Welten der Antike - Michael Scott - E-Book

Welten der Antike E-Book

Michael Scott

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Beschreibung

Michael Scott beschreibt die antike Welt in globaler Perspektive. Packend schildert er die wichtigsten Ereignisse in Ost und West und verfolgt die großen Herausforderungen, vor die sich die antiken Menschen in Europa und Asien gestellt sahen und die uns noch heute prägen. Es gab nie nur eine antike Welt. Während die Griechen und Römer im Mittelmeerraum tätig waren, entstanden rundum den Globus gleichzeitig andere Gesellschaften und Kulturen. Ob in Griechenland oder Indien, in China oder Rom: Die mannigfaltigen Welten der Antike stehen für eine weltweite Phase gewaltiger Innovation, Brutalität und Verwandlung. Michael Scott schildert ein außerordentliches Zeitalter, in dem alte Ordnungen gestürzt und die Fundamente für unsere heutige Welt gelegt wurden, in globaler Perspektive: In derselben Epoche, da Hannibal Rom bedrohte,vereinte Qin Shi Huangdi China unter seiner Herrschaft.Während sich dort der Buddhismus zu einer Staatsreligion entwickelte, öffnete sich das römische Reich mit der Bekehrung Konstantins dem Christentum. Und während Konfuzius begann, seine aufregende neue Philosophie einer Harmonisierung von Politik und Ethik zu entwickeln, verbreiteten sich in Rom und Athen mit Elementargewalt eigene neue Ideen: Republikanismus und Demokratie. Anschaulich zeigt der Autor, wie unterschiedliche Gesellschaften auf ähnliche Bedrohungen und Zwänge reagierten und wie sie sich gegenseitig beeinflussten: durch Eroberung und Anpassung; durch Handel mit Menschen, Waren und Ideen. "Dieses anschauliche, engagierte Buch erweckt einige der wichtigsten Phasen der Geschichte der Antike zum Leben." Yuval Noah Harari, Autor von "Homo Deus"

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Seitenzahl: 800

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WELTEN DER ANTIKE

Michael Scott

Eine Geschichte von Ost und West

Aus dem Englischen von Susanne Held

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ancient Worlds. An Epic History of East and West« im Verlag Hutchinson, Penguin Random House, London, 2016

© 2016 by Michael Scott

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Ms Lat 463 Fol. 75 v–76r Map of the World with the Twelve Winds (vellum), Ptolemy (Claudius Ptolemaeus of Alexandria)(c. 90–​168)(after)/Biblioteca Estense, Modena, Emilia-Romagna, Italy/Bridgeman Images

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98125-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11027-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Die Welt der Antike – eine oder mehrere Welten?

»Antike Welten« als Thema der Geschichtsschreibung

Teil IPolitik in einer Achsenzeit

Zeittafel

Hinführung

Kapitel 1Die athenische Demokratie und der Wunsch nach Ermächtigung des Volkes

Kleisthenes, der Reformer?

Solon, der Gesetzgeber?

Tyrannenherrschaft

Eine neue Welt entsteht

Geschichtsschreibung der Antike

Die Formulierung der Geschichte von den Ursprüngen der Republik

Kapitel 2Rom, die Republik und die perfekte Regierung

Gute Könige, schlechte Könige

Feuertaufe

Eine funktionierende Republik entsteht

Antworten von jenseits des Meers

Jeder an seinem Platz

Kapitel 3China, Konfuzius und die Suche nach dem gerechten Herrscher

Die Aufzeichnungen der alten chinesischen Geschichte und ihre Helden

Abstieg und Hoffnungen auf einen Neuanfang

Entstehung eines Weisen

Globale politische Ansätze in der Antike

Rivalen auf dem Feld der Ideen

Bilanz

Teil IIWelt im Wandel – und im Krieg

Zeittafel

Hinführung

Kapitel 4Der Aufstieg Einer neuen Generation

Widerstand gegen Rom im Westen

Ein labiles Zentrum

Ein neues Imperium im Osten

Kapitel 5Aufbau von Netzwerken

Aufbau von Allianzen im Mittelmeerraum

Die Verbindung von Welten unter einem einzigen Führer in Asien und China

Kapitel 6Imperien im Osten und im Westen

Verteidigung der Grenzen

Herrschaft über den Mittelmeerraum

Bilanz

Teil IIIReligiöser Wandel in einer vernetzten Welt

Zeittafel

Hinführung

Kapitel 7Religiöse Erneuerung – von innen und von außen

Religiöse Erneuerung von innen

Religiöse Erneuerung von außen

Kapitel 8Durchsetzung, Vermischung und Gestaltung von Religionen

Altem wird Neues gewaltsam übergestülpt

Eine Mischung aus Alt und Neu

Eine Form für das Neue aus dem Alten

Kapitel 9Religion und Herrschaft

Eine Religion, zwei Herrscher

Viele Religionen, ein Herrscher

Viele Religionen, viele Herrscher

Bilanz

Schluss

Tafelteil

Anhang

Anmerkungen

Auswahlbibliographie zu vertiefender Lektüre

Liste der Karten

Liste der Abbildungen

Abbildungsnachweis

Namensregister

Dank

Für Alice und unsere Tochter Ella

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken.Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.Ihr dürft ihren Körpern eine Wohnstatt geben, doch nicht ihren Seelen,Denn ihre Seelen wohnen im Hause von morgen,das ihr nicht zu betreten vermögt,nicht einmal in euren Träumen.

Khalil Gibran, Der Prophet (Von den Kindern)

Einleitung

Die Ameisen hatten die Größe von Füchsen, und sie gruben Tunnel in die Erde, wie Maulwürfe. Die Erde, die sie ausgruben, türmte sich in hohen Haufen auf der Erdoberfläche. Es hieß, für Menschen sei es gefährlich, diese Erdhäufen direkt anzuschauen, waren sie doch mit Gold vermischt – dem besten und reinsten Gold der Welt, das unter der gleißenden Sonne einen tödlichen Glanz verströmte. Die dort lebenden Menschen konnten jedoch nicht davon abgebracht werden, das Gold für sich selbst zu begehren.

Sie bestiegen Fuhrwerke, vor die sie ihre schnellsten Pferde spannten, und kamen um die Mittagszeit – während die Ameisen damit beschäftigt waren, tief unter der Erde zu graben –, um so viel wie möglich von dem Erde-Gold-Gemisch wegzuschaffen. Sie mussten sich schnell und leise bewegen, weil sonst die Ameisen etwas merkten und dann an die Oberfläche zurückschwärmten, um die Diebe anzugreifen und zu verfolgen. Die Menschen warfen ihnen – in der Hoffnung, die Ameisen in ihrer Jagd aufzuhalten – Fleischstücke hin, doch ließen sich nicht alle dieser schlauen Insekten ablenken. Einige stürzten sich auf die Menschen und ihre Fuhrwerke und kämpften bis zum Tod …1

Willkommen in Indien – und zwar in jenem Indien, das ein Grieche namens Megasthenes(1) an der Schwelle des 3. Jahrhunderts v. Chr. schilderte.2 Megasthenes malt das lebendige Bild einer Welt voller bemerkenswerter Kreaturen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Die nach Gold grabenden, Menschen tötenden Ameisen, so seine Erklärung, würden sich den menschlichen Dieben gegenüber so aggressiv verhalten, weil sie den Wert des Goldes kannten und lieber ihr Leben dahingeben würden, als sich von ihrem Gold zu trennen.3 Megasthenes berichtet, in anderen Teilen Indiens treffe man auf Tiger, die doppelt so groß seien wie Löwen; auf Affen, größer als die größten Hunde; auf geflügelte Skorpione und fliegende Schlangen, deren Urin auf der Haut des Menschen Blasen und Verwesungserscheinungen hervorrufe. Andere Schlangen seien so riesig, dass sie Hirsche und Stiere am Stück verschlingen könnten; und es gebe Hunde, deren Kiefer stark genug seien, um Löwen festzuhalten.4 All diese Tiere überrage noch der indische Elefant, größer auch als die Elefanten in Afrika; und sein Gegenstück im Meer sei der Wal, der seinerseits den indischen Elefanten an Größe um das Fünffache übertreffe.

Das Interesse von Megasthenes(2) war nicht auf Tiere beschränkt: Sein Indien war auch von exotischen Menschen bevölkert. Er berichtet von winzigen Menschen und von solchen, die groß wie Riesen seien; von nasenlosen Menschen, von anderen ohne Mund, die sich mittels Inhalation ernährten und durch zu penetrante Gerüche umgebracht werden könnten; von Männern, deren – jeweils achtzehige – Füße nach hinten zeigten; von Männern mit Hundekopf, die sich bellend unterhielten.5

Bei dem Text des Megasthenes(3) handelt es sich durchaus nicht um das Elaborat eines in der Nachmittagssonne Athens oder Spartas vor sich hin träumenden griechischen Müßiggängers. Wir haben hier vielmehr den ersten Augenzeugenbericht eines Mannes aus dem Westen vor uns, der die Ebenen Indiens am Ganges aufgesucht hat.6 Und während sein Text nur in Fragmenten auf uns gekommen ist, die von späteren Autoren in ihre eigenen Texte aufgenommen wurden (Autoren, die – durchaus nachvollziehbar – häufig die Wahrheit seines Berichts in Frage stellten), so behält er für unser Verständnis des antiken Indien seine zentrale Bedeutung, bietet er doch eine eingehende Analyse vom Funktionieren der indischen Gesellschaft im Vergleich mit seiner eigenen.7 Megasthenes war ja schließlich nicht irgendein Reisender, den es zufällig nach Indien verschlagen hatte. Er war vielmehr der erste offizielle griechische Gesandte am königlichen Hof in der Stadt Pataliputra (dem heutigen Patna), von dem aus damals ein Großteil des nördlichen Indien beherrscht wurde. Bei den Griechen hatte der dortige Herrscher den Namen König Sandrocottus; in der indischen Geschichte ist er besser bekannt als Chandragupta(1) Maurya, Begründer einer der großen Dynastien Indiens.

Megasthenes(4) war mit dieser Aufgabe von Seleukos Nikator(1) (dem »Sieger«) betraut worden, der ehemals General Alexanders(1) des Großen gewesen war und später Herrscher über das Reich der Seleukiden wurde, das sich von der Küste Kleinasiens am Mittelmeer bis über das heutige Afghanistan tief hinein nach Zentralasien erstreckte und dann hinunter über den Hindukusch in das nordwestliche antike Indien (jetzt Pakistan). Von seiner privilegierten Ausgangslage aus liefert uns Megasthenes einen höchst informativen Einblick in die Prachtentfaltung am Hofe von Chandragupta(2) im Vergleich mit den Verhältnissen an den Höfen der Herrscher im Westen.

Er informiert uns, dass Pataliputra an der Stelle erbaut war, an der die großen Flüsse Ganges und Erannoboas aufeinandertrafen, und dass diese Ortschaft als Parallelogramm angelegt war: Ihre mit 570 Wachtürmen bestückten Palisadenmauern waren durchbrochen von 64 Toren. Ringsherum zog sich ein tiefer Graben, der nicht nur zur Verteidigung, sondern auch als praktische Auffangmöglichkeit für die Abwässer der Stadt diente (der Gestank muss, vor allem in den wärmeren Monaten, für das Geruchsempfinden von Besuchern der Stadt eine Zumutung gewesen sein). Doch der Glanz im Innern des Königspalastes, so Megasthenes(5), übertraf bei weitem denjenigen der großen persischen Paläste von Susa oder Ekbatana in Kleinasien, die bislang für die Griechen den Gipfel luxuriöser Extravaganz dargestellt hatten. In den königlichen Parkanlagen tummelten sich zahlreiche zahme Pfauen und Fasane; es gab schattige Haine und immergrüne Bäume. Dem König folgte ein Schwarm von Papageien, die über ihm dahinflogen; und riesige, künstlich angelegte Seen, in denen es von Fischen nur so wimmelte, dienten ausschließlich den Vergnügungen des Königs und seines Sohnes.8

Megasthenes(6) schildert sogar, wie König Chandragupta(3) einen Großteil seines Tages verbrachte: Während er über Rechtsfragen zu Gericht saß, wurde er fortwährend mit hölzernen Rollen massiert, um sein Blut flüssig und seine Muskeln locker zu halten. Wenn er sich nicht in einer Sitzung befand, dann vollzog er Opferhandlungen, oder er jagte. Die Jagden führte er in seinen eigenen Parks durch (wobei er von einer Plattform aus mit Pfeilen schoss) oder draußen in der Wildnis auf dem Rücken seines Lieblingselefanten. Alles, was er tat, wirkte sich auf sein Volk aus – wenn er seine Haare wusch, wurde von der Bevölkerung von Pataliputra ein großes Fest gefeiert. Der König verkörperte nämlich die Macht seiner königlichen Stadt: Traditionellerweise, so Megasthenes, übernahmen die indischen Herrscher den Namen ihrer Stadt als Bestandteil ihres königlichen Titels. Chandragupta(4) war Pataliputra, ebenso wie Pataliputra Chandragupta(5) war.9

Die lokale Bevölkerung, so Megasthenes(7), war überwiegend groß gewachsen und von stattlicher Haltung – Eigenschaften, die er der fruchtbaren Bodenbeschaffenheit zuschrieb. Überrascht berichtet er von dem Umstand, dass jeder frei zu sein schien, es offenbar keine Sklaven gab – eine damals für den Westen unbekannte Gesellschaftsverfassung. Recht und Gesetz, so Megasthenes, würden auf recht schlichte Art aufrechterhalten: Keiner könne schreiben, es werde also alles aus dem Gedächtnis wiedergegeben, und wenn jemand nachgewiesenermaßen falsches Zeugnis ablegte, würden ihm Hände und Füße abgehackt. Wer eine andere Person verstümmelte, würde entsprechend seiner Untat bestraft werden, und es würden ihm die Hände abgehackt. Beraube jemand einen Künstler seines Auges oder seiner Hand, sei er des Todes. Und Megasthenes berichtet erstaunt, dies habe eine Gesellschaft zur Folge, in der es, im Unterschied zu seiner eigenen, fast keine Diebstähle gab.10

Natürlich wollte Megasthenes(8) wissen, wie es dazu kommen konnte, dass diese sehr andere Welt entstanden war. Zur Erklärung zog er indische Legenden heran, die die Geburt der dortigen Gesellschaft mit den griechischen Göttern des Mittelmeerraums in Verbindung brachten. Und er klärt uns auf, Dionysos(1) sei früher einmal mit seinem Heer in Indien eingedrungen, habe sich dort niedergelassen, und die Inder die Herstellung von Wein, den Städtebau sowie den Aufbau von Recht und Gesetz gelehrt.11 Fünfzehn Generationen später kam denselben Legenden zufolge der griechische Held Herakles(1) bei den Indern zur Welt und gründete Pataliputra.12 Man gewinnt den Eindruck, Indien und Griechenland seien durchaus keine grundverschiedenen Welten, sondern stünden im Gegenteil seit frühesten Zeiten in direktem Kontakt und hätten gemeinsame Götter, Traditionen und Gepflogenheiten.

Über den Autor Megasthenes(9) wissen wir nur wenig.13 Eine bahnbrechende Gestalt war er nicht. Die ersten Bücher über andere Teile Indiens waren bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. verfasst worden, und zwar für die persischen Könige, die über jene Region geherrscht hatten, die jetzt unter seleukidischer Herrschaft stand, und auf welche die Bezeichnung »Inder« für das Volk zurückging, das im Bereich des Flusses Indus lebte (ein Name, den die Griechen dann später auf die Bewohner von ganz Indien übertrugen).14 Im Gespräch war Indien bei den Griechen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr., der Epoche des »Vaters der Geschichtsschreibung« Herodot(1) (der ebenfalls die Geschichte von den nach Gold grabenden Ameisen gehört hatte). Im darauffolgenden Jahrhundert wussten griechische Ärzte um indische Heilmittel zur Behandlung von Augen- und Zahnkrankheiten, sogar gegen Mundgeruch, und arbeiteten auch mit diesen Arzneien.15

Vor der Zeit des Megasthenes(10) hatte jedoch noch keiner Kenntnis von der tatsächlichen Ausdehnung Indiens oder auch von der Erstreckung der weiteren Welt, in der man lebte. Als Alexander(2) der Große in den 330er- bis 320er-Jahren v. Chr. alles eroberte, was auf seinem Weg von Griechenland zu den Ufern des Indus lag, da rechneten er und seine Gefährten damit, bis ans Ende der Welt zu gelangen. Stattdessen stand jedoch am Ende nur die Frage, wie viel weiter die Erde sich wohl noch erstrecken mochte.16 Es ist ein Beleg für eine ganz außerordentliche Ausweitung der Horizonte, dass sich nur dreißig Jahre später Megasthenes als griechischer Gesandter bei der indischen Dynastie aufhielt, die über den größeren Teil dieses gewaltigen Gebietes herrschte.

Dabei hatte der Hof von Pataliputra durchaus bereits fundierte Erfahrungen mit ausländischen Repräsentanten.17 Megasthenes(11) berichtet, es gebe in der Regierung von Chandragupta(6) eine ganze Abteilung, die für die in Indien lebenden Ausländer zuständig sei und deren Aufgabe darin bestehe, dafür zu sorgen, dass den Fremden kein Unrecht geschehe; jeden nachdrücklich zurechtzuweisen, der sie übervorteilte; sich um sie im Krankheitsfall zu kümmern und sicherzustellen, dass sie nach ihrem Tod angemessen bestattet würden.18

Nicht nur in Indien wurden damals die Grenzen der Welt ausgeweitet.19 Zeitgenossen des Megasthenes(12) wurden ausgesandt, um andere Gesellschaften an den Grenzen der bekannten Welt zu untersuchen, und auch ihre Berichte sind uns in Fragmenten erhalten. Ein Mann namens Patrokles(1) umsegelte das Kaspische Meer; ein anderer, Demodamas(1), erkundete Zentralasien.20 Wir wissen, dass der Nachfolger des Megasthenes als seleukidischer Botschafter am Hofe von Chandragupta(7) ein gewisser Deimachos(1) war, der ebenfalls Bericht erstattete über das, was er dort beobachtete.

Und der Informationsfluss bewegte sich auch nicht nur in Richtung des wissbegierigen Westens. Zwei Jahrhunderte nach Megasthenes(13) wurde ein griechischer König namens Menander(1), der über ein Königreich im Gebiet des alten Nordindien herrschte (und dessen Machtbereich sich möglicherweise bis zur königlichen Hauptstadt Pataliputra erstreckte), zur Hauptfigur eines schriftlich festgehaltenen Dialogs mit einem indischen buddhistischen Mönch namens Nagasena(1).21 Dieses Frage- und Antwortgespräch zwischen König und Mönch wurde in den folgenden Jahrhunderten ein wichtiger buddhistischer Text (einige Spezialisten halten es sogar für eines der brillantesten Werke indischer Prosa), und es verbreitete sich weit über Indien hinaus. Wir kennen diesen Text überhaupt nur deshalb, weil er in die burmesischen und chinesischen Kanones buddhistischer Literatur aufgenommen wurde.22 Die in Nordindien gestellten Fragen eines griechischen Königs hatten offenbar tatsächlich einen sehr weit ausgreifenden Kreis von Lesern.

Die Welt der Antike – eine oder mehrere Welten?

Die Geschichte des Megasthenes(14) wirft eine Frage auf, die jeden angeht, der sich für Geschichte ganz allgemein und insbesondere für die Geschichte der Antike interessiert. Wann – in der Schule, an der Universität oder in den Medien – erfahren wir je etwas über die Vernetztheit der Geschichte? Wo gibt es Kurse, Lehrpläne, Studienordnungen und Bücher, in denen derartige Interaktionen zwischen Kulturen in den Perioden der Alten – oder auch der Neueren – Geschichte thematisiert werden? Sehr vieles von dem, was wir uns als Gegenstand unserer Geschichtsstudien vornehmen, ist in strikte disziplinäre, zeitliche, geographische oder thematische Grenzen eingeschlossen, und das bedeutet, dass das Wissen über unsere Vergangenheit in klar voneinander geschiedenen Räumen erforscht, beschrieben und gelehrt wird, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und in welche die ineinander verzahnten Welten, die von Männern wie Megasthenes, Deimachos(2), Patrokles(2) und Demodamas(2) erlebt und beschrieben wurden, einfach nicht passen.23

Wir haben dieses abgegrenzte, aufgespaltene Bild der Geschichte schon so weitgehend internalisiert, dass wir, sogar wenn wir nur einen Teil der Vergangenheit studieren, meinen, wir würden faktisch die gesamte Vergangenheit studieren. In meinem Forschungsbereich der Studien über das antike Griechenland und Rom gibt es zahlreiche Bücher, deren Titel mit der Wendung »… in der antiken Welt« enden.24 Schaut man jedoch genauer hin, dann stellt man fest: Tatsächlich gemeint ist damit nur die griechisch-römische Welt um das Mittelmeer herum, um das die Griechen und Römer sich scharten wie Frösche um einen Teich. »Die antike Welt« ist ein allgemein anerkannter Oberbegriff für einen engen Bereich menschlicher Interaktion, der sich um lediglich ein Meer herum abspielte: Unsere selbst gezogenen Grenzen haben uns fälschlich dazu verlockt, einen Teil für das Ganze zu halten.

Natürlich haben einige Wissenschaftler der Alten Geschichte versucht, über den Tellerrand hinauszuschauen – allerdings nur mit begrenztem Erfolg.25 Trotz Braudels(1) bahnbrechenden Schriften über die Vernetztheit des Mittelmeerbeckens sind seinem Versuch, den Mittelmeerraum als eine »Einheit« in eine größere, globale Perspektive einzubinden, nur wenige gefolgt.26 Diejenigen, die es doch taten und damit den dezidiert europäischen Charakter der griechischen und römischen Vorfahren in Frage stellten, stießen auf kühle, entschiedene Ablehnung.27 Stattdessen fanden komparative, Brücken schlagende Studien zu Zivilisationen der Antike (vor allem zwischen Griechenland, Rom und China) ihrerseits wieder in abgetrennten Bereichen statt, so etwa zu den Themen Verkehr und Reisen,28 zum Vergleich von Reichsstrukturen und staatlichen Machtordnungen,29 zur Einstellung zu Krieg und Frieden30 und (bei weitem am ergiebigsten) auf dem Feld literarischer, philosophischer, rechtsgeschichtlicher, musikalischer und wissenschaftlicher Unternehmungen und Entdeckungen.31

Auf jeden unbefangenen Beobachter muss ein derart verengter Blickwinkel bizarr wirken, wenn wir auf die Zeugnisse von Männern wie Megasthenes(15) verweisen, der sich in einer größeren Welt bewegte, die er und seine Zeitgenossen als fundamental mit der eigenen Welt verknüpft erfuhren (in diesem speziellen Fall verknüpft durch gemeinsame Götter und Helden). Dass es am Hof von Chandragupta(8) sogar eine Abteilung gab, die keine andere Aufgabe hatte, als sich um Besucher aus dem Ausland zu kümmern, sollte uns drastisch vor Augen führen, wie wenig unser genau abgegrenzter Zugriff auf die Alte Geschichte der Realität unserer Vergangenheit gerecht zu werden vermag.

Natürlich sind an diesem Zustand nicht nur diejenigen schuld, die sich mit dem Studium der Griechen und Römer beschäftigen. Wir haben fundierte Kenntnisse von antiken Zivilisationen in China, in Zentralasien, in Indien und andernorts. All diese Kulturen wurden an Schulen und Universitäten eifrig studiert und in immer dickeren gelehrten Bänden dargestellt. Doch in allen Bereichen haben sich die Gelehrten fast ausschließlich auf ihre spezielle Zivilisation beschränkt, als ob jede einzelne eine »Welt der Antike« wäre, die man isoliert betrachten kann.32 An den Universitätsinstituten weltweit forschen und schreiben Heerscharen von Historikern über ihre jeweiligen Welten, ohne die Notwendigkeit zu empfinden, ihren Blick über den Tellerrand hinaus auf den größeren Kontext unterschiedlicher Zivilisationen zu erweitern, auf die Menschen, die damals gleichzeitig auf der Erde lebten und atmeten. Das gilt selbst dann noch, wenn die Bezüge so unmissverständlich vor Augen liegen wie im Fall des Megasthenes(16).33 Wir, die wir im 21. Jahrhundert leben, bilden eine globale Gemeinschaft.34 Und ironischerweise geben wir uns gleichzeitig damit zufrieden, unsere Geschichte so darzustellen, als habe sie sich in unverbundenen, voneinander abgeschotteten Abteilungen abgespielt.35 Wäre es nicht an der Zeit, eine umfassendere Geschichte zu erzählen – nicht diejenige einer monolithischen »Welt der Antike«, sondern vielmehr die Geschichte vieler und unterschiedlicher Welten der Antike?

»Antike Welten« als Thema der Geschichtsschreibung

Für mich gibt es zwei entscheidende Argumente für die Notwendigkeit, über die Welten der Antike im Plural nachzudenken und nicht mehr so sehr über irgendeine einzelne antike Welt. Erstens ist die Geschichte des Megasthenes(17) lediglich ein Strang in einem zusammenhängenden Gewebe von Verbindungen und Interaktionen, das die Menschen der Antike miteinander in Kontakt brachte. Neuere Darstellungen des Handels in der Antike zeigen uns, dass im 1. Jahrhundert n. Chr. von den Männern und Frauen der Oberschicht Roms und Karthagos chinesische Seide getragen wurde. Römische Händler waren zu Schiff bis ins südliche Arabien und ins tamilische Indien unterwegs, und angeblich flossen – als Bezahlung für kostbare Gewürze, Weihrauch und andere Luxusgüter – jährlich 50 Millionen Sesterzen aus römischen Kassen nach Indien. Auch Rom trieb Exporthandel: Es wurden kunstvoll gearbeitete Glaswaren ausgeführt, Silber und Gold, außerdem Edelsteine, deren Wert (ebenso wie den Genuss indischer Gewürze) der chinesische Han-Kaiser durchaus zu schätzen wusste.36 Und mit dem Transport dieser Waren und den Menschen, die diesen Transport besorgten, war eine Fülle an Ideen, Wissens- und Glaubensinhalten unterwegs, die jede Faser dieser antiken Zivilisationen vom Mittelmeer bis nach China und darüber hinaus verändern sollte.

Noch wichtiger ist allerdings heute, im 21. Jahrhundert, wo wir uns wiederum in den Turbulenzen eines Zeitalters der Globalisierung befinden und China bereits konkrete Pläne entwickelt hat, eine neue Seidenstraße zu bauen, die Ost und West durch Handel miteinander verbinden soll – noch wichtiger ist für uns die Vergegenwärtigung der Erkenntnis, dass wir uns nicht das erste Mal in einer solchen Situation befinden. Während zu Beginn des 1. Jahrtausends n. Chr. auf den Routen vom Mittelmeer nach China und in umgekehrter Richtung Waren reisten, bemühten sich antike Historiker des Mittelmeerraums wie etwa Diodorus Siculus(1) (der erste Autor, der die Texte von Megasthenes(18) über Indien zitierte), Strabon(1) und andere um eine neue Art von »Universalgeschichte«, mit welcher sie die Gesamtheit der ihnen bekannten Welt in den Blick nehmen wollten.37 Insofern ermöglicht uns das Studium unserer ferneren Vergangenheit nicht nur den Zugang zu einer Welt der Verschränkungen und der globalen Verbundenheit, sondern es bietet uns in den Unbilden unseres eigenen globalen Zeitalters ein Beispiel, wie die Menschheit in der Vergangenheit auf Vernetztheit reagiert, wie sie darüber gedacht hat, und hilft uns so, mit den Gefahren und Chancen, mit denen wir heute konfrontiert sind, besser umzugehen.38

Mit diesem Buch möchte ich an ein Zeitalter eines sich herausbildenden Welt-Bewusstseins in unserer Vergangenheit erinnern, das auf vielfältige Weise die Lage widerspiegelt, in der wir uns heute befinden. Dabei geht es nicht um die Waren, die transportiert wurden, sondern um die Beziehungen, die sich innerhalb von und zwischen menschlichen Gemeinschaften entwickelten, sowie um die Beziehungen zwischen den Welten der Menschen und jenen der Götter. Der in den Blick genommene Zeitraum umfasst die Jahrhunderte zwischen dem 6. Jahrhundert v. Chr. und dem Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr.

Innerhalb dieser Zeitspanne konzentriere ich mich auf drei spezifische »Momente«. Der erste Teil befasst sich mit dem 6. Jahrhundert v. Chr. und hier mit der auf dem Gebiet der Politik ausgehandelten Beziehung der Menschen untereinander. Der zweite Teil thematisiert das 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. und untersucht die Beziehungen, die zwischen einzelnen antiken Gemeinwesen durch Kriegsführung entstanden. Der dritte Teil schließlich handelt vom 4. Jahrhundert n. Chr. und richtet die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen, die sich – durch Übernahme, Anpassung und Innovation auf dem Sektor religiösen Glaubens – damals entwickelten. Jeder Hauptteil geht von einem Ereignis aus, das für die sich entwickelnden Beziehungen entscheidend war und außerdem eine zentrale Rolle in den herkömmlichen Annalen der westlichen Alten Geschichte spielte, die nach wie vor so entscheidend vom Studium der Griechen und Römer dominiert sind: Das wesentliche Ereignis für Teil I ist das Jahr 508 v. Chr. und die Erfindung der Demokratie in Athen; für Teil II das Jahr 218 v. Chr., als der Karthager Hannibal(1) mit seinen Elefanten die Alpen überquerte und in Italien einmarschierte; für Teil III das Jahr 312 n. Chr., als der römische Kaiser Konstantin(1) den Sieg in der Schlacht an der Milvischen Brücke davontrug und so den Weg für seine Übernahme des gesamten römischen Imperiums ebnete – und letztlich für den Aufstieg des Christentums als offizieller Religion der römischen Welt.

Ich habe mich für diese drei historischen Ereignisse nicht nur deshalb entschieden, weil in jener Zeit wichtige Dinge im Mittelmeerraum geschahen; was sie vielmehr so bemerkenswert macht, ist der Umstand, dass sich ähnliche Entwicklungen in den Beziehungen der Menschen zueinander damals auch in Zivilisationen vollzogen, die zwischen dem Mittelmeer und China lagen. Und diese drei Momente und die in ihnen sich offenbarenden Beziehungsentwicklungen markieren darüber hinaus Etappen einer zunehmenden Vernetzung in einer globalisierten Welt in der Antike. Ausgehend von weit auseinanderliegenden Weltteilen, in denen man sich im 6. Jahrhundert v. Chr. offenbar gleichzeitig mit ähnlichen Fragestellungen auseinandersetzte, werden wir sehen, wie Individuen (im 3./2. Jahrhundert v. Chr.) zunehmend Entscheidungen zu treffen hatten, die sich auf immer ausgedehntere Interaktionssphären bezogen, und wie die entstehenden Beziehungen zwischen einzelnen »Welten« ihrerseits eine tiefgreifende Wirkung auf die Verbreitung von Ideen hatten und auf die Art und Weise, wie sich die Beziehungen des Menschen zu dieser und der jenseitigen Welt im 4. Jahrhundert n. Chr. entwickelten. Wir werden dabei außerdem beobachten können, wie die voranschreitende Globalisierung und die mit ihr einhergehenden Auseinandersetzungen innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen, die von dieser Entwicklung entfacht, ermöglicht und beeinflusst wurden, ihrerseits die Art und Weise veränderten, wie in den unterschiedlichen Gesellschaften der Antike über die Errungenschaften, Institutionen und Glaubensinhalte der eigenen Vergangenheit nachgedacht wurde.

In Teil I untersuchen wir, wie sich in Athen die Demokratie als eine revolutionäre Regierungsform entwickelte, und zwar zeitgleich zur Entstehung einer republikanischen Verfassung in Rom und zeitgleich zur Blütezeit des Einflusses von Konfuzius(1) in China, der eine eigene politische Philosophie aus der Frage heraus entwickelte, wie eine Gesellschaft verfasst sein sollte und wie der Umgang der Menschen untereinander aussehen sollte; und der versuchte, die politisch Verantwortlichen von seinen Ideen zu überzeugen. Konfuzius wusste nichts über die damaligen Entwicklungen im Mittelmeerraum; Rom und Athen jedoch waren eng miteinander verbunden. (Wir werden sehen, dass Rom sogar für kurze Zeit bei Athen in die politische Schule ging.) An allen drei Schauplätzen war der Wunsch nach einer politischen Veränderung offenbar durch eine ähnliche Konstellation von Umständen motiviert. Allerdings wurde jeweils eine sehr verschiedene politische Lösung gefunden, entsprechend der jeweils besonderen kulturellen Landschaft und der derzeitigen Geschehnisse. In jedem Fall handelte es sich jedoch um folgenschwere Lösungen.

In Teil II werden wir »vom Krieg singen«, dem großen Erschaffer und Zerstörer von Welten. Während der Karthager Hannibal(2) mit Elefanten die Alpen überquerte, um Rom die Vorherrschaft über das Mittelmeer streitig zu machen, mühten sich in Kleinasien Herrscher nach Kräften darum, die Unversehrtheit ihrer Reiche vor Angriffen von allen Seiten aufrechtzuerhalten; in Zentralasien entstanden in blutigen Kämpfen neue Königreiche; und in China bemühte sich der erste Kaiser (jener Mann, der mit einer Leibwache aus Terrakottakriegern beerdigt werden sollte) erbittert um die gewaltsame Vereinigung des chinesischen Volkes gegen die aus dem Norden und Westen herandrängenden Nomadenvölker. Roms republikanische Verfassung wurde ihrer härtesten Belastungsprobe ausgesetzt, während es in China ganz so aussah, als sollten die Ideen des Konfuzius(2) aus der Erinnerung der Menschen gänzlich verschwinden. Die glorreichen Tage der Athener Demokratie waren mittlerweile auch nichts weiter als eben eine Erinnerung. Damals lag das Schicksal der antiken Welt in der Hand einer kleinen Gruppe junger Krieger und Herrscher, die ihr Leben dafür einsetzten, die Grenzen ihrer jeweiligen Reiche und die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften neu zu definieren, deren Herrschaft sie anstrebten. Allerdings waren ihre Entscheidungen immer öfter von den Ereignissen in entfernteren Regionen beeinflusst, denn die antike Welt zwischen dem Mittelmeerraum und China wurde immer öfter vernetzt – bis schließlich in den 140er-Jahren v. Chr. die Geschichte dieser gesamten Welt ein für allemal zusammengeschweißt wurde.

In Teil III beobachten wir, wie religiöser Wandel und religiöse Erneuerung über diese mittlerweile verbundene antike Welt hinwegfegen: Der Mensch begann, seine Beziehung zum Göttlichen neu zu überdenken. Das Christentum entwickelte sich im römischen Mittelmeerraum und in einigen Ausläufern Kleinasiens zur offiziell anerkannten Religion; unter der in Indien herrschenden Gupta-Dynastie wurde der hinduistische Kult fundamental umgestaltet; und der Buddhismus breitete sich nach China aus und erlangte dort den Status einer offiziellen Religion. In einigen Fällen handelte es sich um neue Glaubensrichtungen, die einzelne Bevölkerungsgruppen über das produktive Netz wechselseitiger Beziehungen erreicht hatten, welches die antike Welt miteinander verband. Andere Glaubensrichtungen hatten sich innerhalb ihrer jeweiligen Geltungsbereiche über lange Zeiträume hinweg entwickelt. Alle aber wirkten und entwickelten sich in Reichen zwischen dem Mittelmeerraum und China unter der Herrschaft einzelner Machthaber, Könige oder Kaiser. Und aufgrund der Bemühungen dieser Herrscher, ihre Reiche zu stabilisieren, zu konsolidieren und innerhalb der mittlerweile zusammenhängenden Welt auszuweiten, wurden diese Religionen, ihre Gläubigen und Hierarchien sowie die von ihnen inspirierte Kunst und Architektur wie im Feuer eines Schmelztiegels umgeformt. Sie erhielten in ihrer jeweiligen Gesellschaft einen neuen Stellenwert, und das jeweils immer in aufschlussreichen Bezügen zur Macht.

Im Geiste des Megasthenes(19) hoffe ich, dass dieses Buch die Augen für antike Welten öffnet: wie sie funktionierten, sich entwickelten, miteinander in Beziehung traten; und wie sie dazu beitrugen, unsere heutige Welt zu formen.39 Schönheit, Verschiedenartigkeit und Herrlichkeit finden sich in dieser Geschichte neben Gewalt, Gier und Niedertracht. Ich bin jedoch überzeugt: Die Darstellung dieser Geschichte vom Standpunkt unserer heutigen globalisierten Welt aus wird unser Bewusstsein dafür vertiefen, wie viel wir der wechselseitigen Interaktion verdanken und schon immer verdankt haben.

Teil I

Politik in einer Achsenzeit

Zeittafel

776 v. Chr.: Die ersten Olympischen Spiele.

771 v. Chr.: Beginn der Zhou-Dynastie (und der Periode der »Frühlings- und Herbstannalen«) in China.

753 v. Chr.: Gründung Roms.

594 v. Chr.: Solon(1) wird zum Archon von Athen ernannt und legt sein Reformwerk vor; im Staat Lu in China wird ein Landbesteuerungssystem eingeführt.

575 v. Chr.: Servius(1) Tullius wird König von Rom.

560 v. Chr.: Peisistratos(1) stürmt die Akropolis und lässt sich zum Tyrannen von Athen ausrufen, wird aber abgesetzt.

556 v. Chr.: Peisistratos(2) wird, unterstützt von Megakles(1), zum zweiten Mal Tyrann.

551 v. Chr.: Konfuzius(3) kommt im Staat Lu im nordöstlichen China zur Welt.

546 v. Chr.: Peisistratos(3) setzt sich ein drittes Mal als Tyrann von Athen durch.

534 v. Chr.: Lucius Tarquinius Superbus(1) wird König von Rom.

520 v. Chr.: Kleomenes I. wird König von Sparta.

517 v. Chr.: Politische Krise in Lu: Herzog Ding(1) und Konfuzius(4) werden aus dem Staat Lu verbannt und suchen Exil im Staat Qi.

514 v. Chr.: Hipparchos(1), Ko-Tyrann von Athen, wird von Harmodios(1) und Aristogeiton(1) getötet.

510 v. Chr.: Hippias(1), Ko-Tyrann von Athen, wird in einem von Kleomenes(1) unterstützten Volksaufstand gestürzt.

510–509 v. Chr.: Der »Raub der Lukrezia(1)« hat die Vertreibung des Tarquinius(2) und die Geburt der römischen Republik zur Folge.

509 v. Chr.: Schlacht bei der Silva Arsia um die Zukunft Roms.

509 v. Chr.: Herzog Ding(2) und Konfuzius(5) kehren in den Staat Lu zurück.

508 v. Chr.: Der etruskische König Lars Porsenna(1) scheitert bei seinem Versuch, Rom zurückzuerobern; Horatius Cocles(1) verteidigt erfolgreich die Stadt.

508–507 v. Chr.: Der Tyrannenanwärter Isagoras(1) wird aus Athen vertrieben; unter Kleisthenes(1) werden demokratische Reformen eingeführt.

501 v. Chr.: Konfuzius(6) empfängt unter Herzog Ding(3) sein erstes Regierungsamt.

497–495 v. Chr.: Konfuzius(7) und seine Schüler verlassen Lu, nachdem Herzog Ding(4) von mächtigen Familien aus Lu 80 Mädchen als Geschenk angenommen hat. Für Konfuzius beginnt die zweite Periode des Exils.

496 v. Chr.: Schlacht am Regillus-See; der römische Konsul Aulus Postumius vertreibt Tarquinius(3).

494–493 v. Chr.: Erstmals werden in Rom zwei »Volkstribunen« gewählt.

490 v. Chr.: Schlacht von Marathon; Dareios I., König der Perser, wird von den Athenern besiegt.

487 v. Chr.: Das athenische Archontat wird durch Los bestimmt.

487–485 v. Chr.: Konfuzius(8) kehrt in den Staat Lu zurück.

486 v. Chr.: Xerxes I. folgt Dareios I. als Großkönig von Persien nach.

481 v. Chr.: Ende der »Frühlings-und-Herbstannalen«-Periode in China.

480 v. Chr.: Schlacht bei den Thermopylen, kostspieliger Sieg des Xerxes(1) über die Spartaner.

480 v. Chr.: Schlacht von Salamis; die griechische Flotte besiegt die Armada des Xerxes(2).

479 v. Chr.: Schlacht von Plataiai; die persischen Streitkräfte werden endgültig von den Griechen besiegt.

479 v. Chr.: Tod des Konfuzius(9).

475 v. Chr.: Beginn der »Zeit der Streitenden Reiche« in China.

454 v. Chr.: Eine römische Gesandtschaft besucht Athen, um die demokratischen Strukturen zu studieren. Die Vermögenskasse des Attischen Seebundes wird von Delos nach Athen gebracht.

451 v. Chr.: Die ersten Dezemvirn kommen in Rom an die Macht. Sie befinden über die Erkenntnisse, die die römische Gesandtschaft aus Athen mitgebracht hat, und überarbeiten die Verfassung.

450 v. Chr.: Eine zweite Gruppe Dezemvirn wird gewählt, um die Beratungen fortzusetzen, sie weigern sich allerdings, die Macht wieder abzugeben.

449 v. Chr.: Aufstand der Römer gegen die Dezemvirn; Schaffung des Zwölftafelgesetzes.

447 v. Chr.: Die Athener beginnen mit dem Bau des Parthenon.

Hinführung

Im Jahr 1981 erschien ein Roman des amerikanischen Schriftstellers und Universalgelehrten Gore Vidal(1) mit dem Titel Creation (dt.: Ich, Cyrus, Enkel des Zarathustra(1)), in dem der Autor belegte alte Geschichte mit cleveren eigenen Erfindungen schalkhaft vermischt. Der Roman zeichnet die Geschichte eines fiktiven Persers namens Cyrus nach, der am Hof des (durchaus realen) Königs Darius I. aufwächst, dessen Krieg gegen Athen zur Schlacht von Marathon im Jahr 490 v. Chr. führte. Aufgrund seiner Sprachbegabung bleibt Cyrus davon verschont, aufs Schlachtfeld geschickt zu werden; Darius entsendet ihn vielmehr als Botschafter nach Indien (eine Aufgabe, wie sie später Megasthenes(20), dem seleukidischen Botschafter am Hof des Chandragupta Maurya(9), übertragen wurde). Als Cyrus nach Persien zurückkehrt, hat sein alter Schulfreund Xerxes(3), der Sohn des Darius, den Thron bestiegen und ist im Begriff, nun selbst in Griechenland einzufallen, was in den Schlachten von Salamis und Plataia gipfeln wird. Cyrus wird aber wiederum in die entgegengesetzte Richtung geschickt, diesmal als Gesandter des Xerxes nach China. Seine diplomatische Laufbahn beendet Cyrus – nach Friedensverhandlungen zwischen Persien und Griechenland – im Dienst des Nachfolgers von Xerxes, und er übernimmt seine letzte Aufgabe als Botschafter in Athen.

Während seiner ausgedehnten Reisen ist Cyrus weniger von der Eintönigkeit seiner Botschafterpflichten eingenommen als vielmehr fasziniert von der überwältigenden Bandbreite an politischen und religiösen Ideen, denen er während seiner Reisen und seiner Aufenthalte an den verschiedenen Stätten der antiken Welt begegnet. Und hier bastelt Vidal(2) nun geschickt am historischen Zeitrahmen, sodass sein fiktionaler Cyrus etwas fertigbringt, was kein Individuum in der antiken Welt geschafft hätte: Er trifft zusammen und verbringt Zeit mit einigen der bedeutendsten Denkern des 5. Jahrhunderts v. Chr. – Zarathustra(2) in Persien, Konfuzius(10) in China, Buddha(1) in Indien, Sokrates(1) in Athen. Aufgrund seiner privilegierten Stellung ist es Cyrus vergönnt, zum persönlichen Zeugen einer revolutionären Phase in der Geschichte menschlichen Denkens zu werden.

Diese Epoche war ein bedeutender und offenkundiger Glücksfall für eine globale Geschichte, vor allem seit der Veröffentlichung des immens einflussreichen Werks Vom Ursprung und Ziel der Geschichte des deutschen Philosophen Karl Jaspers(1) im Jahr 1949. Jaspers stellt darin sein Konzept einer »Achsenzeit« innerhalb der alten Welt zwischen dem Mittelmeerraum und China vor, die er auf die Jahrhunderte zwischen 800 und 200 v. Chr. datiert. In dieser Zeit vollzog sich – Kulturen und Zivilisationen übergreifend, die gar nicht einmal zwingend miteinander im Kontakt stehen mussten – eine Abkehr von alten Weisheiten, und es setzte eine Suche nach neuen Einsichten und Erklärungen auf den Feldern der Philosophie, der Wissenschaft, der Religion und der Politik ein. Für Jaspers stellte diese Ära ein Leuchtturm-Zeitalter im Gefüge der Geschichte des Menschen dar, das bemerkenswert war auch aufgrund der ähnlichen Umstände in Griechenland, China, Indien, Zentralasien und jener Region, die wir heute als Nahen Osten bezeichnen.1 Zwei der entscheidenden religiösen Innovationen aus dieser Ära – den Zoroastrismus(3) und den Buddhismus – werden wir in Teil II und III dieses Buches behandeln. Dieser erste Teil konzentriert sich jedoch auf die Revolutionen im Bereich der politischen Vorstellungen und des staatlichen Handelns, die Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. nicht im Persien des Dareios ausbrachen, sondern in Athen, Rom und im Staate Lu in China. In diesen entscheidenden Zentren der antiken Welt dachte man neu über die Beziehungen der Menschen zueinander nach, und in einigen Fällen wurden diese Beziehungen im Schmelzofen einer Revolution völlig umgewandelt.

In Athen verbündete sich eine aufgebrachte Volksmenge zu einem drei Tage dauernden Aufstand gegen die Autoritäten der Stadt. Der Zorn der Menschen war durch die Art und Weise geweckt worden, wie Athen regiert und wie das Volk behandelt wurde. Alle waren überzeugt davon, dass die Dinge sich ändern mussten; keiner hätte sich vorstellen können, dass man sich an der Schwelle zur Erfindung einer neuen Form der Politik befand, einer Erfindung, die unsere heutige westliche Welt entscheidend ausmacht. Der Mann, der sich in dieser Geschichte als ausschlaggebender Vertreter des Wandels profilieren sollte – ein wohlhabender Aristokrat namens Kleisthenes(2) –, befand sich während der stadtweiten Tumulte nicht einmal in Athen. In der aufgeputschten Stimmung der Tage, die dem Aufstand folgten, griff man dann aber einen noch vagen Vorschlag auf, den Kleisthenes vor einiger Zeit geäußert hatte: Macht und Einfluss sollten auf lokale Gemeinschaften und auf das Volk ausgedehnt werden. Der Vorschlag wurde aufgegriffen und in die Tat umgesetzt. Es war der erste Schritt der Welt in Richtung Demokratie.2

In Rom hatte ebenfalls eine wütende Menschenmenge, empört über das niederträchtige Verhalten der Königsfamilie, die eine viel bewunderte Frau aus der Adelsschicht in den Selbstmord getrieben hatte, die Tore ihrer Stadt vor dem König verschlossen. Angeführt von Angehörigen der Aristokratie, kämpften die römischen Bürger um ein neues System republikanischer politischer Herrschaft, noch während der König – im Versuch, sein Königreich zurückzuerobern – eine Welle seiner Streitkräfte nach der anderen gegen die Stadtmauern branden ließ. Das System, das am Ende dieses Kampfes stand, beschritt einen Mittelweg zwischen den Ungerechtigkeiten der Königsherrschaft und der (als unpopulär und unpraktisch eingestuften) Vorstellung einer direkten »Macht des Volkes«. Mit der Zeit würde dieses System Rom dazu bringen, die unangefochtene Supermacht des Mittelmeerraums zu werden.

Gleichzeitig musste der kleine Staat Lu im heutigen Ostchina mit einer Situation fertigwerden, in der unversöhnlich Staat gegen Staat stand. Lus Herzog war ein ineffektiver Herrscher, und die erdrückend einflussreichen Familien des Landes waren durch und durch korrupt. Damals trat ein Mann in bereits fortgeschrittenem Alter (er war Anfang fünfzig) seine erste offizielle Stelle im Beamtenapparat der Regierung an. Sein Ziel war eine neue Art von Herrschaft und Ordnung, die auf Menschlichkeit und Gerechtigkeit gründen und sich in der Gestalt des weisen und gerechten Herrschers verkörpern sollte. Er kämpfte einen einsamen Kampf, ohne die Rückendeckung einer begeisterten Menge von veränderungshungrigen Bürgern. Lediglich einige unerschütterliche Anhänger standen hinter ihm; und die Verwirklichung seines Traums sollte er nicht mehr erleben. Doch seine Ideen und Lehren starben nicht. In ganz China gedachte man seiner in den folgenden Jahrhunderten als des »erhabenen und vollkommenen Weisen«, und sein Einfluss brachte ein Regierungssystem und eine Weltanschauung hervor, die wir auch heute noch kennen: Sie ist abgeleitet von seinem Namen, Konfuzius(11).

Diese drei parallelen Entstehungsmomente neuer Sichtweisen auf die Beziehungen der Menschen untereinander in drei ganz unterschiedlichen Gesellschaften können in ihrem Einfluss auf unsere Geschichte gar nicht überschätzt werden. In China ist Konfuzius(12) nach wie vor eine der überragendsten Gestalten. Jahrhundertelang hat er die Einstellung der Chinesen zu Erziehung, Philosophie, Gesetzgebung und Politik in hohem Maße geprägt.3 Um den bleibenden Einfluss von Stadtlandschaft und Politik des republikanischen Rom wahrzunehmen, brauchen wir nur an das Capitol in Washington zu denken oder an das Amt des »Prätors«, das in Italien erst im Jahr 1999 abgeschafft wurde.4 Und als man im Jahr 1993 den 2500. Jahrestag der Geburt der Demokratie beging, wurden das, was wir dem antiken Athen verdanken, und die Langlebigkeit von demokratia (»Herrschaft des Volkes«) überwältigend deutlich, trotz der anhaltenden Diskussionen über die Frage, inwieweit sich die überwiegend repräsentativen Demokratien unserer Zeit überhaupt mit der direkten (wenn auch elitären) Teilnahmeregelung der Athener an ihrer Versammlung (ekklesia) vergleichen lassen.

Die Kulturen, die wir untersuchen wollen, wussten nicht unbedingt etwas von der Existenz der jeweils anderen. Die frühesten Darstellungen über die Gründung der römischen Republik verweisen auf den Sturz der Tyrannis in Athen, und Rom schickte sogar Gesandte nach Griechenland, um die neue Verfassung zu studieren und daraus zu lernen. Konfuzius(13) jedoch hatte keinerlei Kenntnis von diesen Auseinandersetzungen, er bezog sich in seinen Beispielen und Reflexionen lediglich auf die Geschichte seiner eigenen Gesellschaft.

In allen drei Welten war die Veränderung durch das erdrückende Gefühl von Ungerechtigkeit angesichts einer schamlos autokratischen Regierungsform motiviert sowie, vor dem Hintergrund von Konflikten und inneren Unruhen, der Suche nach einer besseren, ja idealen Gesellschaft. In Griechenland und Rom gingen diese politischen Revolutionen von der Gemeinschaft aus, ohne irgendwelche strategischen Marschrouten. Im Unterschied dazu waren die Bemühungen des Konfuzius(14) um eine Veränderung der Regierungsform auf einen sehr präzise entworfenen Plan gestützt. Konfuzius ist faktisch der Erste in der Geschichte Chinas, der seine Prinzipien und Ideen luzide darlegte, obwohl er sich selbst nicht als Erfinder neuer Ideen verstand, sondern sich durchgehend als »Übermittler« alter Ideen darstellte.5

Ungeachtet der vergleichbaren Motive in Rom, Athen und im Staat Lu ergaben sich aufgrund der Traditionen der jeweiligen Gesellschaft und der je spezifischen Beschaffenheit der aktuellen Probleme drei fundamental unterschiedliche Regierungssysteme, die auf jeweils unterschiedlichen Gesellschaftsverträgen und unterschiedlichen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Beziehung der Menschen untereinander beruhten. Die Spannweite dieser Vorstellungen erstreckte sich von der Macht in der Hand eines einzelnen ehrwürdigen Herrschers (China) über eine »mittlere Lösung« in Rom, die die Macht unterschiedlicher Teile der Gesellschaft auszubalancieren suchte, bis hin zur direkten Macht des Volkes in Athen.

Von unserem heutigen Blickwinkel aus kommt uns das Fortleben aller dreier Regierungssysteme völlig natürlich vor. Wenn wir uns nun daranmachen, ihre jeweilige Geschichte genau unter die Lupe zu nehmen, dann werden wir sehen, wie außerordentlich zerbrechlich sie in ihrer Anfangsphase waren; ihr Überleben war alles andere als garantiert, und über jedem Entwicklungsstadium dräute das Risiko des Scheiterns. Keines der drei Systeme, nicht einmal die ausformulierten Ideen des Konfuzius(15), entstand bereits in seiner endgültigen Form: Die Vollendung dauerte Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte. Zu beachten ist außerdem, dass die Geschichte ihrer Entwicklung uns häufig nur in antiken Quellen aus späterer Zeit überliefert ist, die oftmals von den Vorstellungen dieser späteren Entstehungszeit beeinflusst, ja womöglich verzerrt waren. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Studium der Geschichte auch die Hinterfragung der Geschichtsschreibung umfasst: Es gilt, genau zu beobachten, wie Gesellschaften sich selbst darstellen und wie wir ja letztlich auch heute noch diese Darstellungen weiter um- und neu formulieren.

Das Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. ist zweifellos ein faszinierender Augenblick in der Geschichte nicht nur einer einzelnen antiken Gesellschaft, sondern einer sehr viel ausgedehnteren antiken Welt. Es bildet einen Dreh- und Angelpunkt in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation und im Denken darüber, wie wir zusammenleben und als Gemeinschaft handeln können und sollten. Und noch wichtiger: Die Auseinandersetzungen von damals leiten uns nicht nur heute immer noch, sondern sie erzeugen in unserer Gegenwart einen erstaunlich lebendigen Widerhall. Von Faulkner(1) stammen die berühmten Worte: »Die Vergangenheit ist nie tot. Sie ist nicht einmal vergangen.«6 Nie werden wir aufhören, die Frage zu stellen, wie sich eine Gesellschaft am besten leiten und wie sich die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen am besten gestalten lässt.

Kapitel 1

Die athenische Demokratie und der Wunsch nach Ermächtigung des Volkes

508 v. Chr.: Hinter der Akropolis ging am dritten Tag der Belagerung die Sonne auf. Die Akropolis, das alte, hoch aus dem Herzen Athens emporragende Kalksteinbollwerk, warf ihren mächtigen Schatten über die Menschenmengen zu ihren Füßen. Seit Jahrhunderten war dieser gewaltige Felsen gleichzeitig ein strahlendes Leuchtfeuer und ein schützender Hafen für diejenigen, die in seiner Nähe lebten. Ursprünglich als Königspalast geplant, war der Fels jetzt gekrönt von einem Tempel und einem ausgedehnten Gewimmel von Statuen zu Ehren der allmächtigen Götter. Und dieses heilige, uneinnehmbare Herz ihrer eigenen Stadt hatten die Bewohner von Athen – in entschlossener Einigkeit, so Herodot(2) – unter Belagerung genommen.1 Hoch über ihnen hatten nämlich König Kleomenes(2) aus Sparta und eine kleine spartanische Streitmacht in der Zitadelle Unterschlupf gesucht. Sparta lag auf der Peloponnes, über 200 Kilometer entfernt von Athen. Sicherlich fragten sich einige der von dort stammenden Soldaten jetzt, was sie so fern der Heimat eigentlich zu schaffen hatten. Kleomenes hatte allerdings ihr Schicksal mit den politischen Zielen eines Mannes verknüpft, der sich wie sie ebenfalls auf die Akropolis geflüchtet hatte: der Athener Aristokrat Isagoras(2), der höchste Beamte (der »[dem Jahr] seinen Namen gebende Archon«) der Stadt. Man munkelte darüber hinaus, Kleomenes und Isagoras teilten sich außer ihrem gegenwärtigen Versteck noch mehr, nämlich die Ehefrau des Isagoras, die, so hieß es, Isagoras dem Kleomenes angeblich als Teilvereinbarung ihres Bündnisses »geliehen« hatte.2

Isagoras(3) und die Spartaner hatten zuvor für die Vertreibung von rund 700 Athener Familien gesorgt, die der Führungsrolle des Isagoras kritisch gegenüberstanden; zu den Vertriebenen gehörte auch sein bedeutendster politischer Gegner. Man hatte den Versuch unternommen, die oberste Athener Regierungsversammlung, die boule, abzuschaffen und die politische Macht in die Hände der Anhänger des Isagoras zu übertragen. Das war allerdings bei der überwiegenden Mehrzahl der Athener so schlecht angekommen, dass Isagoras und seine Unterstützer aus Sparta, zahlenmäßig unterlegen und um ihr Leben fürchtend, sich auf das Hochplateau der Akropolis geflüchtet hatten. Das Volk von Athen hatte sich in einer spontanen Revolte vereinigt, die die Grundfesten der Stadt erschütterte und den Gang der Geschichte veränderte.3

Für Herodot(3) stellten diese Ereignisse den Funken dar, welcher das Feuer politischer Revolution in Athen entzündete, das später zur Schaffung eines neuen politischen Systems – der Demokratie – führte. Athen hatte allerdings bereits über ein Jahrhundert zuvor den Weg eingeschlagen, der zu diesem Moment führte, und auch später hatte das demokratische System, das nach dem Jahr 508 v. Chr. begründet wurde, noch einen langen Evolutionsprozess vor sich. Entscheidend für die Geschichte der Entstehung der Demokratie sind die Aktionen und Absichten wichtiger Einzelpersonen – Aktionen, die heute unweigerlich die Frage aufwerfen, ob das Endergebnis überhaupt dem entsprach, was man anfänglich beabsichtigt hatte. In dieser Hinsicht stimmen die historischen Quellen nicht immer überein, sind auch nicht immer in sich schlüssig und außerdem selbstverständlich anfällig dafür, die politischen Perspektiven ihrer jeweiligen Entstehungszeit aufzunehmen.

Tatsächlich war die Akropolis damals erst relativ kurze Zeit zuvor – zwei Jahre früher, im Jahr 510 v. Chr. – Schauplatz einer Belagerung gewesen; und damals hatten Kleomenes(3) und seine Streitmacht an der Seite der Athener gekämpft. Das Ziel ihres Zorns, verborgen zwischen mächtigen Tempeln und gleißenden Statuen, war Hippias(2) gewesen, der brutale, tyrannische Herrscher Athens, der sich seit dem Tod seines Vaters Peisistratos(4) siebzehn Jahre zuvor mit zunehmend gewalttätigen Maßnahmen an die Macht geklammert hatte. Die Belagerung hätte sich womöglich zu einer ausweglosen Pattsituation ausgewachsen, wenn es nicht zu einer bemerkenswerten Wendung gekommen wäre. Ein Versuch, die Söhne des Hippias aus der Stadt zu schmuggeln, wurde vereitelt, und die Söhne fielen in die Hände der Streitmacht aus Sparta. Jetzt verfügten die Spartaner und ihre athenischen Unterstützer über ein Druckmittel. Sie forderten die Kapitulation des Hippias als Gegenleistung für das Leben seiner Nachkommen. Nach nur fünf Tagen hatte Hippias die Akropolis verlassen, war aus Athen geflohen und landete später am Hof von Dareios I., dem mächtigen König der Perser, der jenseits des Meers, in Kleinasien, über ein gewaltiges Reich herrschte. Doch war das durchaus noch nicht der endgültige Abschied Athens von Hippias und seinem Machthunger.4

Das damalige Verschwinden des Hippias(3) aus Athen führte zu einem politischen Machtvakuum. Seit Peisistratos(5) im Jahr 560 v. Chr. die Zügel in die Hand genommen hatte, war Athen fast ausschließlich von einer einzigen Familie regiert worden. Während die Athener sich im Hochgefühl ihrer Befreiung aus der Tyrannenherrschaft sonnten, standen sie gleichzeitig vor der großen Frage, was nun stattdessen kommen sollte.5 Auch wenn sich die Spartaner unter Kleomenes(4) in die athenische Politik auf Geheiß des heiligen Orakels von Delphi eingemischt hatten, das als Befehl der Götter galt, hatten sie nur wenig Interesse daran, unmittelbar in Athen Herrschaft auszuüben. Immerhin hatten sie in Isagoras(4) einen favorisierten Kandidaten.

Der stärkste Rivale des Isagoras(5) war ebenfalls ein Aristokrat: Kleisthenes(3), Spross der mächtigen, hochwohlgeborenen Familie der Alkmeoniden, die seit über einem Jahrhundert einen zwiespältigen Ruf in Athen genossen. Er war außerdem (von mütterlicher Seite her) der Enkel eines Tyrannen, dessen Namen er auch trug, aus der polis Sikyon, einem Stadtstaat in der Nähe von Athen. Zur Zeit der Vertreibung des Hippias(4) war Kleisthenes ein recht unwahrscheinlicher Kandidat für die historische Rolle eines Revolutionärs, der das Tor zur Einführung der Demokratie öffnet.

In den zwei Jahren zwischen den beiden Belagerungen der Akropolis wütete ein erbitterter Kampf um die Gestaltung der Zukunft Athens. Isagoras(6) errang einen Vorsprung, als er aus einer Körperschaft maßgeblicher Aristokraten heraus für die Zeit zwischen der Mitte des Jahres 508 und der Jahresmitte 507 v. Chr. auf die Position des höchsten Beamten gewählt wurde. Als archon eponymos hatte Isagoras die Macht, per Gesetz über die Leitung der Stadt zu bestimmen. Die einzige Möglichkeit, die Kleisthenes(4) noch offenstand, war die Präsentation seiner Ideen vor Athens Volksversammlung, welche die Bürgerschaft eher repräsentierte, aber weniger mächtig war. Dort, bei der großen Zahl männlicher Bürger Athens, die aus einer größeren Bandbreite an sozialen Klassen stammten, konnte er um Unterstützung werben. Die öffentliche, im Freien abgehaltene Versammlung war für den Vortrag des Anliegens eines schon vergleichsweise alten Atheners denkbar ungeeignet. Zuerst musste er sich in einer häufig lautstarken Menge überhaupt einmal Gehör verschaffen; sodann stand er vor der noch größeren Herausforderung, seine Mitbürger von der Notwendigkeit einer radikalen Neuorganisation der politischen Strukturen Athens zu überzeugen – und das zu einem Zeitpunkt, da viele den Eindruck hatten, es liege ohnehin schon zu viel Veränderung in der Luft. Trotzdem, so die Darstellung des Herodot(4), geschah etwas Bemerkenswertes. Obwohl der demos (die Masse des Volkes) »vormals« von den führenden Männern Athens »verachtet« worden war, »fügte Kleisthenes den demos seinem Lager hinzu«.6

Unter Historikern ist die Bedeutung dieser Formulierung heftig umstritten, nicht zuletzt weil das griechische Wort, das Herodot(5) verwendet, um den Umstand zu bezeichnen, dass die Menge »[seinem] Lager hinzugefügt« wurde, proshetairizetai lautet.7 Die Wortwurzel ist hetaireia, was eine kleine Gruppe eng vertrauter Kameraden bezeichnet – letztlich nichts anderes als eine aristokratische peer group. Womöglich führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass in der Geburtsstunde der Demokratie ein in der Aristokratie Athens altvertrautes politisches Manöver eine Hauptrolle spielte: Es handelte sich also gar nicht so sehr um eine Revolution, sondern vielmehr um business as usual.

Doch selbst wenn in den aufregenden Monaten der Jahre 508/507 v. Chr. keine Revolution beabsichtigt gewesen sein sollte, so war doch das, was Kleisthenes(5) dem Volk vorschlug, damit es sich auf seine Seite stellte, etwas dramatisch Neues. Seine Idee setzte sich wahrscheinlich aus zwei Hauptelementen zusammen. Zum einen regte Kleisthenes an, dass die kleinsten bürgerschaftlichen Einheiten – die (ungefähr den heutigen Gemeinden entsprechenden) Demen – die Basis sämtlicher Aktivitäten, Rechte und Verantwortlichkeiten der Bürger bilden sollten. Und zum anderen kam der sehr viel kontroversere Vorschlag hinzu, diese Demen in eine neue Anordnung von zehn Abteilungen (Phylen) einzuteilen, die die traditionellen vier Stammesgruppen Athens ablösen und eine Grundlage bilden sollten für die Art, wie die Athener mit ihrer Zeit, ihrer Energie und ihren Ideen zur Gestaltung des Staates beitrugen.8 Revolutionär an diesen neuen Phylen war der Umstand, dass aufgrund ihrer Zusammensetzung die für die alte Einteilung der Bürgerschaft bestimmenden aristokratischen Machtblöcke bewusst aufgebrochen wurden; jede Phyle erhielt dasselbe Mitspracherecht und dieselbe Macht bei der Führung des Staates. Noch radikaler war die Maßnahme, dass die Entscheidung, wer aus diesen Phylen mit der Aufgabe betraut werden sollte, den Staat (in den meisten, wenn auch nicht in allen Funktionen) zu leiten, nicht durch Wahl, sondern durch zufälliges Los entschieden wurde, sodass jeder eine faire Chance hatte.

Die Ideen des Kleisthenes(6) kamen bei den Athenern offenbar gut an, denn als es zwischen ihm und seinem aristokratischen Rivalen Isagoras(7) um die Entscheidung ging, hatte Kleisthenes die Mehrheit auf seiner Seite und konnte legitimerweise den Anspruch erheben, an der Spitze des Volkes zu stehen. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass ein offizieller Antrag auf die Einführung einer »Demokratie«, der den Regierungsorganen in Athen zur Entscheidung vorgelegt worden wäre, nie existierte. Es handelte sich vielmehr um eine Idee, die sich irgendwie eingestellt hatte und die dann wiederholt und allerorten – zu Hause, auf den Feldern, an den öffentlichen Brunnen, im Theater und in der Sporthalle – diskutiert wurde.

Aber es war mehr als nur der Wunsch, die lokale Gemeinde mit größerer Macht auszustatten, der die Menschen bewegte, den Plan des Kleisthenes(7) zu unterstützen. Obwohl Sparta die Athener unterstützte, als es um die Befreiung von einem Tyrannen ging, bereitete diesen die fortgesetzte Einmischung der Spartaner in ihr Leben Unbehagen. Sie waren skeptisch wegen Spartas früherer Bindung an Isagoras(8) und fragten sich sorgenvoll, was die Spartaner wohl als Nächstes tun würden. Man war sich schmerzlich der militärischen Schwäche Athens im Vergleich mit Sparta, aber auch mit weniger weit entfernten Nachbarn bewusst. Mit Blick auf die gewaltige Militärmacht Spartas und seiner Verbündeten, die potentiell gegen Athen in Stellung gebracht werden konnte, waren 700 Soldaten lediglich die Spitze des Eisbergs.

Die Reformvorstellungen des Kleisthenes(8) gingen nun so weit, die Demen zur Grundlage sowohl der militärischen als auch der politischen Organisation der Stadt zu machen. So schufen sie die Möglichkeit, die Selbstverteidigung effektiver zu organisieren. Es war daher kein Wunder, dass diese Ideen bei den Athenern gut ankamen und gern von ihnen unterstützt wurden, boten sie doch die Lösung für eine Vielzahl von Problemen: die Chance, sich der Anwesenheit der Spartaner zu entledigen; die Chance, die militärischen Ressourcen neu zu organisieren; und schließlich die Chance, in politischen Angelegenheiten mehr Mitspracherecht zu bekommen. Auf den Feldern, in den Häusern und Straßen Athens war der Name »Kleisthenes« in aller Munde.

Diese massive Unterstützung nun veranlasste Isagoras(9), zur Stärkung seiner Position erneut Kleomenes(5) von Sparta und seine Truppen zu Hilfe zu rufen. Kleomenes war zwar bereit gewesen, Athen von einem Tyrannen zu befreien, doch für das Vorhaben des Kleisthenes(9) vermochte er keine Begeisterung aufzubringen. Er bevorzugte das politische System Athens in seinem jetzigen Zustand: in der Hand einer Gruppe von Aristokraten und als natürlichen militärischen Verbündeten Spartas. Kleomenes befahl den Athenern, Kleisthenes und dessen Unterstützer aus der Stadt zu vertreiben. Als sich die Athener weigerten, dem Folge zu leisten, kehrte Kleomenes mit seiner spartanischen Elitetruppe zurück, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen – was dann allerdings damit endete, dass er sich nach kurzer Zeit mitsamt seinen Mannen und Isagoras auf die Akropolis zurückziehen musste und dort von einer überwältigenden Menge von Athenern belagert wurde.

Kleisthenes,(10) der Reformer?

Worin bestand nun aber die eigentliche Absicht des Kleisthenes(11)? Zweifellos in der Gewinnung von Macht und Einfluss in Athen auf Kosten seiner adligen Rivalen. Was seine subtileren, komplexeren Motive angeht, so liefern Herodot(6) und Aristoteles(1) dazu unterschiedliche Auffassungen. In den Augen des Aristoteles war Kleisthenes ein Idealist, der die athenische Politik zum Wohle des Volkes reformieren wollte.9 Herodot(7) meint hingegen, Kleisthenes sei mit der Auflösung der herkömmlichen Untergliederungen der Stadt lediglich in die Fußstapfen des Tyrannen von Sikyon, seines Großvaters mütterlicherseits, getreten, denn wie Kleisthenes der Ältere hatte er seine Abneigung gegenüber den Griechen in der kleinasiatischen Region Ionien zum Ausdruck gebracht, auf deren ältere Einteilung die Phylenordnung in Athen ursprünglich angeblich zurückging.10

Was auch immer seine wahren Motive gewesen sein mögen – Kleisthenes(12) war jedenfalls während der Belagerung der Akropolis im Jahr 508 v. Chr. nicht persönlich anwesend. Er befand sich damals mit Hunderten anderer Familien, die ihn unterstützten, im Exil. Man kann jedoch sicher davon ausgehen, dass er Informanten hatte, die ihn über die Geschehnisse in Athen auf dem Laufenden hielten. Der Schauplatz Akropolis war besonders bedeutungsschwer, da dort die Vorfahren von Kleisthenes mehr als ein Jahrhundert zuvor bestimmte Taten verübt hatten – Taten, die Isagoras(10) und die Spartaner als Vorwand für die Verbannung des Kleisthenes herangezogen hatten; von seinen Reformvorschlägen oder seiner Gegnerschaft gegen Isagoras war nicht die Rede. Stattdessen warf man Kleisthenes vor, unter einem Familienfluch zu stehen.

Irgendwann in den 630er-Jahren v. Chr. hatte ein Mann namens Kylon(1), vormaliger Gewinner des Wettlaufs bei den Olympischen Spielen, in Athen den Versuch zu einem Staatsstreich unternommen, nachdem er eine Weisung des Orakels von Delphi falsch gedeutet hatte. Herodot(8) berichtet, Kylon(2) »wollte sich zum Tyrannen aufwerfen« und versuchte, sich des Machtsymbols von Athen, der Akropolis, zu bemächtigen.11 Als er jedoch zunehmend an Rückhalt verlor, suchten er und seine engen Freunde Zuflucht am Altar von Athene(1), der Schutzgöttin Athens – einem heiligen Ort, von dem niemand gegen seinen Willen entfernt werden durfte, da eine solche Tat die Heiligkeit des Hauses der Göttin verletzte. Kylon(3) und seinen Männern wurde von den richterlichen Beamten von Athen zugesichert, man werde ihnen nichts zuleide tun, wenn sie sich ergeben und einem Gerichtsprozess stellen würden. Nachdem sie sich dann darauf geeinigt hatten, das Gebäude aus freien Stücken zu verlassen, wurden sie jedoch auf der Stelle getötet. Der Mann, den man später des Mordes für schuldig befand, war Megakles(2), ein rivalisierender athenischer Aristokrat aus der Familie der Alkmeoniden und Urgroßvater des Kleisthenes(13).

Die hochgesteckten Ziele des Kylon(4) waren für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich, zumal sich die griechische Gesellschaft bereits seit geraumer Zeit in einem Wandlungsprozess befand. Das althergebrachte Modell einiger weniger reicher, aristokratischer Landbesitzer, die über eine große, unzusammenhängende Bevölkerung armer Landarbeiter herrschten, war durch ein zehnfaches Bevölkerungswachstum sowie durch neu sich eröffnende Wege zum Reichtum erschüttert worden, vor allem durch den effizienteren Abbau von Bodenschätzen und die Ausweitung des Handels sowie durch eine gesunde wirtschaftliche Wachstumsrate.12 Nun, da immer mehr Menschen immer reicher wurden, wollten sie bei der Gestaltung ihrer Gesellschaft auch selbst mitreden. In Gemeinden auf dem Festland, auf den Inseln der Ägäis und bis unten im Süden, auf Kreta, befassten sich die Griechen eingehend mit der Frage, welche Art politischer Gesellschaft diesen neuen ökonomischen und sozialen Realitäten am angemessensten war. In einigen griechischen Städten in der Nähe von Athen, etwa in Korinth und Sikyon, ergriffen Tyrannen die Macht – starke Männer, die es schafften, die Macht an sich zu reißen und am Ruder zu bleiben, ja, denen es in einigen Fällen sogar gelang, die Macht an ihre Nachkommen, teils über mehrere Generationen hinweg, weiterzugeben. Andere, etwa die Gemeinden Dreros auf Kreta oder Chios in der Ägäis, unternahmen offenbar den Versuch, einen neuen sozialen und politischen Vertrag zu schließen, mit Rechten und Pflichten für alle Teile des Gemeinwesens. In Dreros wurde ein Gesetzes- und Verfassungskodex – der erste bislang in Griechenland entdeckte derartige Text – in Stein gehauen, sodass alle ihn sehen konnten. Darin war festgehalten, dass die Gemeinschaft (und nicht Individuen, die ihre je eigene Vorstellung von Gerechtigkeit ausübten) für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung verantwortlich war. Darüber hinaus wurde der Versuch unternommen, die Rechte der verschiedenen sozioökonomischen Gruppen in ein Gleichgewicht zu bringen.

In welchem Umfang auch immer die anderen griechischen Gemeinden damals von diesen Zuständen Kenntnis hatten – am besten informiert waren sicherlich diejenigen, die zunehmend in Handelsbeziehungen eingebunden waren. Jeder, der im 7. Jahrhundert v. Chr. nach Athen schaute, hätte sowohl eine Gesellschaft wahrnehmen können, die sehr gut alleine zurechtkam, als auch eine Gesellschaft, die in sich gespalten war und deren Konflikt- und Gewaltpotential sich stetig verschlimmerte. Das Beispiel Kylon(5) hatte gezeigt, dass ein Einzelner im Alleingang nicht stark genug war, die Macht über Athen für sich zu sichern. Es gab jedoch ständige Spannungen zwischen denen, die eine solche Macht anstrebten. Einen Beweis dafür, dass Athen im ausgehenden 7. Jahrhundert v. Chr. ein Ort der Gewalt war, liefert die früheste aus der damaligen Zeit erhaltene Gesetzessammlung, die von dem Gesetzgeber Drakon(1) niedergeschriebenen Gesetze, die vorsahen, dass fast sämtliche Verbrechen mit dem Tod bestraft wurden (der Terminus »drakonisch« für besonders harte Strafen ist heute noch im Gebrauch).13

Megakles(3)’ Strafe für die Tötung Kylons(6) war die Erklärung, diese Tat bedeute ein miasma, eine »Verunreinigung«: Dies glich einem Fluch, der für immer auf ihm und seinen Nachkommen lasten sollte. Die Familie wurde aus Athen verbannt – verbannt im Wissen, dass diese Strafe, selbst wenn es den Nachkommen des Megakles in der Zukunft je gestattet sein würde, zurückzukehren, dann nach wie vor in Kraft sei, wenn die Verantwortlichen in Athen dies für angebracht hielten. Und mit dieser Begründung wurde dann später Kleisthenes(14) von Isagoras(11) und dessen spartanischen Unterstützern verbannt.

Solon(2), der Gesetzgeber?

Offenbar durften im Jahr 594 v. Chr. die Vorfahren des Kleisthenes(15) aus ihrem ersten Exil zurückkehren. Der höchste Beamte Athens war in jenem Jahr Solon(3), den die Geschichte als legendären Gesetzgeber, klugen Ratgeber, Weisen und Dichter preist. Die erhaltenen Fragmente von Solons Dichtung stellen für uns heute das beste zeitgenössische literarische Zeugnis für die Umstände in Athen zu Beginn des 6. Jahrhunderts sowie für Solons Reformbestrebungen dar.

Solon(4)