Weltenflimmern - Rief Sumpfmann - E-Book

Weltenflimmern E-Book

Rief Sumpfmann

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Beschreibung

Gald Gerawinth sucht verdeckt nach Verrätern. Die Söldner der Saeghir werden von ihren eigenen Leuten hintergangen. Durch einen Zwischenfall wird Gald in die Intrigen seiner Gefährtin Faenne verwickelt und gerät bei Nachforschungen ins Visier einer Räuberbande, die ihr nachstellt. Ein seltsames Geheimnis umgibt seine Freundin, das für ihn schnell zur lebensgefährlichen Bedrohung wird. Dem Späher werden Verbrechen angehängt, die er nicht begangen hat. Kämpfer mit Masken verfolgen ihn. Bald interessieren sich sogar Königsdiener für das Geschehen. Plötzlich steckt Gald zwischen mehreren Fronten. Er kämpft um sein Leben, während sich der Kontinent Riun auf eine zuvor undenkbare Weise verändert.

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Seitenzahl: 569

Veröffentlichungsjahr: 2024

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WELTENFLIMMERN

Rief Sumpfmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors

Die automatisierte Analyse des Werkes zur Sammlung von Informationen über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) ist untersagt.

Lektorat, Korrektorat: Miriam Hein

Coverbild: Alex-Prado via Pixabay

Coverschriftarten: Cinzel, Cinzel Decorative, Charis SIL

Impressum (Bitte nur Briefe):

Rief Sumpfmann, c/o RA Matutis, Berliner Straße 57, 14467 Potsdam

Verlag & Druck: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-384-35417-4

ISBN E-Book: 978-3-384-35419-8

Copyright © 2024 Rief Sumpfmann

Alle Rechte vorbehalten

www.sumpfmann.de

Für alle Belletristicans, die Weltenflimmern in seiner Erstform entdeckten und trotzdem mochten.

Inhalt

1. Verräter

2. Zweifel und Bier

3. Faenne

4. Abreise

5. Kessel und Kreuz

6. Die Scheune

7. Heilung und Walsatta

8. Zwillinge

9. Falkenreich

10. Heimwärts

11. Vanti

12. Bettgeschichten

13. Fingerkuppen

14. Tenifälle

15. Das Ende

16. Der Anfang

17. Dürrekinder

18. Südwind

19. Lug und Trug

20. Schlafgemach

21. Abgang

22. Herrenhaus

23. Einweihung

24. Jhotans Faust

25. Ehrendame Kalie

26. Doppelter Verlust

27. Dürrekind

28. Licht

29. Nachwirkungen

30. Farlfallas

31. Gebratener Speck

32. Seide und Henker

33. Goldener Kranich

34. Verwalter Pirser

35. Im Nest des Falken

36. Weißer Faden

37. Zwiekscher Raum

38. Ynglot

39. Fernes Lied

40. Trotzgeist I

41. Trotzgeist II

42. Taumel

43. Hohles Versprechen

44. Der Wildhund

45. Fackelgespräch

46. Saubere Stacheln

47. Tauschgeschäft

48. Kornfelder

49. Die Pferdefrage

50. Säulen

51. Tiefendiener

52. Ruhe und Rummel

53. Spiegelbild

54. Eiserne Geschäfte

55. Grüner Himmel

56. See und Seelen

57. Steinkugel

58. Regen

Kapitel1

Verräter

Verräter waren sie, allesamt. Zwischen hohen Eichen und Schwarzdornbüschen brannte ein Lagerfeuer, in dessen Schein ein Dutzend dreckige Söldner saßen. Verborgen vor neugierigen Blicken blutrünstiger Klingen wähnten sie sich in Sicherheit und hegten Hoffnung auf ein neues Leben.

»Wenn du noch einmal ins Dickicht kriechst, verpass ich dir eine!«, drohte Rando und fuchtelte mit dem Kochlöffel in Richtung eines Söldners. »Oder glaubst du etwa, dass die sich durch das Gebüsch anschleichen? Hier werden sie uns nicht in den Rücken fallen. Also halt’ gefälligst die Füße still!« Er steckte den Löffel wieder in den Topf und rührte weiter in dem blubbernden Gemisch aus Pilzen, Möhren und roten Zwiebeln.

Der dunkelbärtige Solek setzte sich murrend auf den umgestürzten Baum, von dem er sich bereits zum dritten Mal erhoben hatte, um im Unterholz nach Verfolgern Ausschau zu halten.

Rando sah über die Schulter. »Myren! Komm! Futter!«

»Endlich!« Zwischen Bäumen und brusthohem Gebüsch trat eine blondgelockte Kämpferin hervor. Sie lächelte. »Mir tun schon die Füße weh.«

Myren lehnte ihren ausladenden Schild gegen einen Baum und setzte sich neben mich. Mit rauer Hand klopfte sie auf mein Knie. »Na, Späher? Hoffentlich hat Rando die Suppe nicht verdorben. Sein Gemecker hört man sogar beim Wache halten.«

Ich nahm einen kräftigen Schluck Bier aus einem schmucklosen Holzbecher. »Vielleicht ist er einfach nervös. Ehrlich gesagt verstehe ich Solek. Saeghrische Klingen sind gnadenlos.«

Myren schnaufte belustigt. »Du meinst, Rando hat Schiss?«

»Wenigstens ein paar berechtigte Befürchtungen. Es gibt einige echt fiese Sadisten unter ihnen.«

»Gald! Hör auf, den Leuten hier Angst einzujagen! Und was ist eigentlich euer aller Problem? Ihr habt euch bei mir gemeldet, weil ihr es satthabt, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, und jetzt bekommt ihr kalte Füße?« Rando fuhr mit einem Finger in Richtung der Dutzend Söldner. »Als ihr euch über Mallets Untätigkeit ausgelassen habt, gab es keine Bedenken wegen ein paar Klingen. Aber jetzt, im tiefsten Santeniwald, überkommen euch Zweifel? Ja, vielleicht treiben sich hier Räuber herum. Na und?« Er reckte seinen Stiernacken und grinste widerwärtig. »Sollen sie es doch wagen. Die kommen höchstens in den nächsten Eintopf!«

Die Hälfte der Söldner brach in Gelächter aus.

Aus einem kleinen Beutel streute der vollbärtige Hüne eine Prise seiner berenzianischen Gewürzmischung in die Suppe und rührte noch einmal schwungvoll um. Er machte sich daran, das Mahl in Holzschüsseln zu schöpfen.

»Mir geht es nur darum, dass uns keiner überrascht, verstehst du? Wenn ich jemanden sehe, kann ich euch wenigstens alarmieren und ...«

»Dein Gewusel geht mir aber auf den Sack!«, unterbrach Rando Solek. »Weißt du nicht mehr, wie tief wir in den Wald geritten sind? Hast du dir die Erinnerung daran schon weggesoffen? Versuche, dir doch wenigstens vorzustellen, dass es für ein paar Klingen Wochen dauert, das gesamte Dickicht abzusuchen. Geht das nicht in deinen Schädel?«

Solek schwieg.

»Wie viele Klingen wird Mallet auf uns hetzen? Eine Einheit? Vielleicht zwei? Mehr kann er sich doch gar nicht leisten, von anderen Aufträgen abzuziehen. Und die müssen uns erst einmal finden.« Der Hüne rieb mit einer Hand durch sein Gesicht und brummte. Er steckte einen Löffel in die Holzschüssel und reichte sie an den besorgten Söldner weiter. »Hier, das bringt dich hoffentlich auf andere Gedanken.«

Solek pustete, nippte, lächelte.

Rando nickte zufrieden. »Siehste? Alles wird gut.«

Der Koch versorgte jeden in der Bande mit Eintopf und etwas Brot. Für einige Momente kehrte gefräßige Stille ein.

Einen Steinwurf entfernt plätscherte ein Bach unter langen Armen aus Farn hindurch und verlor sich in einem Meer aus Sauerdorn und Brombeersträuchern. Immer wieder spielte ich den Weg in meinem Kopf durch, wollte mir die wichtigsten Merkmale des Lagers einprägen. In den Santeniwald, weit nach Süden bis zur zerstörten Zollburg, deren Namen niemand mehr kannte, und dann nach Osten, den Bachlauf entlang, bis ... ja, bis man das undisziplinierte Gelärme der ehemaligen Saeghir hören konnte.

Myren stupste mich kauend mit dem Knie an. »Haste schon Pläne, was du tun wirst, wenn sie uns nicht mehr suchen?«

Ich ließ den Löffel in die Schüssel sinken. Um Zeit zu gewinnen, band ich meine Haare zu einem losen Zopf zusammen. »Werde wahrscheinlich Rando folgen. Sein Plan ist brauchbar, denke ich. Und ich unterstütze seine Ansichten. Außerdem kann er ja kaum einen Schritt tun, ohne Vögel aufzuscheuchen.«

Myren lachte dreckig auf. »Gut so. Schadet nicht, wenn man einen Späher hat, der Verfolger bemerkt. Kann mir schon denken, warum du nicht in einer sterbenden Burg versauern willst. Wahrscheinlich treibt es dich in die Wildnis, was?«

Ich nickte. »Mallets dauerndes Gemecker und die Soldkürzungen gehen mir gehörig auf die Nerven. Wenn er nicht dazu fähig ist, uns lohnenswerte Aufträge auszuhandeln, dann müssen wir uns eben selbst darum kümmern. Ist ja nicht so, als hätten wir nicht das Zeug dazu. Wir waren schließlich Saeghir.«

»Recht hat der Mann! Hört ihm zu!« Rando fuhr mit seinem Löffel in Richtung der schmatzenden, murmelnden Söldner. Sicher war ihr Interesse am Eintopf größer als an irgendeiner Ansprache, doch sie gehorchten.

Die Gespräche verstummten. Eine Menge müder Gesichter sahen mich an. Ein Funke sprengte aus dem Feuer. Ich schluckte.

Eigentlich war die Rede für später vorgesehen, wenn alle mindestens angetrunken waren. »Also, wenn ihr mich fragt, dann sollten wir nach Berenzim gehen«, begann ich und hob sofort beschwichtigend eine Hand. »Und bevor ihr mich jetzt aufknüpfen wollt, hört mir zu. Viele von euch wollen sicher nicht in ehemaliges Feindesland vordringen, aber da drüben bleibt kein Stein auf dem anderen, seit sie in Sandranna die halbe Stadt gesperrt haben. Vielleicht habt ihr auch von der roten Seuche gehört, die das Volk dahinrafft, wie ein Sturm Korn knickt. Vielleicht habt ihr auch gehört, dass Händler die Pest angeblich eingeschleppt haben, indem sie dort Ratten aus Nakai freigelassen haben. Absichtlich. Doch schlimmer als all das ist der verbrannte Kessel im Herzen Flemerims. Der Landstrich ist nur noch eine Wüste und die breitet sich aus. Das Ribeltrumpfer Hinterland ist völlig vertrocknet und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Aschewüste auch dorthin ausbreitet. Wollt ihr wirklich in Nachbarschaft eines solchen Ortes leben? Wer weiß schon, was dort noch passiert und wann es die Grausichelebene erwischt und letztlich auch den Santeniwald? Es ist Zeit, von hier zu verschwinden. Wir gehen einfach nach Berenzim. Und wenn es uns dort zu heiß wird, reisen wir nach Verenir weiter!«

Ein Raunen ging um das Lagerfeuer. Einige nickten sich zu, andere verengten kritisch die Augen. Um die überwiegend erfundenen Worte wirken zu lassen, legte ich eine Pause ein und stellte die Holzschüssel in den Klee. »Wir überqueren einfach das Grenzgebiet und machen uns in Berenzim einen Namen. Muss ja keiner wissen, dass wir einst Saeghir waren. Die Saeghir werden auch kaum in Berenzim einfallen, nur um uns zu finden. Wenn wir uns um die Rattenhändler kümmern, dann finden wir schon irgendwo eine erste Absteige. Wieder klein anzufangen ist eben der Preis für Freiheit.«

Ich sah in die ernst gewordenen Gesichter der Söldner und nickte mit dem Kinn zu Rando. »Wenn unser verehrter Rando keine Einwände hat, werde ich mir morgen früh ein Pferd schnappen und den Grenzübergang ausspähen. So weit ist es nicht.«

Rando verschränkte die Arme. Stirnrunzelnd starrte er einen Moment lang in die Flammen, rieb über sein Kinn und ließ den Blick über seine Söldner schweifen. »Da ich nicht in Mallets saure Fußstapfen treten will, frage ich euch: Ist es das, was ihr wollt? Sollen euch Freiheit und Kampfeswille nach Osten über die Grenze führen?«

Gemurmel breitete sich aus. Einige runzelten die Stirn und ließen die Mundwinkel hängen. Andere nickten, gestikulierten, ballten Fäuste. Die meisten Söldner schienen vom neuen Leben in Berenzim angetan.

»Klingt nach einem Plan«, fand Myren, woraufhin sie lautstarke Zustimmung von ihren Mitstreitern erhielt.

»Ich begleite dich«, erwiderte Lassid, der Verenier. Ein grober Kerl in Kettenpanzer, mit eingefallenen Augen und dreckigem, faltigem Gesicht. Er erhob sich, eine Faust in der Hand vergrabend.

Rando nickte. »Dann geht ihr zu zweit!«

Mir wurde schlagartig heiß. »Nein, Rando, werden wir nicht. Lassid ist ein guter Kerl und ein verlässlicher Kamerad. Aber ich kann einen Kämpfer an der Grenze nicht gebrauchen. Er ist kein Späher und ich hab’ keine Zeit, ihn nebenbei auszubilden, wenn ich bis nach Berenzim spucken kann. Mit seinen dicken Stiefeln stampft er auf jeden Ast und seine rasselnde Rüstung hört man bis nach Amaran. Bedenke, dass keiner von uns die Gegend so gut kennt wie ich. Letztlich wollen wir alle noch lange leben und den Zorn der Saeghir meiden.«

Rando sah prüfend erst mich, dann Lassid an. »Er hat recht. Setz dich hin, Sid.«

»Aber Rando, ich ...«

»Setz dich hin! Gald wird alleine zur Grenze reisen und uns ein Schlupfloch suchen.«

Der Verenier sah mich noch einen Moment lang an, trat von einem Fuß auf den anderen und setzte sich schließlich wieder.

Rando nickte mir zu. »Wir zählen auf dich.«

»Ich werde morgen früh aufbrechen. Länger als zwei Tage sollte ich nicht fort sein.«

Wir redeten über alte Zeiten, bis es kühl wurde und der Mond zwischen den Baumkronen zu sehen war. Das letzte Bier zum Abschied. Ein heimlicher Abschied. So unehrlich wie die Verräter selbst.

Zu lange lag ich in der Nacht wach und starrte in den Sternenhimmel. Meine innere Aufregung war auch nach so vielen Aufträgen groß. Egal ob es die Winger-Brüder, die Mordäxte oder die Bande im Santeniwald waren. Immerwährende Bedenken, doch entlarvt zu werden, lähmten Schlaf und Traum. Verräter anzulügen fiel mir nicht schwer. Doch einige von ihnen waren Freunde gewesen. Immer wieder stellte ich mir die Frage, ob ich Freunde verraten sollte, die zwar nicht mich, aber die Saeghir hintergingen. Auch in dieser Nacht fand ich darauf keine Antwort.

Vor Sonnenaufgang schob ich die Farne beiseite und drückte mir kaltes Wasser aus dem Bach ins Gesicht. All die Gespräche und Erinnerungen vom Vorabend waren nichts mehr wert, flossen zusammen mit dem Dreck von meinen Wangen den Bachlauf entlang. Ich sattelte mein Pferd, tätschelte den Stutenhals, frühstückte einige Happen vom kalten Waldgemüseeintopf und packte etwas Brot ein. Ich täuschte Rando einen brüderlichen Abschied vor, umarmte ihn und klopfte seine Schulter.

Nachdem ich die Senke hinter mir gelassen hatte, trieb ich das Pferd in den Galopp, denn die Zeit war meine Gegenspielerin. Eine schnelle Rückkehr zur Burg Malt Fallon sollte den saeghrischen Klingen mehr Zeit zur Vorbereitung verschaffen.

Sommerhitze heizte Land und Pferd auf. Kühlender Wind zerzauste meine Haare, ließ sie durcheinanderwirbeln und kämmte durch die Pferdemähne. Die Stute stieß ihre Hufe in staubige Feldwege sowie abseits gelegenes, kniehohes Grasland. Ich lenkte das Tier gen Westen in Richtung Grausichelebene, vorbei an Feldern, Höfen und über eine Holzbrücke, die über einen Arm der Wissel führte, einen der beiden großen Flüsse Flemerims. Am Horizont war der Hohe Haken, der gigantische Burgfried der Burg Malt Fallon, zu sehen. Angeblich konnte man den Turm von jedem Punkt der Ebene aus erkennen, so hoch war er. Ob man entlang der Seen, der spärlichen Baumgruppen oder den Füßen der Hügel reiste, stets ragte in der Ferne der Haken wie eine Nadel aus der Erde.

Am späten Nachmittag erreichte ich das Dorf Mehe, welches im Schatten der Burgmauern die Sicherheit der Söldnerschaft genoss. Viele Hütten mit schiefen Türen und einige stabilere Häuser aus Stein reihten sich scheinbar wahllos in Grüppchen am Wegesrand auf. Überwiegend zugezogene Auftragshandwerker mit ihren Familien sowie Tagelöhner, die sich um tägliche Aufgaben in der Burg oder im Umland kümmerten, fanden in Mehe ein Zuhause.

Das Pferd überquerte den dörfischen Wehrgraben auf einer Holzbrücke und bahnte sich den Weg hinauf zum Burgtor, vorbei an spielenden Kindern, Hühnerställen, aufgeheizten Schmieden und einer Spelunke, deren Namen ich nicht einmal kannte. Unter hölzernem Hufgeklapper überquerte die Stute die Zugbrücke, welche über dem staubtrockenen Burggraben ruhte. Vor dem Stall stieg ich vom Pferd, drückte die Zügel einem Stallmädchen in die Hände und steuerte mit schnellen Schritten auf den Turm zu, der sich auf der anderen Seite des Burghofs drohend in den Himmel erhob.

Mein Weg führte vorbei an Wachen, um Karren diskutierender Händler herum und an einer Kutsche entlang. Beinahe wäre ich mit dem Burgschreier zusammengestoßen, der gerade Luft holte, um Neuigkeiten zu verkünden. Einige Steinstufen trennten mich noch vom gepflasterten Vorplatz des Turms. Schatten der Burgmauer fielen in den leergefegten Kreis, der keine Besucher erlaubte. Lediglich den Saeghir war der Zutritt gestattet. Auf der anderen Seite des kreisrunden Hofes, am Eingang zum Turm, standen zwei Wachen der Hakengarde, eine von Mallet handverlesene Einheit, die sich ausschließlich um die Absicherung des Hohen Hakens kümmerte.

Als ich nur noch wenige Schritte von der eisenbeschlagenen Eingangstür entfernt war, schoben sich vor mir zwei Hellebarden überkreuz. Heller Stoff verdeckte die schweren Rüstungen der Wachen.

»Steh!«, rief die Linke.

Ich gehorchte.

»Sprich!«, rief die Rechte.

»Ich bin Saeghir Gerawinth und möchte mit Saeghir Mallet sprechen.«

»Enthülle dein Zeichen!«, forderte die Rechte.

Ich krempelte meinen rechten Ärmel bis zum Ellenbogen hinauf und zeigte meine Tätowierung: ein Fernrohr. Das Zeichen der Späher.

Die linke Hakengardistin stiefelte einige Schritte auf mich zu, blieb vor mir, doch seitlich etwas versetzt, stehen und sagte ruhig: »Nenne die Losung.«

Ich nannte die Losung.

Sie drehte sich um und rief: »Ihr dürft passieren!«

Ich passierte.

Zischendes Fackellicht erhellte die steinernen Gänge des Turms. Eine lange, dürftig ausgeleuchtete Treppe schraubte sich empor, unterbrochen von unzähligen Stockwerken. Ständig liefen mir Hakengardisten über den Weg, die nach meiner Tätowierung verlangten, daher erklomm ich den Turm mit hochgekrempelten Ärmeln. Mein Ziel war ein enger, trostloser Raum ganz oben unter dem Dach, mit abgenutztem Holzboden, einem kleinen Fenster sowie einem einsamen Stuhl darin.

Schweiß rann über meine Wangen. Meine Beine wurden schwer wie das Bruchsteinmauerwerk der Burg. Für Zwiesprache mit Mallet war die Reise zu diesem Raum nötig, denn in luftiger Höhe hielt niemand das Ohr an eine dünne Holzwand oder kniete vor einem Fenster, um geheime Informationen zu erhaschen. Dort gab es nur frische Luft, manchmal Sturm und ein paar Vögel, die sofort die Flucht ergriffen, wenn jemand die Tür öffnete. Glücklicherweise erwartete man von mir eine Reise in den Turm nur nach Abschluss eines Einsatzes. Wie gewohnt war das Räumchen leer. Meist verging einige Zeit, bis sich der Burgherr blicken ließ.

Ich sah durch das kleine Fenster in die Ferne und genoss die Aussicht auf das Land. Am Horizont erahnte ich im Norden die grünen Hügel des Fürstentums Navir und den dichten Santeniwald im Osten. Die Grausichelebene war übersät mit Feldern und Weideland, bot ein farbenfrohes Muster aus bunten Flächen und vereinzelten Baumgrüppchen.

Im Burghof wuselten geschäftig winzige Menschen umher. Die kantige, schnörkellose Burg mit ihren dunklen Ziegeln, Schießscharten und dem ausladenden Turm erschien wehrhaft, aber trostlos. Schützen spazierten auf den Wehrgängen. Steintreppen führten in den Hof hinunter, wo sich alle Wege der Burg kreuzten. Von den Ställen, Unterkünften, der großen Feuerstelle, dem Kerker und Keller, bis zu – ganz wichtig – der Grotte. Die Grotte war eine Trinkstube im Untergrund der Burg, die Besitzerin wohl eine reiche Frau, denn ein Saeghir besuchte die Grotte, sobald es möglich war. Die meisten ließen einen guten Teil ihres Solds dort. Barden kamen aus dem Umland in die Grotte, um ihre Künste mit Fidel und Gambe zur Schau zu stellen.

»Gald.« In das Zimmer trat ein Mann von breiter Statur, gehüllt in dunkle, sauber gearbeitete Gewänder. Er schloss die Tür und wandte sich mir zu. Sein Gesicht war von Falten gezeichnet, die ihn in mittlerem Alter erscheinen ließen. Er sah erschöpft aus.

»Saeghir«, erwiderte ich, gefolgt von einer leichten Verneigung, welche einige Strähnen meines schwarzen Haupthaars über die Schultern gleiten ließ. Ich nannte ihn ehrfürchtig beim Namen seines Lebenswerks.

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Gesund siehst du aus. Jedenfalls besser als zu Kriegszeiten«, erklärte er in väterlichem Ton. Er lächelte, klopfte mir mit einer Hand auf die Schulter. Fältchen bildeten sich an den Winkeln seiner tiefbraunen Augen.

»Danke«, erwiderte ich und bot ihm den Stuhl an, doch Mallet hob eine Hand. Damit blieb der Stuhl leer im Raum stehen.

»Warst du erfolgreich?«

»Ja. Sie verstecken sich in einer Senke des Santeniwaldes, nahe der Tenifälle, und warten dort auf meine Rückkehr. Ich ließ sie im Glauben zurück, dass ich gerade die Grenze zu Berenzim ausspähe. Die Klingen haben also etwa einen Tag Zeit, um es zu beenden.«

Mallet fuhr durch seinen blonden Vollbart. »Gut. Sollte genügen. Ich danke dir, dass du mit ihnen gegangen bist. Gibt es Neuigkeiten?«

»Leider nicht. Ich gehe nicht davon aus, dass sie jemand abgeworben hat. Kopf der Bande ist Rando und sie haben den Verenier dabei. Insgesamt sind es elf.«

Die Stirn des Anführers legte sich in Falten. »Es ist ein Jammer, dass sie sich gegen die Saeghir gewandt haben. Kannst du dir vorstellen, wie viel Arbeit die Ausbildung eines Haudraufs zu einem Söldner bedeutet? Was es kostet? Manche vergessen einfach zu rasch, wie gut es ihnen bei den Saeghir geht. Dazu kommen Waffen, Rüstungen und elf Pferde, nehme ich an. Eine horrende Summe.« Der Söldnervater machte eine wegwischende Handbewegung und senkte die Mundwinkel. »Fertige eine Skizze an und überreiche sie dem dritten Klingentreiber. Er wird sich mit seiner Einheit der Sache annehmen. Wir dürfen nicht nachgiebig werden. Und wir müssen schnell handeln.«

»Wie Ihr wünscht.«

Als ich gerade an ihm vorbeimarschieren wollte, um seinen Befehl auszuführen, hob er eine Hand auf Brusthöhe. Die andere Hand ruhte auf dem reich verzierten Schwertknauf. »Warte.«

Ich hielt die Luft an. Dass mich der Burgherr nach einer Anweisung aufhielt, war äußerst ungewöhnlich. Normalerweise endeten die Gespräche so schnell, wie sie begonnen hatten, gefolgt von einem ewig langen Abstieg in den Burghof. Ich trat einen halben Schritt zurück.

»Wie lange schon widmest du dein Leben den Saeghir?«

»Zehn Jahre müssten es ein. Bin mir nicht sicher.«

»Das ist eine lange Zeit. Ich möchte dir sagen, dass ich mit dir zufrieden bin. Außerdem halte ich dich für einen zuverlässigen Späher. Deswegen bist du Verräterjäger geworden.« Er runzelte die Stirn, sah für einen Moment besorgt drein. »Dennoch muss ich dir eine unangenehme Frage stellen, die ich nicht weiter aufschieben kann. Hegtest du in diesen zehn Jahren jemals den Wunsch, uns verlassen zu wollen? Kürzlich gar?« Seine Hand blieb auf Brusthöhe erhoben. Mallets Augen verengten sich zu einem prüfenden Blick.

Ich schluckte, sah einen Moment zu Boden, wühlte in meinen Erinnerungen, ob ich in letzter Zeit etwas Dummes gesagt oder getan hatte. Mir fiel jedoch nichts ein, was über typisch fallonisches Verhalten hinaus ging. Höchstens Grottengewäsch.

Mallet rümpfte die Nase. »Warum zögerst du?«

Kapitel2

Zweifel und Bier

»Und? Warum haste gezögert?«, fragte eine tiefe Stimme hinter mir. Eine kräftige, behaarte Hand stellte einen Holzkrug vor mich auf den rustikalen Tisch.

Um mir Zeit zu verschaffen, nahm ich einen großen Schluck. Glücklicherweise war es nicht das schale Waschwasser, welches normalerweise in der Grotte ausgeschenkt wurde. Es war nirkanisches Braskabier. Überall auf der Welt hätte ich diesen flüssigen Schatz eher erwartet als in der schattigen, stickigen Grotte mit ihren alten, geschwärzten Tischen samt jahrelang eingeriebener Patina. Heruntergebrannte Kerzen standen in Grüppchen auf den Tischen, umrundet von aufgetürmten Wachsschichten.

»Braskabier! Womit hab’ ich das denn verdient?«

Kyso trat um den Tisch herum, ließ sich nieder und entlockte der Bank damit ein gequältes Knarren. Er rieb sich über die Glatze und hob die Schultern an. »Weiß auch nicht. Vielleicht ist einem Drecksack bei meinem letzten Auftrag ein Beutel Mirims aus der Tasche gefallen? Vielleicht hat er ihn mir aber auch freiwillig gegeben, kann mich nicht mehr erinnern.«

»Kann mir beide Möglichkeiten bei dir vorstellen.«

Kyso grinste. »Ist der Herr denn zufrieden?« Mit der flachen Hand deutete er auf meinen Krug.

»Schmeckt nach mehr! Kostet aber bestimmt mindestens doppelt so viele Mirims wie das übliche Gesöff.«

»Und warum haste jetzt gezögert?«, nuschelte er in seinen Krug.

»Vermutlich aus demselben Grund, warum du gezögert hättest. Ich überlegte, ob mir ein Fehler unterlaufen war. Wenn ich an meine letzten Aufträge denke, dann gibt es eigentlich keinen Grund zur Sorge. Ich war draußen und habe die Lage geprüft, wie immer. Das ist meine Aufgabe und das habe ich ihm so gesagt. Ich lästere nicht über die Hakengarde und ihre Weiber. Ich kotze nicht vor die Grotte und ich beklaue niemanden in den Absteigen vor der Burg.«

»Du bist ein warmherziger Söldner«, fand der kahlköpfige Riese und rülpste bassig.

»Wäre doch ein Grund mehr, mir zu vertrauen«, erwiderte ich und trank ebenfalls einen weiteren Schluck Bierwonne.

»Jedenfalls würde mir so ein Fehler nicht passieren. Ich schlag zu und wenn er aufsteht, schlag ich nochmal zu. Da kann nicht einfach ›nichts‹ sein, verstehst du?« Kyso winkte ab. »Egal, und weiter?«

»Ich habe ihm natürlich gesagt, dass ich die Saeghir nicht verlassen wollte und nicht verlassen will. Wieso auch? Mir geht es hier gut. Jedenfalls ist es auf Malt Fallon besser als in Amarans Armenviertel dahinzusiechen oder mir auf einem Weingut oder Feld oder am besten noch in der Mine den Rücken krumm zu ackern. Die Saeghir brauchen mich und ich habe keinen Grund, euch zu hintergehen. Mein Sold ist ordentlich, es gibt sogar manchmal Freibier und das Fleisch kommt nicht aus der Gosse. Ich wäre hohlschädlig, mir das Leben hier zu zerstören und es wundert mich, dass Mallet das wohl in Frage stellt. Er sollte mich eigentlich langsam gut genug kennen.«

Kyso fuhr über seinen Stoppelbart und nickte. »Und wo ist dann das Problem?«

Ich sah über die Schulter. Die meisten Söldner saßen an den Tischen, manche in Rüstung und einer trank sogar aus einem Helm. Mir fiel kein Beobachter auf. Die meisten Gäste stießen ihre Krüge aneinander, dass das Bier überschwappte, und schaukelten zu Saufliedern. Mein Blick ruhte einen Moment auf einer Söldnerin in Lederhose und Wams, die auf einem Hocker am Tresen saß. Sie verpasste einem Kerl eine schallende Ohrfeige. Und noch eine!

Haareraufend wandte ich mich wieder Kyso zu. »Laut seinen Hinweisen ist mein vorletzter Auftrag gescheitert. Du weißt schon, bei Nordkreuz. Angeblich waren …« Ich winkte ab. »Unwichtig. Du weißt, dass ich darüber mit dir nicht sprechen darf. Jedenfalls war nichts mehr so, wie ich ihm nach Abschluss des Auftrags berichtet hatte. Seit Jahren hat sich niemand mehr über meine Einsätze beschwert. Anfangs war das noch ein bisschen anders, gebe ich zu. Dennoch. Als Späher kann ich es mir gar nicht leisten, falsche Informationen ungestraft weiterzugeben. Im Tochterkrieg hätte man mich dafür einen Kopf kürzer gemacht.«

»Jeder macht mal ’nen Fehler«, sagte Kyso.

Ich runzelte die Stirn. Natürlich betrachtete ich mich selbst nicht als den besten Späher, den die Saeghir zu bieten hatten, doch war ich sicher im oberen Drittel derer. In den letzten Jahren gab es nicht einen Fehltritt, für den man mir hätte den Sold kürzen können. Im Gegenteil! Mallet war so zufrieden mit meiner Arbeit, dass er mich zum Verräterjäger ernannt hatte. Im Geheimen, unter dem Turmdach. Mit der Bitte um Verschwiegenheit, weswegen ich vor Kyso so herumdrucksen musste.

Kysos buschige Augenbrauen hoben sich und seine erdfarbenen Augen weiteten sich etwas. Er machte eine beschwichtigende Handbewergung und räusperte sich. »Es ist aber schon ungewöhnlich, dass gar keine Spuren vorhanden waren. Ich meine, du bist ja nicht blind oder so. Wenn du da was gesehen hast, bin ich der Letzte, der da irgendwelche Zweifel hegt. Wenn du recht hast, Mallet aber sagt, dass dort wirklich nichts war, dann ...«

»Will mich jemand loswerden«, unterbrach ich ihn. Wir nickten und stießen die Humpen aneinander.

»Aber wäre es dann nicht einfacher, dich auf deinem nächsten Auftrag zu töten? Ich meine, wenn ich Gründe hätte, dich loszuwerden, dann würde ich dich überraschen! Ein Unfall.« Der Kämpfer fuhr mit einer flachen Hand durch die Luft. »Du fällst vom Pferd und brichst dir den Hals oder jemand vergräbt dich aus Versehen unter der Erde. Weißt du, wie ich meine? Es gibt so viele leichtere Wege, als dir so eine umständliche Falle zu stellen.«

»Ich weiß schon, danke für deine Fürsorge. Aber du musst verstehen, dass ich selbst oft nicht weiß, wohin mich der nächste Einsatz führen könnte. Oft dauert es Tage, bis ich … du weißt schon. Vielleicht will mich die Person ja gar nicht tot sehen. Vielleicht geht es um Rivalität oder Missgunst.«

»Meinste, jemand ist so wütend auf dich, dass er dich leiden sehen will? Wie ein abgestochenes Schwein, das mit aufgerissenen Augen ums Überleben röchelt?«

Ich hob nur die Schultern und nahm einen Schluck. »Weiß ich nicht. Wüsste nicht, wer einen derartigen Stunk gegen mich hegen könnte.«

»Vielleicht Leute, die dich gesehen haben? Vielleicht glauben sie, dass du ihnen etwas Böses willst. Zum Beispiel ihre hübschen Töchter entführen oder ihren Hausschatz rauben.«

Mir schmeckte dieser Gedanke nicht. Sollte Kyso recht behalten, käme fast jeder Angehörige eines Verräters in Frage. Etwas passte nicht zusammen. »Falls deine Vermutung zutrifft, muss es jemand sein, der genug Münz und Gründe hat, um irgendwo im Norden Spuren zu verwischen. Außerdem muss er meine Vorgehensweise kennen. Es wäre schon ein enormer Zufall, wenn er sich gerade diesen Auftrag herausgepickt hat und alles so herrichtet, dass meine Sichtungen plötzlich wertlos sind. Wir gehen mit unseren Absichten ja nicht gerade hausieren.« Ich presste Luft durch geweitete Nasenflügel. Dieses Gespräch führte zu nichts. Mit Kyso konnte ich nicht offen darüber reden.

»Verdammt. Darauf brauch ich erstmal noch ein Bier«, verkündete der Kämpfer und schob seinen Körper von der Bank. Er wankte schon ein wenig, wie bei windigem Wetter.

Glücklicherweise war Kyso kein aggressiver Trinker, zumindest nicht mir gegenüber. Er vertrug viel, langte auch ordentlich zu, soff sich aber nie einen Schlachtenwühler an. Ab dem dritten Bier konnte man sich nett mit ihm unterhalten. Ab dem Fünften war er nur noch sanfter Zuhörer und ab dem Zehnten schlief er einfach irgendwo ein. Vor einigen Jahren hatte ich das erste und einzige Mal mit ihm das zehnte Bier erreicht. Da ich mich ab dem sechsten Krug nur noch der Nuschelei bediente, entstand für ihn der lallbare Spitzname ›Kyso‹, welchen ich seitdem, rein aus Traditionsgründen, auch nüchtern weiterverwendete. Aus ›Kyrillian Solarim‹ den Spitznamen ›Kyso‹ zu formen war zwar wenig einfallsreich, doch einprägsam und auch nach einer beliebigen Menge Bier noch aussprechbar. Und für einen riesigen Kerl wie ihn passender als ›Kyri‹.

»Hm«, machte der Axtkämpfer, nachdem er mit einem neuen Bier an den Tisch zurückgekehrt war. Er fummelte die sackähnlichen Leinen von der Tischkante, die sich in gesprungenem Holz verfangen hatten. Er war entweder zu verschwenderisch oder zu geizig, um sich von einem Schneider ordentliche Kleidung anfertigen zu lassen. Oder beides. Zufrieden versenkte er seine Hakennase im Krug und schmatzte. »Was willst du nun machen?«

»Ach, Mist ist’s. Mallet kürzt meinen Sold und teilt mir einen neuen Auftrag zu. Das stinkt mir, aber ich wusste auch nicht, was ich ihm weiter hätte sagen sollen, um ihn davon abzubringen. Wenn er vor dir steht und dir sagt, dass du etwas falsch gemacht hast und du kannst nicht beweisen, dass die Vorwürfe frei erfunden sind, was willst du dann machen? Gar nichts, sag ich dir. Er sagt dir nicht, von wem er es gehört hat und du machst einfach gar nichts. Du stammelst vielleicht vor dich hin wie ein Idiot, aber letztlich frisst du seinen Vorwurf. Du nimmst es einfach hin.«

»Sag mir einfach, wer dir was Böses will, und ich zerhacke ihn mit meiner Axt!«, drohte Kyso und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Bierkrüge zitterten.

»Der Tisch ist es jedenfalls nicht. Vielleicht komme ich tatsächlich einmal darauf zurück. Dennoch muss ich zunächst herausfinden, was eigentlich vor sich geht. Und eines kann ich dir jetzt schon sagen: Ich glaube nicht an Geister.«

Kapitel3

Faenne

Von allen Zimmern der Burg war mir meine Unterkunft am liebsten. Meine eigene Stube würde ich nicht einmal gegen einen Sack frisch geprägter Mirims eintauschen. Einfach die Türe zu schließen, wenn man Ruhe brauchte, war nicht mit Silber aufzuwiegen.

Zufällig kam mir Ruhe am nächsten Morgen gerade recht. Mein Körper war bleiern und mein Schädel pochte. Kyso hatte ständig ein Folgebier serviert und mich damit zu neuen Runden überredet. Nach dem vierten Grottenbier war mir die Idee gekommen, dass vielleicht ein abtrünniger Klingentreiber an der Scheunensäuberung beteiligt gewesen sein könnte. Vielleicht hatte er seinen Kämpfern diesen Befehl gegeben. Sie mochten wegen des ungewöhnlichen Auftrags wohl misstrauisch gewesen sein, doch da sie in keinerlei tiefergehende Besprechungen einbezogen wurden, gab es keinen Grund zur Aufregung. Außerdem hätte man sie bei Verweigerung hingerichtet.

Darüber sprach ich mit Kyso nicht. Klingen beschuldigte man nicht einfach so. Klingentreiber schon gar nicht. Man beschuldigt keine von Mallet höchstselbst ausgewählten Vorzeigekämpfer und schlurft dann ins Bett, um seinen Rausch auszuschlafen.

»Du bist ein Weichei«, spottete eine weibliche Stimme, welche bei passender Wortwahl Männerohren bezaubern konnte.

Da meine Glieder schwer wie ein volles Bierfass waren, drehte ich lediglich meine Augen in Richtung Tisch, auf dessen Kante eine zierliche, junge Frau saß. Ohne anzuklopfen war sie in mein Zimmer gekommen, hatte die Fensterläden aufgerissen, ihr Schwert geräuschvoll auf den Tisch fallen lassen und schnaufte seitdem vorwurfsvoll meine Ruhe weg. Meine gequälten Sinne blendeten ihre Anwesenheit aus, wanden sich stattdessen im Bierfeuer.

Die Verärgerte war ein gutes Stück kleiner und blasser als ich. Ihre blonden Haare flossen zu einem Zopf geflochten über die linke Schulter. Das verspielte Geflecht endete knapp unter dem Schlüsselbein und mündete in ein kurzes, daumenbreites, grünes Band aus dünnem Stoff, welches den Zopf bis auf Brusthöhe verlängerte.

»Weiche, Weib«, meckerte ich und vergrub mein Gesicht in einer Armbeuge.

»Ach, das ist alles? Kannst du dir vorstellen, wie lange ich vor den Unterkünften auf dich gewartet habe? Wir waren verabredet, Kleiner. Du hast mir versprochen, dass du heute mein Packesel bist. Die Futterkisten verteilen sich nicht von selbst. Soll ich die etwa tragen? Aber das ist mal wieder typisch für den Dicken und dich. Du säufst mit Kyrillian die Grotte leer, verschnarchst unsere Verabredung und wirst dann auch noch frech!«

»Kyso ist schuld.«

Ihre Stupsnase rümpfte sich. »Das sieht dir ähnlich. Alle sind schuld, nur du nicht.«

»Übertreib nicht.«

»Ich sollte dich endlich abstechen.«

»Das sagst du ständig, aber trotzdem bringst du es nicht übers Herz, deinen zukünftigen Gatten kaltblütig zu ermorden«, zündelte ich und öffnete ein Auge, um ihre Reaktion zu erspähen.

Ihr Gesicht lief rot an, ihre grünen Augen verengten sich. Langsam fuhr ihre Hand zum Schwert auf dem Tisch.

Falsche Richtung! Unter größter Anstrengung drehte ich meinen ambossschweren Kopf zu ihr. »Entschuldige, Wille. Ja, ich habe unsere Verabredung verschnarcht und bin bereit, eine angemessene Strafe zu ertragen«, erklärte ich, doch ihre Hand fuhr weiter in Richtung Waffe. »Und der Gatte war gemein.«

Das war zumindest ausreichend, um sie von einer Bluttat abzubringen. Vermutlich hätte sie ihr Schwert nicht gezogen, doch da ich gerade wehrlos auf dem Bett wie ein Hund auf dem Rücken lag, wollte ich etwaiges Unheil vermeiden. Dennoch drängte mich irgendetwas zu bissigen Äußerungen.

Faenne Rawill verstand es, andere zu manipulieren und ihnen ihren Willen aufzuzwingen - entweder durch eine süße Zunge oder durch Androhung von Gewalt. Daher nannte ich sie in Anspielung auf ihren Nachnamen einfach nur ›Wille‹. Sie hasste diesen Namen. Mir gefiel er.

Als Söldnerin war es ihr außerdem vergönnt, einen richtigen Partner zu finden. Sie hegte kein Interesse an einem Spielgefährten. Etwas mit Zukunft war ihr wichtig. Gleichermaßen verständlich wie tragisch, da ein Söldner meist früher aus dem Leben trat als ein Schmied, Zöllner oder Brückenbauer. Es gab zwar eine Menge stattlicher Saeghir, die um ihre Gunst buhlten, doch zu ihrer Enttäuschung war deren Zuneigung meist körperlicher Natur. Ich wusste bestens darüber Bescheid, denn nach ein paar Bieren war das Willes Hauptgesprächsthema.

Endlich fuhr ihre Hand vom Schwert zurück zur Tischkante.

»Warum hast du dich für den Pferdekram eigentlich freiwillig gemeldet? Wir haben doch genug Stallburschen und Pferdemädchen, die sich kümmern«, versuchte ich vom Thema abzulenken. Letztlich bedeutete ihre freiwillige Meldung nämlich mehr Arbeit für mich.

»Weil ich Pferde mag. Und du doch auch. Du solltest sie mehr schätzen lernen, denn sie tragen deinen Hintern durch die ganze Welt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass einige Söldner das Pferd nur als Werkzeug ansehen und nicht wie einen Gefährten, der sie durch das Leben begleitet. Mir ist völlig unverständlich, wieso die Söldner lieber bis mittags in ihren Betten liegen, anstatt sich um ihre Pferde zu kümmern.«

»Ich verstehe«, behauptete ich, wieder an die Zimmerdecke starrend.

Ihre feinen Augenbrauen fuhren zusammen. »Das bezweifle ich ernsthaft.«

»Wille, ich hab’ gerade andere Sorgen. Deine Pferde in allen Ehren, aber ich kann jetzt nicht füttern und striegeln. Ich habe Wichtiges zu erledigen.«

»Das sehe ich. Du liegst wie ein gefangener Fisch in der Sonne und gammelst vor dich hin.«

»Lass das. Mir wurde der Sold gekürzt. Ich kann dir nicht sagen, warum – aber auf mich kommen ein paar unangenehme Umstände zu.«

Wille schwieg.

Ich bereute meine letzten Sätze sofort. Natürlich erwartete sie eine ausführliche Darlegung der Umstände. Sie war die einzige Person, der ich etwas von meinem Aufstieg zum Verräterjäger erzählt hatte, nein, erzählen musste. In der Grotte hatte sie es mit ihren smaragdfarbenen Augen und säuselnder Zunge aus mir herausgekitzelt. Anschließend sprach ich nur noch selten darüber, aber sie war unnachgiebig und gierte nach neuen Geschichten.

Ächzend rieb ich meine Schläfen. »Ich spüre deinen Nadelblick. Lass die Starrerei.«

Sanft klopfte es an meiner Tür. Eine zarte Stimme rief: »Eine Nachricht für Saeghir Gerawinth!«

Sofort formten Willes schmale Lippen ein ruchloses Grinsen. Sie stieß sich von der Tischkante ab, öffnete ihren Gürtel und die obersten beiden Knöpfe ihrer Lederhose. Unhörbar tapste sie zur Tür, welche sie schwungvoll öffnete. Ein junger, schmächtiger Kerl, höchstens siebzehn Sommer alt, stand mit offenem Mund wie angewurzelt da, starrte erst ausgiebig sie, dann mich an. Wille trat einen Schritt auf ihn zu und neigte langsam ihren Kopf nach links. Nachdem ihr scharfer Blick bei mir nicht gewirkt hatte, fand sie in ihm wohl frische Beute. Diese leichte Kopfneigung war typisch für sie, wenn sie ein Opfer gefunden hatte. In Gedanken sprach ich ihm mein Mitleid aus und ahnte, wie sich der Knabe fühlen musste, sich in ihren glänzenden Augen zu verlieren und bald der nächste Streiter um ihr Herz zu werden. Der nächste Kerl in der langen Schlange ihrer Verehrer.

»I-ich, also … hier ha-habe ich …«, stotterte der Junge eingeschüchtert und schluckte.

Wille nickte mehrmals sanft, riss ihm den Brief aus der Hand und warf die Tür zu. Ich verzieh dem Jungen, dass er den Brief an jemand anderen verloren hatte, obwohl ihm das streng untersagt war. Als wäre nichts gewesen, tapste sie leichtfüßig zurück und drückte ihren Hintern gegen die Tischkante. Ich stellte mir vor, wie der arme Kerl mit noch offenem Mund vor der verschlossenen Tür stand.

»Dir ist schon klar, dass auf diese Weise Gerüchte entstehen?«, warf ich ein und betrachtete ihre offene Hose.

»Und dir ist hoffentlich klar, dass es diese Gerüchte längst gibt? Eine Frau verschwindet ständig im selben Zimmer, das nicht ihr eigenes ist. Wer würde da nicht auf die Idee kommen, dass da was zwischen ihr und dem Zimmerherren läuft? Außer dir natürlich«, biss sie zurück, während sie den versiegelten Umschlag in den Händen wendete und mich nicht einmal eines Blickes würdigte.

»Gib her«, sagte ich und streckte meine Hand in ihre Richtung aus. Sie brach stattdessen das Siegel und öffnete den Brief. Mein Arm erschlaffte daraufhin und der Handrücken klatschte auf den kalten Boden. »Dir ist bewusst, dass dir für Fremdbruch die Hand abfault? Das ist mein Brief, nicht deiner. Wenn ich deine Briefe öffnen würde, wären wir wieder beim Thema mit dem Abstechen, richtig? Garstiges Weib.«

Sie ignorierte mich und las stattdessen den Brief. Nachdem sie alle Informationen sorgfältig aufgesogen hatte, legte sie Schriftstück und Umschlag beiseite.

»Und? Was steht drin?«

Langsam neigte sie ihren Oberkörper nach vorn, wickelte das Zopfende um einen Finger, schloss ihre Augen zur Hälfte und deutete einen Kussmund an. »Willst du, dass ich ihn dir vorlese, Kleiner?«, fragte sie in verführerischem Ton, mit jenem sie Männerohren bezaubern konnte. Ihr Blick wurde plötzlich gleichgültig und ihre feinen Gesichtszüge verloren jeglichen Ausdruck. Sie stieß sich vom Tisch ab, griff nach ihrem Schwert und ging mit offener Hose aus dem Zimmer. Die Tür ließ sie offen stehen. Das war wohl die angebotene angemessene Bestrafung.

Ich lag regungslos auf dem Bett. Der Handrücken ruhte immer noch steinern am Boden. Mein Blick wanderte zwischen der geöffneten Tür und dem Tisch hin und her. Ich wollte die Tür schließen. Ich wollte den Brief lesen. Mein Körper aber nicht. Der war mit Bierleid beschäftigt.

Für diesen Tag nahm ich mir vor, nie wieder eine Verabredung mit ihr zu versaufen.

Kapitel4

Abreise

Jeden Sommer klagten Menschen unter wolkenlosem Himmel über die Dürre. Sie wünschten sich Regen oder gleich den Herbst herbei und mieden Rüstungen, wenn die Umstände es erlaubten, oder ließen mittags Hacke und Hammer ruhen. Auf Malt Fallon tummelte sich Volk in heller Kleidung und mit leichten Kopfbedeckungen um den burgeigenen Brunnen, der stets unter Bewachung stand. Das Geräusch der quietschenden Brunnenseilwinde war ständiger Begleiter der Dürrezeit. Tatsächlich waren die Sommer seit Jahren ungewöhnlich heiß.

Mit verschränkten Armen stand ich vor der Unterkunft auf dem Burghof und sah den Handwerkern und Tagelöhnern bei der Arbeit zu. Gelegentlich verspürte ich den Drang, einfach mit anzupacken, doch das wurde vom Burgherrn nicht gern gesehen. ›Eine Klinge ist keine Harke‹ hörte man immer wieder, wenn sich einer der Söldner bei körperlichem Handwerk betätigen wollte, was so viel wie ›geh üben, wenn dir langweilig ist‹ bedeutete.

Knöcherne Finger legten sich auf meinen Arm. »Hör mal, Junge«, sagte ein grauhaariger Mann. »Was treiben die denn da?« Seine Hand deutete unter sanftem Zittern in Richtung eines Kellereingangs, aus dem Tagelöhner ein schier endloses, gerafftes Tuch trugen. Der alte Mann war Mallets Onkel Naphrus. Seit er in Mehe im Suff von einem Ochsenkarren gefallen war, vergaß er ständig Dinge, die nicht alltäglich waren.

»Die bereiten den weißen Himmel vor.«

Der Alte hob die ausgefransten Augenbrauen und betrachtete mich aus seinen trüben Augen. »Hä?«

»Das sind große Tücher, wie Schiffssegel, die von den Wehrgängen der Burg bis zu diesem Pfeiler in der Mitte des Hofs gespannt werden.« Mit einem Fingerzeig deutete ich in Richtung der Ställe. »So wie dort. Nur die große Feuerstelle und die Schmiede werden nicht vom Schatten des Tuches bedeckt, damit die Funken den Himmel nicht entzünden.«

»Ah!«, machte er und zeigte ein Lächeln mit vielen Zahnlücken. »Das wird die Menschen aber freuen. Allen voran jene dort.« Er deutete auf die Wachen des Hohen Hakens. Diese trugen bereits dünne, helle Gewänder über ihren Rüstungen, um der Hitze entgegenzuwirken.

Ich nickte. »Nur die Hakengardisten tragen die hellen Gewänder in der Hitze. Die können sich nicht so einfach ein schattiges Plätzchen suchen wie die gewöhnlichen Wachen.«

»Als ich noch jung war, da trug ich zur Feldarbeit auch ein solches Gewand. Hauptsache hell, um die Sonne abzuhalten.«

Ich hätte die Hakengardisten nicht mit Bauern verglichen, doch was dem einen gegen die Hitze half, kam dem anderen gerade recht.

Durch das Tor lief ein junger Kerl. Er trug einen Strohhut auf dem Kopf und ein Bündel in der Hand. »Saeghir Gerawinth, hier ist Eure Verpflegung. Entschuldigung für die Verspätung.«

»Danke.«

»Ihr lasst Euch das Essen bringen, was? Das passiert mir auch manchmal«, sagte der Alte. Er gluckste kratzig und stierte auf mein Futterbündel.

»Das Trockenfleisch aus Mehe ist besser als das zähe Leder, das man auf der Burg bekommt. Gelegentlich gebe ich einem Neuling einen Mirim für diesen Gang vor die Burgmauern. Wie auch immer, die Pflicht ruft. Ich muss zu meinem Pferd. Lebt wohl, Naphrus.«

Zwischen Sommerkleid und Schatten gab es trotz der widrigen Umstände mutige Händler, die nach Käufern für Gemüse oder Werkzeug riefen. Handwerker in abgenutzter, dunkelgrauer Kleidung mörtelten gemeißelten Stein an eine Treppe. Lastenträger schulterten grobe Säcke oder fuhren sie auf Karren ratternd über gepflasterte Wege. Wachen in Kettenpanzern mit aufrecht ruhenden Hellebarden im gebeugten Arm standen an Torbögen und Treppen, um vorbeiziehendem Volk prüfende Blicke zuzuwerfen. Lachende Kinder aus Mehe liefen in Hemdchen und kurzen Hosen über die Zugbrücke. Muffiger Geruch, den die Sonnensegel nach monatelanger Lagerung im Burgkeller angenommen hatten, mischte sich mit trockener Burgluft.

Ich führte den Rappen aus dem Stall, füllte die Satteltaschen mit dem Nötigsten für die Reise. Eine weiße Schabracke sollte das Tier vor Hitze schützen. Sie gehörte nicht zu einer Kampfmontur wie bei Schlachtrössern, sondern hing eher luftig an den Flanken herunter. Die losen Enden vorn waren mit einem großzügigen Ausschnitt an das Zaumzeug gebunden.

»Guten Morgen, Kleiner.«

»Morgen, Wille. Schleich nicht umher, das schöpft nur Verdacht.«

»Bereitest du dich auf einen Ausritt vor?«

»Mehr oder weniger.«

»Eher mehr Ausritt oder weniger?«

»Eher weniger.«

Wille gluckste. Sie stellte sich neben mich und sah zu mir auf. »Wann kommst du wieder?«, fragte sie mit zusammengekniffenem Auge. Sonnenlicht zeichnete durch ein löchriges Himmelssegel ein Muster auf ihr Gesicht.

»Sobald der Auftrag erledigt ist. Du weißt doch, was im Brief steht«, antwortete ich, weiter in den Satteltaschen kramend.

Es störte sie nicht im Geringsten, dass sie im Weg stand. Ich schob sie vorsichtig zur Seite. Das verstand sie. Es war eines ihrer Spielchen, die sie liebend gern mit mir trieb.

»Bringst du mir was mit?«

Ich versicherte mich, dass sich niemand in direkter Hörweite befand. Sicher mochten sich Spitzohren hinter Hafersäcken oder Fässern verstecken, doch bei den Saeghir verspürte ich nicht den Zwang, dort nachzusehen. »Ich reise eigentlich nicht zum Spaß nach Walsatta. Außerdem gibt es so weit im Norden nur Rüben und Gras.«

Wille presste für einen Moment die Lippen aufeinander und nickte knapp.

»Ich wäre lieber mit Kyso in den Süden gereist. Der lässt es sich bei Amaran gutgehen. Erst verprügelt er mit seinem Trupp ein paar Räuber entlang des Kaufmannstiegs und geht dann einen saufen. Wahrscheinlich ausschließlich Braskabier.«

»Bist du etwa neidisch?«

Ich legte eine Hand auf den Sattel und wandte mich Wille zu. »Es ist zumindest das, was die Saeghir ausmacht und warum Räuberbanden sie fürchten.«

»Wenn du dich ein bisschen anstrengst und mehr übst, kannst du dich den Äxten ja anschließen.«

»Du scherzt.«

»Ich scherze. Du bist kein Schlächter. Wenn du einer wärst, würde ich jetzt nicht hier stehen.«

»Hast du etwa ein Herz für Späher?«

»Ich habe jedenfalls keines für Schlächter.«

»Aber auch keins für Späher?«

»Richtig.«

Ich schnaufte. »Worüber reden wir hier dann?«

Wille lächelte, wobei sich ihre Stupsnase kräuselte.

»Jedenfalls gibt es bei Amaran mehr Auswahl für Mitbringsel. Aber vielleicht magst du Rüben ja.« Ich wandte mich wieder den Satteltaschen zu. Da noch einige Wasserschläuche befestigt werden sollten, achtete ich auf eine flache Packweise.

»Besuchst du die Scheune?«, fragte sie unverhohlen und traf mich damit wie ein Pferdetritt. So sehr, dass ich einen kurzen Moment erstarrte. Die Scheune bei Nordkreuz, der angeblich verpatzte Auftrag, worüber ich mit niemandem reden durfte. Verwischte Spuren, keine Söldner, keine Verräter. Nur eine gewöhnliche Scheune. Zwischen gestapelten Holzscheiten und einem Schuppen hatte ich mich auf die Lauer gelegt und beobachtet, wie die Verräter um die Scheune geschlichen und abends darin verschwunden waren. Laut Mallet alles nur Einbildung. Hirngespinste.

Ich wollte mein Gesicht im Sattel vergraben und rufen, dass sie nicht meine Gedanken lesen solle, doch ich tat es nicht. Das wäre erbärmlich gewesen. »Vielleicht.«

Wie ein kleines Mädchen stand Wille da und sah zu mir auf, das grüne Haarband um einen Finger wickelnd.

»Woher weißt du überhaupt davon? Wenn ich mich nicht irre, ist diese Information nicht für deine Ohren bestimmt«, fügte ich hinzu und versuchte nun meinerseits, ihr Gesicht zu lesen. Ihre feinen Gesichtszüge erschienen mir wie eine Maske.

»Ich kenne da jemanden, der wird nach ein paar Bieren und einigen süßen Worten ganz schön gesprächig. Ich bin mir sicher, du weißt, wen ich meine«, säuselte sie in ihrem männerverzaubernden Tonfall und setzte ein verführerisches Lächeln auf.

Ich ließ meinen Kopf nun doch in den Sattel fallen. Der Rappe schnaubte. Wille kicherte.

Kyso zur Rede stellen zu wollen war sinnlos. Es war meine eigene Schuld. Anscheinend hatte ich ihm in der grottigen Nacht doch mehr von meinem Problem erzählt, als mir selbst noch in Erinnerung geblieben war. Verdammtes nirkanisches Bier. Wille zum Opfer zu fallen war allerdings keine Schande. Vielleicht ein bisschen, wenn man deswegen seinen eigenen Freund verriet.

»Hat er wenigstens gezögert oder sich anfangs geweigert?«, fragte ich, das Gesicht noch im Sattel vergrabend.

»Ein bisschen.« Unterschwellig triumphierender Tonfall verriet, dass sie ihm keine Wahl gelassen hatte.

Mit Kyso zu saufen kam nicht mehr in Frage, solange ich ein Verräterjäger war. Die Entscheidung dazu kam spät, war gar überfällig. Es gab genug anderen Gesprächsstoff für uns. Waffen, Weiber, Wachsfiguren. Das waren Kysos Lieblingsthemen. Sicher hatte sie an diesem Abend noch mehr über mich in Erfahrung gebracht. Vermutlich mehr, als mir lieb war, denn der Riese wusste genug über mich, was er an sie hätte ausplaudern können. Sie hatte ihn sicherlich nicht wieder vom Haken gelassen, nachdem sie ihn bezirzt hatte. Dafür war sie zu neugierig.

Endlich hob ich mein Gesicht aus dem Sattel. »Dann weißt du ja über alles bestens Bescheid. Ich denke, dass Mallet mir diesen Auftrag zugeteilt hat, damit ich genau dieses Problem untersuche. Er schickt mich sonst nie in den Norden. Die Scheune war damals eine Ausnahme.«

»Aha«, machte sie, ihren Kopf nach links neigend.

»Lass das«, forderte ich, wahllos in den Satteltaschen kramend.

»Dann hoffe ich, dass du fündig wirst. Wäre schade um dich, wenn sich herausstellt, dass Mallet recht hat. Und doch … du wirst mir fehlen, Kleiner. Du bist wochenlang weg und Kyso wahrscheinlich auch. Wen soll ich denn jetzt ärgern, ohne dass derjenige gleich davon ausgeht, dass ich ihm demnächst um den Hals falle und mit ihm ins Bett steige? Das ist schon ein Problem für mich, wenn ich ehrlich bin«, gestand sie und wickelte erneut ihr Haarband um einen Finger.

Zögernd nahm ich die Hände aus der Satteltasche, sah in ihre glänzenden Augen, die ich nicht lesen konnte, und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Du hast Kyso benutzt und gegen mich ausgespielt. Ich hab’ kein Mitleid mit dir. Fehlen wirst du mir trotzdem ein bisschen.«

Für einen Augenblick glaubte ich, ihr echtes Lächeln erkannt zu haben. Nur kurz, kaum merklich, bildeten sich kleine Fältchen an ihren Augenwinkeln und ihre Wangen färbten sich für einen Moment in sanftes Rot. »Jetzt wirst du aber gefühlsduselig«, spottete sie, schubste meine Hand weg und boxte mir gegen den Oberarm.

»Au«, machte ich monoton.

»Lass dich nicht abstechen, Gald Gerawinth«, sagte sie, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in Richtung Unterkünfte.

»Ja, ich weiß! Das ist dir vorbehalten!«

Sie reckte zur Bestätigung die Faust ihres Schwertarms gen Himmel.

Kapitel5

Kessel und Kreuz

14. Junria 619 nach den Nebeljahren

Mehrere Aussagen zur Entfachung und Entwicklung des Brandes deuten auf einen spontanen Ausbruch des Feuers hin. Überlebende Holzwerker und Bauern berichten von flimmernder Luft, ähnlich dem gemeinen sommerlichen Hitzeflimmern, von mindestens einer halben Minute. Ausbreitung und Form des Hitzeflimmerns sind noch unbekannt. Vorkommnis ist unbekannt und wurde zum ersten Mal registriert. Enorme Rauchentwicklung. Ascheregen blieb aus, äußerst ungewöhnlicher Vorgang.

Explosionsartige Ausbreitung des Feuers innerhalb des Zwiekschen Kessels ohne nachvollziehbare Reaktion. Möglicherweise anhaltende Trockenheit als Auslöser. Brandentwicklung unklar, möglicherweise zügigstes Lauffeuer, das bisher registriert wurde. Augenzeugen verneinen einen solchen Vorgang.

Völlige Einäscherung des Zwiekschen Kessels, sämtlicher Vegetation, des Dorfes Vaela sowie Verdampfung des angrenzenden Sees Wiefa.

Sichtung von eindeutigen Überresten steht aus. Steinerne Überreste wahrscheinlich. Poröse Strukturen gesichtet.

»Ich sehe Feuer und riesige, pechschwarze Rauchschwaden. Ich war auf dem Weg nach Vaela, doch der gesamte Wald steht in Flammen! Ich musste auf großen Abstand gehen, weil ich ständig das Gefühl hatte, dass mir Stirn und Handrücken verbrennen. Beim Holzfällerlager südlich des Nordwegs war noch bester Tag, dann knisterte die Luft und jetzt steht alles in Flammen. Ich weiß nicht, wohin ich jetzt gehen soll. Wo man auch hinsieht, brennt der Kessel himmelhoch. Das Land wurde verflucht!« (Der üblichen Schriftsprache des Königsbuchs angepasste Aussage eines Bauern.)

Der Vollständigkeit halber registriert werden Vermutungen aus Quellen, die, von Dritten aufgeführt, gründlich zu untersuchen und bei Bestätigung als kriegerischer Akt gegen die Krone zu werten sind. Darunter fallen Brandschatzen durch Feinde der Krone mit dem Ziel der Wirtschaftsschädigung oder, eher unwahrscheinlich, Riten unbekannter Kulte sowie, absurd, Naturflüche.

Vierte kleine Sammlung von Notizen und Aussagen von Augenzeugen zum Waldbrand in der Region Zwiekscher Kessel.

Arwit Kaltohr, Zeitschreiber zu Gellenfels

Mallet erwartete von seinen Saeghir nicht, dass sie durch das tote Land reisten. Seinen Söldnern erlaubte er den langen Umweg durch das dritte Seenland im Norden oder über das Ribeltrumpfer Hinterland im Westen. Für einen gewöhnlichen Auftrag an einem gewöhnlichen Tag hätte ich den Weg durch das Seenland gewählt, doch aus Sorge vor Verfolgern entschied ich mich für die Reise durch den Kessel.

Die Sonne stand bereits tief und trieb dabei nur wenige lange Schatten vor sich her. Mit dem ersten Schritt in die Aschewüste legte sich eine dünne Schicht aus Sand über Mensch und Tier. Nahe des toten Landes gab es nur selten einen gesunden Baum zu sehen. Braune Grasbüschel und knöchernes Gestrüpp bewuchsen die sandige Grenze zur wohl lebensfeindlichsten Region des Königreiches.

Mit rauen Fingern rieb ich Schweiß von Nase und Wange. Soweit das Auge reichte, gab es nur verdorrtes, vertrocknetes Land, das sich auch nach Jahren nicht erholt hatte. Kantige Felsvorsprünge markierten zusammen mit kiesbedeckten Felsen die Grenze zum Kessel. An seltenen Unterbrechungen dieses steinernen Vorhangs führten Wege längst vergessener Handelsabsichten in das Gebiet. Mit bloßem Auge ließen sich in der Ferne dicke Risse im geschundenen Boden erkennen.

Abseits des Weges, an einer Felskante, wellte sich brauner Stoff von Zelten im Wind. Jemand hatte ein Lager aufgeschlagen und ein Feuer entzündet. Hinter den Zelten erkannte ich ein Fernrohr, welches an der Felskante auf einem Dreibein ruhte. Eine Gestalt in einem weißen Kittel, mit einer dicken Kordel um den Bauch, stand in gebeugter Haltung an diesem Gerät.

»He, Grüße!« Es waren noch zwanzig Schritt bis zum Lager. Ich wollte nicht den Anschein erwecken, ich würde mich hinterrücks anschleichen.

Die Gestalt hob den Kopf, würdigte mich nur eines Blickes und senkte den Blick erneut zum Fernrohr. Schmucklose Schriftrollenbehälter baumelten an der dicken Kordel, gesellten sich zu verschnürten Beuteln und weiteren, schatullenartigen Behältern. Hinter einem beladenen Karren trat eine weitere Gestalt in einer braunen Tunika hervor und aus einem der Zelte kamen zwei weitere Menschen, einer davon in einen Sarrock gehüllt und mit einer Axt im Gürtel. In der anderen Hand trug er einen Rundschild.

Der Kämpfer legte seine Finger um den Axtkopf. »Seid gegrüßt, Reisender! Was verschlägt euch an diesen trostlosen Ort? Sucht Ihr jemanden?«

»Bin nur auf der Durchreise!«

Die Gestalt am Fernrohr richtete sich auf und streifte ihre Kapuze ab, befreite damit ihr blondgelocktes Haar, welches sich sofort im Wind gegen sämtliche Bändigungsversuche wehrte.

»Ihr wollt durch die Wüste reisen?« Die Wache warf der Frau einen Seitenblick zu.

»Ich versuche mich, soweit möglich, am Rand des Kessels zu bewegen – aber ja, ich reite da durch.«

Stirnrunzelnd beäugte mich die Frau, was sämtliche Falten ihres ohnehin schon faltigen, sonnengegerbten Gesichts noch tiefer erscheinen ließ. »Ich möchte mich nicht in Eure Angelegenheiten einmischen«, sagte sie mit rauer, sandgeplagter Stimme, »doch solltet Ihr einen sichereren Weg wählen. Jede Reise durch den Zwiekschen Kessel will überlegt und vorbereitet sein. Hitze und Durst treiben Reisende in den Wahnsinn.«

»Wie Ihr seht sind das Pferd und ich mit weißem Tuch bedeckt und genug Wasser habe ich auch dabei. Das warme Wetter, der Sand im Wind – schlimmer wird es kaum werden.«

Die Frau zeigte für einen Moment ihre gelben Zähne, begleitet von tiefen Falten, die beinahe bis zu den Ohren reichten. »Kommt, wenn Ihr Euch einen Überblick verschaffen wollt. Seid Gast des Außenpostens Ariti, wenn Ihr möchtet.«

Für einen Moment sah ich zur Abendsonne. Bei Nacht wollte ich mich nicht in der Aschewüste verirren. Ein notdürftiges Lager mitten in der Wüste war zwar mein Plan gewesen, doch in aller Frühe von einem Stützpunkt aus loszureiten war sicher der bessere Zeitpunkt.

»Noch könnt Ihr durch das Fernrohr sehen, doch bald wird es dunkel«, sagte die Frau.

Mit dem Handrücken rieb ich mir über den Mund und nickte. »Gut, dann bleibe ich bis zum Morgengrauen.«

Ich saß vom Pferd ab. Ein junger Kerl mit strubbeligem, braunem Haar trat auf mich zu. »Ich sichere Euer Pferd, Herr.«

Mein Tier an irgendwelche Fremden zu verlieren fehlte mir noch und würde zu den verwischten Spuren in der Scheune passen. Zögernd drückte ich ihm die Zügel in die Hand. Letztlich waren wir jedoch alleine am Kessel und sie hätten mich gleichermaßen fortschicken können, erwiesen sich jedoch mindestens für den Moment als gastfreundlich. Ein rauer Windzug spickte mich rücklings mit Sand.

»Mein Name ist Tarlk«, sagte ich, die dürre Hand der Frau ergreifend.

»Ariti Huven, doch nennt mich ruhig Ariti.« Sie lächelte. »Der werte Herr mit dem Schild ist Helim Gurstein, der Mann in der Tunika ist Marlo, mein Lehrling, und der Bursche mit Euren Zügeln in der Hand ist sein Bruder Lukrer.«

Jeden der Männer und Burschen bedachte ich mit einem Nicken. »Erfreut.«

Ariti ließ meine Hand endlich los. Sie hob einen Finger und lächelte. »Folgt mir, Tarlk. Ich zeige Euch etwas«, sagte sie, wandte sich um und stapfte etwas ungelenk in Richtung des Fernrohrs, wobei die Schriftrollenbehälter bei jedem Schritt hin und her baumelten.

Ich folgte ihr zwischen Zelten, Körben, Decken und Stühlen hindurch und am Lagerfeuer vorbei zu ihrem Fernrohr. Es war mindestens so lang und dick wie mein Arm und geschützt durch ein zerkratztes Gehäuse aus Messing. Sand hatte sich längst in einigen Ritzen und an der Linse festgesetzt. Ariti zog einen Pinsel aus einer ihrer zahlreichen Taschen und vertrieb die Körnchen mit Tupfern und sanften, strichartigen Bewegungen.

Sie kniff ein Auge zusammen und schob ihre blonden Locken beiseite. »Wisst Ihr, wie man ein Fernrohr benutzt?«

»Ich kenne nur die kleineren Fernrohre, die man auseinanderzieht.«

Sie winkte ab. »Ich stelle es für Euch ein und Ihr seht einfach hindurch. Für Erklärungen haben wir keine Zeit.« Ariti deutete Richtung Sonne. »Denn bald wird es finster!«

Mit verschränkten Armen stellte sich Helim Gurstein an die Felskante und starrte in den Kessel hinab. Wie er sich bewegte und wie er sprach, nein, sprechen musste, erinnerte mich an einen Saeghir, der aus dem königlichen Heer zu uns gekommen war. Ich war mir sicher, dass er einer der schweigsamen Kerle war, die ihr Leben lang einfach stumpf Befehle befolgten. Ein Soldat, der auch außerhalb des Heeres nur anderen folgte, bis er dazu nicht mehr imstande war.

»So, jetzt könnt Ihr durchsehen!«

»Da?«

»Ja, einfach durch die Linse gucken.«

Mit zusammengekniffenen Augen prüfte ich zunächst die Ausrichtung des Fernrohrs, um die erwartete Aussicht in der Ferne mit bloßem Auge bereits einschätzen zu können, dann neigte ich mich nach vorn und sah mit einem Auge durch die Linse.

»Ich sehe nur Sturm. Ist das ein Sandsturm?«

»Wartet, seht genauer hin. Es dauert manchmal ein Weilchen, bis man einen Blick erhaschen kann.«

Ich hob den Kopf und sah Ariti ungläubig an. Mir war nicht danach, ewig lange in gebückter Haltung durch ein Fernrohr zu sehen.

»Nur zu«, ermutigte Ariti mich.

»Was soll ich erkennen können? Ich verstehe nicht viel von Sandstürmen. Gar nichts, um genau zu sein.«

»Seht hindurch und sagt mir, ob Ihr mehr erkennen könnt.«

Mit einem Schnaufen nickte ich. Wenn ich ihr diesen Gefallen erfüllte, war mir das Nachtlager sicher. Erneut sah ich durch das Fernrohr in die Weiten des Kessels hinein. Sturm. Eine nicht enden wollende Sandwolke, die sich heftig bewegte. Sie schien sich immerwährend im Kreis zu bewegen, niemals abzuflachen oder nachzulassen. Es war allerdings kein Wirbelsturm, den man mit bloßem Auge schon von Weitem hätte erkennen müssen. Für einen kurzen Augenblick erahnte ich durch den dichten Sandnebel eine Struktur. Im chaotischen Wind zeigte sich so etwas wie Gemäuer. Überreste.

»Steht da eine Ruine?«

»Seht Ihr!«, rief die Frau plötzlich in Richtung des Lehrlings. »Ich habe mich nicht geirrt! Dort ist etwas!«

Marlo eilte herbei, drängte mich mit einem Nicken vom Fernrohr weg und sah selbst hindurch.

Ariti trat an mich heran, nahm meine Hand und sah mit geweiteten Augen zu mir auf. »Ihr habt es auch erkannt.« Sie zeigte ihre gelben Zähne.

»Nur schemenhaft.«

»Aber es ist eine Struktur, vielleicht ein Turm!«

Marlo hob seinen Kopf. »Das kann nicht sein. In den Büchern ist nirgendwo verzeichnet, dass im Zwiekschen Kessel jemals ein Turm oder eine andere Befestigungsanlage erbaut wurde. Das ist kein Unterfangen, das man vor der Obrigkeit geheimhalten kann.«

»Vielleicht war es auch nur ein verkohlter Ast«, lenkte ich ein.

»Unsinn!« Ariti ließ meine Hand los und die Mundwinkel hängen. »Solch ein kantiger Ast wäre mir ja noch nie untergekommen. Ihr habt doch selbst die Konturen des Mauerwerks erkannt oder nicht?«

Ich sah zu Marlo, hob die Schultern und dann wieder zu Ariti. »Ich bin nicht besonders gut in derlei Deutungen. Aber es könnte durchaus sein, dass sich Sand an einer Stelle sammelt, die sie anschließend wie Mauerwerk erscheinen lässt.« Mit einem Finger deutete ich beiläufig auf Aritis Kordel. Eine fein säuberlich abgestufte Sandschicht hatte sich darauf gebildet. »Könnte nicht jedes Objekt mit genug Sand irgendwie … gerade wirken?«

Ariti klopfte den Sand ab und machte eine Schnute. Sie knurrte. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, mein Nachtlager doch unterwegs aufzuschlagen.

»Ich komme seit Monaten hierher und beobachte den Sandsturm durch dieses Fernrohr. Es muss zwar gelegentlich auseinandergebaut und gereinigt werden, doch die eingesetzten Linsen sind die Besten, die man in Gellenfels erstehen kann!« Ariti reckte ihren Hals. »Und dann kommt jemand hier angeritten, schaut hindurch und will mir erzählen, dass im ewigen Sturm ein verkohlter Ast hängt, der wie Gemäuer aussieht? Ein Sandsturm hätte hölzerne Überreste längst zu Spänen zermahlen!« Sie blickte zwischen Marlo und mir hin und her. Ariti streckte eine Hand in Richtung Kessel und wetterte: »Dort, im Sandsturm, ist Gemäuer! Ein Turm! Eine Burg!«

Beschwichtigend hob ich beide Hände an. »Ich bestehe ja nicht darauf, dass es ein Ast ist. Möglicherweise ist es ja Gemäuer.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Marlo langsam den Kopf schüttelte.

Ariti hob beide Augenbrauen an. »Ich hätte Euch mehr geschätzt, wärt Ihr bei Eurer Ansicht geblieben«, sagte sie süffisant. Sie schnalzte mit der Zunge und nickte ihrem Lehrling zu, beiläufig mit dem Daumen auf mich zeigend.

»Verzeiht, dass ich Euch nicht entspreche.«

»Ist schon gut. Ich bin Stümper gewohnt.«

Zähneknirschend lächelte ich und nickte. »Nun denn, macht es Euch etwas aus, wenn ich mein Lager an Eures anschließe? Ich möchte morgen früh bei Sonnenaufgang meine Reise fortsetzen.«

»Lasst Euch neben dem Zelt dort nieder, wir haben genug Platz.«