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Spannender Salzwasser-Krimi mit skurrilen Figuren, überraschenden Wendungen und ein wenig Seemannsgarn. Eines Abends bekommt die junge Journalistin Flanka Svenson überraschend Besuch. Vor der Tür steht der pensionierte Kapitän Jonny Naragossa aus dem Seemannsheim. Er bittet um Unterschlupf. Sein Leben sei in Gefahr. Er werde von einem Piratenfluch bedroht. Hirngespinste eines alten Mannes, vermutet Flanka. Doch am nächsten Tag gibt es bereits einen Toten - ein Mitbewohner aus dem Seemannsheim. Flanka Svensons journalistischer Spürsinn erwacht. Sie beginnt mit ihren Nachforschungen. Sollte der alte Kapitän doch die Wahrheit sagen? Die Spuren führen nach Rügen, Dover und Marseille. Und bringen Flanka Svenson in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Text Copyright:
Peter F. Ingersson
Umschlaggestaltung:
Katharina Hagemann
www.katharina-hagemann.de
Verlag:
Peter Franke
Ostendorfstr. 8
40239 Düsseldorf
Druck und Vertrieb:
Schon seit den frühen Morgenstunden regnete es. Die Stadt schien wie ausgestorben. Niemand würde an einem solchen Tag freiwillig einen Fuß vor die Tür stellen. Doch wer glaubte, der 15. Juli 1998 sei ein unbedeutender, ereignisloser Tag, der irrte.
Flanka Svenson schob einen Topf mit Wasser auf den Gasherd, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Es war ein lang andauernder Ton, der keinen Widerspruch duldete. Flanka nahm den Topf vom Herd und drehte den schwarzen Schalter in die Senkrechte. Wie aufgeschreckte Mäuse verschwanden die kleinen Flammen in ihren Löchern. Draußen zerrte ein scharfer Wind an den Ästen der Pappel, die direkt vor ihrer Wohnung stand, und auf dem Fensterglas rutschten Regentropfen im Zickzack nach unten, als wären sie betrunkene Käfer. Auf Besuch war Flanka nicht eingestellt. An solchen Tagen liebte es Flanka, sich mit einer Wolldecke in ihren alten Ledersessel zu verkriechen, heißen Tee zu trinken und Geschichten zu lesen, die von der Weite des Meeres handelten. Jene Weite, die sie schon als Kind fasziniert hatte, wenn sie mit ihrem Vater am Strand stand und staunend in eine Welt blickte, die nur aus Wasser und Himmel bestand. Es klingelte ein zweites Mal.
»Ich komme ja«, rief Flanka missmutig und versuchte ihre Füße, an denen sie je zwei Wollsocken trug, in ihre Filzpantoffel zu stecken. Weiter als bis zum Ende des großen Zehs kam sie jedoch nicht. Sie schlurfte durch den langen Flur und drückte die dünne Metallklinke nach unten. Vor der Tür stand ein großer Mann mit einem stattlichen Bauch und einem Kopf, der an ein Hühnerei erinnerte. »Guten Tag Frau Svenson, kennen Sie mich noch?«, fragte der Mann, bevor Flanka etwas sagen konnte. Nachdenklich betrachtete Sie den abendlichen Besucher, der ihr nicht unbekannt vorkam, von dem sie aber nicht wusste, wo genau sie ihn schon mal gesehen hatte. Der Mund des Mannes zog sich in die Breite; an den äußeren Enden der Augen bildeten sich kleine Fältchen und die grauen, struppigen Augenbrauen wölbten sich nach oben. Der Mann lächelte.
»Ich bin es, Jonny Naragossa. Der alte Kapitän aus dem Seemannsheim – unten an den Landungsbrücken. Erinnern Sie sich?«
Flanka erinnerte sich. Das Seemannsheim war ein roter, schmuckloser Backsteinbau, den man, wenn da nicht ein Messingschild mit Anker neben der Glasflügeltür angebracht wäre, für ein Finanzamt halten könnte. In der Eingangshalle hing ein großes Ölgemälde, auf dem ein schwarzes Dampfschiff durch dunkelblaue Wellen stampfte. Davor stand ein mit grünem Breitcord bezogenes Sofa. Auf ihm hatte ein großer Mann gesessen, die Beine übereinandergeschlagen, unentwegt süßen Pfeifenqualm in die Luft paffend – Kapitän Jonny Naragossa. Ja, das muss ungefähr vier Wochen her gewesen sein, überlegte Flanka. Sie hatte für eine Reportage über Kapitäne im Ruhestand recherchiert. Neben einem Job als Barkassenfahrerin arbeitete Flanka als Reporterin für die Abendpost. Sie war für die Geschichten aus dem Hamburger Überseehafen zuständig.
Eine kräftige Windböe drückte den Regen gegen die Hauswand. »Darf ich reinkommen?« In Jonny Naragossas Stimme schwang ein wenig Ungeduld mit.
»Kommen Sie, das ist kein Wetter, um länger vor der Tür zu stehen«, erwiderte Flanka. Sie war zwar ein wenig überrascht von dem Besuch des Kapitäns, aber in dem kleinen Fischerdorf, in dem sie aufgewachsen war, gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten, jeden Besucher, der an die Tür klopfte, als willkommenen Gast ins Haus zu bitten.
Jonny Naragossa packte die Griffe der braunen Reisetasche, die neben ihm auf den Boden stand und betrat die Wohnung. Er war froh, dass Flanka Svenson der Tasche keine Beachtung schenkte. Als sie die Tür gegen den kräftigen Wind in das Schloss drückte, beeilte sich der Kapitän, die Tasche neben den Schrank zu stellen, wo sie nicht so gut zu sehen war.
»Tee?«, fragte Flanka und schnippte, ohne die Antwort abzuwarten, ein Zündholz an, um den Gasherd erneut zu entfachen. Während sie mit Tassen und Wasserkessel hantierte, nutzte Jonny Naragossa die Zeit, sich ein wenig umzusehen. Die Wohnung war mal eine Backstube gewesen. Sie bestand aus einem sehr großen, quadratischen Raum und einem kleinen Zimmer. Beide waren durch einen schmalen Flur verbunden. Ein Holzpodest, das etwa ein Drittel des großen Zimmers einnahm, diente als Küche. In der Mitte des Podestes stand ein runder Eichentisch mit vier weiß angestrichenen Stühlen. Konzentriert goss Flanka das heiße Wasser in eine dickbäuchige Teekanne.
Naragossa hatte seinen Wohnungsrundgang fast beendet und war vor einer Wand stehengeblieben, die mit gerahmten Fotos in verschiedenen Größen dekoriert war. Es fiel auf, dass keines der Bilder gerade hing.
»Sind Sie auch mal zur See gefahren?«, erkundigte sich der Kapitän und zog ein wenig ungelenk ein Etui aus der Jackentasche. Er schnippte den Deckel nach oben und setzte sich eine Brille mit braunem Hornrand auf die Nase. Dann schob er sein Gesicht ganz nah an eines der Bilder, um es einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Auf dem Deck eines Frachtschiffes stand eine schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie trug einen blauen Overall und blickte durch ein Fernglas auf ein vom Sturm zerzaustes Meer; die Wasserfläche sah aus wie das Fell eines wütenden Drahthaarterriers.
»Das sind Sie, stimmt`s, auf einem Stückgutfrachter, circa 30.000 Bruttoregistertonnen. Hmm. Klarer Fall – Biskaya im Oktober. Auf dem Weg nach Brest«, stellte Jonny Naragossa zufrieden fest. Mit Frachtschiffen kannte er sich aus, da machte ihm keiner was vor. Neugierig näherte er sich dem nächsten Bild. »Was haben wir denn hier. Mal sehen. Das ist ein Hafen in Südamerika. Das ist …«
Flanka ignorierte die Bildinterpretationen des alten Kapitäns und platzierte Kanne und Tassen auf dem runden Holztisch.
»Kommen Sie! Zucker? Milch?«, rief Flanka herüber und nahm schon mal Platz.
Gedankenverloren hob der Kapitän die Brille von der Nase und löste sich von der Bilderwand. Als der große Mann sich auf einen der Stühle niederließ, knackte es bedenklich in den hölzernen Streben. Jonny Naragossa nahm einen Teelöffel und schaufelte einen kleinen Zuckerberg in seine Tasse. Dann griff er das Milchkännchen mit zwei Fingern und brachte es über der Tassenmitte in Position. Langsam ließ er das Kännchen nach vorne kippen, bis sich ein dünner weißer Strahl in die Tasse ergoss.
»Also, was führt Sie zu mir?«, ungeduldig unterbrach Flanka die etwas umständliche Prozedur ihres Gastes. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, warum ein Bewohner des Seemannsheimes plötzlich abends bei ihr vor der Tür stand.
Naragossa stellte das Kännchen zurück. »Es hat sich etwas außergewöhnliches ereignet«, flüsterte der Kapitän und ließ dazu die Augen kurz aufblitzen.
»Aha, etwas Außergewöhnliches? Was ist los? Hat man Ihnen im Seemannsheim etwa das Pfeifenrauchen verboten?«, unkte Flanka. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in dem Seemannsheim etwas so Wichtiges vorgefallen war, dass es den späten Besuch des wohlbeleibten Kapitäns rechtfertigte.
»Ich bin auf der Flucht«, erwiderte Naragossa jetzt mit kräftiger Stimme, und um die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen, ließ er drei tiefe Falten auf seiner Stirn erscheinen.
Während Flanka den sorgenvollen Gesichtsausdruck ihres Gegenübers studierte, dachte sie darüber nach, vor was ein alter Kapitän, der in einem Seemannsheim wohnt, wohl fliehen könnte. Vielleicht vor einer Frau, der er vor vielen Jahren in irgendeinem Überseehafen, sturzbetrunken, die ewige Liebe versprochen hatte. Und jetzt war sie plötzlich mit zwei Koffern im Seemannsheim aufgetaucht, an der Hand einen Jungen mit Schlitzaugen und Eierkopf.
Jonny Naragossa schien die skeptischen Gedanken seiner Gastgeberin zu ahnen. »Ich bin auf der Flucht vor einem Fluch, dem Fluch der Makrelenköpfe.« Auf seiner Stirn erschien eine vierte Falte.
»Fischköpfe – sie fliehen vor Fischköpfen?« entfuhr es Flanka verwundert. In ihr keimte der Verdacht auf, dass ihr Besucher ein wenig verwirrt war. Als sie Kapitän Naragossa für ihre Reportage interviewt hatte, war ihr zwar nichts aufgefallen, aber das musste ja nichts heißen, solche Wahnvorstellungen können ganz plötzlich auftreten. Sie erinnerte sich an den alten Jens Skram, der auf der kleinen dänischen Insel Agersö, hier ist Flanka aufgewachsen, Autos auf die Fähre gewunken hatte. Eines Tages erschien er nicht zur Arbeit. Alle Inselbewohner machten sich auf die Suche. Sie fanden ihn im Entenhaus hinter dem Löschteich. Er behauptete, er sei eine Ente und der Fuchs wäre hinter ihm her. Eindringlich betrachtete Flanka den Mann, der an ihrem Esstisch saß und Tee trank. Vielleicht gab es ja irgendwelche äußeren Anzeichen, die auf eine Verwirrung hindeuteten. Doch es war weder ein Augenzucken noch eine zitternde Hand festzustellen. Eigentlich machte Kapitän Naragossa eher den Eindruck, als wüsste er wovon er sprach. »Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«, wollte Flanka wissen.
»Polizei, hmm, hmm«, brummte der große Mann in seine Teetasse.
Flanka war über die karge Antwort nicht sonderlich verwundert. Mit sprachfaulen Küstenbewohnern kannte sie sich aus. Sie war selber Kind eines Seemannes, und sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater jemals mehr als fünf Worte am Stück gesprochen hatte. »Also, wenn man in Gefahr ist, geht man zur Polizei und klingelt nicht abends bei einer Reporterin der Abendpost«, legte Flanka nach.
Kapitän Naragossa machte ein Geräusch, das entsteht, wenn man schnell durch die Nase ausatmet. »Liebes Kind, ich weiß genau, was Sie denken; der alte Seebär hat ein wenig die Orientierung verloren. Hat Hirngespinste im Kopf. Stimmt´s! Und was glauben Sie, was die bei der Polizei sagen, wenn ich da mit einer Geschichte über Makrelenköpfe auftauche. Nee, nee, nee, Polizei kommt nicht in Frage. Ich komme schon klar. Ich muss nur eine Weile untertauchen, da wo mich keiner vermutet.« Er lehnte sich zurück und sah Flanka Svenson ins Gesicht, um die Wirkung seiner Worte zu ergründen. Flankas Augen hatten sich ein wenig geweitet und jetzt waren auch auf ihrer Stirn zwei Falten aufgetaucht. Naragossa befürchtete nicht Gutes.
»Habe ich das jetzt richtig verstanden, ich soll Sie hier bei mir vor einem Fluch verstecken?« Flankas Stimme hatte eine Schärfe bekommen, die man ihr gar nicht zugetraut hätte.
»Wissen Sie, Sie sind die einzige Person, die ich kenne, wo mich garantiert niemand vermutet. Ist auch nur für ein paar Tage«, versuchte der Kapitän ihre Erregung zu mildern.
Flanka rührte in ihrer Teetasse und dachte nach. Als Köchin auf einem Stückgutfrachter war sie selbst einige Jahre zur See gefahren. Eine Zeit, in der ihr von den Seeleuten die abenteuerlichsten Geschichten aufgetischt wurden. Igor, der russische Maschinist mit der Zahnlücke, trug immer eine Kette mit einer schwarzen Südseeperle auf seiner behaarten Brust. Sollte Igor mal über Bord fallen und auf den Grund des Meeres sinken, dann würde er, so war sein Plan, bei Neptun, dem Gott des Meeres, die Perle gegen sein Leben eintauschen. Auch der schmächtige Matrose, den alle nur Lin-Lin nannten, kam Flanka in den Sinn. Lin-Lin wusste von einem chinesischen Frachter zu berichten, der, mitten im Pazifik, durch einen Walfischfurz zum Kentern gebracht wurde. Es gibt viele seltsame Geschichten, die an Bord von Schiffen kursieren, stellte Flanka fest. Aber von einem Makrelenfluch, davon hatte sie, so sehr sie auch in ihrem Gedächtnis kramte, noch nie etwas gehört. »Was ist das für ein Fluch, vor dem Sie sich verstecken müssen?«
»Haben sie etwa noch nie etwas von den drei Fischköpfen gehört?«, Jonny Naragossa beugte sich weit nach vorne. Sein Eierkopf war nur noch wenige Zentimeter von Flankas Gesicht entfernt. »Der Makrelenfluch, mein Kind, das ist ein ganz altes Seefahrerritual. Er stammt von den Piraten, die zur Hansezeit die Ostsee unsicher machten. Die Sache ist Folgende: Wenn man einen Fischkopf zugespielt bekommt, bedeutet das »Achtung, du stehst unter Beobachtung«. Zwei Köpfe: »Letzte Warnung«. Und drei Köpfe – drei Fischköpfe sind dein Todesurteil.« Die Stimme von Jonny Naragossa klang trocken, als er den letzten Satz aussprach.
»Hört sich spannend an. Haben Sie sich das selber ausgedacht?« Flanka fand, dass der Kapitän ganz schön dick auftrug, nur um einen Grund zu haben, sich mal ein paar Tage aus dem Seemannsheim zu verdrücken. Sie glaubte ihrem Besuch kein Wort.
Naragossa überhörte Flankas spitze Bemerkung. »Wissen sie, als ich noch ein kleiner Junge war, hat mir schon mein Großvater von dem Fluch erzählt. Er war Kapitän auf einer Dreimastbark. Seinem Steuermann nagelte man eines Tages drei Makrelenköpfe über die Hängematte. Und zwei Tage später, als das Schiff in Stockholm festmachte, war der Steuermann wie vom Erdboden verschwunden. Irgendwann hat man ihn dann hinter einem Holzschuppen entdeckt – mit aufgeschlitztem Bauch und einem Geldschein im Mund. Er soll Spielschulden nicht bezahlt haben. Bei Neptun und allen Ungeheuern des Meeres, der Makrelenfluch, das ist eine sehr ernste Sache!«
»Also, gehen wir mal davon aus, ihr Großvater hat Ihnen kein Seemannsgarn aufgetischt«, warf Flanka ein. »Was hat dieser Fluch jetzt mit Ihnen zu tun.
Die Augen des Kapitäns weiteten sich. »Es war vor zwei Wochen, da begegneten mir zwei seltsame Gestalten auf dem Flur. Sie kamen direkt aus dem Zimmer von Kapitän Murowski; der wohnt seit Anfang des Jahres bei uns. Einer der Beiden sah aus wie ein alter, abgemagerter Habicht. Der andere, groß, eckiges Kinn, blond, wahrscheinlich Däne oder Schwede, trug einen Parka mit Pelzkragen und an der linken Hand vier goldene Ringe.« Jonny Naragossa machte eine Pause und streckte vier Finger in die Luft.
»Der Habichtkopf roch nach einem auffälligen Parfüm, irgendwie klebrig und süß.« Der Kapitän rümpfte die Nase. »Noch stundenlang hat der Flur nach verfaulten Aprikosen gestunken. Die Zwei hatten es sehr eilig. Es schien, als wären sie nicht darüber erfreut, dass sie jemand dabei überraschte, als sie aus Murowskis Zimmer kamen!« Langsam, wie das Pendel einer alten Wanduhr, ließ Naragossa seinen schweren Oberkörper von rechts nach links wippen. Dann fuhr er fort. »Wenig später traf ich dann Murowski auf der Treppe. Er wirkte unruhig, nervös das war seltsam. Normalerweise hat er die Ruhe weg, der Murowski. Als er mich sah, zog er mich in sein Zimmer und schloss die Vorhänge. Dann bat er mich um einen Gefallen. Er habe da etwas, was ich für ihn aufbewahren solle. Dinge, die nicht jeder sehen muss. Das Finanzamt mache wegen einer Erbschaft Schwierigkeiten. Er drückte mir eine sorgfältig mit Klebeband verschlossene Metalldose in die Hand. Und seitdem habe ich Murowski nicht mehr gesehen. Seit zwei Wochen ist er spurlos verschwunden. Einfach weg. Also, wenn da nicht etwas faul ist!«
»Zwei Wochen sind doch noch kein Grund, Alarm zu schlagen. Er kann ja bei Verwandten oder Freunden stecken«, versuchte Flanka ihren Besuch zu beschwichtigen.
Der Kapitän machte ein Gesicht, als wolle er den Untergang der Welt verkünden. »Aber – das ist noch nicht alles. Wissen Sie was heute Abend passiert ist? Jemand hat mir einen Makrelenkopf an die Zimmertür genagelt. Verdammt, Murowski hat sich mit irgendwelchen zwielichtigen Gesellen eingelassen und jetzt, jetzt sind sie auch hinter mir her. Haifischzahn und Wahlfischflosse, hätte ich mir doch nur die Metalldose nicht andrehen lassen, ich Dummkopf! Habe dann natürlich sofort den Anker gelichtet und nichts wie weg. Ja, so war das.«
»Vielleicht war der Fisch nur ein Scherz von der Altenheimküche, weil Sie über das Essen gemeckert haben!«, spekulierte Flanka. Sie hielt die Geschichte immer noch für Seemannsgarn. »Auf jeden Fall ist ein Fischkopf doch kein Grund, das Weite zu suchen, als wäre der Leibhaftige hinter Ihnen her.«
»Ein Scherz, nein, nein, hier geht es um Leben und Tod!« empörte sich der Kapitän und ballte die Faust.
»Was haben Sie denn mit der Metalldose gemacht?«
»Draußen an der Elbe, da liegt eine Jolle, die mir gehört. Dort ist die Dose versteckt.«
»Haben Sie mit noch irgendjemand über die Sache gesprochen?«
»Nein, mit niemanden.« Der Kapitän massierte seinen speckigen Nacken, es schien, als wolle er ein wenig Zeit gewinnen. »Na ja, nur der »Schweden-Elke«, der habe ich davon erzählt«, murmelte er leise. »Elke hat zu mir gesagt: Rosi, nimm dich in Acht vor Makrelenköpfen. Du weißt, das ist eine sehr gefährliche Angelegenheit. Wahrscheinlich ist es besser, du tauchst mal eine Zeit lang unter.«
»Wer zum Teufel ist denn jetzt diese »Schweden-Elke« und wieso heißen Sie plötzlich Rosi?«, entfuhr es Flanka. Sie fand, dass die Sache immer dubioser wurde.
Kapitän Naragossa schwieg eine Weile. Dann räusperte er sich scharf, bevor er sich anschickte, mit seinen Ausführungen fortzufahren. »Schweden-Elke – na, die ist eine ganz alte Freundin von mir. Sie ist die Chefin vom Muschi-Club am Hans-Albers-Platz. Kennen Sie den? Das ist die Bar mit der roten Katze auf der Tür.«
»Kenne ich«, ein wenig verwundert musterte Flanka ihr wohlgenährtes Gegenüber, »aber wer um Himmelswillen hat einem Kerl wie Ihnen denn den Namen Rosi verpasst?«
Jonny Naragossa räusperte sich ein weiteres Mal. »Tja, wissen Sie, das war so – damals in Singapur, da habe ich mir, nach einer feuchtfröhlichen Nacht, eine Rose auf den Arm tätowieren lassen. Seitdem sagen meine Freunde »Rosi« zu mir.« Der Kapitän krempelte den rechten Ärmel seines Hemdes hoch und streckte ihn Flanka entgegen. Flanka Svenson blickte auf eine rote Rose, die vom Ellbogen bis zum Handgelenk reichte.
Es hatte aufgehört zu regnen. Nur aus der Dachrinne fielen noch ab und an dicke Tropfen herunter und trommelten einen monotonen Rhythmus auf das Blech des Fensterbrettes. Flanka nippte an ihrem Tee und stellte fest, dass er mittlerweile kalt war. Er schmeckte bitter – hatte etwas Medizinisches. »Ich schlage mal vor, dass wir zum Bier übergehen«, kommentierte sie ihre Feststellung. Flanka fand, dass ein kaltes, alkoholhaltiges Getränk besser zu der weiteren Entwicklung des Abends passen würde.
Wortlos schob Kapitän Naragossa seine Tasse beiseite, um Platz für eine Bierflasche zu schaffen. Flanka stand auf und verließ das Zimmer. Als sie mit zwei Flaschen zurückkam, fiel ihr Blick auf die Tasche, die der Kapitän neben den Schrank gestellt hatte. Es war eine Reisetasche aus dunkelbraunem Rindleder. Sie glänzte speckig und war an vielen Stellen abgeschabt. Da einer der Handgriffe fehlte, hatte der alte Kapitän ein Tau mit zwei Seemannsknoten an die Laschen geknüpft. Die Tasche schien gut gefüllt. Der Kapitän meinte es anscheinend ernst mit seiner Flucht.
Genüsslich nahm Jonny Naragossa einen Schluck aus der Bierflasche. Er hatte etwas Bärenartiges an sich, wie er da am Tisch saß und seinen Durst stillte. Die Flasche verschwand fast völlig in seiner großen Hand, und als er das Bier zurück auf den Tisch stellte, spitzte er die Lippen und grunzte zufrieden. Jonny Naragossa erinnerte Flanka an Fiedson. Fiedson war Flankas vor zwei Jahren verstorbener Großvater. Als Kind war sie oft mit Fiedson zum Fischen rausgefahren. Und wenn sie damals, nach einem langen Tag auf See, wieder in den Hafen zurückkamen, fand auf dem Kutter immer das gleiche Ritual statt. Schweigend saßen die beiden zusammen im Steuerhaus und blickten hinaus auf das glitzernde Meer; Fiedson trank eine Flasche Bier und die kleine Flanka bekam eine Limonade. Erst wenn die Flaschen leer waren, wurde der Fang verladen, so war das damals Brauch auf Fidsons Fischkutter.
»Glauben Sie mir. Da stimmt etwas nicht. Irgendetwas ist Murowski zugestoßen. Und jetzt will man auch mir an den Kragen. Da braut sich was zusammen, am Horizont. Können Sie mich nicht irgendwo verstecken, nur ein paar Tage?«, brummte Jonny in die Stille. Er spürte, dass der Zeitpunkt günstig war, um von Flanka Svenson eine Zusage zu bekommen.
Flanka betrachtete Rosi mit schmalen Augen und grübelte.
»In Gottes Namen, zwei Tage können Sie bleiben. Hinter dem Haus auf dem Rasen steht ein Gartenhäuschen, da wohnt es sich ganz passabel.« Flanka wusste zwar immer noch nicht was sie von dem alten Seemann halten sollte, auf dessen Unterarm eine Rose tätowiert war und der panische Angst vor Fischköpfen hatte. Aber so einfach vor die Tür setzen, das brachte sie auch nicht übers Herz.
Der Kapitän strahlte.
»Nach zwei Tagen sind Sie aber wieder verschwunden. Dann ist Ihr Freund, Kapitän Murowski, bestimmt auch wieder aufgetaucht. Oder Sie können ja zu Ihrer Freundin der Schweden-Elke ziehen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen mal ihre Behausung.«
Ein wenig ungelenk drückte sich der Kapitän von dem Küchenstuhl in die Höhe, ergriff seine Reisetasche und folgte Flanka in den langen Flur.
Der Wind, der durch das gekippte Küchenfenster wehte, war eiskalt. Ein Julimorgen sollte sich eigentlich anders anfühlen, dachte Flanka – mild und nach Sommer riechend. Doch statt Duft zu verbreiten, klebten gelbe Blüten wie tote Insekten an der Glasscheibe. Der nächtliche Gewittersturm hatte sie dorthin geweht. Flanka blickte auf die Küchenuhr. Achtuhrzwanzig. Ihr Gast war allem Anschein nach kein Frühaufsteher. Bestimmt dachte er sich gerade neue Gespenstergeschichten aus, die er ihr gleich präsentieren würde. Flanka schüttete heiße Milch in einen Metallbecher und steckte den batteriebetriebenen Milchschäumer in die Tasse. Der Schäumer surrte los und kleine weiße Bläschen kletterten den Becherrand empor. Ein würziger Kaffeeduft strich durch den Raum. Flanka goss den Kaffee in eine große braune Tasse und löffelte den heißen Milchschaum dazu. Dann schloss sie das Fenster, setzte sich an den Küchentisch und faltete die Tageszeitung auseinander.
Flanka erschrak. Sie starrte auf ein kleines, schwarzweißes Foto am unteren rechten Rand des Lokalteiles. Das Bild zeigte einen hageren alten Mann mit einer Kapitänsmütze auf dem Kopf. Unter dem Foto stand in fetten schwarzen Buchstaben geschrieben »Kapitän Murowski unter Hafenbrücke tot aufgefunden.«
Hatte Rosi Ihr gestern Abend doch kein Seemannsgarn aufgetischt? Flanka versuchte eine Ordnung in Ihre Gedanken zu bekommen. Der Bericht über Murowskis Tod ließ die Behauptungen des Kapitäns in einem anderen Licht erscheinen. Vielleicht hatte dieser Murowski ja wirklich Besuch von zwielichtigen Gestalten bekommen. Und vielleicht hatten sie etwas mit seinem Ableben zu tun. Das mit dem Makrelenkopf an der Zimmertür war natürlich geflunkert, das war klar. Aber dass Murowski nicht mehr lebte, lag schwarz auf weiß vor ihr auf dem Küchentisch. Daran gab es nichts zu rütteln. Eine Treppe sei er heruntergestürzt. Direkt an der Außenalster. Wahrscheinlich habe er das Gleichgewicht verloren, so stand es in der Zeitung. Nach einer weiteren Tasse Kaffee und einem Toast mit Erdnussbutter fasste Flanka einen kühnen Entschluss: Sie, Flanka Svenson, würde selbst Nachforschungen über das Verschwinden und den Tod von Murowski anstellen. Schließlich war sie ja die Hafenreporterin der Abendpost, und wenn ein ehemaliger Kapitän nachts eine Brückentreppe runterstürzte, der, wie Rosi behauptete, in irgendwelche krummen Dinge verstrickt war, dann war es ihr Job, der Sache gründlich auf den Grund zu gehen. Eine Vorstellung, die Flanka immer besser gefiel, je länger sie darüber nachdachte. Sie war noch nicht lange bei der Abendpost und eine richtige Kriminalstory würde ihrer Karriere guttun. Immer nur Berichte über prominente Gäste an Bord von Kreuzfahrtschiffen, waren für sie mittlerweile zur langweiligen Routine geworden.
Der Geruch, der in Flankas Nase strömte, war eine Mischung aus Bohnerwachs und billigem Pfeifentabak. Er schien fester Bestandteil des Treppenhauses zu sein, so, wie die tropfenförmigen Lampenschirme unter der Decke, die verblassten Leuchtturmfotos in billigen Plastikrahmen und der abgegriffene Handlauf des Holzgeländers. Immer bemüht, kein Geräusch auf dem glatten Boden zu verursachen, stieg Flanka die grauen Linoleumstufen empor. Direkt vor ihr stapfte Kapitän Jonny Naragossa, schwankend, das Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagernd, durch das Treppenhaus des Seemannsheimes. Als er die letzte Stufe erreicht hatte, blickte der Kapitän kurz nach rechts, dann nach links und deutete anschließend mit dem ausgestreckten Zeigefinger in den Gang direkt voraus.
»Sind sie sicher, dass wir hier nachts so einfach reinspazieren können, ohne dass uns jemand entdeckt?«, erkundigte sich Flanka mit gedämpfter Stimme. So richtig wohl fühlte sie sich bei der Sache nicht, obwohl es ihre eigene Idee gewesen war, noch am selben Abend dem Zimmer von Murowski einen Besuch abzustatten. Da man von einem Unfall ausging, hatte die Polizei zwar keine Ermittlungen aufgenommen, aber man konnte ja nicht wissen, wer sonst noch ein Interesse haben könnte, in dem Zimmer des Toten rumzuschnüffeln.
Rosi brummte nur zweimal kurz, was wahrscheinlich »Keine Sorge« bedeuten sollte und als Antwort auf Flankas Frage gedacht war. Dann bewegte er sich mit kurzen, watschelnden Schritten, Seeleute haben sich dieser Art zu gehen angewöhnt, um auch bei Wellengang auf schwankenden Decks sicheren Halt zu finden, zum Ende des Flurs. Dort angekommen nickte er kurz mit seinem Kopf in Richtung der Zimmertür zu seiner rechten Seite.
»Das ist es, das Zimmer von Murowski.« Etwas umständlich kramte der Kapitän einen Schlüssel aus der Jackentasche und wedelte damit vor Flankas Nase herum. »Generalschüssel – habe ich mir mal besorgt. Damit kommt man sogar in die Küche, wenn man spät abends noch mal Durst hat.« Selbstzufrieden knipste der Kapitän zweimal mit dem linken Auge und grinste seine Begleitung an.
Der Kapitän schob den Schlüssel in das Türschloss, drehte ihn zweimal nach links, drückte die Tür beiseite und die Beiden betraten das dunkle Zimmer. Nur recht zögerlich gewöhnten sich Flankas Augen an die Dunkelheit, aber mehr als eine rechteckige, graue Kontur, die ein Kleiderschrank hätte sein können, war nicht auszumachen.
»Wo ist denn hier der Lichtschalter«, erkundigte sich Flanka ungeduldig. »Oder sollen wir etwa alles abtasten?« Sie musste zugeben, dass ihre Neugier, wie es in einem Seemannsheim-Kapitänszimmer aussieht, ziemlich groß war. Wahrscheinlich nicht aufgeräumt und überall Mitbringsel von irgendwelchen Südseeinseln an den Wänden: Schlangenfelle, Blumenketten, Voodoomasken und jede Menge Fotos von nackten Inselschönheiten.
»Immer mit der Ruhe, meine Liebe. Das haben wir gleich«, brummte Rosi.
Flanka hörte, wie die salattellergroßen Hände des Kapitäns suchend auf der Zimmerwand herumpatschten. Dann wurde es hell.
»Na, das ist ja mal eine Überraschung«, entfuhr es Flanka, während sie ihren Blick durch das kleine Zimmer schweifen ließ. Von Unordnung, Voodoomasken und nackten Schönheiten keine Spur. Im Gegenteil, Kapitän Murowski schien ein äußerst ordentlicher und organisierter Mensch gewesen zu sein. Die Wände waren kahl. In einem schmalen Holzregal standen die Bücher und Ordner, sorgfältig nach Größe sortiert, und die Bettdecke war so spiegelglatt gezogen, wie das Meer bei Flaute. Kein einziges Fältchen wölbte sich auf der weißen Fläche. Flanka selbst hatte ein eher gespaltenes Verhältnis zur Ordnung. Sie konnte sich zwar teuflisch aufregen, wenn sie Dinge nicht mehr wiederfand, aber zu sortieren, abzuheften oder einzuordnen, war ihr schon immer ein Gräuel gewesen. Bei ihr verschwanden alle möglichen Utensilien in großen Pappschachteln, denen sie verschiedene Themen zuordnete. In die »Tiffanyschachtel« kam zum Beispiel alles, was Flanka als besonders schön empfand. Notizen, die sie für ihre Reportagen benötigte, verstaute sie in der Kiste mit der Aufschrift »Hafengeplätscher«. Und Kontoauszüge, Quittungen sonstige Bankunterlagen flogen in eine graue Schuhschachtel die »Wallstreet« hieß. »Organisch« nannte sie ihre Art der Organisation.
Flanka setzte sich auf das Bett und zerstörte die von Murowski kunstvoll hergestellte Gleichmäßigkeit.
»Am besten, wir teilen uns auf. Sie schauen sich den Kleiderschrank näher an, und ich, ich nehme das Regal mal unter die Lupe«, verkündete Flanka, während sie sich mit einem Schwung von der Matratze erhob. Der Gedanke, in den Anziehsachen eines alten Mannes herumzusuchen, löste ein gewisses Unbehagen bei ihr aus. Das sollte Rosi mal erledigen.
In der obersten Reihe des Regales standen neben einigen Büchern, es waren fast ausschließlich Seefahrerromane über furchtlose Entdecker und blutrünstige Freibeuter, drei graue Aktenordner. Da die Ordnerrücken nur mit den Zahlen Eins, Zwei und Drei beschriftet waren, zog Flanka die Ordner aus dem Regal, um den Inhalt einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Ordner Nummer Eins enthielt Postkarten, die Murowski feinsäuberlich nach Ländern abgeheftet hatte. »Klarer Fall von Ordnungsfimmel im fortgeschrittenen Stadium,« kommentierte Flanka kopfschüttelnd die akribisch sortierte Kartensammlung und widmete sich dem zweiten Ordner zu. Kontoauszüge und einige Briefe der Krankenversicherung klemmten zwischen den grauen Pappdeckeln. Außer, dass der Tote 854,24 Mark auf seinem Konto hatte, war auch hier nichts Interessantes zu entdecken. »Hoffentlich steckt im letzten Ordner keine Briefmarkensammlung mit Leuchtturmmotiven«, seufzte Flanka. Erwartungsvoll klappte sie Ordner Nummer Drei auf, der ihr viel schwerer erschien als die ersten beiden. Er enthielt Frachtpapiere, Zolldokumente, Zeitungsausschnitte, Wetterberichte, und Hafenmeldungen. Die Papiere steckten in Klarsichthüllen und waren allem Anschein nach alphabetisch geordnet. Ein weiterer Zusammenhang zwischen den verschiedenen Dokumenten, war Flanka auf den ersten Blick nicht ersichtlich geworden. Wahrscheinlich handelte es sich um persönliche Reiseerinnerungen, die nur für Murowski bedeutungsvoll waren, Außenstehenden aber nichts sagten. Von ihrer ersten Seereise hatte Flanka die täglichen Meldungen aus dem Wetterfax aufgehoben und in ihre Tiffanyschachtel gesteckt. Sie hatte die Wetterberichte zwar nur ein- zweimal wieder in die Hand genommen, sie wegzuschmeißen war aber für Flanka undenkbar. Bestimmt war das der »Tiffanyordner« von Kapitän Murowski, vermutete Flanka. Während Rosi hinter ihrem Rücken mit Kleiderbügeln klapperte, machte sie sich sicherheitshalber einige Notizen zu den Papieren.
»Wie sieht es aus, haben Sie schon irgendetwas Auffälliges entdeckt?«, erkundigte sich die Dänin und schob die Ordner langsam zurück ins Holzregal.
»Alles frisch gewaschen und gebügelt, typisch Murowski, immer alles picobello.«
»Sonst nichts? Weil einer seinen Schrank aufräumt, wird er nicht bedroht. Schauen sie doch mal in den Taschen nach.« Nachdenklich blickte sich Flanka in dem Zimmer um, nachdem auch bei der weiteren Untersuchung des Bücherregals nichts Verdächtiges zu Tage gekommen war. Viele Möglichkeiten, etwas zu verstecken, gab es in dem Zimmer nicht mehr. Ein hässlicher brauner Polstersessel, ein kleiner Tisch, ein leerer Papierkorb aus weißem Plastik, ein Holzstuhl mit Ledersitzkissen. Das war alles. Auch ein Blick ins Bad brachte keine neuen Erkenntnisse. Außer einer Glasablage mit Zahnputzbecher und einem Wandhaken, an dem ein rotblau gestreifter Herrenbademantel hing, war das Bad leer. Mittlerweile hatte Rosi alle Kleidungsstücke auf dem Bett ausgebreitet und machte sich daran, die Taschen umzustülpen. Aber auch diese Untersuchung brachte nichts Interessantes zutage. Murowski schien zu den wenigen Männern zu gehören, die nicht irgendwelche seltsamen Dinge in ihren Hosentaschen aufbewahrten, wunderte sich Flanka.
»Nichts, gar nichts«, grummelte Rosi und ließ enttäuscht ein blaues Jackett mit aufgesticktem Anker auf das Bett fallen.
»Vielleicht ist ja in der Metalldose, die Murowski Ihnen zu gesteckt hat, etwas was uns weiterhelfen kann«, sagte Flanka und lehnte sich mit verschränkten Armen an das Regal.
»Na, besonders groß war sie nicht, aber wer weiß, was er da reingesteckt hat.« Nachdenklich massierte der Kapitän seinen kahlen Hinterkopf. »Kann ja morgen Abend mal raus nach Wedel fahren und die Dose holen.«
»Seien sie aber vorsichtig, dass sie niemand dabei beobachtet«, bemerkte Flanka obwohl sie mittlerweile nicht mehr so sicher war, dass mit dem Tod von Murowski etwas nicht stimmte. Bislang war die Untersuchung des Zimmers eine Enttäuschung.
»Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich werde so tun, als würde ich mein Angelzeug abholen.«
Kapitän Jonny Naragossa ließ die Kleidungsstücke wieder in dem Schrank verschwinden, während Flanka unruhig im Zimmer auf und ab schritt. Hier war einfach nichts Verdächtiges zu entdecken, stellte sie missmutig fest. Sollte es doch eine ganz harmlose Erklärung für die Ereignisse geben? Vielleicht hatte dieser Murowski an jenem Abend nur ein paar Grogs zu viel getrunken. Auf der Treppe war dem alten Mann dann das Gleichgewicht abhandengekommen. Und dieser Habichtkopf und der Mann mit dem Parka, die Rosi im Seemannsheim beobachtet hatte, das waren zwei harmlose Matrosen gewesen, die irgendwann mal mit Murowski zur See gefahren waren. Nachdenklich beobachtete Flanka, wie der Kapitän vergeblich versuchte, ein Hemd exakt so groß zu falten, dass es genau in eines der Schrankfächer passte. Wahrscheinlich hatte sich die Sache folgendermaßen zugetragen – Kapitän Naragossa war die endlosen Weiten der Ozeane gewohnt. Mit der Enge und den monotonen Tagesabläufen eines Seefahrerheims kam er nicht klar. Und da hat er sich ein paar stürmische Geschichten zusammenphantasiert, mit ekligen Fischköpfen, geheimnisvollen Blechdosen und zwielichtigen Heimbesuchern, um seinem Rentnerdasein wieder ein wenig Aufregung zu verleihen. Doch alles nur Hirngespinste! Flanka war es fast schon ein wenig peinlich, dass sie sich von Rosis Gangstergeschichten hatte anstecken lassen. Das war es dann also mit ihrer großen Verschwörungsreportage! Schon morgen würde der nächste Luxusliner in Hamburg festmachen und ihre Aufgabe bestünde mal wieder darin, rauszufinden, ob irgendwelche Schlagersternchen oder Schauspieler an Bord sind. Eine Vorstellung, die Flankas Stimmung eintrübte, wie ein plötzlich aufziehender Gewittersturm den blauen Sommerhimmel. Sie hasste diese schwimmenden Hotelanlagen – diese Ungetüme hatten nichts mit richtiger Seefahrt zu tun. Ihr war es ein Rätsel, was Menschen dazu trieb, für viel Geld ihren Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff zu verbringen, das versuchte, durch allen erdenklichen Luxus, seinen Gästen vorzugaukeln, sie befänden sich gar nicht auf dem Meer. Mitten auf dem Atlantik zu Golfen, Roulette zu spielen oder im Whirlpool zu sitzen, war für die junge Dänin ein Ding der Unmöglichkeit. Während Flanka sich über die Auswüchse der Kreuzfahrtbranche ärgerte, schob sie mit dem Fuß den Papierkorb beiseite, der direkt neben dem Bücherregal stand. Auf dem grauen Linoleumboden wurden zwei helle Streifen sichtbar. Flanka bückte sich, um die Stelle genauer zu betrachten. Die Linien sahen aus als wären erst kürzlich entstanden.
»Schauen Sie sich das hier mal an.«
Rosi verschloss die Kleiderschranktüren und drehte sich zu Flanka um.
»Sieht aus wie Schleifspuren.«
»Richtig. Und die Schleifspuren sind genauso breit wie das Regal. Sehen Sie hier.« Flankas Zeigefinger fuhr über den Fußboden. »Jemand hat das Regal zur Seite geschoben.«
»Na, wahrscheinlich hat der Murowski ein wenig umgeräumt. Bei Ihm musste ja alles immer hundertprozentig sein.«
»Oder! Oder hinter dem Regal ist etwas versteckt.« Mit Schwung drückte sich Flanka aus der Hocke nach oben und rüttelte so heftig an der Regalwand, dass die Bücher auf den Böden bedrohlich schwankten. Ihre Skepsis gegenüber Rosis Verschwörungstheorien war so schnell verschwunden wie ein Kieselstein im Wasser.
»Was soll man den hinter einem Regal verstecken. Da ist doch nur Platz für Spinnweben«, nörgelte der Kapitän. Auch er hatte sich von ihrer geheimen nächtlichen Zimmerdurchsuchung mehr versprochen als die Inspektion eines Kleiderschrankes.
»Na los, nun packen Sie schon mit an. Ich will wissen, warum das Bücherregal verschoben wurde«, presste Flanka hervor, während sie bereits voller Tatendrang an der Seitenwand zerrte.
Der Kapitän verzog das Gesicht, als hätte sich etwas sehr Saures in seinem Mund verirrt.
»Was ist jetzt«, drohte Flanka. »Wir können auch morgen früh zur Polizei gehen und dort eine Geschichte von gefährlichen Makrelenköpfen vortragen.«
Obwohl Rosi Flanka noch nicht lange kannte, wusste er, dass es zwecklos war, mit der jungen Dänin zu diskutieren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Widerwillig positionierte sich der Kapitän auf der anderen Seite des Regals, spuckte zweimal in die Hände und begann gegen das Holz zu drücken. Langsam rutschte das Regal Richtung Fenster.
»Sehr gut, noch einen halben Meter«, meldete sich Flanka von der anderen Seite. »Stopp, perfekt.«
Flanka und Rosi traten zwei Schritte zurück und betrachteten verwundert die Wandfläche, die gerade noch von einem Bücherregal verdeckt wurde.
»Haben Sie so was schon mal gesehen?« Flankas Stimme war anzumerken, dass sie mit diesem Anblick nicht gerechnet hatte.
»Da hängt eine rote Schiffsflagge«, stellte der Kapitän wertfrei fest.
»Das sehe ich auch. Aber irgendwie schon ein sehr seltsamer Ort, um sich etwas Dekoratives an die Wand zu hängen. Finden sie nicht!«
Rosi machte eines seiner Brummgeräusche, die er von sich gab, wenn er sich noch nicht für irgendeine Art von inhaltlicher Formulierung entschieden hatte.
»Anscheinend war die Flagge für Murowski sehr wichtig. Er wollte unbedingt, dass sie in seinem Zimmer hing. Aber gleichzeitig sollte diese Flagge niemand zu Gesicht bekommen«, versuchte Flanka eine einigermaßen plausible Erklärung für ihre Entdeckung zu finden.
»Verstehe ich nicht, sieht doch ganz schön aus. Warum sollte Murowski sie verstecken.«
»Hmm, vielleicht steht sie für etwas, mit dem man nicht in Verbindung gebracht werden möchte?«
Rosi näherte sich der Fahne und tippte mit dem Zeigefinger auf eine goldene Stickerei in der rechten oberen Ecke. »Was soll das denn darstellen?«
»Sieht aus wie ein Trinkbecher mit einem Messer.«
»Und – was machen wir jetzt?«
»Wir nehmen die Flagge mit«, entschied Flanka kurzerhand.
»Glauben sie etwa, sie könnte etwas mit Murowskis Tot zu tun haben?«
»Na, ich finde es schon ausgesprochen seltsam, eine Flagge hinter einem Regal aufzuhängen, wo sie niemand sieht.« Entschlossen trat Flanka näher an die Wand heran. »Haben sie ein Taschenmesser dabei?«
Wortlos kramte Rosi ein mit schimmerndem Perlmutt eingefasstes Messer aus seiner Hosentasche und reichte es Flanka. Mit ihrem Daumennagel schnippte die Dänin eine Klinge aus dem Schaft, schob sie unter die Nagelköpfe und zog die Metallstifte mit Schwung aus der Wand. Dann faltete sie die Flagge zu einem
Flanka hatte sich entschieden, ihren verbeulten, französischen Kleinwagen bereits oben an den Landungsbrücken zu parken. Den Rest des Weges, Richtung Fischhallen, wollte sie zu Fuß laufen, obwohl es eine Strecke war, auf der man normalerweise keinen Spaziergang machte. Erst recht nicht kurz vor Mitternacht. An der alten Maschinenfabrik wechselte Flanka die Straßenseite. Trotz der späten Stunde fuhren noch zahlreiche Autos über die Elbstraße. Während große Kühllaster frischen Fisch zu den Hallen der Großhändler transportierten, steuerten die teuren, schwarzen Sportwagen das neue Nobelrestaurant an, das die Hafenmeile als Szenelocation entdeckt hatte. Keiner der Wagen schien sich jedoch für die zwei Frauen zu interessieren, die in engen, leuchtenden Overalls über die Pflastersteine stöckelten und nach Freiern Ausschau hielten. Wer hier unten an der Elbe stand, hatte das traurige Ende einer Prostituiertenkarriere erreicht. Man begann als Tänzerin in den Clubs, dann Eroscenter, anschließend Straßenstrich auf St.Pauli. Und zum Schluss runter in den Hafen – an die Fischhallen. Flanka ging auf die Frau mit weißen Pumps und rosa Seidenoverall zu.
»Hallo Ulla, wie laufen die Geschäfte?«
»Na so was, die junge Dänin von der Abendpost. Das ist ja eine Überraschung. Was hast du denn hier um die Uhrzeit verloren? Liebelein, du willst uns alten Bordsteinschwalben doch nicht Konkurrenz machen?« Ein dunkles Lachen purzelte aus Ullas rotem Mund und die Brüste in dem tiefgeschnittenen Dekolleté zitterten wie ein großer Vanillepudding.
»Ich such den Helgoländer«, machte es Flanka kurz. Sie wusste, dass Ulla eine Plaudertasche war. Wenn Ulla mal in Fahrt kam, konnte man sie nur schwerlich bremsen. Das Interview, das Flanka letzten Monat mit ihr geführt hatte, dauerte volle vier Stunden. Zwischendurch hatte Ulla zwei Kannen Kaffee, Erdbeertörtchen, eine Tüte Gebäckmischung und abschließend Salzstangen, Gewürzgürkchen und eine Runde Doppelkorn auf den Tisch gestellt.
»Du hast Glück, Liebelein. Der Helgoländer ist vor ner halben Stunde hier vorbeigefahren. Der wollte Fisch kaufen. Ich glaube der ist zu Mischa.«
Bevor Ulla erzählen konnte, dass sie den Mischa ja beinahe mal geheiratet hätte, wenn da damals nicht der schöne Carsten aufgetaucht wäre, machte sich Flanka wieder auf den Weg Richtung Fischhallen. »Danke Ulla, du bist ein Schatz.«
»Lass uns mal wieder treffen, Käffchen weißte, und ein bisschen rumquatschen«, rief Ulla Flanka hinterher, die schon die flache Gebäudezeile erreicht hatte, in der die Hamburger Fischgroßhändler die Ware für den nächsten Tag vorbereiten. Jeden Abend ab 23.00 Uhr bringen die Kühllaster die Fänge aus den Fischereihäfen zu den Händlern in die Elbstraße. Hier werden sie geprüft, ausgenommen und filetiert. In den frühen Morgenstunden kommen dann die Restaurantbesitzer und Chefköche aus ganz Hamburg, um ihre bestellte Ware abzuholen.
Mischas Fischkontor war einer der ältesten Großhändler hier. Bereits in der dritten Generation belieferten sie Hamburgs Gastronomie mit frischem Fisch.
Flanka stieg die breiten Steinstufen neben der Laderampe empor und öffnete die schwere graue Stahltür. Gleißendes Neonlicht schlug ihr entgegen. Mit zusammengekniffen Augen versuchte sie sich in der Halle zu orientieren. Neben dem Eingang stapelten sich blaue Kästen, in denen auf Eis gepackte Schollen, Seeteufel und Sprotten auf die weitere Bearbeitung warteten. Hinter den Kästen, an einem großen quadratischen Tisch, standen die Fischwerker in ihren bis zum Boden reichenden blauen Kunststoffschürzen. Wortlos schrubbten sie den Fischen die Schuppen vom Rücken, trennten mit einem schnellen Schnitt die Köpfe ab, schlitzen den Bauch auf und fingerten die Innereien heraus. Ein blasser Mann mit fusseligem, rotem Barthaar blickte zu Flanka herüber als sie in die Halle trat.
»Ist der Helgoländer bei euch?«, rief Flanka.
Der Rotbart deutete mit seinem Filetiermesser auf den Durchgang zur nächsten Halle. »Büro«, krächzte er und steckte anschließend sein Messer in einen silbrig glänzenden Fischbauch.
Flanka nickte den Fischwerkern kurz zu und marschierte in Richtung Durchgang. Die Nachbarhalle war kleiner, hier standen auf Paletten die bereits fertigen Bestellungen. An den gut gefüllten Plastikschalen hingen die Namen der Kunden: Vier Jahreszeiten, Chez Lorraine, Enzo, Elbeblick. Mischas Fischkontor ist immer noch eine der besten Adressen, wenn es um Fischspezialitäten geht, stellte Flanka fest. Ohne anzuklopfen, öffnete sie die Tür, an der ein Blechschild mit der Aufschrift »Hier schläft der Chef« baumelte.
»Flanka! Je später der Abend, desto schöner die Gäste. Immer rein in die gute Stube, junge Frau.« Mischa, groß, blond, mit einem Grübchen auf dem Kinn, saß in einem schwarzen Lederstuhl vor einem vergilbten Poster, das die im Nordatlantik beheimaten Fischarten vorstellte. Ihm gegenüber hockte auf einem Holzschemel ein Mann mit leicht abstehenden Ohren, einer tannenzapfengroßen Nase und kleinen listigen Augen: der Helgoländer. Wie der Helgoländer mit richtigen Namen hieß, wusste in Hamburg niemand. Er wurde schon immer so genannt wie sein Restaurant draußen in Finkenwerder. Der Mann mit dem auffällig großen Riechorgan war an der Elbe nicht nur bekannt für seine köstlichen Fischgerichte, er war auch ein leidenschaftlicher Sammler von Schiffsflaggen. In seinem Restaurant sah es aus wie in einem Flaggenmuseum.
»Hallo Mischa, hallo Helgoländer.« Flanka blieb direkt neben der Tür stehen. Hier im Büro, in Gegenwart von Mischa, wollte sie nicht mit dem Helgoländer sprechen.
»Was hast du auf dem Herzen«, erkundigte sich Mischa. »Brauchst du die Zahlen von den Fangquoten. Kein Problem.« Er beugte sich nach vorne und tippte mit den beiden Mittelfingern auf der Tastatur seines Computers herum. »Das haben wir gleich.«
»Ich wollte eigentlich zum Helgoländer.«
»Zu mir, was gibt es denn so wichtiges?«, das Gesicht des Restaurantbesitzers zog sich in die Länge. Er sah jetzt aus wie der Kasper aus dem Marionettentheater.
»Lass uns vor die Tür gehen und eine rauchen. Du kennst dich doch mit Fahnen aus. Da hab ich mal ne Frage.«
»Verschwindet ihr ruhig. Wir haben heute Bestellungen ohne Ende. Und ich muss noch die Lieferscheine fertigmachen.« Mischa nickte seinen Besuchern zu und widmete anschließend seine Aufmerksamkeit einem dicken Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
Es war kühler geworden. Flanka zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kragen hoch, während sie hinaus auf die Laderampe trat. Aus den Tiefen seiner Jackentasche kramte der Helgoländer eine zerknitterte Zigarettenschachtel hervor. Er klappte den Deckel auf, schnippte mit dem Zeigefinger gegen den Boden der Packung und streckte sie Flanka entgegen.
»Danke.« Flanka zog eine Zigarette aus der Schachtel.
»Was wollen Sie denn wissen?«, erkundigte sich der Restaurantbesitzer, während er ein Zündholz entfachte.
Flanka griff in ihren Rucksack aus braunem Leder, ein Mitbringsel aus einem afrikanischen Seehafen, und faltete die Fahne, die sie hinter Murowskis Schrank entdeckt hatte, auseinander. »Haben Sie so eine schon mal gesehen?«
»Darf ich?« Der Helgoländer ergriff das rote Tuch und ließ es an seinem ausgestreckten Arm in der Luft flattern. Konzentriert betrachtete er jedes Detail der Schiffsflagge. »Erstaunlich, sehr erstaunlich.«
»Was heißt »sehr erstaunlich?« Ein paar Details wären nicht schlecht«, erkundigte sich die Dänin mit Nachdruck. Das sichtlich große Interesse des Restaurantbesitzers hatte Flankas Neugier auf die Bedeutung ihres Fundes spürbar gesteigert. »Sie sind doch der Mann, der sich in Hamburg am besten mit Schiffsflaggen auskennt.«
Wortlos rieb der Helgoländer den Stoff zwischen zwei Fingern und hielt ihn anschließend unter seine Tannenzapfennase. Mit kurzen Zügen schnüffelte er an dem Gewebe. »Hmm. Der Stoff scheint sehr alt zu sein«, stellte er fest und hob die Fahne in das Licht der Neonröhre, die über dem Eingang zur Fischhalle hing.
»Was heißt alt, zehn, zwanzig, fünfzig Jahre?« Hoffentlich rückt der Helgoländer noch mit ein paar genaueren Informationen raus, dachte Flanka. Es musste einen besonderen Grund dafür geben, warum Murowski die Flagge hinter seinem Kleiderschrank aufgehängt hatte.
»Nein, nein, die hier ist viel älter, schauen Sie, wie grob das Tuch gewebt ist. Die ist mindestens ein paar hundert Jahre alt.«
»Ein paar hundert Jahre. Sind Sie sicher?«, entfuhr es Flanka überrascht. Sie war davon ausgegangen, dass die Fahne von irgendeiner Reederei aus Asien stammte.
»Ziemlich sicher. Wissen Sie, in meiner Sammlung habe ich zwei ganz besondere Flaggen, die stammen nachweisbar aus der Hansezeit und die sind aus einem ähnlichen Tuch gewebt. Sagen Sie mal, wo haben sie das gute Stück denn her?«
Die Frage hatte Flanka erwartet. Aber sie war noch unentschlossen, ob sie etwas über den Fundort sagen sollte, oder ob es besser sei, das Zimmer von Kapitän Murowski nicht zu erwähnen.
Der Helgoländer schnupperte derweil ein zweites Mal an dem Stoff.
»Ein Erbstück, von einem Verwandten«, sagte Flanka. Sie hatte sich entschieden, zunächst keine weiteren Details mitzuteilen. Der Helgoländer nickte.
»Was ist mit den aufgestickten Symbolen.« Flanka deutete in die rechte obere Ecke. »Kann man aufgrund der Zeichen noch etwas rausfinden, zum Beispiel auf welchem Schiff die Flagge mal geweht hat?«
Ein langgezogenes Pfff entwich den Lippen des Restaurantbesitzers, bevor er sich anschickte, auf Flankas Frage zu antwortete. »Ich wage mal zu behaupten, dass diese Flagge aus dem Ostseeraum oder wie er damals hieß dem Mare Balticum stammt. Aber mehr kann man dazu nicht sagen. Da gibt es einfach zu viele Möglichkeiten. Jede der alten Handelsstädte, Wismar, Lübeck, Rostock, alle hatten ihre eignen Handelsflotten. Dazu kamen Könige, Fürsten und reiche Kaufleute aus Dänemark und Schweden, nicht zu vergessen die Freibeuter und Piraten. Jeder fuhr unter seiner eigenen Flagge.«
»Einen Becher mit Schwert oder Messer haben Sie also noch nie zu Gesicht bekommen?« Flanka beobachtete das Gesicht des Helgoländers, während sie die Frage aussprach. Sie wollte sichergehen, dass er ihr nicht etwas vorenthielt, um die Flagge bedeutungslos erscheinen zulassen. Fanatische Sammler waren ja immer auf der Jagd nach besonderen Schnäppchen. Und da war es zuträglich, wenn man den Besitzer im Ungewissen ließ, was für eine Kostbarkeit er da eigentlich in Händen hielt. Flanka hatte zwar den Eindruck, dass der Helgoländer vom Alter der Flagge beeindruckt war, aber über die Bedeutung der Stickerei schien er wirklich nichts Genaueres zu wissen.
»Die Symbole waren damals oft sehr ähnlich. Fast jeder hatte ein Schwert in seinem Wappen. Kann ich die Flagge mal mitnehmen, ich würde sie gerne einem Freund zeigen, der auch Fahnen sammelt? Vielleicht hat er eine Idee zur Herkunft.«
Ein weißer Transporter hielt bei den Damen vom Straßenstrich. Flanka sah, wie Ulla auf den Wagen zu tänzelte. Langsam wurde das Seitenfenster heruntergekurbelt und die etwas rundliche Prostituierte sprach mit dem Fahrer. Das Fenster schob sich wieder nach oben und der Transporter fuhr davon. Ulla ging zurück zu ihrer Kollegin.
Abdulrachid wusste, dass seine Mutter ihn unter einem Feigenbaum zur Welt gebracht hatte. Aber wie alt er war, wusste er nicht. Seine Arme und Beine hatten noch die schlanken, langen Muskeln eines Jungen. Unter seiner breiten Nase begannen jedoch schon ein paar Barthaare zu sprießen. Bald würde er ein Mann sein – sehr bald schon. Abdulrachid stand am Rand des Basars von Bosaso, jene staubige Hafenstadt im Norden von Somalia, die allerlei Gesindel anzog. Trotz der späten Stunde ergoss sich eine klebrige Hitze über den Platz. Die heiße Luft sog die Gerüche des Marktes auf wie ein Schwamm. Der Duft von Zimt und Kardamom kroch Abdulrachid in die Nase. Auf einer wackligen Holzkarre sortierte eine alte Marktfrau Granatäpfel, Mangos und Papayas. Sie bewegte die Früchte so langsam, als wäre ihr das Gefühl für Zeit abhandengekommen. Direkt neben dem Obststand versuchte ein kleinwüchsiger Teppichhändler seine geringe Körpergröße durch das besonders lautstarke Anpreisen der Waren wettzumachen. »Die schönsten Teppiche unter der Sonne Somalias findest du bei Jamaal. Teppiche von Jamaal. Teppiche von Jamaal«, krähte es ohne Unterlass aus dem dürren Körper.
Doch Abdulrachid war nicht zum Basar gekommen um Gewürze, Obst, oder einen Teppich zu erstehen. Abdulrachid wollte Waffen kaufen: ein großes Messer, eine Handgranate und ein russisches Maschinengewehr. Der dünne Junge schlängelte sich durch die Marktbesucher. Er solle nach einem dicken, bärtigen Mann mit einem roten Hemd Ausschau halten, hatte ihm der zahnlose Fischer unten im Hafen anvertraut.
Auf dem Platz vor dem Teehaus saß ein Mann mit einem langen, schwarzen Bart. Über seinem mächtigen Bauch spannte sich ein fleckiges rotes Hemd. Der Mann kaute »Khat«, jene grüne Blattpflanze, die Amphetamine freisetzt und den Geist so angenehm benebelt, dass man alle Sorgen einfach vergisst, zumindest für ein paar Stunden. In Bosaso waren fast alle Männer süchtig nach Khat.
»Bist du der Mann mit dem man sprechen muss, wenn man Waffen kaufen will?«, fragte Abdulrachid vorsichtig. Der Dicke stierte den Jungen mit glasigen Augen an. Sein Mund schnappte einige Male auf und zu, ohne dass ein Wort zwischen den speckigen Lippen hervor kam. Dann grunzte der Dicke ein »Warte« hervor, wälzte sich mühsam aus seinem Stuhl, verschwand im Teehaus und kam nach einer Weile mit einem hageren, weißen Mann heraus, dessen Kopf an einen Habicht erinnerte. Das Gesicht des Hageren war mit dicken Schweißtropfen bedeckt. Ständig tupfte er mit einem Tuch über seine weiße Haut. Doch es half nichts, sofort quollen neue Tropfen hervor, rollten nach unten, lösten sich von dem scharfkantigen Kinn und fielen in den sandigen Boden. Das rote Hemd zeigte auf Abdulrachid. »Der da will Waffen kaufen«, sagte er auf Englisch zum Habichtgesicht. Die stechenden Augen des weißen Mannes musterten den dunkelhäutigen Jungen.