Weltendiebe - Ju Honisch - E-Book

Weltendiebe E-Book

Ju Honisch

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Beschreibung

Im Keller einer alten Villa in München gibt es eine interdimensionale Schwachstelle. Alle paar Jahrzehnte trachten ruchlose Weltenspringer danach, sie von außen öffnen, um sich in unsere Welt zu stehlen. Die letzte Öffnung geschah im Jahr 1952, und gerade jetzt wurde sie wieder geöffnet. Annes Oma ist entsetzt, als sie herausfindet, dass ihre Enkelin ausgerechnet in dem Haus arbeitet, in dem sie damals unglaublich Schreckliches erlebt hat. Sie erinnert sich, doch sie schweigt. So ahnt Anne nicht, wie gefährlich die Männer sind, die plötzlich in ihr Leben einbrechen. Erst als ihre Schwester Ev verschwindet und ominöse Fremde Anne verfolgen, wird klar, dass hinter Omas Schweigen mehr steckt als die Sonderlichkeit einer alten Frau. Anne ist entschlossen, ihre Schwester wiederzufinden, auch wenn sie nicht weiß, wo. Sie weiß nur: in eine fremde Welt zu springen ist ein Frevel, auf den in jeder Welt der Tod steht. Denn die Vollstrecker kennen keine Gnade.

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Seitenzahl: 904

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DANKSAGUNG

Ich danke Jela Schmidt für Beta-Lesen und gute Tipps und Oliver Hoffmann für sein exzellentes Lektorat. Außerdem geht mein Dank an Franklin Gunkelmann für das Cover und an Harry Sawatzki für Fotos, Rat und Tat sowie Support. Und schließlich danke ich noch Frederik für seine „helfende Hand“.

„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie

ist von Magie nicht zu unterscheiden.“

Arthur C. Clarke

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23 – 1952

Kapitel 24

Kapitel 25 – 1952

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28 – 1952

Kapitel 29

Kapitel 30 – 1952

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34 – 1952

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39 – 1952

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44 – 1952

Kapitel 45

Kapitel 46 – 1952

Kapitel 47

Kapitel 48 – 1952

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52 – 1952

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56 – 1952

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60 – 1952

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63 – 1952

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67 – 1952

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72 – 1952

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75 – 1952

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81 – 1952

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88 – 1952

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92 – 1952

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98 – 1952

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Epilog

1

Die Dinge mussten anders werden.

Lesmoyan spürte das Warten auf seiner Haut. Es zerrte ihm an der Seele, kratzte ihm ins Gemüt. Doch er saß ganz still auf einem umgekippten Baum, dessen muffiger Geruch sich in all die Gerüche des Dunkelwaldes wob, Verwesung und Waldblumen, Pilze und Moder, Nachtluft und jenes andere Element, das diese Welt bestimmte.

Es war ganz still.

Er rührte sich nicht. Seine langen Finger hielt er locker gefaltet auf seinen ausgestreckten, schlanken Beinen. Sein taillenlanges Haar reflektierte das Sternenlicht in dessen höchsteigener Farbe. Nicht ein Härchen davon bewegte sich.

Die Nacht war von silbrigem Dunkel, nicht schwarz, sondern grau;. Die Nahsterne wanderten über den Himmel und brachen die Schwärze in unterschiedliche Grautöne auf. Vollständig dunkel wurde es nie. Negative Sternenschatten ließen Äste und Blätter zu Mustern werden.

Schweigen hing über dem Hüben.

Dennoch strahlte die Nacht keine Ruhe aus. Ohne dass ein Geräusch zu hören gewesen wäre, summte und wummerte die Energie der Welt. Es roch nach Blitzen, die sich das Zucken für später aufsparten, ihre Kraft gleichsam sammelten für den großen, den Überblitz, den, der die Dinge ändern würde.

Lesmoyan hatte das Beben verspürt

Schön.

Dann wusste er es. Das Unfassliche geschah, so wie er es berechnet hatte. Es war noch nicht geschehen, doch die Möglichkeit bahnte sich an. Seine Gelegenheit. Eine Option auf ein Ereignis, das die Grundfesten des Seins erschüttern würde.

Gut. Die Grundfesten seines Seins waren ohnehin entschieden zu schon zu lange unerschüttert. Es war an der Zeit, dass es anders würde.

2

Herr Anzenshofer war kein netter Mensch. Anne mochte ihn nicht. Nun war das nichts Besonderes. Chefs gehörten vermehrt zu der Gattung Mensch, die man am liebsten von hinten sah. Durch ein umgedrehtes Fernglas. Ganz klein am Horizont.

„Ja, Herr Anzenshofer. Ich kümmere mich gleich darum“, versicherte Anne und bemühte sich halbherzig um ein Lächeln, während sie sein Papier gewordenes Zahlenchaos ganz oben auf ihre durchstrukturierte Ordnung legte.

„Wann kann ich eigentlich endlich die Vertriebszahlen haben?“, drängte er in dem emsigen Bemühen, ihr noch ein Quäntchen Schuld zuzuschieben, als würde ihn das von jedem seiner eigenen Fehler reinwaschen. Wie kam es nur, dass die Herren mit den besserbezahlten Meinungen stets glaubten, frau würde derlei durchsichtige Strategien nicht erkennen? Wenn er sie mit seinen Zwischenaufgaben nicht dauernd selbst lahmlegte, hätte er die Vertriebszahlen schon längst auf seinem teuren Tisch.

„Vor oder nach dieser Statistik?“, fragte Anne zurück und registrierte, wie ihr das Lächeln zu Würfeln gefror.

Den inhärenten Vorwurf, er sei es, der sie aufhielt, mochte er vielleicht zur Kenntnis genommen haben, ein Verstehen leitete sich indes davon nicht ab. Das hätte Erkenntnis vorausgesetzt; in seinem Fall Selbsterkenntnis. Letztere konnte ihm, so wie er war, nicht wirklich genehm sein.

Also war da nichts zu erwarten.

Er bedachte sie mit einem muffigen Blick, dem er schnell noch eine überlegene Komponente hinzufügte, indem er das Kinn hob und arrogant an seiner Nase herunterschielte. Dann drehte er ihr seinen Maßanzugrücken zu.

„Heute noch!“, ordnete voller Mahnung, voller Vorwurf an.

Schon verschwand er in Richtung seines Büros, dessen Tür auf gewisse Weise Zugbrückencharakter hatte.

Heute noch? Es war halb fünf.

Da ging er hin, der Feierabend. Ärgerlich, denn Anne hatte sich mit ihrer kleinen Schwester zum Kino verabredet. „Du schaffst es doch sowieso wieder nicht rechtzeitig“, hatte Ev gemault. Anne hatte ihr zügig versichert, dass sie sich irrte. Sie war fast fertig. Trotz Chef. Trotz Firmenumzug. Trotz Kisten auspacken und einräumen. Trotz Irrsinn auf Rädern. Dem Kinobesuch hatte nichts entgegengestanden.

Bis eben.

Anne hob den Hörer und drückte auf die Wahlautomatik.

„Evelyn Konners“, schallte es aus dem Rohr.

„Ich bin’s.“ Anne schwieg einen Augenblick lang und überlegte, wie sie ihren Wortbruch am besten verkaufen sollte.

„Ich hatte recht, nicht wahr?“, meinte Ev mit der vorprogrammierten Mauligkeit des enttäuschten Teenagers. „Das war ja so klar. Wenn ich schon mal was will.“

Das war nicht fair. Es war absolut nicht so, dass Anne ihre kleine Schwester vernachlässigte. Niemand konnte das behaupten. Seit ihre Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte sich Anne um Ev gekümmert, um Oma und überhaupt um alles. Vielleicht hätte sie ja auch lieber weiter Literatur studiert, anstatt sich von Herrn Anzenshofer schikanieren zu lassen!

Ihr Schweigen hatte mehr bewirkt als eine Erklärung. Ev war ja nicht dumm. Mit einem IQ, mit dem sich keiner ihrer Lehrer messen konnte, war das Mädchen alles, nur nicht unintelligent. Zwei Klassen hatte Ev schon übersprungen. Ein fotografisches Gedächtnis und ein unbändiger Spaß daran, alles in ihren Kopf zu stopfen, was an Wissen nicht bei drei auf dem Baum war, machte sie zu einem leicht nerdigen, wandelnden Lexikon – Wikipedia auf Beinen. Was es sie nicht machte, war einfach.

„Schon gut“, murrte Ev. „Du kannst nicht, und wir verschieben’s. Oma geht’s heute sowieso nicht gut. Sie regt sich über irgendwas furchtbar auf.“

O Gott, auch das noch!

„Worüber denn?“

„Keine Ahnung.“

„Kommst du klar?“, fragte Anne besorgt.

„Ist okay.“ Das Schulterzucken war beinahe durch den Hörer spürbar. Oma war alles, was ihnen noch geblieben war, doch seit ihrem kleinen Schlaganfall war auch das nicht mehr ganz einfach.

„Gut. Dann … bis später. Sehr viel später. Also ich …“

„Du legst für das Arschloch wieder eine Nachtschicht ein. Ich verstehe schon.“

Das Arschloch bezahlt unser Leben, hätte Anne gern zurückgegeben, doch sie verkniff sich die Antwort.

Das war auch gut so, denn eben erschallte die Stimme des so Betitelten von der Tür her.

„Wenn Sie nicht andauernd telefonieren, werden Sie ja vielleicht auch irgendwann mal fertig.“

Anne schwieg. Sollte er eine Entschuldigung erwartet haben, so konnte er ihrethalben warten, bis er grün wurde. Oder schwarz. Nein, besser grün. Mit rosa Punkten. In amerikanischen Unterhosen mit Sockenhaltern. Diese Vorstellung half beinahe immer.

„Tschö dann“, murmelte sie und legte auf. Sie drehte sich nicht einmal um, sondern tat, als habe sie den Kommentar nicht gehört.

Wenn man gerade erst sechzehn geworden war, konnte man vielleicht seine Meinung über Arschlöcher kundtun. Wenn man dreiundzwanzig war und die Versorgerin der Familie, dann musste man den schmalen Grat entlanglaufen, den es zwischen Arschlochduldung und den Grenzen der Selbstkasteiung gab. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung war es nicht einfach, etwas anderes zu finden.

Doch irgendwann würde es besser werden. Irgendwann. Irgendwie. Irgendwo.

Zukunft muss man planen, hatte ihr Vater immer gesagt und war dann doch gänzlich planlos von ihnen gegangen. Anne kam nicht zum Planen. Die Tage waren immer schon zum Überlaufen angefüllt und zugestopft mit Aufgaben, die im Grunde gar nicht in vierundzwanzig Stunden passten.

Eine Tür ging. Der Chef hatte noch einen Auswärtstermin. Also brauchte er die Zahlen heute nicht mehr. Doch er würde sie mit Sicherheit morgen früh als Erstes verlangen, und da er die unverzeihliche Angewohnheit hatte, elend früh im Büro zu erscheinen, half es nichts. Sie musste die Sache heute noch fertigmachen.

Dass er zu allem Überdruss auch noch Frühaufsteher war, empfand Anne als eine Gemeinheit des Schicksals. Es war ein vorgegebener Reibungspunkt. Es war ja nicht so, dass sie sich in genüsslichem Ausschlafen erging, aber da war eben die kleine Schwester, die man in die Schule schubsen musste, und die kranke Oma, auf deren morgendlichen Pfleger man warten musste, und irgendwo dazwischen musste auch sie sich fertigmachen und frühstücken. Ihr Leben war ein einziges Irgendwo-Dazwischen.

Sie setzte sich an die Zahlen.

Sie hasste Zahlen.

3

Es war schon nach neun, als das Telefon klingelte. Anne schien es immer, als ändere sich der Klingelton, wenn sie ihre einsamen Nachtschichten einlegte. In einem menschenleeren Gebäude klang das Bimmeln fast verloren, wie ein Signal der Einsamkeit: Du bist ganz allein hier, sagte es, selbst der Wachdienst ist schon weg, völlig allein bist du, nur du und dein Telefon.

Am Display erkannte sie, dass der Anruft von Ev kam.

„Was ist passiert?“, fragte sie deshalb nur, anstatt sich ordnungsgemäß mit dem Sermon „Grendelos GmbH & Co. KG, Anne Konners, was kann ich für Sie tun?“, zu melden.

„Nichts Schlimmes. Nur Ömmi weint.“ Ev klang überfordert, weinte beinahe ebenfalls. „Und sie sagt mir nicht warum.“

Oma sprach nicht mehr so gut, aber sie konnte sich im Allgemeinen schon verständlich machen, auch wenn sie manchmal etwas undeutlich klang.

„Hat sie Schmerzen?“, fragte Anne.

„Nein. Sie hat gemeint, ich soll sie einfach in Ruhe lassen.“ Ev seufzte. „Aber ich kann sie doch nicht weinen lassen!“

„Hast du versucht, ihr etwas vorzulesen?“

„Sie will nichts hören. Sie will, dass du nach Hause kommst. Ich habe ihr gesagt, dass du im Moment besonders viel zu tun hast, dass ihr umgezogen seid mit der Firma, und da hat sie angefangen, sich aufzuregen.“

„Wieso das denn?“

„Was weiß ich? Es kann ihr doch egal sein, wo du dich drangsalieren lässt. Sie kannte sogar das Haus, glaube ich. Jedenfalls ist sie völlig von der Rolle. Ich habe wirklich alles versucht …“

„Auch Sissi?“

„Sogar Sissi. Nicht mal Franzl hat geholfen.“

Wenn nicht einmal mehr die Sissi-DVD half, dann war es wirklich schlimm. Anne und Ev konnten die drei Filme inzwischen auswendig. Franzl – Sissi! Oma konnte sich immer wieder darin versenken. Es war Morphium fürs Gemüt. Bei Anne und Ev war die Begeisterung ungleich weniger groß, und falls doch, hätten sie es nie zugegeben.

„Ich komme bald. Wenn ich jetzt aufhöre, dann habe ich mir den Abend umsonst um die Ohren gehauen und muss mir morgen trotzdem noch eine Standpauke anhören.“

Ev schniefte durchs Telefon: „Ich finde ja, du bist zu alt für Standpauken. Das solltest du ihm mal sagen. Dem Arschloch.“

„Irgendwann sage ich ihm mal alles, was wir zwei ihm schon immer mal sagen wollten.“ Irgendwann, irgendwie, irgendwo. Wenn es Sterntaler vom Himmel regnete.

„Ja, ja“, gab Ev ironisch zurück. „Ganz bestimmt. Bis dann. Beeil dich! Tschüss dann.“

Viel war nicht mehr zu tun. Durchchecken. Abspeichern. Ausdrucken. Kopie machen. Der Kopierer hatte sich schon ausgeschaltet. Scheiß-Zeitschaltuhr. Jetzt musste sie warten, bis er wieder hochgefahren war, denn der werte Herr, den ihre kleine Schwester nur das Arschloch nannte, akzeptierte für seinen eigenen Gebrauch keine Tintenausdrucke, seit er mit einem einmal in den Regen gekommen war und sich seine Statistiken tränenreich vom Papier verabschiedet hatten.

Der Kopierer machte Geräusche wie ein startendes Flugzeug, und Anne zog sich schon mal die Strickjacke über. Einfach einen Laserdrucker zu kaufen wäre weitaus sinnvoller gewesen.

Sie griff in ihre Schublade und stellte mit Entsetzen fest, dass ihr der Schlüssel für das neue Gebäude noch fehlte. Richtig. Der Schlosser hatte ihn noch vorbeibringen wollen. Das hatte er nicht getan.

Und der Wachdienst hatte vorhin abgeschlossen.

So ein Mist. Sie rannte aus dem Büro, den Korridor entlang, die drei Stufen hinunter zur Haustür. Zu. Natürlich.

Es war eine schwere Tür mit kleinen Glasscheiben im oberen Drittel. Sie sah alt aus, passte zum Rest des renovierten Gründerzeitgebäudes, war aber dem Original lediglich nachempfunden und mit allerlei Sicherheitsschnickschnack wie einem Metallkern und Sicherheitsschlössern bestückt.

Anne rüttelte an der Klinke. Die Tür ignorierte sie.

„Mist. Mist. Mist. Mist. Mist!“

Die Fenster im Erdgeschoss waren mit schmiedeeisernen Gittern versehen. Aus dem ersten Stock mochte Anne nicht springen. Wer weiß, was man sich da brechen konnte. Abgesehen davon, dass ein offenstehendes Fenster beim Herrn des Hauses am nächsten Morgen ziemliche Panik hervorgerufen hätte. Vielleicht war es sogar ein Kündigungsgrund?

Bevor sie weiter nach einer Lösung suchte, machte sie ihre Kopien und legte sie auf den Chef-Schreibtisch. Natürlich konnte sie auch einfach Herrn A., das A., anrufen und ihn bitten, sie hier rauszuholen. Er hatte schon einen Schlüssel. Sie würde ihm den Feierabend vermiesen. Und sie würde in Zukunft jeden Abend daran erinnert werden, dass sie vielleicht gerade noch so schlau sein sollte, sich nicht einsperren zu lassen.

Also zum Telefon. Kurzwahltaste.

„Ev. Ich habe ein Problem.“

Ev seufzte genervt.

„Ich auch, das kannst du aber zweimal sagen.“

„Wie geht es Ömmi?“

„Jetzt sagt sie gar nichts mehr. Hat sich nur ihre Schmuckschatulle bringen lassen und klammert sich schweigend dran fest. Als wollte ich ihr was wegnehmen.“

Ev klang entrüstet.

„Ach was. Sie weiß doch, dass du das nicht tust. Hör zu. Ich bin eingesperrt. Der Wachdienst hat abgeschlossen, und ich habe keinen Schlüssel. Das blöde Haus ist vergittert. Wenn ich nicht noch einen Schleichweg hier raus finde, muss ich hier übernachten.“

Auf dem Parkett. Im Chefsessel? Unter dem Schreibtisch? Neben der Yuccapalme? Wieso dachte sie jetzt an Spinnen?

„Krass“, meinte Ev nur und klang wenig begeistert, „und mich lässt du hier sitzen.“

„Meine Güte, ich kann’s nicht ändern. Nun motz du mich nicht auch noch an. Das habe ich so nötig wie einen zweiten Kropf.“

Nicht dass sie einen ersten hatte.

„Vielleicht gibt’s eine Kellertür?“, fragte Ev, und aus dem Hintergrund brach entsetztes Gestammel durch die Leitung.

„Was ist?“, fragte Anne besorgt.

Eine Weile kam keine Antwort von Ev.

„Keine Ahnung“, sagte ihre Schwester dann. „Sie hat was gegen Keller.“ Die Stimme wurde leiser, Ev sprach vom Hörer weg. „Ist doch alles gut, Ömmi. Anne geht in keinen Keller.“ Dann war die Stimme wieder da. „Du hörst es ja. Ich muss mich kümmern. Schau, dass du da nicht festwächst.“

Sie legte auf.

Vielleicht war der Keller wirklich eine Möglichkeit?

4

Der Dunkle wusste zu fliegen. Er hatte es immer gekonnt, doch tat er es selten. Seine Flügel hielt er zumeist unsichtbar. Nur wenn er sie wirklich brauchte, sprossen sie aus seinem Rücken hervor, riesig, weit; knöcherne Streben, umspannt mit schwarz und dunkelgrau gesprenkelter Haut.

Er flog nicht gerne. Es war eher ein Gewaltakt, auch wenn es dem zufälligen Betrachter vermutlich mächtig und durchaus elegant vorgekommen wäre.

Doch die Erde war weit mehr sein Element als die Lüfte. Der Boden der Tatsachen war seine Heimat, von dort war er zu dem geworden, was er im Jetzt war, dem Jetzt, das manchen so wichtig war, wichtiger als das Immer.

Kerder schlug ganz sachte mit den Flügeln, ergötzte sich an dem mächtigen, ledrigen Klang, der die Luft durchschnitt und Raubvögel auf Abstand hielt.

Bis auf einen. Lautlos war er daher geglitten auf den weichen Schwingen des nächtlichen Jägers. Ein Nachtwerb, eulengleich, doch fast mannsgroß mit einem messerscharfen Schnabel, dessen Giftrand in Sekunden dafür sorgte, dass ein Opfer, aus der Luft gegriffen, zu Boden stürzte wie auf einen Teller und alsdann zur Mahlzeit wurde.

Der Nachtwerb flog schneller als Kerder. Auch wendiger, geschickter und geübter. Er war dabei so still, dass der Geflügelte ihn nicht hatte herannahen hören. Ein Schnabel fuhr blitzschnell von seitlich oben auf ihn herab.

Kerder sandte einen wortlosen Fluch in seine Welt und ließ sich sinken, indem er die Flügel jäh eng anlegte und fiel – und gerade noch dem Biss entging. Fast fühlte er die Hornklinge des Vogels. Ein seidenweicher Federschlag streifte ihn, als er bereits abwärts zu trudeln begann.

War er entkommen?

Der Nachteil beim Fliegen war, dass man nicht über sich blicken konnte, zumindest nicht, wenn man einen menschlichen Kopf auf menschlichen Schultern besaß und keine Augen in den Schläfen oder einen Hals, der sich au nach hinten verdrehen ließ. Auf dem Rücken fliegen konnte noch nicht einmal der Nachtwerb.

Kerder wusste schon, warum er nicht gern flog.

Er spürte den Luftzug über sich und verstand, dass der Nachtwerb hinter ihm hergeflogen war. Ganz nah war er, ganz nah der mächtige Giftschnabel, ganz nah die handlangen Krallen, die Werbjäger gerne als Trophäen mit nach Hause brachten, so sie denn die Begegnung überlebten. Sollten Nachtwerbe auch Trophäen sammeln, so war die Sammlung an toten Jägern sicherlich ungleich größer als die an abgeschlagenen Krallen.

Boden. Kerder brauchte Boden unter den Füßen, um diesen Kampf irgendwie gewinnen zu können. Der Wüstensand schien ihm entgegenzustürzen, nahsternbeschienen, trügerisch einsam und harmlos.

Kerder hatte sich sein Schwert an den Körper gebunden. Es störte nun beim Manövrieren in der Luft, machte ihn schwerfällig und steif, auch wenn es für andere weitgehend unsichtbar war.

Doch ohne die Waffe hatte er nicht reisen wollen. Er würde sie noch brauchen. Er wünschte sich nur, sie wäre kürzer und leichter. Fulminonium war jedoch fast so schwer wie Eisen. Auch war er aus der Übung. Allzu lange hatte der Status Quo unangefochten gehalten. Was einem für immer richtig erschien, von dem erwartete man irgendwann nicht mehr, dass es plötzlich anders würde.

Er war unaufmerksam geworden. Ein schwerer Fehler.

Im Flug das Schwert zu ziehen war unmöglich. Doch selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte er doch fliegend nicht kämpfen können. Er war kein Raubvogel, obgleich manche seiner Eigenschaften dem Raubtierreich durchaus entlehnt waren.

Er war ein Mann. Mit einem Schwert, das ihm nichts nutzte, und einem Nachtwerb auf den Fersen.

Kerder hörte den Schnabel schnappen. Ganz knapp vorbei.

Er wirbelte zur Seite. Sein Flügel streifte die weichen Federn des Riesenvogels. Er widerstand der Versuchung, die Zeit anzuhalten. Ein Atemzug stand ihm nur als Spanne zur Verfügung, denn Zeit war unerbittlich, und der Zauber regenerierte sich nur langsam. Es dauerte Tage, bis er wieder darauf Zugriff hatte.

Aber er mochte keine Tage mehr haben, wenn der Vogel ihn zum Nachtmahl verspeiste. Welch höchst peinliche Art, aus dem Leben zu scheiden. Rhonorai Kerder, der Guano-Haufen in der Wüste.

Manche würde es freuen. Die Gerechten würden feiern auf ihren Rädelsburgen.

Seine Hände nestelten an den Lederriemen, die sein Schwert an ihn banden. Seine Füße berührten beinahe den Boden. Eine Schwinge traf ihn.

5

Der Keller war noch nicht fertig renoviert. Nur im Stockwerk, in dem Anne arbeitete, war alles schon so gut wie perfekt. Sie wusste auch warum. Weil da Herr A. arbeitete und die Handwerker vermutlich keine Lust hatten, sich dauernd seine giftigen Kommentare anzuhören.

So sah es im Erdgeschoss ordentlich und fertig aus, hier im Keller allerdings war längst noch nicht alles so wie es sein sollte. Soweit Chaos still vor sich hin toben konnte, tobte es.

Das schlimmste Manko war die Beleuchtung. Nichts als eine nackte, funzelige Glühbirne hing an einem Behelfskabel von der Decke und beleuchtete den Raum nur unvollkommen. Fast schien es, als mache sie ihn eher dunkel als hell. Schatten brachen aus allen Ecken hervor und krochen einem über die Sicht. Man sah viel mehr als man wollte und verstand gleichzeitig wenig davon.

„Unsinn“, murmelte Anne vor sich hin. Sie mochte diesen Keller nicht, und die Unordnung war nicht das, was sie störte. Vielmehr waren es die Düsternis, die geweißelten Backsteinwände, die niedrige Decke. Na ja, und zu guter Letzt natürlich auch der Müll, der überall rumlag.

Etwas knirschte unter ihrem Fuß. Sie hob ihn rasch und blickte auf den Boden. Was es war, wusste sie nicht. Für ein Schmuckstück war es zu groß. Vermutlich Messing. Oder vielleicht doch kein Metall? Plastik? Stein? Sie berührte das Ding, wollte es hochheben, aber es ließ sich nicht vom Boden lösen. Es schien seltsam warm zu sein. Lief vielleicht ein Heizungsrohr unter ihm entlang? Nein. Sicher nicht. Im Keller waren Heizungsrohre an der Decke, nicht in den Boden eingelassen.

Das Ding war eine flache Scheibe von etwa zwanzig Zentimeter Durchmesser. Keine plane Scheibe, vielmehr ein Gewirr an Einzeldrähten und –streben, die ineinander verflochten und verwoben waren wie Wikingerschmuck. Die Form kam Anne seltsam bekannt vor. Sie fragte sich, ob sie es vor Jahren nicht schon gesehen hatte, als sie alle zusammen mit den Eltern in Norwegen gewesen waren vielleicht. Da hatte es viel solchen Knotenschmuck gegeben.

Nur war dies kein Schmuckstück. Zumindest nach modernem Dafürhalten war das Ding viel zu groß. Fantasy-Helden auf Buchtiteln mochten so etwas an Lederriemen um die Brust geschnallt tragen, während Kettenbikini-Weibchen sich um ihre linken Beine wickelten und ihnen hingebungsvoll auf die Lendenschurze stierten.

Vielleicht war es die Anspannung, die sich bei dem Gedanken mit einem Mal löste, aber Anne begann leise zu kichern. Die ganze Absonderlichkeit ihrer Situation kam ihr zum Bewusstsein. Da stand sie im Keller eines über hundert Jahre alten Hauses, ärgerte sich über den Müll und konnte nicht hinaus. Möglicherweise war es an der Zeit, den Müll Müll sein zu lassen und nach einem Kellerausgang zu suchen. Hatten alte Häuser so etwas nicht immer gehabt? Einen Ausgang zum Garten, damit der Gärtner nicht etwa über die guten Teppiche musste?

Nicht weit von ihr ertönte ein Geräusch. Anne zuckte zusammen. War sie etwa nicht allein im Haus?

Sie sah sich hektisch um, doch niemand war zu sehen. Vermutlich hatte sie sich geirrt. War es vielleicht ein kleines Tier gewesen?

Kleine Tiere waren mindestens genauso beunruhigend wie große. Der Gedanke, sie könnte hier unten auf Ratten stoßen, freute sie nicht im Mindesten, egal wie klein sie waren. Ihr fröstelte bei der Vorstellung, die Nager mochten sie berühren oder vielleicht gar als Beute ausmachen, sie aus winzigen, gierigen Augen abschätzend anstarren.

„Unsinn!“, murmelte sie nun schon zum zweiten Mal. Für einen Rattenbraten war sie entschieden zu groß, selbst wenn sie mit einem Meter neunundfünfzig vermutlich eher zu den kleineren Menschen gehörte. Auch war an ihr nicht viel dran. Sie war immer schon schlank gewesen, und die letzten drei Jahre hatten sie beinahe schon dürr werden lassen.

“Iss was, Kind“, sagte Oma immer, die der festen Überzeugung war, dass Männer nur griffige Frauen heirateten und Annes Single-Dasein nicht etwa an ihren familiären Verpflichtungen und der mangelnden Freizeit lag, sondern nur darin, dass sie nicht genug aß. Aus gänzlich entgegengesetzter Überzeugung hielt Oma Ev immer dazu an, nicht so viel zu essen. Ev, die schon ein bisschen moppelig war und einen guten halben Kopf größer als ihre kleine, dürre „große“ Schwester.

Wie auch immer, im Moment konnte Anne immerhin hoffen, irgendwelche Ratten würden sie nur enttäuscht mustern und sich dann lohnenderen Zielen zuwenden

Ganz sicher war sich Anne allerdings nicht.

Sie stieg über ein paar Packen schimmligen Altpapiers hinweg, stolperte beinahe, blieb mit dem Absatz in einem Stück abgerissener Tapete hängen, die man hier unten entsorgt hatte. Auf einem Bein stehend versuchte sie, sich den Dreck vom Schuh zu ziehen.

Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung, und sie wandte sich blitzschnell nach links. Ein Wandgemälde schien auf die Backsteinmauer gemalt zu sein, sepiafarben wie eine alte Fotografie, lebensgroß. Ein Bild von einem Mann, der auf einem umgekippten Baum saß, langes, sehr helles Haar hing ihm vom Kopf. Ein Bild. Von einem Mann. Von einem … Bild von einem Mann.

Sie starrte das Bild an, hätte schwören können, dass es eben noch nicht da gewesen war. Nur Mauer hatte sie im schlechten Licht wahrgenommen, doch das Bild, so zart und dunkelschattig es auch schien, war da. Vermutlich war es ihr einfach entgangen, weil sie zu sehr auf Ratten und Müll konzentriert gewesen war.

Dennoch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass da kein Bild gewesen war.

„Unsinn!“, murmelte sie ein drittes Mal, und der Sitzende hob den Kopf und sah sie an.

So weit entfernt.

So verdammt nah.

Sie trat erschrocken einige Schritte zurück, verfing sich mit den Füßen in alten Tapeten und fiel rückwärts in die Müllsäcke..

6

Kerder versuchte, seinen Sturzflug kurz vor dem Boden durch das Ausbreiten seiner Flügel abzumildern. Der Fallwind riss ihm die Schwingen zurück, und er konnte einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken, während er mit einem Mal nach hinten gezerrt wurde, als rupfe jemand ihm die Flügel aus den Schultern wie einer Fliege.

Zuerst dachte er, der Nachtwerb hätte ihn jäh gefasst und umgerissen, doch es waren nur die Schwerkraft und die Gesetze der Lüfte. Man fiel oder man flog. Beides gleichzeitig ging nicht.

Er stürzte rückwärts in den Sand, auf seine ausgebreiteten Lederschwingen. Etwas knackte. Ein Knochen. Heißer Schmerz durchzuckte ihn.

Doch ihm blieb keine Zeit, sich damit zu befassen. Der Nachtwerb landete vor ihm, lautlos und gänzlich auf dem falschen Fleck, denn er griff und krallte leer in den Sand an der Stelle, die Kerder ursprünglich angestrebt hatte. Der Vogel hatte sich ebenso verrechnet wie Kerder selbst.

Kerder nestelte an den Lederbändern, die das Schwert an seinem Körper hielten. Der Griff war auf Schulterhöhe; so konnte man das Schwert nicht ziehen. Seine Finger flogen, doch seine Bewegungen waren zu grob, um schnell die Knoten aufzubekommen. Kampfgeist und Gefahr machten einem die Arme kräftig, die Finger aber ungeschickt.

Schwerfällig und ungelenk war der Nachtwerb auf dem Sand aufgekommen, nach vorne gekippt und vom eigenen Schwung getragen auf dem Bauch weitergerutscht. Seine stille Eleganz war einer tapsigen Wuchtigkeit gewichen, die jedoch – wenn man seine Bewaffnung mit Schnabel, Krallen und Gift bedachte – nicht minder erschreckend war.

Kerder versagte sich jede Silbe. Kein Laut kam über seine Lippen. Er stand, wusste nicht ganz genau, wie er auf die Füße gekommen war. Besagter Kampfgeist und Gefahr schienen sie von allein zu lenken, sammelten seine Sinne, schärften seine Reaktionen. Schon hielt er seinen Dolch in der Rechten, durchtrennte die Halteriemen mit einem Schnitt. Das Schwert rutschte nach unten.

Er fasste den Schwertgriff mit der Rechten, die Scheide mit der Linken und zog. Die Schwertscheide war ledergefüttert, und kein wohlklingendes Klirren leitete den kommenden Kampf ein. Die Scheide flog in den Sand, dem Messer hinterher. Nun hielt er das Schwertheft mit beiden Händen, balancierte wie ein Tänzer noch ein zwei Schritte rückwärts, und schon hatte der Nachtwerb sich aufgerichtet und gedreht und stieß sich mit den krallenbewehrten Vogelfüßen vom Boden ab.

Dass das Tier zu Fuß kämpfte, war nicht zu erwarten.

Beim Rückwärtsspringen wäre Kerder beinahe über seine eigenen Flügel gefallen. Sie waren lang und groß, mussten sie doch sein nicht unerhebliches Gewicht durch die Lüfte tragen. Sie jetzt zu verkleinern, damit sie ihn nicht behinderten, war ausgeschlossen. Es würde ihn mehrere Sekunden an voller Konzentration und Muße kosten. Die hatte er nicht, nicht einmal eine.

Der Vogel glitt von schräg oben auf ihn zu. Kerder wirbelte das Schwert so schnell um den Kopf, dass der Luftzug ein pfeifendes Geräusch von sich gab. Die schwere Waffe, einmal in Bewegung gebracht, tanzte fast von allein über ihm. Federn trudelten zu Boden – aber kein Blut.

Immerhin hatte die Notwendigkeit, plötzlich auszuweichen, den Vogel kurzfristig seine Luftüberlegenheit gekostet. Wieder landete er auf dem Sand und schrie seine Wut gen Himmel, ein Kreischen irgendwo zwischen morgentollem Hahn und jagendem Adler.

Kerder war ein kräftiger Mann, nicht übermäßig groß, aber wohltrainiert. Schwertkampf als Medium der Konzentration in der ungestörten Einsamkeit eines Kampfsaales war jedoch nicht zu vergleichen mit dem Einhacken auf einen Feind, der beinahe in allem überlegen schien.

Wenn er weiter so dachte, würde er hier sterben. Doch Kerder hatte noch weit zu reisen und Wichtigeres zu tun, als ein überdimensioniertes Hühnchen zu rupfen.

Er würde eine Weisheit opfern. Er tat es ungern, denn er war sich sicher, dass er sie noch gut würde brauchen können, wenn er erst auf den Gerechten traf. Auch war nicht gesagt, dass ihm die Kunst seines Buches der Weisheiten helfen würde, und er wäre gerne sicher gewesen, bevor er eine so weitreichende Entscheidung traf.

Schon griff der Vogel wieder an. Der riesige Schnabel hackte blitzschnell nach Kerders Kopf. Der duckte sich, ging in die Knie, wirbelte zur Seite, kam auf die Füße, fühlte kaum, wie eine messerscharfe Kralle ihn streifte und aufschnitt.

Wieder schwang er sein Schwert, diesmal so langsam, dass die Muskeln in seinen Oberarmen protestierten. Fast. Fast.

Asche regnete aus seinem Amulett, das mit einem Mal vor seiner Brust hing. Diese Weisheit war verbrannt.

Der Vogel auch.

Dem Kämpfer knickten die Knie ein. Er hatte vergessen, wieviel die Anwendung einer höheren Weisheit kostete. Sie zu kennen war das Ziel der Rhonorai. Sie anzuwenden hieß oft genug, sie zu verlieren – und wer weiß was sonst noch.

Er sank zu Boden, kippte vorwärts in den Sand und blieb keuchend liegen, die Stirn auf die Fäuste gedrückt. Erst nach einer Weile spürte er das Blut, das ihm warm und klebrig übers Gesicht lief. Waren die Krallen der Nachtwerbe giftig? Oder nur ihre Schnäbel? Er wusste nur vom Schnabelgift der Nachtwerbe, doch er wusste nicht alles.

Nur die Quelle wusste alles.

Eine Narbe mehr. Viele trug sein Körper schon wie Erinnerungsstücke an die Kämpfe, die er gewonnen hatte. Verloren hatte er noch keinen. Verlieren würde man nur einmal.

Langsam manifestierte sich der Geruch des rauchenden Riesenvogels in seinem Bewusstsein.

„Schmeckt vermutlich wie Hühnchen“, murmelte er. „Oder wie Krokodigant. Einerlei.“

Er musste ruhen. Sein Amulettbuch brannte wieder unter der Haut in seiner Brust, heiß geworden von der Anwendung. Seine Muskeln schrien, sein Kopf dröhnte. Nach und nach verpuffte der Kampfgeist, und zurück blieben Schmerz und Mattigkeit.

Er sollte sich das Gesicht verbinden. Und etwas essen. Am besten Geflügel.

7

Ev fing sie schon an der Haustür ab.

„Sei bloß leise!“, raunte sie. „Ich glaube, Oma schläft endlich.“ Dann trat die dunkelhaarige Sechzehnjährige ein paar Schritte zurück und musterte Anne abschätzig.

„Hast du dich geprügelt?“, fragte sie halb grinsend, halb besorgt.

Anne schob die Tür hinter sich ins Schloss und sperrte ab.

„Ich bin in die Müllsäcke gefallen, und der Kellerboden war auch nicht sauber“, murmelte sie.

Ev starrte sie nur an und gluckste.

„Na, das ist doch was. Mein perfektes Schwesterchen, die elfenzarte, stets reine, unbefleckte Gold-Jungfer Konners wälzt sich im Müll. Hast du wenigstens einen netten Partner dabeigehabt? Oder haben Müllringkämpfe das allseits beliebte Damenschlammcatchen abgelöst?“

„Sei nicht albern. Das Haus war leer.“ Wenn man von ihrer überreizten Fantasie absah. „Außerdem: Nenn mich nicht Jungfer.“

„Ich habe ja nicht alte Jungfer gesagt.“

„Junge trifft auch nicht zu.“

„Aber fast.“

„Jedenfalls ist das nichts, was ich hier und jetzt an der Haustür nach diesem gänzlich beschissenen Tag diskutieren will.“ Das hatte aggressiver geklungen, als sie das wollte, doch das Thema war eine noch nicht verheilte Wunde. Was sie für eine Liebe gehalten hatte, war eine Affäre gewesen. Vier Jahre war es her, und seither hatte Anne wenig Lust verspürt, sich der Materie ‘anderes Geschlecht’ wieder aktiv zuzuwenden. Sie hatte ohnehin keine Zeit dafür.

„Oh?“, Ev klang süffisant. „Also mein potenzielles, gänzlich unterdrücktes Sexualleben diskutierst du rücksichtslos zu jeder Zeit.“

„Dein, wie ich hoffe, noch nicht existentes Sexualleben.“

„Mein liebes Lesterschwein, ich bin geschlechtsreif.“

„Du bist sechzehn.“

„Eben.“

Anne stellte ihre Handtasche ab und hängte ihren Mantel auf. Die ihr aufgezwungene Mutterrolle passte selten so schlecht wie bei Diskussionen über das Erwachsenwerden, das Erwachsensein und was beides so an Rechten, Pflichten und Möglichkeiten mit sich brachte. Ev sah gemeinhin nur die Rechte und die Möglichkeiten. Anne war auf den Pflichten sitzengeblieben.

„Meine Güte! Mach doch, was du willst!“, murmelte sie angesäuert. „Bums mit wem du lustig bist, aber verhüte anständig und schütze dich richtig. Das Letzte, was ich jetzt noch brauche, wäre eine kleine quäkende Nichte oder ein kleiner brüllender Neffe. Mehr als jetzt kriege ich nämlich nicht mehr gebacken.“

Ev schniefte beleidigt. Sie wandte sich um und trollte sich ins Wohnzimmer. Anne folgte ihr.

„Und was ist jetzt mit Ömmi?“, fragte sie, schon um das Thema zu wechseln.

„Schläft.“ Wenn man sechzehn war, hatte man vermutlich ein Anrecht auf einsilbiges Beleidigtsein aus geringstem Anlass.

„Was hatte sie denn diesmal wieder?“

„Keine Ahnung.“

„Aber irgendwas musst du doch aus ihrem Verhalten geschlossen haben!“

„Vielleicht bin ich ja noch zu jung und dumm, um adäquate Schlüsse zu ziehen!“, gab Ev schnippisch zurück und griff nach der Fernbedienung. „Ganz sicher machst du das viel besser und erwachsener.“ Sie drückte auf einen Knopf, und laute Krimimusik erschallte vom alten Fernseher her. Irgendetwas explodierte langweilig vor sich hin. Ah, deutsche Serie, viel Benzin, wenig Logik. Sie schaltete wieder aus und vertiefte sich in ihr Smartphone. Auch von dort kam nun Krach und Musik.

„Du wirst sie noch aufwecken!“ Oma schlief im Erdgeschoss. Das alte Esszimmer diente ihr als Schlafzimmer. Dann musste sie nicht die Treppen rauf und runter.

Ev stellte leiser, ohne ihre Schwester eines Blickes zu würdigen.

„Ich hab’ dir ein Schnittchen hingestellt“, verkündigte sie nach einer Weile muffig. „Also iss es auch, sonst verhungerst du noch, und da bin ich dann ganz bestimmt auch wieder dran schuld.“

Wortlos holte Anne sich den Teller aus der Küche.

„Danke.“

„Bitte.“

Es war erstaunlich, wie viel verwundetes Ego und angesammelten Weltschmerz man in so ein einziges Wort packen konnte.

Anne hatte nichts von ihrem Erlebnis erzählen wollen, aber sie suchte nun doch nach irgendetwas zum Ablenken.

„Übrigens werde ich vermutlich gerade verrückt. Ich sehe Dinge, die nicht da sind“, erwähnte sie beiläufig. „Und vor lauter Schreck falle ich dann in den Müll.“

Ev sah sie an, kämpfte offenbar mit der Entscheidung, ob wohlplatziertes Desinteresse einem Gespräch zurzeit vorzuziehen war, doch die Neugier obsiegte.

„Wie?“, fragte sie. „Oder besser: was?“

Anne runzelte die Stirn. Ihr selbst war immer noch unklar, wie sie so hatte reagieren können. Sich Bilder auf der Wand einzubilden, die gar nicht da waren, war eine Sache. Diese Bilder laufen – oder doch immerhin sich bewegen – lernen zu lassen war eine andere.

„Nun sag schon!“, drängelte Ev.

„Also ich war im Keller, wo die Bauarbeiter noch nicht fertig sind und die Beleuchtung schlecht ist. Da an der Wand habe ich mit einem Mal ein Bild gesehen. Einen Mann mit langen blonden Haaren, der in einem Wald auf einem umgestürzten Baum saß. Im Schein ziemlich überdimensionierter Sterne. Sehr romantisch.“

„Aber da war kein Bild?“

„Nein. Als ich mich aus dem Müll wieder hochgerappelt hatte, war da nur unebene Wand. Die Schatten haben mir wohl einen Streich gespielt.“

„Sah er gut aus?“

Anne atmete tief durch. Ja. Er hatte gut ausgesehen. Er hatte ihre Seele berührt. Sein Blick hatte sie im tiefsten Inneren getroffen. Er hatte den Kopf gehoben und sie direkt angeblickt. Durch die Augen direkt ins … nur keinen Kitsch aufkommen lassen.

Denn natürlich war alles nur Einbildung. Sie arbeitete einfach zu viel. Wenn sich so was wiederholte, würde sie Dr. Marsch konsultieren.

„Schon“, meinte sie eisern gelassen. „Sah schon recht gut aus.“ Sie merkte, wie sie rot wurde, und schalt sich dafür, denn auch Ev hatte es gesehen.

„Oho!“, rief die und das Handy nun vollends weg, damit seine Verlockungen nicht weiter störten. „Du siehst gutaussehende Männer in Kellerschatten. Meine liebe Schwester. Vielleicht sollten wir uns doch mal über dein mangelhaftes Sexualleben unterhalten. Du hast ja schon Entzugserscheinungen.“

Anne seufzte.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass die gesamte weibliche Hälfte der Menschheit einiges von Männern hatte, aber nie Entzugserscheinungen. Das würde voraussetzen, sie wären eine Droge.“

„Nun, manche sind natürlich Schlaftabletten, aber andere …“, Ev grinste und suchte nach Worten, „… sind eben keine Schlaftabletten. Und da wäre da noch die Sache mit den Hormonen. Soll ich dir mein Biobuch holen, oder erinnerst du dich noch an deren Existenz?“

„Schon gut. Hormone sind nicht wegzuleugnen.“ Hormone waren einfach nur Mist. Am besten, man ignorierte sie vollends. „Es war nur …“, Anne konnte es doch nicht für sich behalten, „… es war so wirklich. Er saß da. Dann hob er den Kopf und sah mich an. Er hatte ganz dunkle Augen – was sehr seltsam aussah zu dem hellen Haar. Und geschwungene Augenbrauen. Ich glaube fast, er lächelte …“

„War er gut gebaut?“

„Soweit ich das sehen konnte, ja.“

„Wie weit konntest du denn sehen?“

„Ev! Also wirklich!“

„Erzähl mir nichts von ‘wirklich’. Du siehst schöne Männer an Kellerwänden. Vielleicht war es ja dein Traummann, der dir erschienen ist?“

„Ich glaube nicht an Traummänner.“

„Was hatte er denn an?“

Anne überlegte. „Lange Stiefel. Eine geschnürte Weste – Wams nennt man so was wohl. Und einen dunklen Umhang trug er.“

Ev explodierte in einem Kicheranfall und warf sich im Sessel zurück.

„Legolas!“, japste sie. „Meine so erwachsene Schwester, das menschliche Epizentrum pflichtbewusster Abgeklärtheit, träumt von Legolas! Du, ich habe noch ein uraltes Plakat von ihm, das können wir in deinem Zimmer aufhängen. Überm Bett. – Und da behauptest du immer, du wärst nicht romantisch.“

„Ich bin nicht …“

„Eins ist jedenfalls klar, Süße. Du brauchst einen Mann. Auch wenn Männer, die wie Legolas aussehen, vermutlich eher dünn gesät sind, sonst hätte ja jeder einen.“

„Legolas ist nicht mein Typ.“

„Aber meiner. Gib ihn mir, wenn du ihn wiedersiehst. Ich nehme ihn.“

Anne lächelte.

„Nun, um Kerle, die für zwei Sekunden in den Schatten einer Kellerwand auftauchen, brauchen wir uns zumindest nicht zu streiten. Ich schenk dir die Hälfte.“

„Vielen Dank. Schwesterlich geteilt. Ömmi wäre glücklich.“

„Das möchte ich bezweifeln.“

8

Anne wachte mitten in der Nacht auf, das Bild der Kellerwand vor den Augen. War da was? Ein Mann?

Da war nichts. Sie lag im Dunkeln in ihrem Bett und machte auch kein Licht an, als könnte man sie dabei ertappen, nachts von Fantasie-Männern zu träumen. Peinlich war das.

„Das ist ganz normal“, murmelte sie sich selbst zu. Sie war jung, und Ev hatte schon Recht, vermutlich fehlte etwas in ihrem Leben. Romantik, Abenteuer, Sex oder einfach nur die Zeit, gelegentlich durchzuatmen und irgendetwas völlig Sinnloses zu machen.

Die letzten drei Jahre hatten aus bloßer Pflichterfüllung bestanden. Der Tod der Eltern war hart gewesen. Von dem Verlust und der überwältigenden Traurigkeit und Panik abgesehen war schnell klar gewesen, dass irgendwer die Führung in der Familie übernehmen musste. Dies einer Instanz wie dem Jugendamt oder überhaupt irgendeinem dämlichen Amt zu überlassen, wäre Anne nie in den Sinn gekommen.

Am Anfang hatte es so ausgesehen, als könne Oma die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen, aber dann war auch sie krank geworden, und spätestens zu jener Zeit hatte sich herausgestellt, dass Optionen und Möglichkeiten etwas waren, das andere Leute hatten. Nicht so Anne. Es musste weitergehen, und sie war mit einem Mal zuständig.

Annes Entscheidungen schienen vorgeformt. Wollte sie die Familie, oder was davon übrig war, erhalten, so musste sie sich selbst drum kümmern.

So hatte sie ihr Studium, das sie gerade erst begonnen hatte, unterbrochen, um zumindest nicht auch noch finanziell völlig einzubrechen. Sicher, Deutschland war ein Sozialstaat, aber der Versuch, ihn in Anspruch zu nehmen, hatte sie in Formularen ertrinken lassen, die zu nichts – oder doch nur zu wenig – führten. Auf einmal wühlten wildfremde Menschen in ihrer aller Leben herum und wollten ihnen vorschreiben, wie und wo sie zu leben hatten oder dass sie ihr Haus verkaufen sollten.

Dann lieber arbeiten. Geld verdienen. Nicht studieren, Herrn A. ertragen. Das ging. Wenn es sein musste, ging alles.

Das Haus war das, was sie noch am meisten mit dem Leben vor dem Unglück verband. Sie würde es nie aufgeben. Auch Oma und Ev wollten das nicht. Oma nicht, weil es das Haus war, das sie und ihr Mann sich gebaut hatten, damals in den Fünfzigern, am Stadtrand – heute eine gute Wohngegend mit U-Bahn-Anschluss; Ev nicht, weil sie hier die Erinnerung an die Eltern noch spürte; sie war gegenwärtig in jedem Möbelstück, in jedem Teller und jedem Kochtopf. Dieses kleine, etwas abgewohnte Häuschen mit den engen Zimmern bot den Rahmen für die Fortexistenz eines Lebens, das sonst gänzlich am Leid auseinandergebrochen wäre. Es machte Ev, Oma und Anne zu einem Teil eines Ganzen und ließ sie nicht als versprengte Überbleibsel durchs Leben stolpern wie durch eine plötzliche Wüste.

Vor allem Ev brauchte Halt. Ev war ein ganz besonderer Mensch. Anne hatte das immer gewusst. Ihre kleine Schwester hatte weit mehr ‘drauf’ als ihre gleichaltrigen Freunde. Vielleicht hatte der Verlust sie geprägt. Vielleicht war aber auch ihre überdurchschnittliche Begabung Grund dafür, dass ihr ausufernder Geist mehr als alle anderen feste Rahmenbedingungen brauchte, um sich nicht in der Vielfalt des Chaos’ zu verlieren.

Anne war immer intelligent gewesen. Ev aber war ein Genie. Vielleicht hätte ihr eine Hochbegabtenschule gutgetan, doch Ev hatte in den letzten drei Jahren jede Neuerung in ihrem Leben wild entschlossen abgelehnt, klammerte sich eisern an den Status Quo.

Anne hatte begriffen, dass sie Teil davon war und bleiben musste, bis Ev so weit war.

Liebe würde ihr fehlen, hatte Ev gesagt. Aber Liebe fehlte Anne nicht. Hätte sie keine Liebe gekannt oder gefühlt, so hätte sie ihr Leben nach anderen Richtlinien eingeteilt. Liebe war mehr als nur gutaussehende Männer in schwarzen Umhängen. Liebe war auch, sich um die zu kümmern, die man liebte, und seine Wünsche entlang der kargen Möglichkeiten einzuteilen.

Obwohl Liebe zu Traummännern natürlich in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen war.

Wieder sah Anne das Bild an der Wand vor sich und atmete tief durch. Es hatte so gar nicht wie ein Bild gewirkt, keinesfalls zweidimensional. Eher wie ein Tor hatte es ausgesehen, ein Zugang zu etwas Fernem, Anderem, einer Welt mit Männern, die wie Legolas aussahen – obwohl das im Grunde nicht stimmte. Oberflächlich mochte eine Ähnlichkeit bestehen. Aber der Mann in der sepiafarbenen Nachtwelt hatte nichts von dessen elfenartiger Leichtigkeit. Fast felsenhaft hatte er gewirkt in seiner ruhigen Pose.

Je länger sie über ihn nachdachte, desto unklarer wurde ihre Erinnerung an ihn. Das war schon seltsam, denn obgleich sie keine Detailfülle erwartet hatte, schien er in ihren Gedanken regelrecht zu verblassen.

All das war ein Hinweis darauf, dass der Eindruck tatsächlich nur trog. Aus ihrer Müdigkeit und ihrer Situation hatte ihr eigener Sinn ihn geschaffen. Er war ein Produkt ihrer Fantasie, mehr nicht. Und weil sie ihn selbst erfunden hatte, konnte sie kein richtiges Bild von ihm speichern. Oder von seinem mondhellen Haar. Oder seinen schmalen Händen.

Ein lautes Rappeln im Erdgeschoss ließ sie hochschrecken. War da jemand? War Ev wach? Oder brauchte Oma etwas? Oma hatte allerdings eine Glocke neben dem Bett für Notfälle. Sie benutzte sie höchst selten, hasste es, ihren Enkelinnen mehr Arbeit zu machen als nötig.

Leise schwang sich Anne aus dem Bett und zog ihren abgewetzten Morgenmantel über. An der Zimmertür blieb sie stehen und zögerte. Wenn es nun Einbrecher waren? Ein Haus mit zwei jungen Frauen und einer alten Invalidin mochte sich als lohnendes Ziel für alle möglichen Widerlinge herumsprechen. Vielleicht streiften bereits irgendwelche Verbrecher durchs Haus, fanden Oma im Erdgeschoss, würden sie und Ev im ersten Stock finden.

Sie musste die Polizei anrufen. Wo war ihr Handy?

Unten natürlich, in ihrer Handtasche. Sie hatte es nach dem langen, erschöpfenden Abend nicht ausgepackt. Also was tun?

Sie ging an ihren Schrank und öffnete ihn leise. Wenn man jemandem eins mit einem Tennisschläger überbriet, mochte ihn das schon ein wenig entmutigen – vielleicht gerade lange genug, dass man Hilfe holen konnte?

Am liebsten hätte sich Anne im Schrank versteckt. Doch das hieße, Ev und Oma dem Schicksal überlassen, und war somit kein Ausweg. Und überhaupt hörte sie jetzt Evs Schlafzimmertür gehen. Länger konnte sie nicht warten, sonst stellte die kleine Schwester noch irgendetwas Blödes an.

Entschlossen trat sie aus dem Zimmer, den alten Schläger in der Hand. Ev lief gerade an ihrer Tür vorbei. Anne hielt sie am Arm fest und bedeutete ihr, ja kein Geräusch zu machen.

„Du bleibst hier oben. Ich gehe nachschauen!“, wisperte sie ihrer Schwester ins Ohr.

„Ich denke gar nicht daran“, wisperte die Schwester zurück. Sie hielt Excalibur in der Rechten, ein Zierschwert, bestellt aus einem Fantasy-Merchandising-Katalog, das normalerweise über ihrem Bett hing und als Waffe vermutlich in der Tauglichkeit gleich hinter einer Bratpfanne lag. „Ich lass dich doch nicht allein gehen!“

„Dann bleib erst mal zurück – als Notreserve. Wir müssen ja nicht gleich unsere gesamte Kampfstärke offenbaren. Das wäre ausgesprochen dämlich“, bat Anne, die wusste, dass jedes andere Argument verpuffen würde.

Tatsächlich blieb Ev stehen.

„Pass bloß auf!“, wisperte sie.

Wortlos schlüpfte Anne zur Treppe, den Tennisschläger fest umkrallt und zum Schlag erhoben. Von unten waren weitere Geräusche zu hören.

Trotz Nachthemd und Bademantel fühlte sie sich auf einmal sehr nackt. Was war, wenn das Männer waren, die vor nichts zurückschreckten? Was war, wenn es Perverse waren? Notgeile Widerlinge?

Nun, dann sollten sie wenigstens nicht bis in den ersten Stock kommen.

Auf nackten Füßen kroch sie die schmale Treppe hinunter, froh, dass der alte Teppich ihre Schritte dämpfte. Sie hatte ihn längst entsorgen wollen, aber hatte nie die Zeit dazu gehabt. Nun, alles hatte sein Gutes.

Klick. Klick. Pardauz. Irgendetwas war gefallen und zerschellt, vielleicht ein Blumentopf. Vermutlich im Wohnzimmer.

Leise schlich Anne weiter. Ihre Handtasche stand in der Küche, doch die Küchentür quietschte und würde ihr Kommen weithin anmelden.

Also noch ein paar Schritte zum Wohnzimmer. Von draußen fiel das Licht der Straßenbeleuchtung durch die Glasscheibe in der Eingangstür. Im Wohnzimmer würden ähnliche Lichtverhältnisse herrschen. Vielleicht konnte sie den Einbrecher austricksen, wenn sie unvermutet Licht machte und den Moment der Verwirrung ausnutzte, um sofort zuzuschlagen. Natürlich war das mit dem plötzlichen gleißenden Licht so eine Sache bei einer Energiesparlampe. Plötzliche unzureichende Funzeligkeit war eher zu erwarten.

Tennisschläger in die Rechte. Mit der Linken Licht machen. Losspringen und zuhauen.

Sie konzentrierte sich für einen Moment, ließ die Abfolge der Bewegungen vor ihrem geistigen Auge entstehen, fokussierte ihren Willen darauf, legte die Handlung fest, so dass sie nicht mehr erst darüber nachdenken musste, spannte sich an.

Los.

Sie flog beinahe, ihre Schritte wurden zu einer einzigen Bewegung, mit dem Schläger holte sie aus, es wurde hell.

„Oh Gott, nein!“, rief sie entsetzt..

9

Kerder war nicht mehr hungrig. Auch hatte er seinen Erfahrungshorizont erweitert. Die Meister des Rhonoradh sahen dies als eines der höchsten Ziele des Lebens. Leben war Lernen. Lernen schuf Wissen. Wissen war Macht. Jede kleine Information mochte ihre Berechtigung im Gefüge des unveränderlichen Ganzen haben und es erhalten.

Kerder wusste um viele Geheimnisse, die außer ihm nur noch wenige kannten. Er wusste sogar um Dinge, die außer ihm niemand mehr wusste, trug das Vermächtnis jener, die vor ihm davon gewusst hatten. Nach und nach würde immer wieder jemand kommen, um sie von ihm zu lernen und weiterzutragen – oder zu verlieren, indem er sie anwandte.

So war der Kreislauf der Rhonorai. Man lernte voneinander. Man lernte, solange man meinte, kein Meister zu sein. Denn den Meistern stand die Rolle des Schülers nicht mehr zu. Nur der war Meister, dessen Wissen dem anderer Meister nicht mehr nachstand. Und wer Meister war, der konnte nur noch in der Quelle von Rasfannim weitere Erleuchtung finden. Oder qualvollen Tod.

Es hatte etwas Ketzerisches, dies für ein nicht sonderlich ausgereiftes System zu halten. Es war, wie es war. Das war gut so. So musste es bleiben. Das war Teil seiner Aufgabe.

Immerhin hatte er, Rhonorai Kerder, heute etwas Neues erfahren: von allen widerlichen Speisen, die er auf seinen Scholarenfahrten je gezwungen gewesen war zu essen, war verbrannter Nachtwerb die bei weitem widerlichste. Das Fleisch schmeckte nach Aas und Tran und – der Heftigkeit der verbrauchten Weisheit entsprechend – nach Kohle. Letztere Beigabe würde immerhin dafür sorgen, dass er von dem Fleisch keinen Durchfall bekam.

Doch war es ein nahrhaftes Mahl gewesen, und Kerder hatte wenig Zeit gehabt, diese Reise provianttechnisch vorzubereiten, denn das Wissen, dass er losmusste und in welche Richtung, hatte ihn unvermittelt erreicht. Er war nicht gewillt, seine Weisheiten für den Erwerb von Butterbroten hinzugeben, und so war der Nachtwerbbraten etwas, das er mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Widerwillen betrachtete.

„Werte Vorgänger“, beendete er sein Mahl mit den traditionellen Worten. „Habt Dank, dass ihr mir das Wissen gegeben habt, das mich in der Nacht erhält. Habt Dank, dass ihr selbst das Wissen erfahren habt, das uns Tag und Nacht bestehen lässt, auf dass wir unser Wissen weitergeben, damit es erhalten bleibt, wie alles stets erhalten bleiben muss.“

Ein Knurren und Fauchen war von nicht allzu weit zu hören. Natürlich. Der Geruch des toten Vogels lockte allerlei Getier herbei. Nichts davon mochte freundlich gesinnt sein. Hier in der nächtlichen Wüste waren die Kreaturen hungrig. Da im kargen Sand so gut wie nichts wuchs, war nicht anzunehmen, dass es sich um liebenswürdige Pflanzenfresser handeln würde.

Er seufzte still. Auf einen weiteren Kampf hatte er wenig Lust. Von ihm aus konnten die Leonen und Sygillanten sich den Nachtwerb teilen. Solange sie nicht ihn selbst als Nachtisch in Betracht zogen, war ihm das allemal recht.

Doch dessen konnte er sich keinesfalls sicher sein. Leonen waren goldfarbene Katzenbestien von ungeheurer Größe. Es waren Tagtiere, die nun, da die Langnacht bereits eine Weile angebrochen war, zunehmend hungriger wurden und schließlich sterben würden. Doch bis dahin jagten sie alles, was das Unvermeidliche hinauszuschieben vermochte.

Sygillanten freilich waren ihm noch weitaus unsympathischer. Eine brusthohe Variante der Skorpione waren sie und erstanden mit dem Ende der hellen Tage wie aus dem Nichts. Keine Weisheit erhellte das Geheimnis, woher sie mit Herabsinken der langen Dunkelheit plötzlich kamen. Sie waren einfach da, hungrig, giftig und in Rudeln versammelt.

Tatsächlich war es höchste Zeit weiterzufliegen. Er hatte nicht vorgehabt, hier in der Wüste zu landen. Auch eine Pause war nicht vorgesehen gewesen, nicht bevor er Meister Atsurias’ Turm erreicht hatte. Dessen Rat wollte Kerder nicht missen, war der alte Mann doch einer seiner Lehrmeister gewesen, und Kerder verdankte ihm so manche Weisheit, die er in seinem Amulett gesammelt hatte, auch die des Feuerarms, der den Nachtwerb zur Strecke gebracht hatte.

Die Geräusche hinter den Dünen wurden lauter. Es war Zeit, sich davonzumachen. Er breitete seine Flügel aus.

Ein stechender Schmerz fuhr ihm vom äußeren Schwingenknochen in die Schulter.

Im Hochgefühl des Sieges hatte er seine Blessur beinahe vergessen. Doch er hatte sich nicht nur ein wenig den Flügel zerschrammt, er hatte sich das Gleitwerk gebrochen.

Das war – schlecht.

Es war sogar sehr schlecht, wenn man die näherkommenden Geräusche in Betracht zog, auch wenn es sich derzeit so anhörte, als ob die hungrige Meute sich ihre Beute zunächst untereinander suchte. Das konnte freilich nur einen kurzen Aufschub bedeuten.

Heilen war eine mindere Weisheit. Sie regenerierte sich vielmals, ehe sie aus dem Wissen eines Meisters verschwand. Dennoch haderte Kerder mit der Erkenntnis, dass er sie hier und jetzt anwenden musste, noch bevor er auf den Feind traf. Wenn seine Aufgabe so weiterging, würde ihm am Ende nur noch die Quelle von Rasfannim bleiben, um seine Weisheiten zurückzuerlangen, und selbst für Rasfannim musste man genug Wissen aufweisen, um es überhaupt zu finden und nicht an einem Schluck Erkenntnis zu sterben.

Wieder unterdrückte Kerder einen Fluch. Er konzentrierte sich, versuchte die Laute, die jenseits der Düne näherkamen, zu ignorieren. Seine Gedanken liefen vom Amulett hinaus in seine Gliedmaßen, hin zu seinen Flügeln. Dort stockten sie an der Stelle, an der der Knochen im falschen Winkel stand und ihm lähmenden Schmerz ins Gemüt sandte. Wie Feuer schlug Energie durch das Gewebe, und Kerder schrie, seine raue, tiefe Stimme goss sich in die Finsternis.

Einen Augenblick lang war es daraufhin totenstill. Jenseits der Düne formierten sich die Bankettanwärter schweigend. Offenbar hatten sie seinen Schrei als Einladung zum Diner aufgefasst.

Asche staubte aus Kerders Amulett. Er selbst war auf die Knie gesunken. Immerhin war er jetzt teilweise geheilt. Irgendwann würde er schlafen müssen. Der Sand sah weich aus und einladend. Ein kleines Schläfchen würde ihn erquicken.

Man musste schon sehr erschöpft sein, um so zu denken. Oder es war doch etwas Wahres an der Sage, dass Sygillanten einem das Gefühl von Sicherheit vorgaukeln konnten, bis ihre mannshohen Hinterstacheln einen erreichten.

Wenn dem so war, dann sollte er sich besser beeilen, denn wenn sie ihn schon beeinflussten, dann wollten sie mehr als Brathähnchen.

Vorsichtig prüfte er die Beweglichkeit seiner Lederschwinge. Ein wenig steif war sie noch. Vielleicht sollte er ihr noch etwas Zeit gönnen, sich zu erholen. Und vielleicht sollte er sich dazu in den Sand setzen und ausruhen. Ruhe mochte den Heilungsprozess fördern. Er war sehr müde. Nicht einmal umdrehen mochte er sich, um nachzusehen, was hinter ihm sein mochte. Nein, dazu gab es keine Veranlassung. Es war ganz ruhig. Alles war gut.

Der Sand stob auf, als er senkrecht in die Luft sprang und wild entschlossen mit den Flügeln schlug, dass sie knallten wie nasses Leder. Hinauf und hinauf kämpfte er sich gegen Müdigkeit, Schmerz und Schwerkraft.

Unter ihm krabbelten die Sygillanten zischend an der Stelle herum, an der er sich eben noch hatte zur Ruhe begeben wollen.

Beinahe hatten sie ihn gehabt.

Dann hätten die Gerechten jetzt schon gewonnen.

10

Fast. Fast war es ihm gelungen. Das Misslingen war zunächst frustrierend, doch dann versuchte Lesmoyan, es von einer anderen Seite zu sehen. Ein Versuch war es gewesen. Und als Versuch war es geglückt, denn es hatte aufgezeigt, dass es grundsätzlich möglich war. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war soweit. Das Ziel war längst festgelegt.

Niemand wusste genau, was die Struktur der Welt gelegentlich anders werden ließ und ihre Grenzen brüchig machte. Doch das Warum herauszufinden, war nicht seine Aufgabe. Er hätte allzu viel Zeit investieren müssen, und Zeit war ein kostbares und knappes Gut – immerdar und ganz besonders jetzt. Die Rhonorai ließen nicht freiwillig von ihrer Macht ab. Was immer das Gefüge geändert hatte, irgendeiner seiner Feinde arbeitete sicher bereits wieder daran, die Welt in dem Zustand verharren zu lassen, der den Rhonorai genehm war, oder war vermutlich schon auf dem Weg zu ihm.

Doch Lesmoyan war ein Gerechter, so wie seine Mutter eine Gerechte gewesen war. Dasselbe Blut floss in seinen Adern, und er war sich seiner angestammten Rechte und Anlagen bewusst. Er war begnadet.

Schön war das Mädchen gewesen. Feingliedrig und lieblich auf eine scheue Art und Weise. Sie hatte ihn gesehen. Das hieß, die Verbindung war in beide Richtungen erfolgt – zumindest für kurze Zeit. Es würde viel Energie nötig sein, um die Verbindung aufrecht zu erhalten und sie vor Entdeckung zu schützen, denn es ging ihm nicht primär um einen Ortswechsel in eine andere Welt. Es ging ihm um die Möglichkeit der Veränderung dieser, seiner Welt.

Dazu brauchte er Hilfe. Ein wenig schade wäre es freilich schon um sie. Vielleicht würde er noch jemand anderen dafür finden.

Smaragdaugen hatte sie gehabt, rund, groß und voller Überraschung. Sie hatte sich erschrocken, hatte gescheut wie ein Tier, war gestürzt. Doch selbst in dem kurzen Blick, den sie sich gegenseitig geschenkt hatten, hatte er gesehen, dass er ihr gefallen hatte.

Angst hatte sie trotzdem verspürt. Die Menschen aus dem Drüben wussten meist nichts um die Möglichkeiten paralleler Existenz, nichts vom Wettbewerb der Sphären und Zeiten. Sie wussten wenig, und ihr Streben war nach dem physisch Fassbaren ausgerichtet, während sie das Nichtfassliche zur Religion erhoben, einem Konzept, das Lesmoyan nie verstanden hatte. Sie orientierten ihr Dasein entlang simpler physikalischer Gesetzmäßigkeiten, als wären diese alles, was es an Bandbreite der Wirklichkeit gab.

Das eigentliche Problem war, dass ihre Sinne nicht ausgereift waren, außer dem für punktuelle Realität.

Doch das tat nichts zur Sache. Er wusste, was er wollte, und war beinahe sicher, es bereits gefunden zu haben. Sie würde wiederkommen, und vielleicht wäre sie dann nicht allein. Das wäre noch besser.

Wie sie wohl hieß?

Das Drüben hatte schöne Mädchen, das wusste er bereits. Viele davon. Jene Welt war voller Menschen. Sie traten sich beinahe auf die Füße, so eng gedrängt lebten sie. Eine Welt wie ein gewaltiger Bienenkorb. Lauter fleißige, herumkrabbelnde Wesen voller Tatendrang und Ehrgeiz. Sie mussten vermutlich so emsig und eifrig sein, bedachte man ihre Lebensspanne. Kurzlebig waren sie.

Vielleicht lief auch ihre Zeit in anderen Bahnen? Wie auf einer sich drehenden Scheibe mochten sie nah am Zentrum um das Leben wirbeln und nur kurze Strecken zurücklegen, während er selbst außen unterwegs war, lange Wege durchmaß und doch letztlich nicht schneller um den Mittelpunkt des Seins kreiste als die Nachbarn weiter innen.

Diese Menschen nannten die Vergangenheit Geschichte, geradeso als würde das, was vor ihnen geschehen war, nichts sein als eine Erzählung am Lagerfeuer. Doch Wissen war keine Legende, auch wenn hier im Hüben oft nichts anderes davon übriggeblieben war.

Lesmoyan stand auf. Es kam ihm vor, als hätte er eine Ewigkeit dagesessen und sich nicht bewegt. Das Wimmeln und Wuseln war die Art der Menschen vom Drüben. Hier verstand man es zu warten und langfristig zu planen. Zeit war schließlich in großer Menge vorhanden.

Der Mond war nur als roter Umriss wahrzunehmen und würde kaum sichtbar weiter über den Langnachthimmel wandern. Hunderttausende von Stunden harrte die Welt in Dunkelheit aus, während der vierundzwanzigstündige Tag- und Nachtwechsel nur minimal das Dunkel einmal intensiver und einmal weniger intensiv machte. Der massive Wechsel von Tag und Nacht war auch etwas, das es in der langen Nacht nur im Drüben gab. Der schnelle Wandel mochte daran schuld sein, dass alles dort so ungeheuer eilig ablief, und jene aus dem Drüben mochten wiederum schuld daran sein, dass seine Welt so war, wie sie war.

Wenn sich hier die Tage zur Langnacht neigten, mochte eine neue Generation geboren und herangewachsen sein, die vor Angst schrie, wenn es dunkel wurde, denn die Bedeutung des Wortes “dunkel“ war ihnen bislang nicht so schrecklich klar gewesen.

Dies war seine dritte lange Nacht. Er war nicht mehr jung. Doch im Vergleich zu vielen anderen Gerechten war er auch nicht alt. Dennoch gab es Gründe, ihn erfahren zu nennen.

Das war gut, denn diese Erfahrung würde er brauchen. Er hatte nicht vor, noch einmal zu scheitern. Diesmal würde er vorsichtiger sein. Und schneller.

Er breitete seine Arme seitlich aus und drehte sich um die eigene Achse. Der Boden in einem Kreis vor ihm war dunkel, verdorrt, verwelkt, zerfallen zu Staub. Mit ihm die Pflanzen und Tiere, die dort tot gelegen hatten, bar ihrer Energie, die er benötigt hatte, um den Durchbruch zu wagen. Eine andere Ressource hatte er im Moment nicht. Sie war nicht gekommen. Und ohne diese Zusatzenergie mochte man die Unwesen des Dazwischen auf sich aufmerksam machen.

Der Geruch nach Tod verging.

Alles hatte seinen Preis. Niederes Leben erneuerte sich ständig, auch in der Langnacht. Doch jetzt musste er sich einen neuen Platz suchen, wo er sein Unterfangen erneut beginnen konnte.

Während er davonging, zerstob der Nachtwind seine Spuren. Nur ein schwarzer Kreis blieb vor einem brüchigen Baumstamm wie die alte Spur eines großen, abgebrannten Feuers.

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Ev war natürlich heruntergerannt gekommen, als Anne geschrien hatte. Objektiv gesehen war das dumm gewesen. Doch Anne war dennoch dankbar. Es hatte ihr geholfen, sich schnell wieder zusammenzureißen.

Wie ein Reflex war das: die kleine Schwester war da, man musste stark und ruhig sein. Oder wenigstens so tun. Die letzten drei Jahre waren eine gute Schule gewesen, die Rolle des Felsens in der Brandung zu verinnerlichen. Nur keine Hysterie zeigen!

Jetzt saßen Ev, Anne und Oma um den Küchentisch.

Oma, die Anne beinahe erschlagen hatte.

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte Anne nicht zum ersten Mal.