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Mit Wärme, Wucht und Witz erzählt Paula Fürstenberg in »Weltalltage« von einer besonderen Freundschaft und deren Zerreißprobe. Davon, was es heißt, nicht zu funktionieren in einer Welt, in der alles funktionieren muss; vom Körper und wie wir mit ihm umgehen; von der Kraft der Worte und davon, wo Empathie beginnt – und wo sie enden muss. Sie sind beste Freunde seit der Schulzeit. Jetzt, mit Anfang dreißig, teilen sie sich eine Wohnung. Max ist Architekt, sie ist Schriftstellerin und seit ihrer Kindheit chronisch krank. Immer wieder wird sie von heftigen Schwindelanfällen heimgesucht und ist auf Max angewiesen. Er ist der Gesunde, sie die Kranke. So war es schon immer. Doch dann erfährt Max vom Tod seines Onkels, und in ihm wächst eine Finsternis. Er muss ins Krankenhaus. Mit einem Mal gerät alles ins Wanken. Was der Schriftstellerin im aufkommenden Freundschaftskummer hilft, ist das Schreiben, das versuchsweise Ordnen der Vergangenheit in Listenform. Also erzählt sie ihre Geschichte, und damit auch die von Max, von der Nachwendekindheit im Osten bis in die schwankende Gegenwart. Sie denkt über die gesellschaftlichen Verhältnisse nach, die sie zu denen haben werden lassen, die sie sind, über das Kranksein – und die Sprache der Körper. Doch durch Denken und Schreiben allein lässt sich einem Kummer nicht beikommen. Dafür muss sie aufstehen und tanzen gehen, muss sie loslassen und alles vergessen. Ein paar Stunden nur, ein paar Tage. Und dann steht Max plötzlich wieder in der Tür …
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2024
Paula Fürstenberg
Roman
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Über Paula Fürstenberg
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Paula Fürstenberg, Jahrgang 1987, wuchs in Potsdam auf und studierte am Schweizerischen Literaturinstitut sowie an der Humboldt-Universität. Seit 2011 lebt sie in Berlin. Ihr Debütroman »Familie der geflügelten Tiger« erschien 2016. Sie ist Mitherausgeberin der Habitus-Bände und hat 2022 die Gesprächsreihe »Let’s talk about class« co-kuratiert. Außerdem ist sie Teil des Autor*innenkollektivs »Literatur für das, was passiert« und Vorstandsmitglied des Kunsthaus Strodehne e.V. Für ihre Arbeit wurde Paula Fürstenberg mit zahlreichen Stipendien ausgezeichnet. »Weltalltage« ist ihr zweiter Roman.
zur Kurzübersicht
Mit Wärme, Wucht und Witz erzählt Paula Fürstenberg in »Weltalltage« von einer besonderen Freundschaft und deren Zerreißprobe. Davon, was es heißt, nicht zu funktionieren in einer Welt, in der alles funktionieren muss; vom Körper und wie wir mit ihm umgehen; von der Kraft der Worte und davon, wo Empathie beginnt – und wo sie enden muss.
Sie sind beste Freunde seit der Schulzeit. Jetzt, mit Anfang dreißig, teilen sie sich eine Wohnung. Max ist Architekt, sie ist Schriftstellerin und seit ihrer Kindheit chronisch krank. Immer wieder wird sie von heftigen Schwindelanfällen heimgesucht und ist auf Max angewiesen. Er ist der Gesunde, sie die Kranke. So war es schon immer. Doch dann erfährt Max vom Tod seines Onkels, und in ihm wächst eine Finsternis. Er muss ins Krankenhaus. Mit einem Mal gerät alles ins Wanken.
Was der Schriftstellerin im aufkommenden Freundschaftskummer hilft, ist das Schreiben, das versuchsweise Ordnen der Vergangenheit in Listenform. Also erzählt sie ihre Geschichte, und damit auch die von Max, von der Nachwendekindheit im Osten bis in die schwankende Gegenwart. Sie denkt über die gesellschaftlichen Verhältnisse nach, die sie zu denen haben werden lassen, die sie sind, über das Kranksein – und die Sprache der Körper.
Doch durch Denken und Schreiben allein lässt sich einem Kummer nicht beikommen. Dafür muss sie aufstehen und tanzen gehen, muss sie loslassen und alles vergessen. Ein paar Stunden nur, ein paar Tage. Und dann steht Max plötzlich wieder in der Tür …
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Marion Blomeyer/Lowlypaper
ISBN978-3-462-31042-9
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Fördervermerk
Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte
Liste der Gründungsmythen eurer Freundschaft
Liste deiner Versuche, davon zu erzählen, wie Max der letzte Mann seiner Familie wurde
Verlauf des Jahres, in dem du die Zeichen übersiehst, die erst im Nachhinein, in einer Linie mit anderen Zeichen, als Zeichen für etwas lesbar werden
Metaphern beim Routinecheck 1: Liegen
Pathobiografisches Alphabet
Metaphern beim Routinecheck 2: Länder
Chronik einiger Verletzungen, die ihr euren Müttern zufügt
Metaphern beim Routinecheck 3: Krieg
Amtliches Verzeichnis einiger Gespräche zwischen Max und dir, die im Nachhinein betrachtet nicht so optimal gelaufen sind
Verzeichnis einiger Krawall-Barbies
Die acht Freundschaftskummerphasen
Zweiunddreißig Erinnerungen an eine durchtanzte Nacht
Metaphern beim Routinecheck 4: Säbelzahntiger
Liste der Comebacks, die du im Stillen feierst
Metaphern beim Routinecheck 5: Dunkelheit
57 Krankenhausgeschichten, die Max dann doch noch erzählt
Manifest eurer Körper
Ein Text ist keine Insel: Literaturverzeichnis
Eine Autorin ist keine Insel: großen Dank an
Geheimes Verzeichnis eurer Schulden
Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert vom Deutschen Literaturfonds e.V., dem Land Berlin, dem Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg, der Stiftung Preußische Seehandlung Berlin, der VG WORT und dem Villa Aurora & Thomas Mann House e.V. Die Autorin dankt für die Unterstützung.
Zu Anfang kann man nur versuchen, die Dinge zu benennen, eines die Dinge zu benennen, eines nach dem anderen, oberflächlich, sie aufzuzählen, sie anzuführen, und das so banal wie möglich und gleichzeitig so genau wie möglich, und dabei versuchen, nichts zu vergessen.
Georges Perec
Mit erhobener Faust kann man nicht zuschlagen.
Mit diesem Satz hatte dein erster Roman beginnen sollen. Vor wenigen Wochen erst war er dir beim Staubsaugen eingefallen. Es war einer dieser Sätze, von denen du sagst, sie kämen aus dem Nirgendwo. Das stimmt aber gar nicht, denn alle Sätze kommen irgendwoher, eigentlich bedeutet es bloß, dass du keine Ahnung hast, wie du auf sie kommst. Jedenfalls lag der Satz gut in der Hand, du trugst ihn einige Tage stolz mit dir herum und freutest dich auf die Sätze, die ihm folgen würden. Dann setztest du dich an den Schreibtisch und schriebst ihn in dein Romanmanuskript. Aber es folgten keine weiteren Sätze und deine Freude wich dem vertrauten Zweifel, der immer schon gut in der Hand lag: Wenn du zu blöd bist, einen Romananfang von einem Teebeutelspruch zu unterscheiden, dann hättest du deine halbe Stelle vielleicht besser behalten und Redaktionsassistentin bleiben sollen.
Du standst vom Schreibtisch auf und gingst über den Flur, um Max davon zu erzählen. Er sagte: Es ist bloß ein Satz, du wirst schon wieder grundsätzlicher als nötig.
Das wiederum war einer dieser schonungslosen Sätze, wie nur beste Freund:innen sie sagen dürfen, weil ihnen unzählbare lange Gespräche vorausgegangen sind. Du verziehst Max also sofort und setztest nur eine theatralisch beleidigte Miene auf. Er lächelte und du warst erleichtert, denn in letzter Zeit hattet ihr oft ernsthaft beleidigte Mienen aufgesetzt. Vielleicht war es sogar das einzige Lächeln, das du Max in diesen Monaten abringen konntest. Immerhin dazu war der folgesatzlose Satz gut gewesen. Dann kehrtest du an deinen Schreibtisch zurück, wo du den Satz im Manuskript stehen ließt, in der trotzigen Hoffnung, dass er sich später einlösen würde wie eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Dies ist die Geschichte von Max und ursprünglich wolltest du deine eigene Geschichte da raushalten. Aber weil du die Geschichte erzählst und weil Max seit zwanzig Jahren dein bester Freund ist, hat das mit dem Raushalten nicht geklappt. Es ist also auch deine Geschichte und das wurde dir an dem Tag klar, an dem du die schlechteste beste Freundin aller Zeiten warst. Du saßt mit Max in eurer Küche, was in letzter Zeit nur noch selten vorkam, weil Max sich zunehmend zurückzog. Ihr spracht gerade über die Anschaffung einer Katze, was du in Wahrheit nur für Max vorgeschlagen hattest, weil du dachtest, ein Haustier würde ihm guttun, und weil du dich daran erinnert hattest, dass Max immer eine Katze haben wollte. Du mochtest Katzen nicht besonders, aber du mochtest Max, und es war einer der etwas verzweifelten Versuche, ihm durch seine sogenannte schwierige Phase zu helfen. Doch Max sprach nur von Tierarztkosten, dem fehlenden Katzenklostandort und dem Geruch von Katzenfutter in eurem vegetarischen Kühlschrank. Je mehr du mit dem Flauschigkeits- und Unterhaltungspotenzial von Katzen dagegenzuhalten versuchtest, umso stiller wurde Max, umso mehr sackte er auf seinem Stuhl in sich zusammen, umso tiefer senkte er den Blick, bis er plötzlich leise sagte:
Du hast recht, ich habe einen Sack Finsternis in mir. Frau Doppelname sagt, ich muss ins Krankenhaus.
Du sahst ihn einen Moment lang an, in dem du zu unterdrücken versuchtest, was das in dir auslöste, aber es gelang dir nicht, und dann wurde dein Ton scharf und laut:
Du musst dich einfach mal gerade hinsetzen! Wie sitzt du denn da. Schau mich an, wenn ich mit dir spreche. Reiß dich mal zusammen, Max.
Die Sätze fühlten sich ungewohnt an in deinem Mund, wie eine Fremdsprache, dabei kamen sie direkt aus deiner Körpermitte, aus deinem Sack Finsternis vielleicht, dem die Schnur geplatzt war.
So, sagtest du, schau gefälligst her, so sitzt du.
Und du machtest es ihm vor, setztest dich hin, wie du es von ihm abgeschaut hattest, Hintern an die vordere Stuhlkante schieben, Knie auseinanderfallen lassen, einen Arm über die Stuhllehne, Schultern lockern. Du kamst dir blöd vor dabei, als wärst du eine Tänzerin, die dem Choreografen seine eigene Choreografie beibringt. Und Max sah dich zwar an, versuchte aber nicht einmal, sich hinzusetzen wie früher, wie er selbst. Er sagte nichts, schrie nicht zurück, schnaubte nicht mal verächtlich, sah dich nur an, wie man einen Menschen ansieht, der die Mühe der Reaktion nicht wert ist, stand auf und ging wortlos in sein Zimmer.
Im Nachhinein kannst du nur spekulieren, was dich so aus der Fassung brachte, dass du deinen besten Freund, dem es offensichtlich gerade krankenhausmäßig schlecht ging, derart angingst. Vielleicht warst du gekränkt, dass die Großzügigkeit deiner Katzenidee unsichtbar blieb. Vielleicht dämmerte dir, was seine Erkrankung euch beide kosten würde. Vielleicht hattest du eine Vorahnung der großen Stille der Wohnung, die Max’ Krankenhausaufenthalt bedeuten würde. Vielleicht bereutest du, ihn zu Frau Doppelname geschickt zu haben. Vielleicht wolltest du nicht, dass Max den Ausgang der Geschichte, an der du schriebst, mit ins Krankenhaus nahm. Vielleicht warst du gereizt, weil es schon eine Weile nicht gut lief mit dem Schreiben, seit du nämlich einen Verlagsvertrag angeboten bekommen beziehungsweise seit du in der Redaktion gekündigt hattest beziehungsweise seit Max fest angestellt war beziehungsweise seit Max nur noch in deinem Bett schlief. All diese Dinge waren etwa gleichzeitig passiert und du konntest nicht auseinanderhalten, was mit was zu tun hatte. Du hattest dich ganz grundsätzlich in eine Situation manövriert, in der du nichts mehr auseinanderhalten konntest, Max’ Schwierigkeiten und deine, Arbeit und Privatleben, Manuskript und Wirklichkeit. Vor allem aber ahntest du, dass auch mit dir etwas nicht stimmte, das mit Max’ Nichtstimmen zusammenhing, dass eure Körper in eine ungünstige Abhängigkeit voneinander geraten waren.
Dies ist die Geschichte von Max und weil sie eine Krankengeschichte ist, beginnt sie mit seinen Symptomen. Max bekam die ganze Palette: Schlaflosigkeit, Freudlosigkeit, Appetitlosigkeit, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Lustlosigkeit, Ruhelosigkeit, später auch Sprachlosigkeit. Dass man eine Krankheit und ihre Symptome bekommt, als wären sie ein überraschendes Geschenk, gehört zu den vielen sprachlichen Beschönigungen und Vertuschungen, mit denen ihr versucht, eure Krisen in händelbaren Päckchen zu verstauen, damit sie weniger bedrohlich erscheinen. Dabei ist das Gegenteil richtig: Max bekam nichts und verlor viel. Es gibt bei Krankheit eine grundsätzliche Verwirrung, ob man etwas bekommt oder verliert: Was hast du? und Was fehlt dir? meinen dasselbe. Du hast mit beiden Wendungen deine Schwierigkeiten, aber in Max’ Fall plädierst du eindeutig fürs Fehlen. Seine Verluste äußerten sich also in Symptomen wie aus dem medizinischen Lehrbuch und trotzdem erkanntet ihr ein ganzes Jahr lang nicht, was mit ihm los war.
Du sahst seinem Körper die Veränderung an, schließlich hast du zwanzig Jahre Übung darin, Max’ Körper genau zu beobachten. Du sahst, wie er sich zusammenzog, wie er seine Körperteile immer weiter zueinanderrückte, die Knie zusammenpresste, die Ellbogen an den Körper drückte, als wollte er weniger Raum einnehmen, als wollte er verschwinden, als wollte er die Verluste maximieren bis in die Maxlosigkeit. Du sahst, dass er einen Sack Finsternis in sich herumtrug, der immer dicker wurde, während Max immer dünner wurde. Du sahst das alles, konntest es aber nicht zu einer Diagnose zusammensetzen. Das ist leicht zu erklären. Du kennst die Verluste von dir selbst, aber du weißt genauso wenig wie Max, wo die Grenze zwischen gewöhnlicher mieser Laune und pathologischer mieser Laune verläuft. Ihr seid groß geworden in einer Welt, in der sehr oft über die Arbeit und sehr selten über den Körper gesprochen wird. Euer einziger schulischer Berührungspunkt mit Medizin war ein meist schmerzhafter Zusammenprall mit dem Medizinball. Weil dein Körper es schon lange nicht so genau nimmt mit der Schwerkraft und eine Gleichgewichtsstörung entwickelt hat, magst du ein paar mehr Krankheitserfahrungen haben als die meisten anderen mit Anfang dreißig. Es ist aber bloß ein Inselwissen, ein Schwindelinselwissen, und genauso früh, wie du es dir angeeignet hast, hast du gelernt, davon zu schweigen. Du kannst erklären, wieso Max’ Verluste eine medizinische Begriffsstutzigkeit bei dir verursacht haben, aber die Erklärung entschuldigt nichts. Schließlich seid ihr angetreten, besser zu sein als die Welt, in die ihr geboren wurdet.
Eine Geschichte fängt ja streng genommen überhaupt nur an, wenn jemand anfängt, sie zu erzählen, und das war so: Du warst nach dem Studium halbtags als Redaktionsassistentin bei einer lokalen Tageszeitung beschäftigt, wo du dafür zuständig warst, den Redakteur:innen zuzuarbeiten. Du hast Themen recherchiert, Termine vereinbart und Interviewfragen vorbereitet, du hast Kaffee gekocht und Korrektur gelesen. Es war eine ausführende Tätigkeit, dir wurde gesagt, was zu tun ist, und deine Organisiertheit wurde allseits geschätzt. Nur wenn den Redakteur:innen die Ideen ausgingen, durftet ihr Assistent:innen inhaltlich mitreden, was euch stets als große Chance verkauft wurde. Die große Chance bestand meistens darin, sich den Kopf über einen interessanten Aufhänger für ein Thema zu zerbrechen, damit die Redakteur:innen es nachher für ihre eigene Idee halten und ihren Artikel schreiben konnten. Eine dieser großen Chancen war der jährliche Tag der Architektur im Juni, anlässlich dessen schon zu oft Artikel zu Gentrifizierung und Wohnungsnot erschienen waren. Da müsse mal ein frischer Ansatz her, sagte ein Redakteur namens Martin. Da müsse man den öffentlichen Raum mal grundsätzlich infrage stellen. Du erzähltest Martin davon, dass Max Architekt ist und seine Abschlussarbeit über Trauer im öffentlichen Raum geschrieben hatte. Darin hatte er ein utopisches Bauwerk namens Plörrarium entworfen, das dem Weinen gewidmet ist, ein Ort, an den Menschen gehen können, um hemmungslos zu heulen, zu schluchzen und zu schreien. Martin war begeistert. Er wollte ein Porträt von Max samt Abdruck der Plörrariumsentwürfe bringen, und tatsächlich solltest du es schreiben, weil du den Protagonisten kanntest. Martin wollte deine Arbeit daran begleiten und dich beraten, immerhin würde es dein erster eigener Artikel werden. Max war einverstanden und dir fiel das Verfassen auch deshalb leicht, weil Max’ Abschlussarbeit über das Plörrarium zur Hälfte du geschrieben hattest.
Den ersten Entwurf deines Artikels fand Martin zu technisch und zu kalt, ihm fehlte die persönliche Geschichte. Also schriebst du in den Artikel, dass sich Max damals mit Trauer beschäftigte, weil sich sein Onkel das Leben genommen hatte und Max aus eigener Erfahrung wusste, dass es der Welt an Orten mangelt, die sich fürs Weinen eignen. Diesen zweiten Entwurf fand Martin zu düster, der Text sollte unter Kurioses erscheinen und das sei keine Rubrik für Artikel, unter die man die Nummer der Telefonseelsorge drucken müsse. Er schlug dir vor, die Todesursache des Onkels wegzulassen und lieber eure Freundschaft während Max’ Trauerjahr zu beschreiben. Diesen dritten Entwurf fand Martin unglaubwürdig, er fragte dich, ob du dir sicher seist, dass Max und du kein Paar seid. Da warst du dir sehr sicher. Martin zog die Augenbrauen hoch und überlegte kurz. Dann wollte er Max als empfindsamen ostdeutschen Mann porträtiert und an ihm exemplarisch erklärt bekommen, weshalb die Ostdeutschen so viel jammerten, was seinerseits keinesfalls eine Bewertung, sondern bloß eine Beobachtung sei. Kurzum, zum Tag der Architektur erschien wieder ein Artikel zur Wohnungsnot. Du aber hattest angefangen zu schreiben, über Max und eure Freundschaft, über den Onkel und das Plörrarium. Deine Aufzeichnungen waren komplett aus dem Leim gegangen, du hattest über fünfzig Seiten Material und das Gefühl, noch lange nicht fertig zu sein. Du hattest es lieben gelernt, der Hektik der Redaktion fernzubleiben und zu Hause oder in der Stille der Bibliothek zu arbeiten. Vor allem aber hattest du zum ersten Mal das Gefühl, irgendwie richtig zu sein. Bis hierhin war dein Leben eher eine Aneinanderreihung ergriffener Gelegenheiten gewesen, die sich halbwegs mit deinem körperlichen Zustand vereinbaren ließen. Jetzt aber explodierte eine Datei auf deinem Computer, weil du etwas zu erzählen hattest, das nur du erzählen konntest, und kein Martin der Welt würde dich daran hindern. Du konntest auf keinen Fall zurück.
Dass Max ernsthaft etwas fehlen könnte, dachtest du zum ersten Mal an dem Tag, an dem er dich anrief, um dir zu erzählen, dass er sich den Kopf gestoßen hatte. Du warst in der Bibliothek und dachtest noch, dort deinen ersten eigenen Zeitungsartikel zu schreiben, und hätte dir jemand prophezeit, dass daraus ein Roman wird, hättest du sehr herzlich gelacht. Es war jedenfalls Vormittag und du hattest gerade beschlossen, Vormittage gegen die ganze Welt zu verteidigen, um zu schreiben. Weil Max das wusste, weil Max nie vormittags anrief und es an diesem Morgen trotzdem tat, gingst du ins Foyer und riefst ihn zurück. Er erzählte, dass er sich den Kopf gestoßen hatte. Er hatte seine Hand auf die Klinke gelegt, um die Tür zur Küche zu öffnen. Die Hand hatte die Klinke nicht heruntergedrückt, während seine Füße aber losgelaufen waren, und dann war seine Stirn gegen die harte Tür geknallt. Wäre Max ein Kind, das die Koordination von Hand und Fuß erproben muss, wäre das Ereignis nicht der Rede wert gewesen. Aber Max war über dreißig, Max machte seit Jahrzehnten Türen auf, ohne sich den Kopf zu stoßen. Doch an diesem Morgen war es schiefgegangen, der Schmerz brannte auf seiner Stirn und er hatte keine Ahnung, weshalb das Öffnen der Tür die letzten Jahrzehnte geklappt hatte, diesmal aber nicht. Es war keine besondere Tür, nicht die zu einem Architekturbüro, in dem weitere Überstunden auf ihn warteten, nicht die zu einem Raum, in dem er noch nie gewesen war, es war einfach eure Küchentür, er kannte sie gut, so gut wie nur wenige Türen. Er hatte einen freien Tag, er hatte es nicht eilig, es wartete niemand auf ihn, nicht hinter dieser Tür und hinter keiner anderen. Es gab keinen erkennbaren Grund für die motorische Fehlleistung, und vielleicht lag es weniger an der Fehlleistung als an der Grundlosigkeit, dass Max jetzt nur noch zögerlich einen Fuß vor den anderen setzte, als könnte er auch das Gehen verlernt haben, als habe er in der Sekunde des Zusammenpralls von Stirn und Tür jedes Vertrauen in seinen Körper verloren.
Das alles erzählte er dir mit gebrochener Stimme, mit Pausen, in denen er Schluchzer unterdrückte, und du bekamst die Brüchigkeit seiner Stimme nicht mit der Banalität des Ereignisses zusammen, du dachtest: Was soll dieses Gefälle von Form und Inhalt, du dachtest: Da heult ein erwachsener Mann, weil er sich den Kopf gestoßen hat, du dachtest: Und deshalb ruft er dich ernsthaft an? Zu diesem Zeitpunkt dachtest du noch, Max habe eine sogenannte schwierige Phase. Du sahst das Zeichen nicht, denn es war ein Zeichen, dass da ein erwachsener Mensch weinte, nur weil er sich den Kopf gestoßen hatte. Vielleicht war es auch die Sorte Zeichen, die erst im Nachhinein, in einer Reihe mit anderen Zeichen, als Zeichen für etwas lesbar werden. Wahrscheinlich aber redest du dir das ein, um zu erklären, weshalb du nicht mehr als einen blöden Spruch für Max übrig hattest, den hier zu wiederholen dir zu unangenehm ist.
Das ist nicht witzig, sagte Max. Karl der Achte hat sich auf dem Weg zu einem Tennisspiel den Kopf am Türrahmen gestoßen und ist mit siebenundzwanzig an einer Hirnblutung gestorben. Kannst du einmal was ernst nehmen, warum kannst du nicht ein einziges Mal was ernst nehmen.
Du schwiegst einen Moment, in dem du versuchtest, den Max, den du kanntest, mit dem Max in Übereinstimmung zu bringen, der gerade mit dir telefonierte. Denn Max und du, ihr hattet nie was ernst genommen, insbesondere nicht die ernsten Sachen. Du saßt neben Max, als seine Mutter ihn anrief und darüber informierte, dass sich der Onkel erhängt hatte. Er legte auf, teilte dir mit, was passiert war, und sagte dann: Und zu mir als Kind hat er immer gesagt, ich soll den Kopf nicht hängen lassen.
Der Galgenhumor liegt bei euch echt in der Familie, hast du geantwortet.
Dann habt ihr laut gelacht, in dem kurzen Zeitfenster, in dem die Nachricht noch nicht den ganzen Körper erreicht hatte. Ihr habt so heftig gelacht, als würdet ihr auf Vorrat lachen, weil es jetzt eine ganze Weile nichts zu lachen geben würde.
Jedenfalls ist das genau euer Humor. Ansonsten seid ihr nicht besonders witzig, ihr seid sogenannte Kopfmenschen, die lieber nächtelang Dilemmata diskutieren als Witze reißen, aber in Ausnahmesituationen ist Sarkasmus eure Bewältigungsstrategie oder eine Art Selbstvergewisserung: Solange wir darüber lachen können, kommen wir damit klar. Und derselbe Max, der mit dir über den Tod seines Onkels gewitzelt hatte, wollte jetzt, dass du eine Beule an seiner Stirn ernst nahmst. Max hatte den Humor verloren und weil du Max noch nie den Humor hattest verlieren sehen, wurde dir stirnschlagartig klar, dass hier etwas ganz grundsätzlich nicht stimmte. Das Gefälle zwischen dem Max, den du kanntest, und dem Max, der dir diesen Vorwurf machte, war zu groß geworden, als dass du es weiter hättest ignorieren können.
Leider bedeutete das Ende deiner Begriffsstutzigkeit noch lange nicht den Anfang dessen, was die Psychotherapie hilfreiches Verhalten nennt. Du bliebst, an diesem Morgen und im ganzen nächsten Jahr, eine schlechte beste Freundin. Du sagtest: Fahr mal wieder in den Urlaub, du sagtest: Heute Abend trinken wir Bier. Dass Biertrinken und In-den-Urlaub-Fahren in etwa die dümmsten Dinge sind, die man bei einer psychischen Erkrankung machen kann, wird dir eine freundliche Ärztin erst erklären, als Max dich schon eine Weile nicht mehr anruft.
Ihr habt gelernt, in Symptom und Ursache zu unterscheiden, und deswegen beginnt die Geschichte lange vor den sichtbaren Verlusten, denen etwas vorausgeht, das schwer zu erklären ist. Max nennt es einen Fluch, du nennst es einen Wahn, jedenfalls geht es darum, dass Max überzeugt ist, früh sterben zu müssen, weil alle Männer seiner Familie früh gestorben sind. Das Wort überzeugt ist nicht ganz richtig, denn Max weiß, dass Geschichte sich nicht wiederholt, sie ähnelt sich höchstens, und selbst die Ähnlichkeiten sind bei genauerer Betrachtung ziemlich unterschiedliche Geschichten. Es ist aber bloß ein theoretisches Wissen, eines von der Sorte, das nur den Kopf, nicht aber den Körper erreicht, und das ist schon wieder nicht ganz richtig, weil der Kopf natürlich Teil des Körpers ist, auch wenn die Geistesgeschichte ziemlich erfolgreich damit war, was anderes zu behaupten.
Max weiß, dass die Männer seiner Familie nicht tatsächlich orakelmäßig zum frühen Sterben verflucht sind, aber der Fluch, den es nicht gibt, verursacht Max’ Symptome, weshalb es ihn eben doch irgendwie gibt. Es ist wie gesagt schwer zu erklären.
Eigentlich magst du es nicht, wenn Max Fluch dazu sagt, weil das klingt, als gebe es keinen Ausweg. Max hingegen mag es nicht, wenn du Wahn dazu sagst, weil das klingt, als könne er nicht zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unterscheiden. Ihr konntet euch darauf einigen, dass das frühe Männersterben in Max’ Familie eine gewisse Tradition hat. Das aber löste leider das Benennungsproblem nicht, denn eine Tradition ergibt noch keinen Wahn. Dann erinnerte dich Max daran, dass du deine eigene Krankheit auch selbst benannt und ihn nicht nach seiner Meinung gefragt hast. Du gabst nach und jetzt nennt ihr es also einen Fluch, schließlich hat ihn Max und nicht du. Wann genau aus der Tradition ein Fluch wurde, ist schon wieder schwer zu sagen, aber etwa vor fünf Jahren, also in dem Jahr, das auf den Tod seines Onkels folgte, welcher der Todesfall war, der aus Max den letzten lebenden Mann seiner Familie machte.
Der Onkel starb 2014, laut Todesschein an Suizid und laut Familiengedächtnis am Kapitalismus. Es war der Todesfall, nach dem die Großmutter sagte: Die Männer in unserer Familie sind alle an den deutschen Verhältnissen gestorben.
Eine Tradition entsteht bekanntlich durch Wiederholung, und der Tod des Onkels war schon der dritte verfrühte Todesfall in der Familie. Der erste war tragisch, der zweite eine Frechheit des Schicksals, der dritte aber machte aus dem verfrühten Tod eine Regel. Seitdem fragt sich Max, wann und an welchen Verhältnissen er sterben wird.
Weil dies also auch die Geschichte einer Familientradition ist, beginnt sie eigentlich schon mit den früheren Todesfällen. Der Vater starb 1988, laut Todesschein an einem Asthmaanfall, laut Familiengedächtnis am nicht real existierenden Sozialismus. Der Großvater starb 1976 an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung, weshalb die Geschichte streng genommen schon 1944 mit der Kriegsverletzung beginnt.
Auch ein Fluch entsteht durch Wiederholung und deshalb fängt die Geschichte jedes Mal an, wenn Max denkt: Auch ich werde früh sterben.
Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest. Da hatten Max und du überhaupt noch wenig Ahnung, welche Schwierigkeiten sich ergeben würden durch die bloße Tatsache, zunehmend lange auf dieser Welt zu sein.
Du willst dich nicht hinter strukturellen blinden Flecken verstecken, und deshalb muss gesagt werden, dass auch die Beschaffenheit eurer Freundschaft oder vielmehr die Rollen, die ihr füreinander gespielt habt, zu deiner medizinischen Begriffsstutzigkeit führten. Seit zwanzig Jahren waren diese Rollen klar verteilt: Max war der Gesunde, du die Kranke. Du warst die, die wegen ihrer Schwindelanfälle das Krankenzimmer der Schule besser kannte als die Turnhalle. Du warst die, die nur selten am Sportunterricht teilnahm. Du warst die, die häufig mit Erbrechen oder heftigen Bauchschmerzen im Bett lag oder in der Notaufnahme des Krankenhauses, wo regelmäßig ausgeschlossen wurde, dass es sich um eine Blinddarmentzündung handelte. Du warst die, die die HNO-Ärzt:innen und Physiotherapeut:innen der Stadt beim Vornamen kannte.
Max hingegen war der, der auf eurer Schulbank die Stellung hielt, den Lehrer:innen deine Abwesenheit erklärte und Arbeitsblätter für dich mitnahm. Max war der, der dir die Hausaufgaben brachte, der dich aus der Praxis abholte und in der großen Pause zu dir radelte, um dir ein Mittagessen ans Krankenbett zu bringen, wenn deine Mutter arbeiten musste.
Daran hat sich auch in den Jahren nach der Schule nichts geändert, du bliebst die Kranke, Max der Gesunde. Ihr habt euch daran gewöhnt, dass dein fehleranfälliger Körper Striche durch eure Rechnungen macht. Du sprichst in der dritten Person von ihm, sagst Sätze wie: Mein Körper erlaubt mir das heute leider nicht, als wäre er jemand anderes, der dich daran hindert zu tun, was du tun möchtest; als wäre er deine Chefin, die dir zu viel Arbeit aufbürdet, als dass du ausgehen könntest. Wenn Max ich sagt, meint er seinen Körper mit. Wäre er krank, würde er sagen: Ich bin krank, aber Max ist bis zu dieser Sache hier nie ernsthaft krank gewesen. In euren Rechnungen war dein Körper die Variable, seiner die Konstante. Dass er krank sein könnte, konntest du dir schlicht nicht vorstellen. Das Bild, das du dir von ihm gemacht hattest, hieltst du für fertig, was ein für langjährige Beziehungen typisches Problem ist. Man meint, einander zu kennen, und übersieht die Veränderungen, die sich allmählich, über die Jahre vollzogen haben. Wenn eine Veränderung nicht länger zu leugnen ist, tritt eine Überraschtheit ein, die die Veränderung fälschlicherweise plötzlich erscheinen lässt. Deshalb beginnt die Geschichte vielleicht nicht erst mit Max’ Symptomen, sondern schon mit deinen, da warst du elf und kanntest Max noch gar nicht.
Die Geschichte deiner medizinischen Begriffsstutzigkeit ist eingebettet in eine Geschichte des Schweigens über den Körper, die gleichzeitig eine Geschichte des Schimpfens auf den Körper ist. Wenn du mit Max sprichst und wenn du über Max schreibst, tust du das in einer Sprache, in der sich keine Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan durchsetzen mag, die locker über die Lippen geht. Es ist eine Sprache, in der Körperöffnungen, ihre Funktionen und ihre Ausscheidungen als Fäkalsprache verpönt sind. Eine Sprache, die auffällig gerne aus Erkrankungen Beleidigungen macht und Diagnosen wie Idiotie, Spastik, Behinderung, Downsyndrom und Psychopathie in Schimpfwörter abwandelt. Eine Sprache, deren Alltagsmetaphorik durchseucht ist von Geschwüren und Wurmfortsätzen der Gesellschaft, von vergiftetem Klima und gallespuckenden Reden, von einer auf einem Auge blinden Politik, von Überzeugungen als Viren und Menschengruppen als Parasiten. Du sitzt am Schreibtisch mit einer verkrüppelten Sprache, der ein brauchbares Vokabular amputiert wurde, und in schlafarmen Nächten denkst du, dass die Geschichte vielleicht nie anfängt, weil du darüber nicht hinauskommst, weil du keine Sprache findest, in der du sie erzählen könntest.
Ich hätte gerne Geschwister gehabt. Ich stelle mir vor, Geschwister könnten helfen, die Brocken des Erwachsenseins, die Eltern ihren Kindern auftischen, untereinander aufzuteilen und klein zu schneiden, sodass man sich nicht daran verschluckt.
Christian Dittloff
Es war 1999, du warst nicht weg, du bräuntest dich nicht in der Südsee, du verbrachtest die Sommerferien, die zwischen Grundschule und Gymnasium lagen, zu Hause und hattest viel Zeit, dir das große rote Backsteingebäude vorzustellen, in dem aus dir nun was Besseres werden würde, wie deine Großmutter bemerkt hatte. Du wusstest nicht, besser als wer, was oder wann du werden solltest, aber du wusstest, dass nachfragen die Sache nicht erhellen würde. Entsprechend viele Fingernägel kautest du dir in der Nacht vor dem ersten Schultag am Gymnasium ab, nämlich alle.
Zu Terminen am Vormittag kam deine Mutter grundsätzlich zu spät, was abwechselnd an den Nachtschichten in der Wäscherei und an durchzechten Nächten in Kneipen lag, die der Einfachheit halber auch Nachtschichten genannt wurden. Im Kindergarten hattest du als Erstes das Lesen der Uhr gelernt, um sie zur Pünktlichkeit mahnen zu können, denn wer zu spät kam, musste bis zum Ende des Morgenkreises draußen warten.
An deinem ersten Tag am Gymnasium setzte sie dich pünktlich um 7:50 Uhr an der Schule ab – allerdings zwei Tage zu spät. Wie sich herausstellte, war nicht Montag, sondern schon Mittwoch. Der Fehler lag dummerweise bei dir: Als deine Mutter eine Woche zuvor nach dem Wochentag gefragt hatte, hattest du auf deine neue Casio-Uhr geschaut und Thursday mit Tuesday verwechselt. Dass sich deine Mutter in solchen Dingen auf ihre zwölfjährige Tochter mit mangelhaften Englischkenntnissen verließ, erklärt alles, was man wissen muss, um zu verstehen, wie du zu einem sehr gut organisierten Kind wurdest, das Uhren, Kalender und Listen liebte.
In der dritten Klasse hattest du deinen ersten Freund, er hieß Rico, und jeden Nachmittag seid ihr auf den Mauervorsprung hinter der Kantinenbaracke geklettert, um euch dort kurz und unbeobachtet auf den Mund zu küssen. Du führtest eine Liste, die du mit Küsschenliste überschriebst und in der du hinter jedem Wochentag ein Häkchen oder ein Kreuz setztest, je nachdem, ob ihr euch geküsst hattet oder nicht. Aus Scham – ob für die Küsse oder die Liste, kannst du nicht mehr sagen, du erinnerst dich nur an das Gefühl – hast du sie später in kleine Fetzen gerissen. Heute ist dir schleierhaft, wozu diese Liste gut gewesen sein soll. Von ihr ist nur die anekdotische Symbolhaftigkeit geblieben, die für das Ordnungssysteme aller Art liebende Kind steht, das du einmal gewesen bist.
Du kamst also zwei Tage zu spät und bekamst einen Platz ganz vorne zugewiesen, an jenem Tisch, der direkt an das Lehrerpult grenzte, wo du banknachbarlos die ersten drei Schultage verbrachtest. Max allerdings toppte deine Verspätung. Seine Mutter hatte ihn eine Woche lang zur falschen Schule gefahren, was erst auffiel, als ein krank gewesener Max dort auftauchte und es entgegen der Klassenliste plötzlich zwei Mäxe gab. Der falsche Max kam, wie ursprünglich vorgesehen, in deine Klasse und wurde auf den letzten freien Platz neben dich gesetzt. Vom Schulleiter bekamt ihr Briefe für eure Mütter ausgehändigt, in denen er sie freundlich an die allgemeine Schulpflicht erinnerte, wobei er von einer Meldung ans Jugendamt absehen wollte, sofern sich derlei nicht wiederholte. Ihr last die Briefe in der Pause, saht euch kurz an und warft sie wie auf ein geheimes Zeichen hin in den Mülleimer. Das schlechte Gewissen eurer Mütter hattet ihr bereits in etliche Kugeln Eis und Fernsehstunden verwandeln können, und das sollte mit der Absolution des Schulleiters nicht gleich wieder vorbei sein. Als ihr euch zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres umsetzen durftet, wechseltet ihr in die hinterste Reihe, wo ihr die sieben Jahre bis zum Abitur nebeneinander sitzen bliebt.
Die Gemeinsamkeiten eurer alleinerziehenden Mütter erzeugten Gemeinsamkeiten bei ihren Kindern, und daraus erwuchs eine Solidarität, die die Grundlage eurer Freundschaft bildete. Allein erzogen zu sein bedeutet eine Zeitverschiebung, ein Früher als andere. Max und du, ihr konntet früher als andere ein Ei am Pfannenrand aufschlagen, bei einem Rohrbruch das Wasser abstellen, einen Fahrradschlauch flicken, Nägel feilen und Nächte durchmachen. Ihr wusstet früher als andere, dass man weiße T-Shirts besser nicht mit roten Strümpfen wäscht, dass Väter in Abwesenheit besonders glänzen, dass Lohnarbeit in keinem direkten Zusammenhang mit Wohlstand steht. Ihr musstet früher als andere Unterschriften fälschen und aus anderen Gründen: nicht weil ihr etwas zu verbergen hattet, sondern weil ihr eure Mütter nicht antraft. Ihr durftet früher als andere allein zum Bäcker, allein zur Schule, allein an den See. Einmal, am Rand eines Spielplatzes, hattest du den getuschelten Satz aufgeschnappt: Sie ist halt alleinerziehend. Du bezogst ihn auf dich und dachtest noch lange, alleinerziehend würde bedeuten, dass sich die Kinder allein erziehen.
Solange ihr Kinder wart, bedeuteten die Abwesenheiten eurer Mütter, dass ihr euch allein zu Hause gruseltet, aber als Jugendliche bedeuteten sie plötzlich, dass ihr tun und lassen konntet, was ihr wolltet. In einer Zeit, in der es gar nicht schnell genug gehen konnte mit dem Erwachsenwerden, bedeutete früher als andere einen Vorsprung, auf dem ihr euer Überlegenheitsbedürfnis aufbauen konntet. Ihr machtet euch lustig über Trinkpäckchen, eingeschlagene Schulbücher, Heimwehtränen auf Klassenfahrten, vom Friseur geschnittene Haare und Hausstauballergien. Ihr machtet euch lustig über gebügelte und zum Wetterbericht passende Kleidung, die davon zeugte, dass sie am Vorabend zurechtgelegt worden war. Ihr erfandet die Beleidigung Gummistiefelkinder für alle, die behüteter aufwuchsen als ihr und immer trockene Füße hatten. Eure Freundschaft fußt darauf, dass ihr keine Gummistiefelkinder wart und die Löcher in euren Turnschuhen zum symbolischen Beweis eurer Lebenserfahrung erhobt. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr sagen, ob Shoppen nicht euer Hobby war, weil ihr es nicht mochtet oder weil es nicht im Rahmen eurer Möglichkeiten lag. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr sagen, ob eure Verachtung der Gummistiefelkinder Angriff war oder Notwehr.
Im Nachhinein muss vor allem gesagt werden, dass die Unterschiede lächerlich waren im Vergleich zu denen, die ihr später in den westdeutschen Städten kennengelernt habt. Eure Elterngeneration hat in den 90er- und 00er-Jahren im Osten einen nahezu kollektiven sozialen Abstieg aufs Linoleum gelegt, weshalb alle Eltern hatten, die mehr mit Klarkommen als mit Kindererziehung beschäftigt waren. Ihr Kinder des postsozialistischen Ostens werdet die Generation der Unberatenen genannt. Untersuchungen haben euch lange pubertäre Latenzphasen, metaphysische Obdachlosigkeit und eine Anhänglichkeit an das Herkunftsmilieu attestiert. Ihr habt nichts dagegen vorzubringen. Die Beleidigung Gummistiefelkinder verwendet ihr bis heute. Seit eurem Studium in den westdeutschen Städten meint ihr damit allerdings eher jene mit einem leer stehenden Kinderzimmer in einem Elternhaus, das tatsächlich ein Haus und keine Mietwohnung ist und das sie einmal erben werden.
Du glaubst übrigens, dass es mit eurer Freundschaft fast anders gekommen wäre. Max’ Mutter ist nach ihm noch mal schwanger gewesen, entschied sich aber dagegen, das Kind zu bekommen. Es war 1990, draußen tobte die deutsch-deutsche Geschichte, drinnen tobte der dreijährige Max, und seine Mutter hatte schlicht keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Zu dieser Zeit ein Kind zu bekommen, schien vielen Frauen keine so clevere Idee zu sein, die Geburtenzahlen gingen Anfang der 90er im Osten um die Hälfte zurück. Das Phänomen hieß Geburtenknick und irgendwo in diesem Knick war auch jenes Geschwisterchen für Max verschwunden, das ihr euch beide, typisch Einzelkind, immer dann gewünscht hattet, wenn ihr euch langweiltet oder Streit mit euren Müttern hattet; es war der Wunsch nach jemand Verbündetem. Du hältst diesen unerfüllten Geschwisterwunsch für den Grund, weshalb eure Freundschaft über das hinausgeht, was man allgemein unter Freundschaft versteht und wofür dir und der Welt ein passendes Wort fehlt. Du meinst, dass ihr einander quasi die fehlenden Geschwister ersetzt und dass ihr vielleicht nicht oder nicht mehr oder nicht so eng befreundet wärt, wenn Max’ Mutter das zweite Kind bekommen hätte. Max hingegen meint, dass du alles überpsychologisierst, seit du eine Therapeutin hast, ihr hättet euch einfach gut verstanden.
In fast allen Biografien von Bildungsaufsteiger:innen findet sich diese eine Figur, ohne die es wahrscheinlich nichts geworden wäre. Bei dir war das deine Klassenlehrerin in der Grundschule. Frau Bauers sozialistische Überzeugungen waren durch Mauerfall und Vereinigung nicht im Geringsten erschüttert worden, weshalb sie euch ungeachtet aller Lehrplanänderungen Pionierlieder beibrachte; das Lied gegen die Neutronenbombe kannst du heute noch auswendig. Außerdem betrachtete es Frau Bauer als ihre sozialistische Pflicht, Kindern von Arbeiter:innen zu höherer Bildung zu verhelfen. Sie war es, die dir eine Gymnasialempfehlung gab und deine Mutter davon überzeugte, der Empfehlung auch nachzukommen.
In der Grundschule hattest du als vorlautes Kind gegolten, auf deinen Zeugnissen hatten immer die gleichen, als Gegensätze markierten Adjektive gestanden: Du seist eine gute/kluge/aufgeweckte Schülerin, aber bedauerlicherweise frech/vorlaut/von losem Mundwerk.
Woran die Grundschule gescheitert war, schaffte das Gymnasium wie von Zauberhand: Dein loses Mundwerk wurde stumm wie Backstein, sobald du den Klinkerbau betratst. Du warst eine gute Schülerin, was eigentlich nur bedeutet, dass du gut organisiert warst. Dir fiel der Unterricht alles andere als leicht, aber gerade deshalb lerntest du emsig. Die Lehrer:innen nannten es Fleiß, du würdest es im Nachhinein als Verbissenheit bezeichnen. Du fragtest dich noch lange, ob du am Gymnasium richtig warst oder ob auf dem Stuhl, auf dem du saßt, nicht besser jemand anderes sitzen sollte. Dir war immer klar, dass irgendjemand nicht auf diesem Stuhl saß, weil du es tatest. Entsprechend unbequem fandst du diesen Stuhl, auf dem du im Unterricht wie ein Wiesel nervös hin und her gerutscht und wie ein Kaninchen vor Angst erstarrt bist, sobald du zu sprechen aufgefordert wurdest.
Max hingegen war zwar ahnungslos und faul, konnte aber so auftreten, als habe er den Durchblick. Er hatte von Beginn an das an sich, was du später seine große physische Selbstverständlichkeit tauftest. Er saß auf seinem Stuhl, als gäbe es gar keinen Zweifel daran, dass er ihm zustand. Mit derselben Selbstverständlichkeit ging er durch die Flure und über den Schulhof und beteiligte sich rege mündlich am Unterricht, auch wenn er den Text, über den ihr spracht, nicht gelesen hatte. Du hattest immer alles gelesen, sagtest aber nie etwas.
Nach dem ersten Elternabend hörtest du deine Mutter zu deiner Großmutter sagen, die Leute an diesem Gymnasium könnten so schlau nicht sein, die Klassenlehrerin habe deine Schüchternheit bedauert. Zu dir sagte deine Mutter, du könntest jederzeit die Schule wechseln, wenn sie dir in dem Laden zu viele schwierige Wörter benutzten. Das hatte dir die Versagensangst nehmen sollen, machte dir aber endgültig klar, dass es die Möglichkeit, zu versagen, überhaupt gab. Dennoch begriff deine Mutter immerhin sofort, dass deine Verstummung milieuwechselbedingt war, weil du die Erste in deiner Familie warst, die auf einem solchen Stuhl saß. Das rechnest du ihr rückblickend hoch an, denn sie blieb die Einzige. Du selbst begriffst es erst Jahre später an der Uni, wo die Sache mit dem Stuhl von vorne beginnen sollte. An der Schule begriff es bis zum Abitur niemand, dort galtst du eben als fleißig, aber schüchtern. So war das damals, es gab nur individuelle Eigenschaften und keine Strukturen, jedenfalls für die, denen die Strukturen nichts anhaben konnten, also für alle außer dir. Das ist schon wieder nicht ganz richtig, denn da waren auch die Kinder der Russlanddeutschen oder die Zirkuskinder, die genauso unbequem auf ihren Stühlen saßen wie du. Zu ihnen hieltst du Abstand, wobei auch das ein sprachlicher Vertuschungsversuch ist, und zwar dafür, dass du auf sie herabsahst. Weil sie unter sich blieben, weil sich niemand ihre Namen merken konnte oder wollte, weil sie unbemerkt kamen und genauso unbemerkt zwischen den Schulhalbjahren wieder verschwanden. Nur wegen ihnen bekamst du eine Ahnung davon, besser als wer du werden solltest. In deiner Erinnerung laufen sie, wenn überhaupt, als Statist:innen durchs Bild.
Das tut dir plötzlich so leid, dass du das Schreiben unterbrichst, um die Klassenfotos hervorzukramen, auf deren Rückseite die Vornamen stehen: Sergej, Jekaterina, Michail, Réka. Das passiert dir in letzter Zeit oft: Du merkst, wovon du Abstand gehalten hast, wovon du nicht erzählen kannst. Von diesen vieren weißt du nicht mal mehr die Vornamen. Du hast dich nicht über sie lustig gemacht, aber du hast dich auch nicht mit ihnen verbündet. Du hast dich mit Max verbündet, der seinen Stuhl mehr besaß, als dass er auf ihm saß. Eure alleinerziehenden Mütter hatten vieles gemeinsam in puncto Kontostand, Zeitmangel, Männerlosigkeit und Umbruchsfrust, nicht aber den Bildungsgrad: Deine Mutter hatte Facharbeiterin für Papiererzeugung gelernt, wobei sie darauf bestehen würde, dass du Facharbeiter sagst, weil das in der DDR nun mal so hieß. Nach der Schließung der Fabrik in den 90ern hatte sie auf Textilpflege umgeschult. Seither arbeitete sie in einer Industriewäscherei, die sie viele Jahre lang befristet anstellte und wieder entließ, wie es die Auftragslage gerade wollte. Max’ Mutter war studierte Ingenieurin für Elektrotechnik, wobei auch sie darauf bestehen würde, dass du Ingenieur sagst, weil das nun mal so hieß. In der DDR hatte sie beim VEB Energiekombinat gearbeitet. Nach der Vereinigung hatte sie eine Weiterbildungsmaßnahme nach der anderen absolviert und alles belegt, was im neuen System mutmaßlich hilfreich war, Englisch, Betriebswirtschaft, Computerkurs. Doch sie blieb, wie so viele, in den Maßnahmen stecken; Lock-in-Effekt heißt das in der Ökonomie. Dabei galt ihre Ausbildung im Westen als vorbildlich, die praktische Erfahrung wurde geschätzt. Max’ Mutter sagt, sie hätte nur eine einzige Weiterbildung wirklich gebraucht und die wurde nicht angeboten: in Konkurrenzdenken und Selbstvermarktung. Trotzdem, Max brauchte keine Frau Bauer, die sich für seine Gymnasialempfehlung einsetzte, er kann sich nicht erinnern, dass das je zur Debatte gestanden hätte. Max saß auf seinem Stuhl, als gehöre er ihm, und du, als seist du zu Gast.
Du warst also gut in der Schule und Max war gut darin, von dir abzuschreiben. Bis heute stellt er dich oft als die Frau vor, ohne die er niemals das Abitur bestanden hätte. Was Max nicht weiß, ist, dass auf gewisse Weise auch du von ihm abschriebst. Und da ist er also, der Zeitpunkt, an dem du beginnen musst, von deinem Geheimnis zu erzählen, das lange so geheim war, dass nicht mal du selbst davon wusstest. Vielleicht ist Geheimnis also nicht das richtige Wort, vielleicht ist es eher ein Trick, von dem du erst weißt, dass du ihn beherrscht hast, seit du ihn nicht mehr beherrschst. Es kostet dich einiges, den Trick zu verraten, du windest dich bis zur Überwindung. Also. Deine älteste Erinnerung an den Trick ist diese:
In der achten Klasse musstest du in Biologie einen Vortrag über semipermeable Membranen halten. Vorbereitung ist alles, sagte deine Mutter immer, und du warst vorbereitet wie für die Verteidigung einer Doktorarbeit, du wusstest alles über Zellen und Osmose, was die städtische Bibliothek zu bieten hatte, du hattest das Wort semipermeabel auszusprechen geübt. Dann standst du vor der Klasse und bekamst kein Wort heraus. All dein Wissen verklebte zu einer gummiartigen Masse, aus der du keinen Satz herauslösen konntest. Die Klasse und die Lehrerin starrten dich an, erst erwartungsvoll, dann peinlich berührt von deinem Schweigen, während du selbst zu einer semipermeablen Membran wurdest, in die alle Blicke eindrangen, aus der aber nichts herauskam. Du wusstest nun mit Sicherheit, dass Vorbereitung nicht alles war, nur über semipermeable Membranen wusstest du plötzlich nichts mehr.