.«

»Wie beruhigend«, flüsterte Janne, die das Gefühl beschlich, sie stecke bereits bis an die Ohren in einem Morast, aus dem sie nie mehr herauskommen würde.

»Und beide waren auch Hausgeburten?«

Er nickte kurz.

»Und natürlich wurden die Fehlbildungen nicht registriert?«

Diesmal folgte nur unbehagliches Schweigen.

»In diesem Fall«, sagte Janne in einem Anflug von Rechtschaffenheit, »sollten Sie sich jetzt schon einen Strafverteidiger suchen.«

Sie war inzwischen fast wieder so eingepackt wie bei ihrer Ankunft. »Was ich hier sehe, lässt nicht viel Spielraum für Interpretationen. Ihrer Frau ist kein Vorwurf zu machen, sie ist gehandicapt und hat wahrscheinlich noch nie eine Schule von innen gesehen – ich meine, sonst wüsste sie doch, dass man Kinder mit schweren Fehlbildungen nicht sich selbst überlässt! Sie dagegen behandeln Ihre Frau offenbar wie eine Fötusfabrik, um Ihre kostbaren Gene zu retten!«

»Was erlauben Sie sich?«

»Ich tue das Richtige, weiter nichts!« Janne packte ihre Segeltuchtasche. »Was hatten Sie hier eigentlich vor – eine Mutantenfamilie zu gründen? Dachten Sie wirklich, dass Sie damit einfach so durchkommen würden?«

Sie spürte plötzlich, dass sie nicht mehr allein war, und drehte sich um.

»Entschuldigung, aber wir haben ein kleines Problem …«

Es war Silas, Jannes Schiffer. Wie lang er so im Türrahmen gelehnt und den Disput mit angehört hatte, war schwer zu sagen. »Mein Kahn ist abgesoffen. Steht halb unter Wasser, und ich krieg die Pumpen nicht an.« Für einen Friesen wirkte er ziemlich verzweifelt. »Ich brauche verdammt noch mal einen Mechaniker, sonst sitzt mir das Schiff morgen auf Grund!«

»Was … bedeutet das?«, fragte Janne. »Heißt das, wir sitzen hier fest?«

Silas plumpste auf einen der Stühle und riss sich die nasse Mütze vom Kopf. Janne hatte den Eindruck, dass er als Nächstes aus seiner Watthose springen und einen Veitstanz aufführen würde.

»Ihr könnt hierbleiben«, sagte Elmar. »Das Haus ist zwar nicht groß, aber ich könnte hier in der Döns ein paar Gammelmatrazen auslegen. Decken hat’s auch genug.«

»Ach, was.« Der Sielwolf war mit seinem Handy beschäftigt, doch offenbar hatte auch er keinen Empfang. »Ich muss rüber aufs Festland … zu Jansen …«

»Im Ernst?« Elmar warf einen Blick aus dem Fenster. »Du willst jetzt noch über den Damm? Ist das nicht zu gefährlich?«

»Was bleibt mir anderes übrig? Ich kann den Kahn doch nicht völlig absaufen lassen!«

»Trotzdem … bei dem Sturm?«

»Ach, was! Der Lorenbahnhof ist gleich um die Ecke, und ich hab zufällig den Zündschlüssel einstecken.«

»Ich bin dabei«, sagte Janne. Sie war abmarschbereit, und alles erschien ihr besser, als die Nacht in diesem Haus zu verbringen. »Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, Herr Silas, wenn Sie mich mitnehmen würden … nach Dagebüll, richtig? Ich bin sicher, ich komme dort in einer Pension unter.«

Der Sielwolf fasste erst Janne, dann Elmar ins Auge. »Tja, Elmar«, sagte er knapp, »du hast die kleine Geburtshelferkröte gehört.«

»Silas, was soll das?«

»Klappe! Kümmer du dich um deine Frau.«

Er stülpte sich seine Mütze über und schenkte Janne einen mehr als offenherzigen Blick. »Um ehrlich zu sein, bei Windstärke teihn7wäre die Rückfahrt übers offene Meer ohnehin der Horror geworden. Die Lore dagegen wirft so schnell nichts aus dem Gleis.« »Wer zuerst nach der Lore ruft, ist der Hasenfuß!«, rief Steff in diesem Moment. Die beiden Kinder waren aus dem Keller gekommen, um die nette Dame zu verabschieden. »Mama wünscht Ihnen eine gute Heimreise«, sagte das kleine bezopfte Mädchen. Erst jetzt bemerkte sie Janne, den Schal unter ihrem Kinn, und sie konnte nicht anders, als die Kleine kurz an sich zu drücken.

»Wir sehen uns wieder«, sagte sie leise. »Kümmere dich gut um deine Mutter, ja, versprichst du mir das?«

»Frau Segers …« Elmar stand plötzlich hinter ihr. »Ich bitte Sie … tun Sie es nicht. Die werden mir meine Familie wegnehmen. Gjertrud würde das nicht überleben … Und die Kinder würden als Waisen aufwachsen. Tun Sie das meinen Kindern nicht an.«

Janne drehte sich einfach um. Dick eingepackt, ihre Tasche umklammernd, folgte sie Silas’ Sturmlaterne hinaus in die von Gewittergeräuschen bebende Nacht. Der Alte legte einen ordentlichen Zahn zu, es blieb ihr kaum Zeit zu bemerken, dass sie durch knietiefes Wasser wateten.

Vielleicht war es doch keine gute Idee, dachte sie so im Stillen. Und ob es wirklich so einfach war, zu so später Stunde in Dagebüll noch eine Bleibe zu finden?

Die Bahnstation war wirklich nur einen Steinwurf von der Warft der Familie entfernt. Vor Janne schwappten immer wieder hohe Gischtfontänen über die Trasse, das tobende Halligmeer war zwar unsichtbar, doch mit Sicherheit nicht weit von den Schienen entfernt. Janne war zunächst erleichtert, als sie auf eine geschlossene Lore zusteuerten. Das Dach und die Seiten schienen aus einer ausrangierten Lkw-Plane zu bestehen.

»Keine Sorge, der Wind wird uns ein bisschen durchpusten, aber das ist schon alles.« Zuvorkommend schob der alte Postschiffer Janne auf eine eiskalte, kunstlederbezogene Sitzbank, dem Muster nach, hatte sie ein Bastler aus einem alten Toyota entwendet. »Gefährlich wird es erst, wenn der Ostwind Eisschollen über den Lorendamm schiebt und ihn so in einen Eisdamm verwandelt. Aber so kalt ist es nicht.«

Er drückte sich neben sie in die Lore, schnallte Janne fürsorglich an und drehte den Zündschlüssel um. Zwei-, drei-, viermal rührte sich nichts, doch irgendwann stotterte sich der Viertakter doch noch in Fahrt. Janne hatte das unbeschreibliche Gefühl, auf einem defekten Rasenmäher zu sitzen. Mal ruckelte es, dann zischte das Wägelchen wieder wie auf Schmierseife dahin. Während Jannes Atem an der Windschutzscheibe kondensierte und sie immer wieder hektisch zu wischen begann, schienen sich auch die Areale ihres Gehirns mit irrationalem Beschlag zu belegen: Hätte sie sich vielleicht zusammenreißen und Elmar Peschkes freundliches Angebot annehmen sollen? Was zur Hölle war in sie gefahren? Oder war es vielleicht an der Zeit, einfach zu beten – nicht zu Jesus Christus, sondern zu diesem Nekkepenn Ekke oder wie der alte friesische Meeresgott hieß?

»Dann wollen wir mal«, sagte der Sielwolf und drückte das Gaspedal durch. Für Janne sah es aus, als steuere er die Lore mitten ins offene Meer.

»Sie erinnern sich an die Sache mit Moses?«, fragte sie so zum Scherz, doch entweder hatte er keine Lust auf ein Gespräch oder er hörte sie nicht. Unter dem Verdeck der Lore schien inzwischen eine grimmige Kälte zu herrschen.

Anfangs hielt Janne die Augen geschlossen, denn der Anblick, der sich ihr bot, hatte etwas Furchterregendes. Die dunklen Wassermassen, die den Damm hinaufschossen, waren nur dann zu sehen, wenn sie auf der Krone im Licht der Loren-Scheinwerfer wie Wasserbomben zerplatzten. Das sturmgepeitschte Halligmeer blieb dabei in einem wabernden Schattendunkel verborgen, und manchmal schien es Janne, als schwebe die Lore mitten im Weltall. Unter diesen Umständen konnte es nicht ausbleiben, dass die Fantasie anfing, ihr gewisse Streiche zu spielen. Einmal glaubte sie, den gebogenen, schwankenden Steven eines Drachenboots zu erkennen, doch es war nur der Greifarm eines Grüppenbaggers, den hier jemand vor der letzten Tide abgestellt hatte.

»Haben Sie eigentlich von den Besonderheiten dieser Familie gewusst?«, fragte sie, weil sie das Heulen des Sturms nicht länger ertrug.

Wie zuvor schien es, als habe der Sielwolf die Frage erst nicht gehört, doch dann räusperte er sich und sagte: »Sicher. Hier ist ja jeder irgendwie über sieben Ecken mit jedem verwandt. Und dann die Sache mit Froschtrud, das sprach sich in den Neunzigerjahren wie ein Lauffeuer herum.«

»Ach ja?«

»Sicher doch. So ein Naturtalent kommt nicht alle Tage zur Welt.«

Naturtalent? Unter anderen Umständen hätte Janne die Ausdrucksweise fast drollig gefunden.

»Na, ich will damit nur sagen, dass so eine Gabe hier draußen viele Vorteile hat. Von der größten Sorge, eines Tages in der Flut zu ersaufen, ist man auf alle Fälle befreit. Und man kann Leuten helfen. Drüben auf Langeneß, da hat Gjertrud mal ein paar Touris das Leben gerettet. Sie hat wirklich ein gutes Herz.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, erwiderte Janne, »aber bleiben wir mal realistisch. Sie vererbt ihr Naturtalent weiter, doch irgendwie scheint mir das nicht im Interesse der Kinder zu sein.«

»Wer kann das sagen?«, murmelte Silas. »Die Natur passt ihr Geschöpf, den Menschen, immer rechtzeitig an. Es sind Halligkinder, hier gehören sie her.«

Das Meer schickte in diesem Moment eine Breitseite an die Lore, der Druck, den Janne durch die Plane empfand, war so, als habe sie die Hand eines lebenden Wesens berührt.

»Kennen Sie Gjertrud schon lange?«

»Seit ihrer Geburt«, sagte der Sielwolf. »Sie haben es vielleicht schon erraten, dass Gjertrud mein kleines Mädchen ist, oder? Sie ist meine Tochter – meine kleine Meerjungfrau –, und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand ihr Leben zerstört.«

Während ein schwarzes Wellengebirge über den Damm rollte, wagte Janne es nicht, zur Seite zu schauen. Nackte Furcht trieb ihr das Blut wie flüssiges Blei in die Schläfen. »Keine Sorge, ich werde Ihnen nichts tun«, fuhr er fort. »Es erstaunt mich nur, wie ignorant die Leute vom Festland doch sind. Sie mischen sich in Dinge ein, die sie nicht wirklich verstehen. Hier auf den Halligen lässt man die Meermenschen einfach in Ruhe.«

»Meermenschen?« Unauffällig begann Janne in ihrer Hebammentasche nach einer Schere zu suchen. »Wissen Sie, wie aberwitzig das klingt?«

»Gewiss«, sagte Silas. »Aber auch die verrückteste Äußerung enthält immer ein Gran Wahrheit. Eine gebildete Frau wie Sie kennt doch sicher den großen Heinrich von Kleist? Selbst der schrieb von einer Frau aus dem Meer.8 Nach einer Sturmflut im Jahr 1740, einer Flut, die sämtliche Dämme von Westfriesland durchbrach, wurde sie nicht weit von der Küste entdeckt. Ihr Name ist nicht überliefert, vielleicht hatte sie nie einen gehabt, Kleist entschied sich jedenfalls, sie einfach Sirene zu nennen. Sie wurde nach Haarlem gebracht, wo sie kurze Zeit später verstarb. Das Meer hat ihr offensichtlich gefehlt.« Silas begann die Scheibe zu wischen, als hätte er draußen etwas gesehen. »Ähnliche Meldungen gibt es aus vielen anderen Ländern, der Hudson – der von der Bay – entdeckte eine Meerfrau vor Grönland. Ja, auch er hat darüber geschrieben, aber bis heute werden solche Meldungen von der Obrigkeit unterdrückt. Wahrscheinlich passt es den Eliten nicht in den Kram.«

Jannes Finger hatten die Schere inzwischen gefunden, doch Gjertruds Vater machte nicht den Eindruck, als ob er über sie herfallen wollte. Stattdessen deutete er auf ein flackerndes Licht in der Ferne.

»Der Leuchtturm von Dagebüll, sehen Sie? Wir haben es geschafft, das heißt, ich werde den alten Jansen einsammeln, und dann geht es wieder dieselbe Strecke zurück. Kann nur hoffen, mein Kahn ist dann immer noch da.« Er verpasste ihr einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Was? Sie sehen mich immer noch so sorgenvoll an?«

»Sagen Sie mir nur eines«, erwiderte Janne. »Wieso haben Sie Ihrer Tochter das angetan? Wieso haben Sie sie wie ein Tier aufwachsen lassen? Wieso?«

Der Fuß des alten Postschiffers ging einen Moment vom Gas, die Frage hatte er so nicht erwartet. »Zwingende Umstände«, sagte er dann. »Meine Frau starb bei Gjertruds Geburt, und der Oberarzt von der Klinik sprach von einer schwierigen Operation. Gjertrud hätte dabei draufgehen können, und die Vorstellung, mein Kind zu verlieren, trieb mich wohl zu diesem … sagen wir mal, drastischen Schritt. Wir zogen hier raus, auf die Halligen. Anfangs war es nicht leicht, vor allem für Gjertrud. Sie fühlte sich einsam, nur weglaufen konnte sie nicht. Ich glaube sogar, mit sechzehn wollte sie einmal Selbstmord begehen.« Er gab wieder Gas. »Aber dann lief ihr dieser kleine Beckenrand-Sheriff über den Weg, und sie hatten mehr als nur gemeinsame Interessen – sie hatten dieselben Gene. Ich muss auch zugeben, dass er ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Und meine Enkel nennen Elmar den besten Papi der Welt. Was will ich mehr?«

»Ich werde es trotzdem melden«, sagte Janne behutsam, »eines Tages werden Sie mich verstehen und mir vergeben.«

»Aber das habe ich längst getan«, sagte der Sielwolf, »die Frage ist, ob die Evolution Ihnen vergibt.« Ein Leuchten war plötzlich in seine Augen getreten.

»Unsere Wege trennen sich hier, das Meer schafft Gelegenheiten, die sind einfach zu günstig.« Wie durch einen Nebel nahm sie wahr, wie er den Türgriff der Lore mit einem Ruck öffnete. Der Sturm fauchte gischtsprühend unter die Plane, Hagelkörner prasselten ihr wie Krähenschrot ins Gesicht.

»Sie hätten auf meinen Schwiegersohn hören sollen.«

Er grinste, drehte den Kopf und reckte den Hals wie ein angriffslustiger Schwan. Die Lichtverhältnisse reichten gerade aus, dass sie die gut durchbluteten Kiemen an seinem Hals sehen konnte, Janne zog die Schere zum Vorschein, da sprang er schon mitten in die kochenden Fluten hinein.

»Nein, nein, nein …!« Sie versuchte mit ihrer linken Hand das Bremspedal zu erreichen, doch der Gurt, den er ihr umgelegt hatte, hielt sie zurück. Erst jetzt erkannte sie im Licht der Scheinwerfer ein Hindernis auf der Strecke – Holzbalken und zerrissene Taue, vermutlich ein zertrümmerter Landungssteg, den die See hier angespült hatte. Jannes Seifenkiste raste ungebremst darauf zu.

Die Schere in ihrer Hand durchschnitt den Gurt genau in dem Moment, als die Lore aufprallte. Janne wurde durch die Scheibe auf die Gleise geschleudert. Es konnte nicht mehr finsterer werden, als sie in den eisigen Fluten versank.

1Med. Fruchtwasser

2Bewohner der Halligen

3Friesisch: Lieber tot als Sklave

4Plattdeutsch: Zum Donnerwetter noch mal!

5Typischer Ofen des Friesenhauses

6Laut dem Deutschen Ärzteblatt, Jg.103, Heft 38, 22.09.2006 werden jährlich in Deutschland etwa 50 000 Kinder mit »großen Fehlbildungen« geboren. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hatte daher bereits 1993 erstmals die Einrichtung von sogenannten Monitorstationen (zur Registrierung) gefordert. Auf internationaler Ebene existieren bereits verschiedene Surveillance-Systeme, z. B. ICBDMS und EUROCAT.

7Plattdeutsch: zehn

8Berliner Abendblätter, 6.2.1803

1. TEIL

FLUCHT NACH GRÖNLAND

Gott der Herr ließ donnern, regnen, hageln, blitzen und den Wind so kräftig wehen, daß die Grundfeste der Erde sich bewegten.

– PETER SAX, Chronist der großen Sturmflutvom 11. September 1634

I.

Berlin, Bundesumweltministerium, 2. September 202952°30′54.8″N 13°22′51.1″E

Die Pressekonferenz hatte gerade begonnen, als dicke Tropfen auf das Podium fielen und zwischen den Mikrofonen der Sendeanstalten zerplatzten. Ein Sprecher des Umweltministeriums hob den Kopf, stutzte. Ein Tropfen landete genau auf seiner Brille. »Na, so was«, murmelte er, »könnte mal jemand die Dusche abstellen?« Dann hatte es auch die hochempfindlichen Membranen seines Mikros erwischt. In den Lautsprechern prasselte es jetzt wie trockenes Holz im Kamin, es wurde lauter und lauter, bis sich schließlich ein wahrer Wasserschwall auf die versammelte Journaille Berlins ergoss. Als käme hinter der abgehängten Decke ein Feuerwehrschlauch zum Einsatz, so heftig spritzte das Wasser aus den Spalten herab. Mit Hochdruck fegte es Aktenkoffer, Kameras und Diktafone zur Seite und bildete einen meterlangen, wabernden Vorhang zwischen der ersten und zweiten Stuhlreihe. Die wasserscheuen, unrasierten Pressevertreter stoben wild auseinander – Stühle und teure Klapprechner purzelten zu Boden, umherfliegende Kaffeebecher und angebissene Croissants verliehen dem Ganzen eine komödiantische Note. Erst als ein Scheinwerfer über dem Podium explodierte und sich der Geruch verschmorter Kabel breitmachte, waren Panikschreie zu hören.

Vom Gang aus konnte Freya sehen, wie die in Zivil gekleideten Sicherheitskräfte versuchten, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sie befand sich abseits des Mediengewoges, das jenseits des Wellenbrechers einer verkeilten Stuhlreihe den Raum wie ein Donnerwetter erfüllte. In dem allgemeinen Tumult hatte sie plötzlich eine Vorahnung, wie das befürchtete »Absaufen der Welt« aussehen würde: Das Wasser war ein unberechenbarer Gegner, der blitzschnell aus allen Richtungen zuschlagen konnte – ein feuchtkalter, vom Himmel gefallener Dämon, dem kleinste Risse genügten, um Mauern zu sprengen und solide Fundamente zu unterspülen. In Hamburg – kaum drei Wochen her – war das Wasser aus Tausenden von Kellern gekommen. In Nordfriesland kletterte es des Nachts ohne jede Warnung über die Deiche, stieg über die Kronen hinweg und ertränkte die Ernte. Die Halligen meldeten jetzt alle vierzehn Tage Land unter, die Rede war von einer neuen Mandränke9, doch irgendwie schien das niemanden mehr zu interessieren. Es gab andere sogenannte Starkregenereignisse, die noch mehr Menschen betrafen: In Oldenburg schüttete es für vierundzwanzig Stunden sintflutartig vom Himmel, es goss und goss, bis die Stadt in einem einzigen Schlammbad versank. Viele Landstraßen in Schleswig-Holstein standen seitdem unter Wasser, jetzt meldete auch Dresden Land unter, die Elbe war erneut über die Ufer getreten. Doch all das wurde von den staatlich kontrollierten Medien heruntergespielt. Die Chefredakteure der großen Nachrichtenmagazine versuchten so, bei unterschiedlichen politischen Lagern zu punkten. Freya wusste das nur zu gut, denn sie gehörte zu einer berüchtigten Gruppe von Öko-Aktivisten, die die Verflechtung medialer und wirtschaftlicher Interessen öffentlich anprangerte.

Die holistische Dimension einer globalen Erwärmung war ihr seit Jahren bewusst. Ungeachtet aller warnenden Vorzeichen in den vergangenen Jahrzehnten hatte die Industrie weiterhin kräftig Reibach gemacht, um nun die Kosten der Klima-Stabilisierung dem Steuerzahler zu überlassen. Wie bei der Bankenkrise, diesem Armutszeugnis einer an Unfähigkeit krankenden Finanzelite, hatte der Staat die Verluste zu tragen, nicht die Verantwortlichen. Dasselbe Bubenstück versuchten die Regierenden jetzt mit der Umweltmisere. Die Schmelze des Grönlandeises kam der Regierung nicht ungelegen, um von den wirtschaftlichen Problemen im Zuge der Pandemie im eigenen Land ablenken zu können. Ob die eigenen Bürger inzwischen in Zelten und Notbehelfen hausten, war der Regierung offenbar gleichgültig. Der Störung der Pressekonferenz gehörte zum Glück einer anderen Kategorie an: Ein Ministeriumssprecher sprach von einem »ordinären Wasserrohrbruch im dritten Obergeschoss«, der Haupthahn sei abgedreht worden, die Monteure schon unterwegs. Kein Grund zur Beunruhigung, alles unter Kontrolle.

Der Wasserfall vor dem Pult versiegte tatsächlich allmählich. Zwar tröpfelte es noch hier und da vor sich hin, doch die Journalisten hatten sich von ihrem Schrecken erholt.

»Sie haben Glück gehabt, Gnädigste.«

»Bitte?« Als Freya den Kopf drehte, sah sie ein halbes Gesicht, die andere Hälfte war von einem Kameragehäuse verdeckt. Es war etwas Merkwürdiges an diesem Gesicht, und es lief auf die Frage hinaus, welcher Blick kälter war, der des Kameraobjektivs oder der des starren hellgrünen Glupschauges. Der kahl rasierte, von Pigmentflecken gesprenkelte Schädel kontrastierte scharf mit dem weißen Knopf in der Ohrmuschel und einem gleichfarbigen Spiralkabel, das unter einem Seidenchoker verschwand.

»Sie sind nicht nass geworden. Erstaunlich. Als ob Sie es gewusst hätten.«

»Hören Sie auf, mich zu filmen!«

»He, für wen halten Sie sich – Erin Brockovich?«

»Fast richtig getippt.«

Freya von Velden – kurz Freya genannt – fuhr mit einer raschen Bewegung durch ihr blondes, kurz geschnittenes Haar. Es wirkte stachlig wie Johnny Rottens legendäre Punkrock-Frisur, doch passte zu ihrem Gesicht, das sich dem Kameramann in diesem Moment im Profil darbot: Das Objektiv erfasste eine vorwitzige Stupsnase über einem schön geschwungenen Mund, deren Winkel gelegentlich ein spöttisches Grinsen freigaben. Schwere Kajal-Schwalbenschwänze zierten die runden Augen, deren Farbe der Chip nicht deutlich zu erkennen vermochte. Sie schienen grau, eher anthrazitfarben, doch war es gut möglich, dass sie von jener seltenen Sorte Blau waren, das in der Sonne wie Azur aufleuchtete. Die Piercings in ihrem Gesicht waren ebenso echt wie der Camouflage-Regenmantel von Dolce & Gabbana.

»Sind Sie … wie sagt man – so eine von diesen Grufti-Schnecken?«

»Wieso?«

»Na ja, ich komme aus Leipzig, ich kenne die Gothic-Szene ganz gut. Jedes Jahr gibt es da dieses Treffen. Die Stadt wimmelt dann von Typen, die aussehen, als würden sie für einen neuen Zombie-Film posen.«