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Mit »Der Crash kommt«, gelang Max Otte eines der erfolgreichsten deutschen Wirtschaftsbücher überhaupt. Fast eine halbe Million verkaufter Exemplare machten Otte zum »erfolgreichsten deutschen Crash-Guru aller Zeiten« (Daniel Stelter). Mehr als 13 Jahre später erscheint nun der Nachfolger des Bestsellers: »Weltsystemcrash«. Otte hatte damals als einer der wenigen die Finanzkrise präzise vorhergesagt. Auch in seinem neuen Buch scheut er sich nicht, die mittlerweile noch größeren Risiken und Probleme beim Namen zu nennen: Der Schuldenstand der Welt ist durch diverse Banken- und Eurorettungsaktionen auf den höchsten Stand aller Zeiten gestiegen. Der Niedergang der USA verbunden mit einem Aufstieg Chinas und der Ohnmacht Europas bedeuten womöglich fatale Konsequenzen für uns alle. Zunehmende Überwachung, eine neue Ära des Populismus, Fake News und eine verfahrene Migrationspolitik spalten die westlichen Gesellschaften. Otte zeigt, wie all diese Puzzlestücke zusammenhängen und wie jeder Einzelne mit dieser vollkommen neuen Weltordnung umgehen kann. Und wie schon vor 13 Jahren schließt er mit einer eindringlichen Warnung: Es ist wichtiger denn je, Vorsorge zu treffen – ehe es zu spät ist.
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Seitenzahl: 893
Max Otte
Krisen, Unruhen und die Geburt einer neuen Weltordnung
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8. Auflage 2020
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Projektleitung: Georg Hodolitsch
Korrektorat: Manuela Kahle, Anne Horsten, Silvia Kinkel
Lektorat: Matthias Michel
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/zentilia
Grafiken: Achim Schmidt, Müjde Puzziferri
Satz: Daniel Förster, Belgern
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-282-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-520-0
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Gewidmet allen, die auch in verrückten Zeiten den Dialog mit Andersdenkenden suchen.
Vorwort
Einleitung
Teil I Der Weg in die Krise
Kapitel 1 Die Welt vor dem Systemcrash
Von der »Neuen Weltordnung« zum Chaos
Ein neuer Kalter Krieg in Europa und wachsende Spannungen in Asien
Auch im Westen brodelt es
Eine labile Weltwirtschaft
Kapitel 2 Die Vereinigten Staaten von Amerika und das langsame Ende der Nachkriegsordnung
Die amerikanische Weltordnung von 1945 bis 1990
Der Aufstieg der Neokonservativen
Die USA: ein Imperium?
Kapitel 3 Der Aufstieg Chinas
Die Neue Seidenstraße
Die Schweiz und Italien treten der Initiative bei
Die chinesische Expansionsstrategie erreicht Lateinamerika und Afrika
Der Internationale Währungsfonds unter Druck
Vom Billigproduzenten zum Technologieführer
Mit voller Fahrt in den Handelskrieg
Aufrüstung zur See: Wiederholt sich die Geschichte?
Kapitel 4 Der lange Abschied von Bretton Woods
Das Ende der Globalisierung?
Der Nixon-Schock und die Folgen
Ronald Reagan, die neoliberalen Reformen und der amerikanische Unilateralismus
Währungspolitik von Reagan bis Obama
Handel und Wirtschaft – die amerikanischen Regeln
US-Handelspolitik von Clinton bis Obama
Sanktionen und Wirtschaftskrieg
Strukturelle Macht und Erpressung
Teil II Im Crashmodus
Kapitel 5 Die unbewältigte Finanzkrise
Geldpolitik im Hyperdrive: von Greenspan zu Bernanke
Das Kartenhaus der globalen Schulden
Europa: etwas niedrigere Staatsschulden, dafür ein maroder Bankensektor
Japan, China und die Emerging Markets
Die Folgen von falscher Regulierung und Niedrigzinsen
Der nächste Crash
Kapitel 6 Der Abstieg der Mittelschicht
Lohnzurückhaltung und Globalisierungsfalle
Die Explosion der Vermögenspreise
Volatile Finanzmärkte
Auf dem Weg zum Rentenkollaps
Öffentliche Güter
Der Populismus: Folge, nicht Ursache des Systemversagens
Kapitel 7 Beutewirtschaft, Finanzkapitalismus und die Herrschaft der Superreichen
Die Herrschaft der Superreichen
Eine Reform des Finanzsystems wäre möglich
Solidarische und unsolidarische Eliten
Die Kosten der Ungleichheit
Kapitel 8 Donald Trump, der Populismus und das System
Wahlkampf und Sieg
Auf dem Boden der außenpolitischen Realität: Das Imperium schlägt zurück
Migrations-, Innen- und Wirtschaftspolitik
»Verschwörungen«, Enthüllungen und die Mainstream-Medien: Moskau mischt mit – oder doch nicht?
Im Vorwahlkampf
Kapitel 9 Die Europäische Union: auf dem Weg in die EUdSSR
Das institutionelle Europa: ein komplexer Flickenteppich
Europa als Akteur: zerstritten, wehrlos und fremdbestimmt
Kapitel 10 Der Euro-Crash
Mit Vollgas vor die Wand: Europäisches Währungssystem, Euro und EZB
Das Euro-Desaster: auf dem Weg in die Planwirtschaft
Der »Krieg gegen das Bargeld«
Mehr Planwirtschaft und Umverteilung: Bankenunion, Sicherungssysteme, Arbeitslosenversicherung und Haushalt der Eurozone
Europa vor der Zerreißprobe
Kapitel 11 Deutschlands Abstieg
Modell Deutschland
Deutschland steigt ab
Das »dumme deutsche Geld« und seine Profiteure
Der EZB-Schock: Die Deutschen bilden das Schlusslicht bei der privaten Vermögensbildung in der Eurozone
Die Deutschland AG wird abgewickelt, Deutschland abgezockt
Folgenschwere Fehler Helmut Kohls, rot-grüne Fehlentscheidungen und die katastrophale Kanzlerschaft Angela Merkels
Fallstudie: der Niedergang des deutschen Bildungssystems
Kapitel 12 Deutschland im Weltkrieg um Wohlstand
Nationalstaaten als Wirtschaftsakteure
Produktivkräfte, materielle und immaterielle Wettbewerbsvorteile
Deutschland – ewiger Loser bei grenzüberschreitenden Fusionen und Übernahmen
Der Zermürbungskrieg gegen das deutsche Bank- und Finanzsystem
Der Feldzug gegen die Automobilbranche
Kapitel 13 Fake News, Überwachungsstaat, Repression und die Geburt einer neuen Weltordnung
Drei Zukunftsszenarien
Das Ende der Aufklärung
Lügen in Zeiten des Krieges
Der Weg zur Knechtschaft
Teil III Auswege
Kapitel 14 Einen klaren Kopf bewahren
Kapitel 15 Wie Sie sich auf die Krise vorbereiten
Rückblick: Welche Vermögen wurden seit der Finanzkrise angegriffen?
1. Treffen Sie Vorkehrungen für den Fall des Systemcrashs
2. Ihre Geldanlagen sind »Chefsache« – und zwar Ihre ganz persönliche
3. Verschaffen Sie sich eine finanzielle Schwimmweste – oder besser noch ein Rettungsboot
4. Machen Sie sich ein Bild über die verschiedenen Vermögensklassen
5. Suchen Sie sich sichere Länder und Banken
6. Erstellen Sie Ihre persönliche Vermögensbilanz
7. Erarbeiten Sie sich einen Einnahmen- und Ausgabenplan
8. Stellen Sie Ihre Einnahmen auf eine sichere und breitere Basis
Kapitel 16 Kapitalanlagen für die Krise
Strategische Vermögensaufteilung für die Krise
Vermögensaufteilung in der Krise
Gold und Edelmetalle
Unsicherheitsfaktor Notenbanken
Gold in verschiedenen Formen
Aktien von Goldminenbetreibern
Bargeld, Anleihen und Devisen
Immobilien
Aktien
Königsaktien finden
Gier, Furcht und der Unternehmenswert
Wir können Krise
Don’t lose!
Anhänge
I – Wirtschaftszyklen, Wirtschafts- und Finanzkrisen: Warum sie immer wieder kommen
II – Angelsächsischer Finanzkapitalismus und das deutsch-mitteleuropäische Gegenmodell
III – Arthur Ponsonby: Die Prinzipien der Kriegspropaganda
IV – Finanzwebseiten und alternative Nachrichtenseiten
Danksagung
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Ich habe nicht für Zustimmung und Applaus in der Gegenwart geschrieben, sondern für die Nachwelt; und ich werde zufrieden sein, wenn in der Zukunft Menschen, die sich mit diesen Vorkommnissen befassen oder mit Vorkommnissen, die mit großer Wahrscheinlichkeit in ähnlicher Form erfolgen werden, meine Erzählung nützlich finden werden.
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg
Lange habe ich mich gesträubt, einen Nachfolger zu Der Crash kommt zu schreiben. Das hat mindestens fünf Gründe. Erstens ist es natürlich schwer, einen Megaerfolg wie Der Crash kommt zu toppen. Das Buch ging allein in Deutschland fast 500.000-mal über den Ladentisch und wurde in ein halbes Dutzend Sprachen, darunter Bulgarisch, Polnisch und Chinesisch, übersetzt. »Max Otte legte mit Der Crash kommt im Jahr 2006 eine saubere Analyse vor, erklärte komplizierte Sachverhalte breitenwirksam und hatte zudem etwas Glück. Er dürfte deshalb zu Recht der erfolgreichste deutsche Crash-Guru aller Zeiten sein.«1 Jeder Versuch einer Wiederholung verbot sich daher von selbst.
Zweitens habe ich in dem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt, der seitdem vergangen ist, mehrere erfolgreiche Unternehmen aufgebaut. Wer selbst Unternehmer ist oder wirtschaftlich auf eigenen Beinen steht, vermag vielleicht nachzuvollziehen, wie viel Energie dafür nötig ist.
Drittens verspüre ich nicht das Bedürfnis, zu allem und jedem ein Buch auf den Markt zu werfen, sondern warte lieber in Ruhe ab, bis die Zeit reif ist.
Viertens kopiere ich mich nicht gern selbst. Immer wieder wurde mir von wohlmeinenden Menschen nach der Finanzkrise und dem Megaerfolg von Der Crash kommt geraten, doch ein weiteres Buch zu schreiben, um an den Erfolg anzuknüpfen. Jemand riet mir, ein Buch mit dem Titel Der Aufschwung kommt zu verfassen. Da würde ich dann gleich den nächsten Hit landen, meinte er. Das habe ich nicht getan. Aber andere kopierten fleißig. Es erschienen nacheinander die Titel Die Inflation kommt2 und Der Staatsbankrott kommt3. Schließlich schrieb ein Vermögensverwalter tatsächlich ein Buch mit dem Titel Der Aufschwung kommt.4 Das Titelformat hat weiter Konjunktur: In jüngster Zeit erschienen Der Terror kommt sowie Megacrash – Die große Enteignung kommt.5
Und fünftens – das war meine größte Sorge – würde dieses neue Buch noch mehr als Der Crash kommt außerhalb der Komfortzone vieler Menschen liegen, weil es noch ungemütlicher würde. Die Welt hat eine Richtung genommen, wie ich sie in Der Crash kommt zwar leise als Gefahr angedeutet, mir sie aber ansonsten für meine Albträume reserviert habe. Der Schuldenstand der Welt ist durch diverse Banken- und Eurorettungsaktionen auf den höchsten Stand aller Zeiten gestiegen, Krieg und Krisen brechen aus, eine Migrations- und Terrorwelle überschwemmt Europa und die Gesellschaften sind zunehmend zerrissen und polarisiert. Es droht nicht nur ein Finanzcrash, sondern ein Crash des Weltsystems. Wenn wir diesen abwenden oder uns wenigstens darauf vorbereiten wollen, müssen wir die Ursachen und Gründe analysieren.
Deshalb lege ich mehr als dreizehn Jahre nach Der Crash kommt dieses Buch nun doch vor.
Prüft jedoch alles und behaltet das Gute!
1. Thessalonicher 5:21
In dem Science-Fiction-Spektakel Matrix muss der von Keanu Reeves verkörperte Protagonist Neo erleben, wie seine gesamte bisherige Welt zusammenbricht und er in einer Welt erwacht, wie er sie sich in seinen düstersten Albträumen nicht vorgestellt hatte. In einer postapokalyptischen Landschaft herrschen die Maschinen. Für ihren eigenen Energiebedarf bauen sie Menschen an, die sie in Millionen Flüssigkeitsbehältern halten. Die unbeweglichen Körper sind über Kabel mit einem System, der »Matrix«, verbunden, das ihnen eine virtuelle Realität vorspielt. Der Moment, in dem die Hauptperson Neo erwacht und zum ersten Mal diese Welt erblickt, ist einer der beeindruckendsten Momente der jüngeren Filmgeschichte.
Eine geschickt aufgebaute Handlung führt zu diesem Moment. Immer wieder erlebt Neo in seiner Welt – seiner Traumwelt, wie sich herausstellt – Inkonsistenzen. Manche Begebenheiten passen einfach nicht. Schließlich wird er von Morpheus, dem Anführer des Widerstandes gegen die Maschinen, vor die Wahl gestellt:
Dies ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Wenn du die blaue Pille nimmst, endet diese Geschichte. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst, was du glauben willst. Wenn du die rote Pille nimmst, bleibst du im Wunderland und ich zeige dir, wie tief das Kaninchenloch wirklich ist. Denk daran: Ich biete nur die Wahrheit an. Nicht mehr.
Ich bin nicht der Erste, der die Szene von der blauen und der roten Pille zitiert. Im vorliegenden Buch werde ich sehr unangenehme Themen ansprechen und sehr unbequeme Erklärungen anbieten. Einige von Ihnen werden vielleicht denken: »Das kann doch nicht wahr sein!« Vielleicht sogar: »Das kann nicht wahr sein, weil es nicht wahr sein darf.« Manche von Ihnen werden das Buch vielleicht aus der Hand legen, weil es ihnen zu unangenehm ist.
Machen wir uns nichts vor: Die meisten Menschen ziehen es vor, in ihrer Matrix zu leben, und zwar egal, ob die »echte« Welt ein Albtraum oder ob sie eigentlich ganz nett ist. Seit Platon wissen wir, dass die Welt, die wir wahrnehmen, eine Projektion unseres Gehirns ist. Neurowissenschaftler, Anthropologen und Soziobiologen wissen mittlerweile recht gut, wie sich unser Denken entwickelt hat und wie es funktioniert: lückenhaft und selektiv, oft vorschnell und emotional sowie am Gruppenkonsens orientiert.1 Echtes Denken ist selten. Und anstrengend. Deswegen gibt es zum Beispiel in der Finanzwelt so wenige gute Investoren und so viele Schwätzer. Und deswegen machen wir es uns so gern in unserer selbstgemachten oder für uns von anderen vorbereiteten Matrix bequem.
Aber ich schreibe nicht für alle. Ich schreibe für diejenigen, die wirklich nach Erklärungen suchen für das Chaos, das derzeit auf der Welt herrscht, die Bedrohung der Freiheit, den Populismus, den Abstieg der Mittelschicht, die Kriege. Die bereit sind, ihre eigene Matrix infrage zu stellen. Es wird in diesem Buch auch um Krieg und Leiden gehen, Tatsachen, die im neuen Jahrtausend genauso präsent sind wie im vergangenen.
Dabei greife ich auf einen reichen Fundus von Klassikern und aktuellen politischen Denkern zurück, von Thukydides über Halford Mackinder und Carl Schmitt bis zu Robert Gilpin und Henry Kissinger. Alle diese Denker gehören der »realistischen Schule der Politikwissenschaft« an. Ich bin zwar als Ökonom bekannt, habe aber auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen viel geforscht.2 In diesem Buch stütze ich mich bei meiner Analyse der Ursachen und Folgen der aktuellen Weltkrise auf die gerade erwähnte realistische Schule der Politikwissenschaft, die meiner Ansicht nach die Welt besser erklären kann als Sozialismus und (Neo-)Liberalismus. Zudem sind in den letzten Jahren große Fortschritte auf dem Gebiet der Gehirnforschung, der evolutionären Erkenntnistheorie, der Anthropologie und der Soziobiologie gemacht worden. Sie stützen meinen Erklärungsansatz. Shit happens. Heute wissen wir viel besser, warum.
***
Es sind verschiedene Mechanismen unseres Gehirns, die uns immer wieder Fehler machen lassen: das (vor)schnelle, instinktgetriebene und intuitive Denken, die selektive Wahrnehmung, das Phänomen der kognitiven Dissonanz und das Gruppendenken. Diese Mechanismen waren im Verlauf unserer Evolution überlebenswichtig – und sie sind es oft immer noch –, aber verleiten uns in der modernen, komplexen und technisierten Welt auch dazu, Fehler zu machen. Sie lassen uns simpler Propaganda folgen, in der Matrix der Medien gefangen bleiben, Gruppendenken und Ausgrenzung betreiben und kolossale Fehler begehen. Im schlimmsten Fall lassen wir uns in unnötige Kriege hineinziehen.3
Denn Kriege beginnen fast immer mit Lügen. Das war beim Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 der Fall, als Otto von Bismarck mit der »Emser Depesche« einen Kriegsgrund inszenierte, beim Krieg, den die USA 1903 gegen Kolumbien führten, um Panama abzuspalten und sich die Kontrolle über den Kanal zwischen Atlantik und Pazifik zu sichern4, und beim Vietnamkrieg, der mit dem Zwischenfall im Golf von Tonkin Fahrt aufnahm. Auch dieser Zwischenfall, wie sich im Nachhinein herausstellte, war inszeniert.
In jüngerer Zeit begannen beide Kriege der USA gegen den Irak mit Lügen. Im Ersten Irakkrieg 1990 war es die professionell inszenierte »Brutkastenlüge«, die die amerikanische Öffentlichkeit mobilisierte, im Zweiten Irakkrieg die Lüge von irakischen Massenvernichtungswaffen, die der sichtlich gestresste Außenminister Colin Powell der UNO auftischen musste. Zwar brachte Powell einen Disclaimer an – er sagte: »nach dem, was mir meine Quellen berichten« –, aber es war ihm wohl klar, dass er die Unwahrheit verbreiten musste, damit die USA einen Kriegsgrund hatten. In ihren Büchern und Vorträgen zeigen der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders und der Friedensforscher Daniele Ganser auf, wie westliche Politik, gestützt auf Lügen und Legenden, den Nahen Osten ins Chaos gestürzt hat, mit Folgen, die wir ab 2015 auch in Deutschland unmittelbar zu spüren bekamen.5
Im Bücherschrank meines Vaters stand Psychologie der Massen von Gustave Le Bon, ein Klassiker aus dem Jahr 1895. In diesem Buch legt der Arzt und Psychologe eine Theorie des Herdentriebs vor und zeigt systematisch auf, wie in vielen Massenphänomenen das Unbewusste die Entscheidungen der Menschen beeinflusst: »Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert.«6 Das »Gehirnleben« tritt zurück, das »Rückenmarkleben« herrscht vor. »In der Gemeinschaftsseele versinkt das Ungleichartige im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen.«7
Heute ist das, was Le Bon so treffend beschrieb, durch viele wissenschaftliche Experimente erhärtet. Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman nennt es »schnelles Denken«. Es läuft intuitiv, reflexartig und automatisch ab, während bewusstes, rationales Denken langsam ist. Kahneman erhielt 2002 den Nobelpreis für Ökonomie, und zwar für seine Forschungen im Bereich »Behavioral Finance« (verhaltenstheoretische Erklärungsansätze bei ökonomischen Entscheidungen), in denen er das Herdenverhalten bei Investmententscheidungen auf spezielle Gehirnaktivitäten zurückführen konnte. Probanden wurden in einen Kernspintomografen geschoben und mit Fragen zu Geldanlagen konfrontiert. Diese sollten sie per Knopfdruck beantworten. So wurden sie gefragt: »Hätten Sie lieber 100 Dollar jetzt oder 110 Dollar in vier Monaten?« Die Fragen waren zum Teil sehr einfach, zum Teil aber recht knifflig. Der Kernspintomograf machte sichtbar, welche Bereiche des Gehirns bei der Beantwortung der Fragen besonders aktiv waren.
Die Erkenntnisse waren verblüffend: Immer wenn sich der Proband für die sofortige Geldauszahlung entschied, war besonders der Hirnstamm aktiv, Le Bons »Rückenmark«. Dieser evolutionsgeschichtlich sehr alte Gehirnteil ist auch bei Reptilien vorhanden und wird deswegen auch »Reptiliengehirn« genannt. Das bewusste Denken, für das das Großhirn verantwortlich ist, wurde nur dann »eingeschaltet«, wenn der Teilnehmer der Studie sich für eine spätere Geldauszahlung entschied.
Kahnemans Schlussfolgerung: Ein Großteil unseres Investmentverhaltens wird von Mechanismen gesteuert, die aus einer Zeit stammen, als es nur um eines ging: ums Fressen oder Gefressenwerden. Kampf, Angriff oder Flucht sind Verhaltensmuster, die uns bis heute beeinflussen. Bei der Geldanlage oder bei vielen anderen Entscheidungen sollten jedoch nicht Emotionen den Ausschlag geben, sondern ein kühl kalkulierender Kopf, der zukünftige Renditen und Risiken möglichst sachlich und nüchtern analysiert. Spontane Reaktionen sind absolut kontraproduktiv. Wir steuern unsere Investmententscheidungen mit Mechanismen, auf die sich auch Reptilien verlassen. Erfahrene Anleger haben damit den Beleg für das, was sie schon immer wussten: 90 Prozent des Anlageerfolgs bestehen darin, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. Das Kahneman-Experiment hat gezeigt, warum Anleger sich gelegentlich extrem idiotisch verhalten. Und was für Anlageentscheidungen gilt, gilt auch für viele andere Bereiche des Lebens.
Der kognitive Archäologe Steven Mithen, langjähriger Leiter der School of Human and Environmental Sciences an der University of Reading hat mit Prehis-tory of the Mind eine Entstehungsgeschichte menschlichen Denkens geschrieben.8 Nach Mithen hat sich das Denken in verschiedenen relativ unabhängigen Modulen entwickelt, die in uns angelegt sind, so der allgemeinen Intelligenz, der Sprachfähigkeit, der Umwelterkennung und der sozialen Intelligenz. Erst relativ spät in unserer Entwicklung vernetzten sich die verschiedenen Module zum Denken des modernen Menschen.
Der Mensch ist als Gruppenwesen stark geworden, als wir durch die Savannen Afrikas streiften.9 Nur in der Gruppe konnten wir überleben. Mithen – wie viele Evolutionsbiologen – geht davon aus, dass mehr als die Hälfte unseres Denkens von der sozialen Intelligenz in Anspruch genommen wird. Wir vergleichen uns ständig mit anderen und versuchen, unsere Position in der Gruppe zu bestimmen. Wir registrieren, wenn wir auf- oder absteigen oder wenn sich das Gefüge in der Gruppe verändert.10 Auch das permanente Vergleichen in der Statusgruppe ist »Problemlösung« – soziale Problemlösung. Wenn sich jemand zu sehr vom Gruppenkonsens entfernt, läuft er oder sie Gefahr, ausgestoßen zu werden. So wird bei einer nüchternen Betrachtung klar, warum sich so wenige Menschen trauen, das Gruppendenken zu verlassen, und warum wirklich unabhängiges Denken selten ist.
Unsere menschliche Wahrnehmung ist zudem fokussiert und zielorientiert. Die menschlichen Augen gleichen Raubtieraugen, der Blick ist nach vorn gerichtet, um Objekte und Beute zu fixieren. Die Augen von Pflanzenfressern hingegen sind seitlich am Kopf platziert, um ein möglichst breites Umfeld zu überblicken. Das Grundmuster des Verhaltens von Menschen und Raubtieren ist ein »hin zu«, während bei Pflanzenfressern zuerst die Fluchtinstinkte angesprochen werden: »weg von«. Erstmalig hat diese Muster der Universalphilosoph Oswald Spengler in seiner Schrift Der Mensch und die Technik beschrieben.11
Diese ererbte Zielorientierung hilft uns auch in Zeiten, in denen wir nicht mehr durch die Steppen und Savannen streifen und nach dem nächsten Beutetier Ausschau halten. Wir können uns ganz auf ein Ziel fokussieren und viele Widerstände überwinden oder einfach ausblenden, um es zu erreichen. Arnold Schwarzenegger, der ehemalige Bodybuilder, Filmschauspieler und Gouverneur von Kalifornien, schuf sich seinen eigenen Mythos. Immer wieder erzählt er seine Lebensgeschichte und schreibt seine Erfolge maßgeblich seiner Fähigkeit zu, sich ganz auf ein Ziel zu konzentrieren und alles um sich herum auszublenden.
Wie selektiv unsere Wahrnehmung sein kann, zeigt das Experiment des unsichtbaren Gorillas, das Daniel Simons von der University of Illinois und Christopher Chabris von der Harvard University durchführten.12 Testpersonen wurde ein Film gezeigt, in dem Spieler mit schwarzen und weißen T-Shirts einander einen Basketball zuwerfen. Die Probanden sollten zählen, wie oft der Ball von schwarz nach weiß und umgekehrt wechselt. Die meisten lösten ihre Aufgabe gut und nannten die korrekte oder eine nahezu korrekte Zahl. Was aber mehr als die Hälfte der Testpersonen nicht bemerkte: mitten im Spiel taucht ein Mann in einem Gorillakostüm auf, wandert in die Bildmitte, trommelt sich auf die Brust und geht wieder aus dem Bild. So fokussiert – und damit irregeleitet – kann unsere Wahrnehmung sein.13
Wenn unser Gehirn aber schon durch ein einfaches Experiment mit Spielern in schwarzen und weißen T-Shirts und einem Basketball zu ernsthaften Fehlleistungen verführt werden kann, wie viel schwieriger ist es dann, sich bei komplexen politischen Problemen, zum Beispiel beim Klimawandel oder bei der Ukraine-Krise, ein umfassendes und fundiertes Bild zu machen? Je komplexer die Themen, desto eher kann unser Unter- und Unbewusstes manipuliert werden.
Dass die Mainstream-Medien lückenhaft und tendenziös berichten, dürfte vielen Lesern dieses Buchs bewusst sein. Hier ist nicht die Stelle, das zu vertiefen. In diesem Buch analysiere ich die Realität hinter der Matrix. Wenn Sie sich zur Lückenhaftigkeit der Matrix der Medien informieren wollen, sind dazu mittlerweile viele Bücher von respektablen Autoren erschienen. Eines der ersten war Mainstream von Uwe Krüger, in dem sich der Medienwissenschaftler von der Universität Leipzig vor allem die Berichterstattung zur Ukraine-Krise vornahm.14 Markus Gärtner, Chefredakteur unseres Informationsdienstes Privatinvestor Politik, schrieb ebenfalls darüber.15 Für die Medienblasen des Mainstreams ist für Alexander Unzicker das Phänomen der kognitiven Dissonanz mitverantwortlich. In seinem aktuellen Buch mit dem Untertitel Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten liefert Unzicker eine umfassende Erklärung, warum die Medien arbeiten, wie sie arbeiten.
Die meisten Menschen haben ein mehr oder weniger fertiges, geschlossenes Weltbild. Das müssen sie auch haben, um die Masse der Informationen, die auf sie eindringen, verarbeiten zu können. Wenn sie aber mit Informationen konfrontiert werden, die dieses Weltbild infrage stellen, entsteht bei vielen Menschen ein Unbehagen, genau, wie es Neo in Matrix verspürte. Dieses Unbehagen halten wenige aus. Deswegen werden Nachrichten, die das eigene Weltbild infrage stellen, gern heruntergespielt oder verdrängt. Die verhaltenswissenschaftliche Forschung nennt das »Bestätigungsfehler« oder »Confirmation Bias«.16 Das geht bis zur Sprachlenkung und gewollten Verdrängung. Im Jahr 2014 setzte die Aktion »Unwort des Jahres« zum Beispiel den Begriff »Lügenpresse« auf den Index der verpönten Wörter.17
Ja, es ist schwer, das eigene Weltbild zu hinterfragen. Deswegen machen es auch so wenige. Erfolgreiche Menschen stellen sich hingegen häufig selbst infrage.18 Als Investor frage ich mich ständig: »Wo könnte ich falschliegen?« Das ist viel wichtiger (und schwieriger), als weitere Bestätigungen dafür zu suchen, dass ich richtigliege.
Diese »Selbstbestätigung« kann groteske Züge annehmen. In seinem Buch The Broken Ladder (»Die zerbrochene Leiter«) beschreibt der Psychologe und Neurowissenschaftler Keith Payne, wie wir als politisches Wesen funktionieren, warum die gegenwärtige Gesellschaftsordnung im Westen nicht mehr richtig funktioniert und welche Tricks uns das Gehirn dabei spielt. Er führt dazu viele aktuelle wissenschaftliche Experimente an. In einer in Schweden durchgeführten Umfrage wurden »linke« und »rechte« Probanden zu zwölf wichtigen politischen Fragen befragt. Sie sollten dazu einen Fragebogen ausfüllen. Während die Teilnehmer mit dem Fragebogen beschäftigt waren, beobachtete sie der Interviewer und füllte seinerseits ein zweites Blatt aus. Das Perfide daran: Er kreuzte bei der Hälfte der Antworten genau das Gegenteil von dem an, was der Teilnehmer angekreuzt hatte. Der manipulierte Fragenbogen wurde dann den Probanden in einer kontrollierten Situation zurückgegeben. Zudem wurden sie aufgefordert, ihre Meinung zu erklären, und gefragt, ob sie irgendetwas korrigieren wollten. Das schockierende Ergebnis: 47 Prozent der Probanden bemerkten gar nicht, dass die Antworten manipuliert worden waren. Und von den restlichen 53 entdeckten die meisten nur ein oder zwei Manipulationen, nicht alle sechs.19
Ja, Denken ist schwer!
Sind Sie bereit, Ihre Anschauungen und Denkmuster infrage zu stellten? Wollen Sie Ihre Wahrnehmung politischer Phänomene schärfen? Dann gehen Sie mit mir auf die Reise! Alles, was ich Ihnen anbieten kann, ist meine ungeschminkte Sicht der Dinge.
Die Welt ist im Wandel, ich spüre es im Wasser, ich spüre es in der Erde, ich rieche es in der Luft.
Die Elbin Galadriel in Der Herr der Ringe
Die Welt bricht zusammen, und sie machen sich Sorgen um Nicaragua!
Der Politikwissenschaftler Robert Gilpin anlässlich einer Nicaragua-Konferenz in Frühjahr 1990
Wie oft schon wurden ewiger Wohlstand, Wohlstand für alle oder auch der Weltfrieden ausgerufen! Und genauso oft enttäuschten diese hehren Visionen, nicht, weil sie es nicht wert waren, dass man für sie kämpfte, sondern weil sich die Natur der menschlichen Zivilisation nicht einfach grundlegend verändern lässt. Auf Aufschwungphasen folgen Abschwünge, auf lange Jahre der Ruhe stürmische Veränderungen, auf Frieden Krieg.
Max Otte, Der Crash kommt
Life is, in fact, a battle. Evil is insolent and strong; beauty enchanting, but rare; goodness very apt to be weak; folly very apt to be defiant; wickedness to carry the day; imbeciles to be in great places, people of sense in small, and mankind generally unhappy. But the world as it stands is no narrow illusion, no phantasm, no evil dream of the night; we wake up to it, forever and ever; and we can neither forget it nor deny it nor dispense with it.
Henry James, Theory of Fiction1
Robert Gilpin, Professor für internationale Beziehungen an der Princeton University, war von unauffälliger Erscheinung. Der kleine, leicht untersetzte Mann sprach leise, lebte zurückgezogen und drängte sich in Diskussionen nie auf. Vielleicht war gerade das der Grund, dass er mit seinen Büchern unser Verständnis für das derzeitige »Weltbeben« so tief bereichern konnte und kann. Als Gilpin 2018 starb, urteilte sein Kollege Aaron Friedberg, mein Doktorvater: »Bob war eine überragende Figur in der Theorie der internationalen Beziehungen, sicherlich einer der originellsten und wichtigsten Denker nach dem Zweiten Weltkrieg.«2
Ich erinnere mich an eine kurze Unterhaltung, die ich im Frühjahr 1990 mit ihm führte. Wir begegneten uns im imposanten Foyer der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs an der Princeton University, wo gerade eine Konferenz über Nicaragua stattfand. Das kleine sozialistische Land genoss in den 1980er-Jahren einen gewissen Kultstatus, vor allem bei linken Intellektuellen. In Europa brach gerade der Kommunismus zusammen. Die Sowjetunion und andere Länder des real existierenden Sozialismus befanden sich in einem tiefgreifenden Wandel, an dessen Ende oft die Auflösung der entsprechenden Staatsgebilde stand. Wir wechselten ein paar Worte. Und dann sagte Gilpin einen Satz, der sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis einbrannte: »Die Welt bricht zusammen, und sie machen sich Sorgen über Nicaragua.«3
Während sich alle Welt über den Zusammenbruch des Kommunismus freute, der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama gar das »Ende der Geschichte« ausrief, war Gilpin alles andere als zuversichtlich, ja tief besorgt. Auch für den »Hauptvertreter der internationalen politischen Ökonomie aus nicht-marxistischer Sicht«4 war eine Zeitenwende eingetreten – doch für ihn war es der Beginn einer Epoche großer Umwälzungen und Gefahren, an deren Ende durchaus ein großer Krieg stehen konnte. Höchste Gefahrenstufe also.
Fast drei Jahrzehnte später lässt sich nicht leugnen: Gilpin hatte recht! Wir befinden uns mitten in einer tiefen und anhaltenden Weltkrise. Sie umfasst alle Lebensbereiche und umspannt den ganzen Globus. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurden Nordafrika und der Nahe Osten destabilisiert. Ein neuer Kalter Krieg zwischen Russland und den USA droht, Europa in den Abgrund zu reißen. Die Aufrüstung im Osten Europas schreitet seit der Ukraine-Krise in beängstigendem Tempo fort. Die Destabilisierung Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens hat dazu geführt, dass Europa von Migrationsströmen überschwemmt wird, was zur Spaltung der dortigen Gesellschaften beiträgt. Handelskriege flammen auf, zwischen den USA und China, aber auch mit Europa. Spannungen im Südchinesischen Meer und auf der koreanischen Halbinsel halten uns immer wieder in Atem.
Nein, die »neue Weltordnung« gleicht keinesfalls dem, was Francis Fukuyama 1992 prognostizierte. Fukuyama schrieb damals, dass der »westliche Liberalismus« gesiegt habe und die größeren Konflikte der Menschheit zu Ende seien. Zwar werde es noch kleinere Diskussionen und Auseinandersetzungen geben, aber die großen Fragen seien gelöst.
Nun, die Geschichte meldet sich mit Wucht zurück. Nichts ist weiter von der Realität im Jahr 2019 entfernt, als Fukuyamas Vision einer friedlichen, fast langweiligen Welt. Stattdessen finden wir uns in einer Welt wieder, auf welche die von Fukuyamas Kollegen Samuel Huntington vertretene Theorie vom »Kampf der Kulturen« viel eher zuzutreffen scheint.5 Für den neokonservativen Theoretiker Robert Kagan gleicht der aktuelle Zustand eher der unübersichtlichen Welt Marco Polos: Die internationalen Beziehungen stellen sich mehr als Dschungel denn als wohlgeordnetes Staatensystem dar.6
In den letzten Jahren sind etliche Bücher erschienen, die sich mit diesen Veränderungen und Umwälzungen befassen. Manche davon, wie Weltbeben des ehemaligen Handelsblatt-Herausgebers Gabor Steingart7 und Machtbeben von Dirk Müller, wurden zu Bestsellern.8Weltbeben ist brillant geschrieben und fesselt. Vordergründig. Es finden sich darin drastische Aussagen und Zustandsbeschreibungen, auf die ich später an geeigneter Stelle zurückkommen werde. Wie bei einer schnell geschnittenen Reportage fängt die Kamera deutliche und schockierende Bilder ein. Aber dabei bleibt es auch. Weltbeben ist eine Momentaufnahme der Welt, die den Leser etwas benommen und verwirrt ob des Tempos der Schnitte und des Mangels an tieferen Erklärungen zurücklässt.
Nicht nur das internationale System ist im Wandel; auch in den Gesellschaften der reichen Industrienationen, gemeinhin als »der Westen« bekannt, brodelt es. Neue Bewegungen zweifeln die bestehende politische Ordnung beziehungsweise das System an, teils als politische Partei wie in Österreich die FPÖ, in Deutschland die AfD, in Frankreich der Rassemblement National (früher Front National) und in den Niederlanden die Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders und das Forum voor Democratie, in Italien das Movimento 5 Stelle (5-Sterne-Bewegung) und die Lega Nord, in Spanien VOX, teils als Bürgerbewegung wie die Gelbwesten in Frankreich oder die Brexit-Bewegung in Großbritannien. Bei der EU-Wahl im Mai 2019 wurden der Rassemblement National und die Brexit Party in ihren Ländern stärkste Kraft. In den USA hat es mit Donald Trump ein bekennender Populist ins Präsidentenamt geschafft, in Österreich befand sich die Freiheitliche Partei bis zur Ibiza-Affäre um Vizekanzler Heinz-Christian Strache in der Regierungsverantwortung.
Aufgrund ihrer starken Kritik am System werden die neuen politischen Bewegungen von den Mainstream-Medien gern als »populistisch« bezeichnet. Bei all ihrer Unterschiedlichkeit teilen die Populisten die Sorge um den Rechtsstaat, betrachten Migration äußerst kritisch, sehen die Mittelschicht als bedroht an und diagnostizieren dysfunktionale Politikeliten. Fast alle wollen den Nationalstaat stärken und die Einwanderung kontrollieren.
Dabei hat der Populismus durchaus ökonomische Gründe. Das Wirtschaftswachstum in den Industrienationen ist schwach; das Produktivitätswachstum, zumindest im Westen, auf dem niedrigsten Niveau seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Millionen Angehörige der Mittelschicht sind ökonomisch bedroht oder bereits in die Armut abgerutscht. »Viele Sorgen, die der Gegenbewegung zur Globalisierung zugrunde liegen, sind real«, schreiben die OECD-Ökonomen in ihrem »Beschäftigungsausblick 2017« über die Arbeitsmärkte der 34 Industriestaaten.9
Vor beinahe einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1996, landeten die damaligen Spiegel-Redakteure Hans-Peter Martin und Harald Schumann mit Die Globalisierungsfalle – Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand einen Megabestseller, der 800.000-mal über den Ladentisch ging und in 27 Sprachen übersetzt wurde.10 Die Autoren argumentieren, dass durch die Globalisierung Mittelschicht und Demo-kratie unter Druck geraten, unter anderem weil die Staaten durch den Standortwettbewerb erpressbar werden. Fünf Jahre später legte Harvard-Professor Dani Rodrik in Das Globalisierungs-Paradox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft nach. Die Globalisierung würde dann am besten funktionieren, wenn sie nicht zu weit getrieben würde.11 Diese eigentlich kritische Sicht der Dinge hört man heute in den Mainstream-Medien und von linksliberaler Seite immer seltener.
Stattdessen verbreiten der Mainstream und die etablierten Parteien von »konservativ« über liberal, grün und sozialdemokratisch ein unkritisches Hohelied auf die Globalisierung und stellen jede Rückbesinnung als potentielle Katastrophe dar. »Unter den modernen Atheisten gilt Zweifel am Fortschritt gewissermaßen als Blasphemie«, schreibt John Gray, Professor für Ideengeschichte und Literatur an der London School of Economics. »Anzunehmen, dass man den Fortschrittsmythos abschütteln könnte, würde bedeuten, der modernen Menschheit eine Fähigkeit zur Verbesserung zuzubilligen, die noch weit über jene hinausgeht, die sie selbst für sich in Anspruch nimmt.«12
Wenn fanatisch darauf beharrt wird, dass die Globalisierung nur eine Richtung haben darf, fühlt man sich an die Worte »vorwärts immer, rückwärts nimmer« erinnert, die der SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker anlässlich des 40-jährigen Bestehens der DDR am 7. Oktober 1989 sprach. Einen Monat später brach die Revolution aus.
Im Jahr 2006 veröffentlichte ich Der Crash kommt. Darin prognostizierte ich eine große Finanzkrise für die Zeit zwischen 2007 und 2010. »Die Globalisierung selbst hat eine große Blase erzeugt, die über kurz oder lang entweder schnell platzen oder langsam in sich zusammensinken muss.« Ich wagte mich weit heraus: »Nach allem, was mir meine Daten sagen, ist eine Weltwirtschaftskrise in den nächsten fünf Jahren sehr wahrscheinlich.« Als wahrscheinliche Ursache identifizierte ich das Platzen der Immobilien- und Subprime-Hypothekenblase in den USA. Außerdem sagte ich in dem Buch voraus: die Insolvenz von General Motors innerhalb von zwei Jahren und den Aufstieg Chinas zur größten Volkswirtschaft der Welt bis zum Jahr 2016.
Und tatsächlich: Die Finanzkrise brach im Herbst 2008 mit voller Wucht über uns herein. Am 15. September 2008 musste die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden. Etwa 25.000 Menschen verloren in kurzer Zeit ihre Arbeit, 400 Milliarden Dollar an Außenständen standen auf dem Spiel, ein bedeutendes Handelszentrum fiel aus. Panik machte sich breit. Die Märkte stürzten ab. Banken mussten gerettet werden. Konjunkturprogramme wurden aufgelegt. Kurze Zeit sah es tatsächlich so aus, als ob die Welt in eine ähnlich tiefe Depression stürzen würde wie zuletzt nach 1929. Es folgte ein kurzer, drastischer Rückgang des Welthandels und eine scharfe Rezession. General Motors meldete innerhalb von zwei Jahren tatsächlich Insolvenz an. China stieg bereits 2014 zur nach Kaufkraft größten Wirtschaftsnation der Welt auf und hatte 2018 bereits ein um 20 Prozent größeres Potenzial als die US-Wirtschaft.13
Aber die Globalisierungsblase ist (noch) nicht geplatzt. Eine Weltwirtschaftskrise wie die Große Depression nach 1929 ist nicht ausgebrochen. Stattdessen haben wir die Krise verschleppt, in der Hoffnung, sie damit zu besiegen. Dazu fanden beispiellose Eingriffe und Manipulationen der Notenbanken in Form von Geld druckorgien, noch höherer Staatsverschuldung und Konjunkturprogrammen statt. Die Notenbanken kauften sogar Staats- und Unternehmensanleihen in großem Umfang auf. Solche Maßnahmen waren früher zu Recht verpönt, weil der Staat so direkt in das Wirtschaftsgeschehen eingreift, wie es bestenfalls in Kriegszeiten gerechtfertigt ist.
Als selbst der Aufkauf von Anleihen nicht mehr fruchtete, begann man vor einigen Jahren mit der Einführung von Negativ- und Strafzinsen. Mittlerweile trifft das auch Privatpersonen mit größeren Sparguthaben. Auch das reicht anscheinend nicht. Weiter dreht sich die Kontroll- und Manipulationsspirale. Nun soll uns unter Einsatz einer beispiellosen Propagandaschlacht das Bargeld, eine der letzten Bastionen gegen die schleichende Enteignung, verleidet und, wenn nötig, auch durch Zwangsmaßnahmen weitgehend verdrängt werden.14 In Schweden könnte schon 2023 das Bargeld komplett abgeschafft sein.15 Man fühlt sich unangenehm an Friedrich August Hayeks Warnung in Der Weg zur Knechtschaft erinnert.16 Am Ende der von Hayek beschriebenen Spirale stehen totalitäre Systeme, ein Kontrollstaat und, im schlimmsten Fall, Krieg.
Einerseits scheint die Weltwirtschaft – irgendwie – noch zu wachsen, wenn auch langsam. Die Aktienmärkte notieren auf Höchstständen; auch viele Immobilienmärkte haben sich seit der Finanzkrise stark erholt. Andererseits haben wir uns dieses Wachstum durch eine Politik des ultrabilligen Geldes und der direkten Staatsinterventionen erkauft, die auch ich mir in diesem Umfang 2006 schlichtweg nicht vorstellen konnte. Nullzinsen, sogar Negativzinsen, dazu der Versuch, das Bargeld abzuschaffen, tiefgreifende Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger – das alles wäre mir zu meinen Studienzeiten in den 1980er-Jahren als ökonomischer Wahnsinn erschienen. Und meinen Professoren und Kommilitonen ebenso. Heute ist es Realität. Es führte unter anderem dazu, dass ich am 14. Mai 2016 zusammen mit Joachim Starbatty an der ersten Demonstration meines Lebens teilnahm und in Frankfurt vor der Hauptwache vor der schleichenden Bargeldabschaffung warnte.17
Stellen wir uns einen Heißluftballon vor, der zunehmend Löcher und Risse bekommt, weil das Material brüchig geworden ist. Hastig versuchen wir, die Löcher mit Klebestreifen abzudichten, während wir von unten immer schneller heiße Luft in den Ballon hineinströmen lassen. Noch halten wir uns durch diese Behelfslösungen in der Luft. Aber lange geht das nicht mehr gut. In nicht allzu ferner Zukunft sinkt der Ballon oder stürzt rapide ab oder geht in Flammen auf. So ähnlich ist das mit der Weltwirtschaft. Die heiße Luft ist in diesem Fall die Liquidität, die wir in immer größerer Menge in das Wirtschaftssystem strömen lassen.
So treffen eine Weltordnung, die langsam zerfällt, sowie polarisierte und zerrissene Gesellschaften im Westen auf ein labiles ökonomisches System, das sich seit der Finanzkrise kaum erholt hat. Keine guten Aussichten.
Im Ersten Irakkrieg (August 1990 bis Februar 1991) sah es noch so aus, als ob Fukuyamas Vision vom »Ende der Geschichte« sich bewahrheiten könnte. Eine breite, auch von Russland unterstützte Koalition stellte sich dem Irak entgegen, der den kleinen Nachbarstaat Kuwait überfallen und besetzt hatte. Nach schnellen, entscheidenden Siegen wurde Kuwait befreit; der Krieg war mit Erreichen dieses Ziels beendet. US-Präsident war George H. W. Bush, der im Zweiten Weltkrieg gedient hatte und für ein diplomatisches Umfeld ausgebildet worden war, in dem Staaten begrenzte Ziele verfolgten und den gegenseitigen Interessenausgleich suchten.
Allerdings begann selbst dieser Krieg, für den es durchaus legitime Gründe gab, mit einer Lüge. Die Öffentlichkeit wurde durch die sogenannte Brutkastenlüge mobilisiert. Eine angebliche Krankenschwester namens »Nayirah« berichtete am 10. Oktober 1990 vor dem Menschenrechtskomitee des amerikanischen Kongresses unter Tränen, dass irakische Soldaten Babys aus den Brutkästen ihres Krankenhauses gerissen hätten, um sie sterben zu lassen. Später stellte sich heraus, dass Nayirah die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA war und die ganze Geschichte von der Werbeagentur Hill & Knowlton erfunden worden war, um die Öffentlichkeit für den Krieg zu mobilisieren.18
In seiner Rede vor dem Kongress zum Irakkrieg, ausgerechnet am 11. September (!) 1990, sprach Bush davon, eine »neue Weltordnung« schaffen zu wollen; so ist die Rede überschrieben: »Toward a New World Order«.19 Bush meinte damit eine »liberale Weltordnung«, in der die Vereinigten Staaten die Rolle des unbestrittenen Führers wie des ultimativen Schiedsrichters einnehmen sollten.
Aber schon kurz danach begann die Erosion der internationalen Ordnung. Bei dem langsamen und unter großen Opfern und Leiden der Zivilbevölkerung erfolgten Untergang des Vielvölkerstaats Jugoslawien, der 1991 einsetzte, war die Situation deutlich unübersichtlicher. Der Zerfall war mit einer ganzen Reihe von Kriegen verknüpft.
Der 10-Tage-Krieg in Slowenien war 1991 schnell beendet, denn in der Teilrepublik lebten kaum Vertreter der serbischen Volksgruppe, welche die jugoslawische Staats- und Parteiführung dominierten. Der Kroatienkrieg (1991–1995) und der Bosnienkrieg (1992–1995) waren hingegen lang und hässlich. Im späteren Kosovokrieg bombardierte die NATO vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 die Bundesrepublik Jugoslawien. Ziel war es, eine angeblich humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern. Da es keine UN-Resolution dazu gab, war dieser Krieg völkerrechtswidrig, was Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder später auf einem Forum der Wochenzeitung Die ZEIT offen aussprach.20 Es war also der Westen, der – aus welchen Gründen auch immer – als Erster das Völkerrecht brach, um einen Krieg zu beginnen.21 Im Jahr 2001 fand in der Republik Mazedonien ein albanischer Aufstand statt. Seitdem herrscht relative Ruhe auf dem Balkan. Aber Kriege mit insgesamt 200.000 bis 240.000 Toten mitten in Europa – das hätte sich 1989 niemand vorstellen können.
Eine neue Qualität erreichte die Weltunordnung mit den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001. In den USA wurde der Angriff zum Anlass genommen, die Bürgerrechte einzuschränken, die Spionagebefugnisse des Staates auszudehnen und die Geheimdienste massiv aufzustocken. Zudem wurde umgehend beschlossen, die Taliban in Afghanistan zu bombardieren, mit der Begründung, den Terrorismus zu bekämpfen und in Afghanistan einen funktionierenden Staat nach westlichem Muster aufzubauen. Allerdings ging es dabei tatsächlich wohl vor allem um geostrategische Ziele. Spätestens seit diesem Zeitpunkt befindet sich die Welt in einem kriegsähnlichen Zustand, wie der mit dem Roman-Herzog-Medienpreis ausgezeichnete Hörfunkautor Ulrich Teusch feststellt: jedoch war »der 11. September 2001 kein epochaler Einschnitt, keine Zeitenwende. Er hat die ohnehin schon dominanten Tendenzen im internationalen Verhalten der USA lediglich verschärft.«22
Ein Interview mit Wesley Clark, von 1997 bis 2000 Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa und 2004 ein Präsidentschaftskandidat der Demokraten, offenbart, dass es schon sehr früh Kriegspläne für den Nahen Osten gab. Clark sprach 2007 mit der Organisation Democracy Now darüber, wie die USA schon kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 planten, im Nahen Osten sieben Länder, darunter Libyen, zu bekriegen. »Wir wissen nicht, wie wir den Terrorismus bekämpfen, aber wir haben starke Streitkräfte, die Regierungen ausschalten können. Und wenn Sie nur einen Hammer haben, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.«23
Im folgenden Afghanistan-Krieg wurden die Taliban zurückgedrängt. An ihm nahmen auch deutsche Truppen teil, denn, so der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, Deutschlands Sicherheit werde »auch am Hindukusch verteidigt«. Nach Angaben der Bundeswehr sind in Afghanistan insgesamt 52 Soldaten ums Leben gekommen, davon 34 durch Fremdeinwirkung und 18 durch sonstige Umstände wie beispielsweise Unfälle.24
Am 2. Mai 2011 wurde Osama bin Laden, den man als Hauptschuldigen der Anschläge vom 11. September 2001 ausgemacht hatte, dem man aber seine Rolle nicht wirklich nachweisen konnte, von einem US-Spezialkommando in seinem Versteck in Pakistan exekutiert und seine Leiche umgehend im Meer versenkt. Die Regierung Obama inszenierte diese Exekution medial. Zwar gibt es von der eigentlichen Operation keine öffentlichen Videos, wohl aber von Regierungsmitgliedern, wie sie im Lageraum des Weißen Hauses die Operation verfolgen.
All dies scheint nur einen begrenzten Effekt zu haben. In Afghanistan dominieren Stammesstrukturen; die Taliban sind weiter stark. Im Mai 2019 forderte die große Ratsversammlung Afghanistans mit 3200 Delegierten einen Dialog und dauerhaften Frieden mit den Taliban. Im Sommer 2019 war ausgerechnet Kunduz, der größte Stützpunkt der Bundeswehr in Afghanistan, wieder umkämpft.25 Bilanz: Die westlichen Einsätze in Afghanistan haben nach fast zwei Jahrzehnten und über 3500 Kriegstoten auf Seiten der Koalitionskräfte ihr Ziel nicht erreicht.26 Bereits bis 2014 beliefen sich die Kosten dieser fehlgeschlagenen Intervention auf mehr als 360.000 Tote und 3,2 bis 4 Billionen Dollar.27
Auch der Zweite Irakkrieg 2003 begann mit einer Lüge. Der damalige Außenminister Colin Powell behauptete vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge.28 Nach dem Sieg der Koalitionstruppen wurden keine derartigen Waffen gefunden. Man muss der deutschen Bundesregierung um Gerhard Schröder zugutehalten, dass sie sich damals weitgehend aus dem Krieg heraushielt. Allerdings ließ sie stillschweigend eine umfassende Zusammenarbeit der westlichen Geheimdienste zu.
Anders als 1990 war es diesmal erklärtes Ziel, Saddam Hussein zu stürzen und den Irak zu »befreien«. Die überlegenen Koalitionsstreitkräfte hatten leichtes Spiel mit dem irakischen Militär; der Krieg war schnell beendet. Seinem autoritären säkularen Herrscher Saddam Hussein wurde ein zweifelhafter Prozess vor einem irakischen Gericht gemacht, dann wurde er gehängt.29 In den Folgejahren zerfiel der Irak, und das Land wurde zu einer Brutstätte des Terrorismus. Von 2003 bis 2011 waren zwischen 390.000 und 940.000 Todesopfer zu beklagen.30 Die enorme Bandbreite der Schätzungen zeigt, wie schlecht es um das Land stand. Weite Teile des Irak dienten später dem Islamischen Staat als Basis.
Seit Ende 2010 stürzte der »Arabische Frühling« große Teile des Nahen Ostens endgültig ins Chaos.31 Die USA, Großbritannien und Frankreich begannen im März 2011 einen Luftkrieg gegen Libyen und seinen bizarren Diktator Muammar al-Gaddafi, nachdem sie in den Vereinten Nationen die Resolution 1973 durchgesetzt hatten, die die internationale Gemeinschaft zu militärischen Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten in Libyen ermächtigte. Russland und China machten durch ihre Enthaltungen den Beschluss möglich, sodass diese Angriffe nicht völkerrechtswidrig waren. Auch Brasilien, Deutschland und Indien als nicht-ständige Mitglieder des Rats enthielten sich; der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle äußerte sich gegenüber der Intervention zurückhaltend und skeptisch.
Der Libyenkrieg endete nach einem halben Jahr mit der Ermordung des Machthabers; Videos von einem misshandelten Gaddafi kursierten im Netz.32 Damit wendete sich die Lage in Libyen aber keinesfalls zum Besseren. Nach dem Sieg über Gaddafi begann im Jahr 2014 ein zweiter Bürgerkrieg. Im Mai 2019 scheint sich der mächtige Warlord Khalifa Haftar durchzusetzen, der fast 20 Jahre in den USA in großer Nähe zum CIA-Hauptquartier lebte. Eigentlich heißt er Khalifa Hifter, aber der Name war für die westlichen Medien nicht wirklich präsentabel; also wurde er kurzerhand in Haftar umbenannt.33 Am Ende könnte in Libyen also wieder ein autoritäres Regime stehen, nur mit einem anderen Herrscher an der Spitze. Wie im Irak und in Afghanistan führte die Intervention des Westens nicht zu einem Nation Building, sondern zu zerstörten Staatsgebilden, der Herrschaft von Warlords, einem Wiedererstarken feudaler Strukturen, Bürgerkriegen und menschlichem Elend.
Nicht nach Drehbuch verlief die Intervention des Westens in Syrien, wo seit 2011 – mittlerweile länger als der Zweite Weltkrieg – ein blutiger Stellvertreterkrieg tobt. Vor dem Bürgerkrieg war Syrien als zumindest wirtschaftlich und religiös relativ tolerantes Land angesehen, wenngleich ebenfalls von einem autoritären Staatschef beherrscht.
Auf der einen Seite stehen die Truppen der Regierung Assad und ihre russischen Verbündeten sowie Hisbollah-Milizen, auf der anderen von ausländischen Geheimdiensten unterstützte Islamisten, Söldner, amerikanische, französische und türkische Truppen. Im Jahr 2019 sieht es so aus, als ob die Regierung Assad den Bürgerkrieg mit Hilfe Russlands für sich entscheiden konnte. Nur in der Enklave Idlib hielten sich noch Islamisten. Syrien konnte seine staatlichen Strukturen weitgehend aufrechterhalten. Zurück bleibt ein schwer beschädigtes Land und im Norden eine teilweise von der Türkei besetzte, teilweise autonome und teilweise von den USA unterstützte Kurdenregion.
Die Auswirkungen des Stellvertreterkriegs in Syrien bekamen wir nach der Grenzöffnung durch Angela Merkel in Deutschland sehr direkt zu spüren. Seit 2015 hält uns die sogenannte Flüchtlingskrise in Atem, polarisiert die Deutschen und belastet den gesellschaftlichen Diskurs. Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei und Europa sind eine Bürde für die jeweiligen Gesellschaften. Hinzu kommt durch die Zerstörung der staatlichen Strukturen in Libyen zunehmend Migration aus Schwarzafrika über das Mittelmeer.
Und es ist kein Ende der Kriege und Unruhen in Sicht: Im Jemen führen Saudi-Arabien und der Iran einen blutigen Stellvertreterkrieg, der zu einer humanitären Katastrophe geführt hat, über die in Europa und den USA nur sehr spärlich berichtet wird.34 In Venezuela begann im Januar 2019 ein Staatsstreich mit ungewissem Ausgang. Amerika und viele europäische Länder stellten sich schnell auf die Seite der vom selbst ernannten Übergangspräsidenten Juan Gaidó angeführten Putschisten, China und Russland unterstützen den gewählten Präsidenten Nicolás Maduro, auf den bereits mehrere Mordanschläge verübt worden waren. Der Bevölkerung in Venezuela geht es aufgrund der westlichen Sanktionen schlecht. In der Folge haben mehrere Millionen Menschen als Flüchtlinge das Land verlassen, was umliegende Länder wie zum Beispiel Peru belastet.35 Hier geht es auch um viel Öl und um die Frage, in wessen Hand die Kontrolle über dieses Öl in Zukunft sein wird.
30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer befindet sich Europa wieder in einem Kalten Krieg. Das Verhältnis zu Russland ist angespannt. In der Ukraine fand 2013 ein von außen unterstützter und beförderter Regimewechsel statt, in dessen Folge Russland die Halbinsel Krim, die Nikita Chruschtschow 1954 an die Ukraine übergeben hatte, besetzte. Die Annexion wurde kurze Zeit später durch eine Volksabstimmung legitimiert. Dieser Vorgang führte zu einem sofortigen Ausschluss Russlands aus den G8, zu Wirtschaftssanktionen gegen das Land, deren Lasten vor allem die Europäische Union und hier besonders Deutschland und Österreich tragen. Dem damaligen Vizepräsidenten Joe Biden zufolge mussten die Vereinigten Staaten massiven Druck ausüben, um diese Sanktionen zu erzwingen.36 Bis heute haben sie Europa 400.000 Arbeitsplätze und 30 Milliarden Dollar gekostet.37 Die USA machen unterdessen weiter Geschäfte mit Russland, da sich die amerikanischen Sanktionen, anders als die der EU, vor allem gegen Einzelpersonen und nicht gegen Unternehmen richten.
Immer wieder flammt in der Ostukraine der Konflikt zwischen den überwiegend von Russen bewohnten Gebieten im Donbass, die sich zu einer unabhängigen Republik erklärt haben, und dem ukrainischen Staat auf. Die Auswirkungen der militärisch ausgetragenen Auseinandersetzungen können zu brandgefährlichen Situationen führen. Denken wir an den bis heute nicht abschließend geklärten Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH-17 im Juli 2014 über dem Rebellengebiet, bei dem 298 Menschen starben.38 Für eine kurze Zeit sah es so aus, als ob dieser Vorfall der Auslöser für einen größeren Krieg sein könnte. Gott sei Dank überwogen Vernunft und Mäßigung.
Seit der Annexion der Krim und den Vorfällen auf dem Maidan (siehe Kapitel 2) rüstet die NATO im Osten auf. Bereits auf dem Gipfel in Wales hatten sich die europäischen NATO-Länder 2014 verpflichtet, ihre Verteidigungshaushalte innerhalb von zehn Jahren auf 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Damit beginnt sich eine neue Rüstungsspirale in Europa zu drehen.39 Seit Jahren finden Truppenverschiebungen in den Osten Europas statt. All das folgt einer von langer Hand vorbereiteten Strategie. Schon auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 8. und 9. Juli 1997 war Polen, Ungarn und Tschechien der Beitritt zum Bündnis angeboten und mit der Ukraine eine »besondere Partnerschaft« vereinbart worden. Zwei Jahre später traten Polen, Ungarn und Tschechien tatsächlich der NATO bei. Im Jahr 2004 wurden mit Bulgarien, Rumänien, der Slowakei, Slowenien und den drei baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen weitere sieben Staaten NATO-Mitglieder. All dies geschah lange vor den Ereignissen in der Ukraine. Im Februar 2019 stimmte das ukrainische Parlament dafür, den NATO- und EU-Beitritt des Landes als Ziele in die Verfassung aufzunehmen.40
Dass die Krim- und Ukraine-Krisen nur besonders sichtbare Höhepunkte eines neuen geopolitischen Konflikts sind, wurde mir vielleicht schon 1999, spätestens aber 2008 sehr deutlich vor Augen geführt. 1999 war ich Professor an der Boston University. Im Masterprogramm für internationale Beziehungen wurden auch einige junge Offiziere auf Kosten des Verteidigungsministeriums ausgebildet. Einer von ihnen hielt in meinem Seminar ein Referat, in dem es darum ging, wie »wir« »unser Öl« in den zentralasiatischen Republiken südlich von Russland, also in Georgien, Aserbaidschan, Usbekistan und Turkmenistan sichern könnten. Der junge Offizier nahm wie selbstverständlich an, dass dieses Öl den USA zustünde.
Im Jahr 2008 brach der Konflikt zwischen zwei abtrünnigen georgischen Republiken, Abchasien und Südossetien, und dem Staat Georgien wieder aus, nachdem der von Russland vermittelte Waffenstillstand seit 1992 gehalten hatte. Eine treibende Rolle dabei spielte der neue georgische Präsident Micheil Saakaschwili, der 2004 einen Plan zur Wiedereingliederung der Provinzen vorgelegt hatte und dann wegen verschiedener innenpolitischer Skandale in Bedrängnis gekommen war. Mit russischer Hilfe verteidigten die beiden Provinzen ihre Unabhängigkeit. Für mich bezeichnend und auch erschreckend war die Tatsache, dass man in den deutschen Nachrichtensendern in Endlosschleife russische Panzerkolonnen sah, wie sie in die Provinzen fuhren. Offensichtlich sollte schon damals jenseits jeglicher differenzierter Berichterstattung Stimmung gemacht werden.
Das Kriegsabenteuer setzte Saakaschwili unter starken innenpolitischen Druck. Nach Ende seiner Amtszeit ermittelte die georgische Justiz gegen ihn, woraufhin er sich in die USA absetzte. Hier wurde er von diversen Think Tanks finanziert, bevor er 2015 als Berater von Präsident Petro Poroschenko in die Ukraine ging und später Gouverneur von Odessa wurde. In dieser Position erhielt er vom New International Leadership Institute in Washington ein Jahresgehalt von 200.000 Dollar.41 Wenn es Sie interessiert, wie sich eine Marionette der amerikanischen Geheimdienste benimmt, befassen Sie sich mit Saakaschwili. Sein Leben ist eine Serie von Ungereimtheiten und Korruption. Im Jahr 2017 wurde ihm aufgrund von unrichtigen Angaben die ukrainische Staatsbürgerschaft wieder entzogen. Er wurde mehrfach von den Behörden festgenommen und im Februar 2018 nach Polen abgeschoben. Nun lebt er in den Niederlanden.
Unter US-Präsident Donald Trump hat sich die Eskalation konventioneller Konflikte auf der Welt – vielleicht mit Ausnahme des Iran und Jemen – nicht fort-gesetzt. Gegen den Willen des Establishments zog er sogar große Truppenkontingente aus Syrien und Afghanistan ab. Dafür beschleunigt sich die nukleare Eskalation. Nach der Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran kündigte Trump am 1. Februar 2019 auch den Vertrag mit Russland über die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa. Gut einen Monat später zog der russische Präsident Putin nach und verkündete per Dekret ebenfalls die Aussetzung des Vertrages.42
Gleichzeitig macht sich in Asien, Afrika und Europa der wachsende Einfluss Chinas bemerkbar, das mittlerweile zur Weltraumnation aufgestiegen ist und mit dem Projekt der »Neuen Seidenstraße« (»One Belt One Road«) Eurasien und Afrika auf dem Land- und Seeweg enger verbinden will. Fast fühlt man sich an die Bagdad-Bahn erinnert, mit der das Deutsche Reich und seine Verbündeten vor dem Ersten Weltkrieg eine Landverbindung von Mitteleuropa in den Nahen Osten schaffen wollten. Staatspräsident Xi Jinping rief das ehrgeizige Unternehmen 2013 aus. Es umfasst geplante Infrastrukturinvestitionen im Umfang von 1,1 Billionen Dollar, an denen 60 Länder beteiligt sind, die zusammen 35 Prozent der Weltwirtschaft und 60 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
Von den etablierten Industrienationen wird das Projekt argwöhnisch beäugt, doch hat der Westen dem Projekt nichts Konstruktives und Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Wir können China nicht vorwerfen, eine langfristige geopolitische Konzeption zu verfolgen, nur weil wir selber keine haben, schrieb der ehemalige Außenminister und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im September 2018 in einem bemerkenswerten Gastbeitrag im Handelsblatt.43
Die wachsende Macht und das wachsende Selbstbewusstsein Chinas haben zu zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer und anderswo geführt. Noch mehr als Großbritannien, das im 19. Jahrhundert mit seiner Flotte die Weltmeere beherrschte, erheben die USA im 21. Jahrhundert eben diesen Anspruch. Während aber Großbritannien seinerzeit die westliche Hemisphäre bereits weitgehend den USA überlassen hatte, ist der amerikanische Anspruch wirklich global.
Im Jahr 2009 meldete die Volksrepublik China historische Ansprüche auf große Teile des Südchinesischen Meeres bei den Vereinten Nationen an und legte eine Landkarte mit der »Neun-Striche-Linie« vor. Bereits 1999 hatte die Republik China (Taiwan) Ansprüche auf das gesamte Südchinesische Meer angemeldet.44 Im Jahr 2013 begann die Volksrepublik damit, kleinere unbewohnte Inseln und Riffe im Südchinesischen Meer, vor allem die Spratly-Inseln, auszubauen und weiteres Land dem Meer abzutrotzen.45 Mindestens seit 2018 werden auch Truppen und Raketen auf den Inseln stationiert. Diese Aktion ist völkerrechtlich umstritten und stößt bei den USA und etlichen Nachbarn auf entschiedenen Widerspruch.
Die subjektiv empfundene zunehmende Enge und das Konkurrenzdenken im Südchinesischen Meer haben bereits zu etlichen Zwischenfällen geführt. Ende 2016 fing China eine amerikanische Unterwasserdrohne ein, gab sie aber kurze Zeit später zurück.46 Im Oktober 2018 kamen sich amerikanische und chinesische Kriegsschiffe bedenklich nahe.47 2019 teilte das Pentagon mit, dass Schiffe der US Navy häufiger in der Straße von Taiwan patrouillieren werden.
Der Inselstreit im Südchinesischen Meer könnte gefährlich eskalieren …
... denn viele Länder haben Inseln in dem Territorium, das von China beansprucht wird.
Zudem sind die Konfliktherde auf der koreanischen Halbinsel alles andere als gelöst. Japan hat in seiner Verteidigungsdoktrin den Fokus von Russland auf China umgestellt und kooperiert zunehmend mit den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Indien, Südkorea und Australien.48 Auch hier sind Inseln, diesmal die Diaoyu-/Senkaku-Inseln, der Grund für diplomatische Auseinandersetzungen. Im Jahr 1971 gaben die USA die administrative Kontrolle über die Inseln in japanische Hände, aber sie werden sowohl von Taiwan als auch der Volksrepublik China beansprucht. All dies sind nicht gerade beruhigende Entwicklungen. Sowohl die Schritte Chinas als auch die der USA und ihrer Verbündeten lassen das Risiko ungewollter kriegerischer Auseinandersetzungen steigen.
Nicht nur geopolitisch ist die Welt in Bewegung. Auch in den alten Industrienationen brodelt es. Von Amerika, in dem der populistische Geschäftsmann und Reality-TV-Star Donald Trump nach einem atemberaubenden Wahlkampf, in dem er »America first« gefordert hatte, 2016 zum Präsidenten gewählt wurde, über Großbritannien, das im selben Jahr für den Brexit stimmte, bis Deutschland, wo sich die Partei Alternative für Deutschland spätestens seit 2017 fest im politischen System etablierte, und Frankreich, wo der quasi aus dem Nichts auf den Plan getretene Präsident und »Sonnenkönig« Emmanuel Macron innerhalb kürzester Zeit entzaubert wurde, zuletzt durch die lang anhaltenden Proteste der »Gelbwesten«, bis Italien, wo linke und rechte Populisten eine Zeit lang gemeinsam die Regierung stellen, ist nichts mehr, wie es war.
Weitgehend ungebremste Migrationsströme nach Europa sorgen in der Alten Welt für tiefe Risse und Spaltungen in den Gesellschaften. Seitdem im Juni 2016 die Mehrheit der Briten für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union stimmte, wird ein Verhandlungsdrama um den Brexit inszeniert, von dem sich die europäischen Eliten erhoffen, dass am Ende der »Remain«, der Verbleib in der EU, steht, das aber auch eine Zerreißprobe für die älteste parlamentarische Demokratie der Welt darstellt und die Europäische Union selbst schwer belastet.
Im Herbst desselben Jahres gewann der Immobilientycoon Donald Trump nach einem polarisierenden und hässlichen Wahlkampf die Präsidentenwahl. Seitdem ist auch in den USA nichts mehr, wie es war. Medien, politisches Establishment und Trump befinden sich im Dauerkrieg. Alle Seiten lassen sich auf ein Niveau der Auseinandersetzung ein, das noch wenige Jahre zuvor nicht möglich gewesen wäre.
Im folgenden Jahr zog die Alternative für Deutschland in überraschender Stärke von über 90 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag ein und wird seitdem von den etablierten Parteien erbittert bekämpft. Der Populismus feiert ein lautes Come back, und zwar von rechts wie von links. Debatten werden zunehmend emotionalisiert geführt. Zwischen medialen und politischen Eliten auf der einen und Populisten auf der anderen Seite ist in vielen Ländern ein unerbittlicher Krieg ausgebrochen. Während die eine Seite die ungebremste Migration, »Islamisierung«, »Gender-Wahnsinn« und »Klimareligion« beklagt, will die andere Seite Mietpreisbremsen, Enteignungen, Dieselfahrverbote und die Rettung des Weltklimas.
In den USA, der Führungsnation des Westens, wird der Medienkrieg mit besonderer Härte geführt und nimmt teilweise extreme Formen an. Selbst im Präsidentenamt bezeichnet Trump die Medien oft als Verbreiter von »Fake News«, Lügenmedien. Diese wiederum inszenieren hartnäckig eine Hexenjagd, die sich auf eine angebliche russische Wahlbeeinflussung der Präsidentschaftswahlen stützt. Als nach zwei Jahren, fast 2800 Vorladungen und 600 Durchsuchungsbeschlüssen kein belastbares Material gefunden wird, ändern die Medien schlagartig ihr Narrativ und berichten nun über »Behinderung der Justiz«.49
Trump kontert, indem er seinen Generalstaatsanwalt bevollmächtigt, alle Dokumente zu sichten, die sich mit seiner Überwachung und Diskreditierung im Wahlkampf befassen und bei denen das Steele-Dossier, der Bericht eines ehemaligen britischen Geheimdienstmitarbeiters, eine Schlüsselrolle spielt. Zum Teil wird das Ganze auch zu einer Groteske. Zum Beispiel wollte das Weiße Haus während eines Japanbesuchs des Präsidenten nicht, dass der Zerstörer USS John S. McCain vor den Kameras erscheint. Denn der verstorbene Senator McCain, nach dem das Schiff benannt ist, hatte sich in seinen letzten Jahren als Kritiker von Trump und Befürworter der amerikanischen Interventions- und Kriegspolitik hervorgetan.50
Auch in Deutschland berichten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkmedien, so die Wahrnehmung vieler, nur noch lückenhaft oder sinnentstellt. Nach Ausbruch der Flüchtlingskrise waren in Deutschland zum Beispiel vor allem Familien mit kleinen Kindern in den Nachrichten zu sehen, wogegen tatsächlich über 80 Prozent der Migranten junge Männer sind. Neue Medien, die Inhalte ungefiltert verbreiten, werden eingebremst oder zensiert, etwa mittels des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes oder Upload-Filter. Durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz werden die Medienkonzerne und Technologiegiganten selbst in die Verpflichtung genommen und ermächtigt, »Fake News« und »hasserfüllte« und beleidigende Inhalte zu löschen. Sie übernehmen damit eine Funktion, die eigentlich nur Gerichten zukommen dürfte. Und sie urteilen meistens im Sinne des Mainstreams und der herrschenden Elite. Während bei YouTube und Twitter noch gewisse Spielräume der Meinungsäußerung bestehen, sind diese bei Facebook schon radikal eingeschränkt. Mir sind etliche Fälle bekannt, in denen die Accounts angesehener Persönlichkeiten aufgrund von Islam- oder sonstiger Kritik zeitweilig gesperrt wurden, so der meines Mitstreiters auf dem Hambacher Fest, des deutsch-libanesischen Dokumentarfilmers Imad Karim.
Auch die direkte Sprachlenkung und Propaganda seitens der bestehenden Machtstrukturen wird immer aggressiver. Oftmals geschieht dies in Form des Framing, einer bewussten Einordnung und Verkürzung von Fakten, um gewünschte Wirkungen zu erzielen. Im Februar 2019 wurde bekannt, dass die Anstalten der ARD ein sogenanntes Framing-Manual in Auftrag gegeben hatten.51 Es beginnt wie folgt:
Beginnen wir direkt mit dem Wichtigsten: Wenn Sie Ihre Mitbürger dazu bringen wollen, den Mehrwert der ARD zu begreifen und sich hinter die Idee eines gemeinsamen, freien Rundfunks ARD zu stellen […], dann muss Ihre Kommunikation immer in Form von moralischen Argumenten stattfinden. […] Das bedeutet, dass die Worte, Slogans und Narrative, die Sie verwenden, ein primäres Ziel haben müssen: das Ziel, bei der Diskussion von Fakten rund um die ARD und Themen wie »Beitragszahlungen« oder »Strukturreform« immer zunächst ihre moralische Perspektive sprachlich offenzulegen. Denken und sprechen Sie nicht primär in Form von Faktenlisten und einzelnen Details.52
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der zu 86 Prozent von unseren Beitragszahlungen lebt – im Jahr 2017 in einer Höhe von 5,6 Milliarden –, gibt also Geld für ein Gutachten aus, mit dem er seine eigene Existenz rechtfertigt.53 Menschen, die die DDR miterlebt haben, dürften sich stark an die Nachrichtensendung Aktuelle Kamera erinnert fühlen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich bin ein großer Befürworter der öffentlich-rechtlichen Medien. In Hunderten von Interviews, die ich den Anstalten der ARD und des ZDF nach der Finanzkrise gegeben habe, habe ich viele engagierte Journalisten kennengelernt. Dass unser jetziges öffentlich-rechtliches GEZ-System aber reformbedürftig ist, steht außer Frage.
Man muss der Verfasserin des »Framing-Manual«, der Kommunikationsforscherin Elisabeth Wehling, lassen, dass sie ihr Fachgebiet gründlich beherrscht. In einem 2008 zusammen mit George Lakoff veröffentlichten Buch mit dem Titel Auf leisen Sohlen ins Gehirn erläutert sie, dass 80 Prozent unseres Denkens unbewusst von Metaphern und Deutungsrahmen geprägt seien. Unser Glaube, dass wir frei entscheiden, ist somit ein Irrglaube. Indem Metaphern geprägt und über die Propaganda – zum Beispiel die Medien – permanent wiederholt werden, wird bei den Empfängern eine bestimmte Vorstellung von der Wirklichkeit hergestellt. Durch diese Manipulation des Denkens und Fühlens könne man nicht nur psychologische Veränderungen hervorrufen, sondern unter Umständen auch neurologische, also das Gehirn auf einer tiefen Ebene umprogrammieren.54
Häufiger werden Wörter im öffentlichen Dialog auch als unerwünscht gebrandmarkt oder einfach umdefiniert. Manchmal fühlt man sich dabei an George Orwells »Neusprech« aus seinem Roman 1984 erinnert. Eine besonders negative Rolle spielt die sprachkritische Aktion »Unwort des Jahres«. Die Jury ist nach eigenen Angaben »institutionell unabhängig, das heißt sie ist nicht an einzelne Universitäten, Sprachgesellschaften/-vereine oder Verlage gebunden. Die Jurymitglieder beteiligen sich ehrenamtlich und aus Interesse und verstehen sich als Vermittler öffentlichen Unbehagens an bestimmten Sprachgebrauchsweisen, nicht aber – ein häufiges Missverstehen – als ›Sprachschützer‹.«55