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New York Times Bestseller "Eindringlich und berührend. Absolut fantastisch!" Brigitte Als die Gleesons und die Stanhopes in dieselbe Nachbarschaft ziehen, scheinen die Weichen für ein freundschaftliches Miteinander gestellt, sind die beiden Familienväter zudem Kollegen bei der New Yorker Polizei. Lena Gleeson fühlt sich in der neuen Gegend ein wenig einsam und versucht mit Anne Stanhope Freundschaft zu schließen. Doch deren kühle, distanzierte Art verhindert jeden Kontakt. Erst ihre Kinder bringen die Gleesons und die Stanhopes wieder miteinander in Verbindung. Lenas jüngste Tochter Kate und Annes einziger Sohn Peter sind von Anfang an unzertrennlich. Aber ihre aufkeimende Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, als eine Tragödie beide Familien für lange Zeit auseinanderreißt.
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Seitenzahl: 678
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das Buch
Francis Gleeson und Brian Stanhope sind junge Kollegen bei der New Yorker Polizei und gehen 1973 in der Bronx gemeinsam auf Streife. Sie sind keine engen Freunde, ziehen aber beide mit ihren Familien in dieselbe Nachbarschaft vor den Toren der Stadt. Was hinter den geschlossenen Türen beider Häuser geschieht – die Einsamkeit von Francis’ Frau Lena und die psychische Fragilität von Brians Frau Anne – bildet das Fundament der kommenden dramatischen Ereignisse ...
Wenn du mich heute wieder fragen würdest ist die tief bewegende Geschichte einer lebenslangen Freundschaft und Liebe, eine Geschichte, die danach fragt, was passiert, wenn Romeo und Julia sich gegen alle Widerstände gefunden haben und ihr Leben miteinander verbringen wollen. Ein berührender Roman über die Höhen und Tiefen einer Ehe und die Macht der Vergebung.
Die Autorin
MARY BETH KEANE machte ihren Master of Fine Arts an der University of Virginia. Mit ihrem Mann und den gemeinsamen zwei Söhnen lebt sie in Pearl River, New York. Wenn du mich heute wieder fragen würdest ist ihr dritter Roman und hielt sich wochenlang auf den vorderen Plätzen der New York Times Bestsellerliste. Die Auslandsrechte wurden bisher in 16 Länder verkauft, die Produzenten von American Beauty arbeiten derzeit an einer Umsetzung des Stoffs als TV-Serie.
WIBKE KUHN, geb. 1972, arbeitete nach dem Studium zunächst im Verlag und machte sich dann als Übersetzerin selbstständig. Sie überträgt skandinavische, englische und italienische Romane und Sachbücher ins Deutsche (u.a. Nell Leyshon, Anita Brookner und Margery Sharp) und lebt in München.
MARY BETH KEANE
Wenn
du mich
heute
wieder
fragen
würdest
ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch von Wibke Kuhn
Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-103-4
Die Originalausgabe »Ask Again, Yes« erschien 2019 bei Scribner, New York.
© 2019 Mary Beth Keane
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
Julia Eisele Verlags GmbH, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagabbildungen: © Konstantin L/shutterstock
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Owen und Emmett
PROLOG
JULI 1973
FRANCIS GLEESON, groß und dünn, trat in seiner puderblauen Polizeiuniform aus der Sonne in den Schatten des gedrungenen Gebäudes, das die Polizeiwache der Bronx, des 41. Bezirks, beherbergte. An einer Feuerleiter im vierten Stock in der 167th Street hatte jemand eine Seidenstrumpfhose zum Trocknen aufgehängt, und während Francis auf einen anderen Neuling wartete, einen Polizisten namens Stanhope, betrachtete er diese völlig regungslosen Spinnenbeine mit der zarten Rundung an der Stelle, wo normalerweise die Ferse saß. Gestern Nacht war wieder ein Haus abgebrannt, und Francis ging davon aus, dass es so aussehen würde wie bei so vielen anderen im 41. Bezirk: alles weg bis auf eine ausgebrannte Hülle, und in der Mitte eine rußschwarze Treppe. Die Kinder aus der Nachbarschaft hatten zugeschaut, wie es brannte, sie saßen ringsum auf den Dächern und Feuerleitern, auf die sie an diesem ersten wirklich heißen Junitag ihre Matratzen gezerrt hatten. Da Francis jetzt nur eine Straße entfernt war, konnte er hören, wie sie die Feuerwehrleute anbettelten, ihnen einen Hydranten aufgedreht zu lassen. Er konnte sich vorstellen, wie sie in den Wasserstrahl hinein- und wieder heraushüpften, während der Asphalt unter ihren Füßen dampfte.
Er schaute auf seine Armbanduhr und dann wieder zurück zur Tür des Präsidiums und fragte sich, wo Stanhope bloß blieb. Jetzt schon 31 Grad. Dabei war es noch nicht mal zehn Uhr morgens.
Das hatte ihn in Amerika fast am meisten schockiert: Winter, die einem die Haut vom Gesicht abziehen konnten, und Sommer, die so dick und feucht waren wie Sümpfe. »Du heulst rum wie so’n alter Ire«, hatte ihn sein Onkel Patsy am Morgen gehänselt. »Die Hitze, die Hitze, die Hitze.« Aber Patsy stand ja auch tagaus tagein in einem kühlen Pub und zapfte Bier. Francis hingegen musste zu Fuß auf Streife gehen, und nach fünfzehn Minuten hatte er schon dunkle Ringe unter den Achseln.
»Wo ist denn Stanhope?«, fragte Francis ein paar andere Neulinge, die ebenfalls auf Streife loszogen.
»Kämpft mit seinem Spind, glaub ich«, sagte einer.
Nachdem noch eine weitere volle Minute verstrichen war, kam Brian Stanhope schließlich die Stufen heruntergehüpft. Francis und er hatten sich am ersten Tag der Polizeiakademie kennengelernt, und zufällig waren sie beide im 41. Bezirk gelandet. In der Polizeiakademie hatten sie die gleiche Taktikklasse besucht, und nach einer Woche oder so sprach Stanhope Francis an, als sie bei Unterrichtsschluss an der Tür anstanden. »Du bist Ire, oder? Gerade erst vom Dampfer gestiegen?«
Francis erwiderte, er sei aus dem Westen, aus Galway. Er war mit dem Flugzeug gekommen, aber das erwähnte er nicht.
»Dacht ich mir doch. Meine Freundin auch. Die ist aus Dublin. Du, ich muss dich mal was fragen.«
Für Francis war Dublin so weit von Galway entfernt wie New York, aber für einen Yankee war das wahrscheinlich alles eins, dachte er sich.
Francis machte sich auf eine Frage gefasst, die persönlicher ausfallen würde, als ihm genehm war. Das war ihm mit als Erstes aufgefallen, als er in Amerika war: Keiner genierte sich, seinem Gegenüber jede Frage zu stellen, die ihm gerade durch den Kopf ging. Wo wohnst du, mit wem wohnst du zusammen, wie viel Miete zahlst du, was hast du letztes Wochenende gemacht? Für Francis, dem es schon unangenehm war, auch nur seine Einkäufe im Supermarkt in Bay Ridge für alle sichtbar aufs Kassenband zu legen, war das alles ein bisschen zu viel. »Großer Abend heute, hm?«, hatte die Kassiererin gemeint, als er das letzte Mal dort war. Ein Sixpack Budweiser. Ein paar Kartoffeln. Deo.
Brian sagte, ihm sei aufgefallen, dass seine Freundin keine anderen irischen Freunde habe. Sie war erst achtzehn. Man hätte annehmen können, dass sie mit einer Freundin oder einem Cousin oder so gekommen war, aber so war es nicht, sie war allein. Er dachte, sie hätte sich zumindest mit ein paar irischen Mädchen für eine Wohngemeinschaft zusammentun können, das wäre weiß Gott kein Problem. Sie machte eine Krankenschwesterausbildung im Montefiore Hospital und wohnte im Schwesternwohnheim mit einer Dunkelhäutigen zusammen, ebenfalls einer Krankenschwester. War das so bei den Iren? Denn er war mal eine Weile mit einer Russin ausgegangen, und die war grundsätzlich nur mit anderen Russen zusammen gewesen.
»Ich bin auch Ire«, sagte Stanhope. »Aber bei unserer Familie ist das schon ’ne Weile her.«
Das war auch so was an Amerika. Hier war jeder Ire, aber es war schon ’ne Weile her.
»Könnte ja auch ein Zeichen von Intelligenz sein, wenn man sich von uns ein bisschen fernhält«, sagte Francis mit todernster Miene. Stanhope brauchte eine Weile.
*
Bei ihrer Abschlussfeier stand Bürgermeister Lindsay auf dem Podium, und Francis dachte sich von seinem Platz in der dritten Reihe aus, wie seltsam es war, einen Mann zu sehen, den er bis jetzt nur aus dem Fernsehen kannte. Francis war in New York geboren, dann hatten sie ihn wieder mit nach Hause nach Irland genommen, und dann war er kurz vor seinem neunzehnten Geburtstag mit zehn amerikanischen Dollars und der amerikanischen Staatsbürgerschaft wiedergekommen. Der Bruder seines Vaters, Patsy, hatte ihn am JFK-Flughafen abgeholt, hatte Francis die Tasche aus der Hand genommen und auf den Rücksitz geworfen. »Willkommen zu Hause«, sagte er. Die Vorstellung, dass dieser wuselige, fremde Ort sein zu Hause sein sollte, war mehr als seltsam. An seinem ersten Tag in Amerika stellte ihn Patsy zum Arbeiten an die Bar seines Pubs in der 3rd Avenue Ecke 80th Street in Bay Ridge. Über der Tür hing ein gerahmtes Kleeblatt. Als zum ersten Mal eine Frau hereinkam und ein Bier bestellte, nahm er ein Longdrinkglas und stellte es vor sie hin. »Was soll das denn werden?«, fragte sie. »Ein halbes Bier?« Sie schaute auf die Reihe der anderen Kunden an der Bar, alles Männer, von denen jeder ein normal großes Bierglas vor sich stehen hatte.
Er zeigte ihr ein Bierglas. »Wollen Sie so eins hier?«, hatte er gefragt. »Ganz voll?« Und als sie endlich kapierte, dass er neu in Amerika war, hatte sie sich über die Theke gelehnt und ihm das Haar aus der Stirn gestrichen.
»Genau so eins, Schätzchen«, sagte sie.
Eines Tages, als Francis ungefähr ein Jahr in New York war, kamen zwei junge Polizisten herein. Sie hatten eine Zeichnung von jemand dabei, den sie suchten, und fragten, ob jemand an der Bar die Person erkannte. Sie witzelten mit Patsy, mit Francis, miteinander. Als sie sich zum Gehen wandten, rang sich Francis durch, sich ein bisschen von der Neugier der Amis zu eigen zu machen. Wie schwierig es denn sei, bei der Polizei anzufangen? Und wie die Bezahlung so sei? Ein paar Sekunden waren ihre Mienen schwer zu deuten. Es war Februar, Francis trug einen alten abgelegten Zopfmusterpulli von Patsy, und er kam sich schäbig vor neben den Männern mit ihren gebügelten Jacken und den Mützen, die so akkurat auf ihren Köpfen saßen. Schließlich meinte der Kleinere, dass er in der Autowaschanlage seines Cousins in der Flushing Avenue gearbeitet habe, bevor er Polizist wurde. Auch als da alles schon vollautomatisch lief, erwischten ihn die Sprühanlagen, und im Winter war er am Ende eines Arbeitstages immer völlig durchgefroren. Das war ihm zu brutal gewesen. Außerdem kam es bei den Mädels wesentlich besser an, wenn er ihnen erzählte, dass er Polizist war, als wenn er gesagt hätte, dass er in der Waschanlage arbeitete.
Der andere junge Polizist stand ein bisschen angewidert daneben. Er war dem Polizeikorps beigetreten, weil auch sein Vater schon Polizist gewesen war. Und zwei seiner Onkel. Und sein Großvater. Es lag ihm im Blut.
Francis dachte den ganzen Winter darüber nach, achtete stärker auf die Polizisten in der Nachbarschaft, in der U-Bahn, wenn sie Absperrungen aufstellten, und im Fernsehen. Er ging zum nächsten Präsidium, um sich über die Einstufungstests zu informieren, über die Termine, wie das alles ablief und wann. Als Francis gegenüber Onkel Patsy seine Pläne erwähnte, meinte der, das sei eine gute Idee, dann bräuchte er nur zwanzig Jahre zu machen und hätte seine Pension. Francis fiel auf, wie Patsy dieses »zwanzig Jahre« aussprach, als wäre es nichts, ein kurzer Wimpernschlag, obwohl das zu diesem Zeitpunkt länger war als Francis’ gesamtes Leben. Nach zwanzig Jahren – gesetzt den Fall, er wurde nicht umgebracht – konnte er wieder etwas anderes machen. Er sah sein Leben vor sich, aufgeteilt in Blöcke von jeweils zwanzig Jahren, und zum ersten Mal überlegte er, wie viele dieser Blöcke er wohl überhaupt haben würde. Das Beste sei aber, dass er immer noch jung sei, sagte Patsy. Er wünschte, er wäre selbst auf die Idee gekommen, als er in Francis’ Alter war.
*
Nach dem Abschluss wurde seine Klasse in Gruppen aufgeteilt, um in verschiedenen Stadtteilen die ersten Erfahrungen im Einsatz zu sammeln. Er wurde mit dreißig anderen, darunter auch Brian Stanhope, nach Brownsville geschickt, und danach in die Bronx, wo die richtige Arbeit begann. Damals war Francis zweiundzwanzig, Brian erst einundzwanzig. Francis kannte Brian nicht gut, aber es war tröstlich, bei der Versammlung durchs Zimmer zu schauen und ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Bis jetzt war nichts so gekommen, wie man es ihnen vorhergesagt hatte. Das Präsidium selbst war das genaue Gegenteil dessen, was Francis sich vorgestellt hatte, als er sich an der Polizeiakademie bewarb. Draußen war es schon schlimm genug – von der Fassade blätterte überall der Putz ab, sie war bedeckt mit Vogelscheiße und gekrönt von Stacheldraht – aber drinnen war es noch schlimmer. Es gab keine einzige Oberfläche, die nicht feucht oder klebrig gewesen wäre oder abblätterte. Die Heizung im Versammlungsraum war kaputt, und irgendjemand hatte eine Schale darunter gestellt, um das heraustropfende Wasser aufzufangen. Putz regnete von der Decke und landete auf ihren Schreibtischen, ihren Köpfen, ihren Papieren. Dreißig Tatverdächtige mussten in Arrestzellen gepfercht werden, die für zwei oder drei Insassen gedacht waren. Statt mit erfahreneren Partnern loszugehen, mussten alle Anfänger mit anderen Neulingen losgehen. »Da führen die Blinden die Blinden«, hatte Sergeant Russell gewitzelt, aber gleichzeitig versprochen, dass das nur vorübergehend so laufen würde. »Macht einfach nichts Blödes.«
Jetzt entfernten sich Gleeson und Stanhope von dem schwelenden Gebäude und gingen in nördliche Richtung. Aus der Ferne hörte man schon wieder den Lärm des nächsten Feueralarms. Beide jungen Streifenpolizisten wussten, wo die Grenzen ihres Bezirks verliefen, aber keiner von ihnen hatte diese Grenzen bis jetzt mit eigenen Augen gesehen. Die Streifenwagen wurden nach Dienstjahren verteilt, und bei der Acht-bis-vier-Uhr-Streife waren jede Menge ältere Polizisten dabei. Sie hätten den Bus bis zum äußersten Rand nehmen und dann zurückgehen können, aber Stanhope meinte, er hasse Busfahren in Uniform, er hasse es, wie die Stimmung jäh ins Angespannte wechselte, wenn er durch die hintere Tür einstieg und sich jedes Gesicht ihm zuwandte, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern.
»Na gut, dann gehen wir eben zu Fuß«, schlug Francis vor.
So gingen sie jetzt von Block zu Block, beide mit Schlagstock, Handschellen, Funkgerät, Schusswaffe, Taschenlampe, Handschuhen, Kugelschreiber, Notizblock und schwingendem Schlüsselbund am Gürtel, und der Schweiß lief ihnen in Bächen den Rücken hinunter. In manchen Straßen gab es nichts als Trümmer und ausgebrannte Autos, und sie hielten Ausschau nach Bewegung in den Ruinen. Ein Mädchen warf einen Tennisball gegen ein Haus und fing ihn wieder auf, wenn er zurückprallte. Auf dem Gehweg lag ein Paar Krücken, und Stanhope kickte sie beiseite. Jedes Haus, von dem auch nur eine halbe Wand übrig war, war mit Graffiti übersät. Ein Tag jagte das andere, bunte Schleifen und Kurven, die Bewegung nachahmten, von Leben sprachen, und alle zusammen hoben sie sich fast schon schmerzhaft grell vorn einem hauptsächlich grauen Hintergrund ab.
Die Acht-bis-vier-Uhr-Schicht war ein Geschenk, das war Francis wohl bewusst. Wenn es keine Durchsuchungsbefehle zu vollstrecken gab, hatten sie durchaus die Chance, dass bis zum Mittagessen überhaupt nichts passierte. Als sie zu guter Letzt auf den Southern Boulevard bogen, fühlten sie sich wie Reisende, die eine Wüste durchquert hatten, so dankbar waren sie, auf der anderen Seite angelangt zu sein.
Während die Nebenstraßen fast schon gespenstisch leer waren, war der Boulevard voller Autos, da war ein Herrenbekleidungsgeschäft, das Anzüge in allen möglichen Farben verkaufte, eine Reihe von Spirituosenhandlungen, ein Schreibwarenladen, ein Friseur, eine Bar. In einiger Entfernung fuhr ein Streifenwagen vorbei, der sie kurz mit der Lichthupe grüßte.
»Meine Frau ist in anderen Umständen«, sagte Stanhope, als beide schon eine Weile nichts mehr gesagt hatten. »Ungefähr zu Thanksgiving ist es so weit.«
»Dieses irische Mädchen?«, fragte Francis. »Hast du sie geheiratet?« Er versuchte sich zu erinnern: Waren sie damals schon verlobt gewesen, als Stanhope ihm in der Polizeiakademie von ihr erzählt hatte? Er zählte bis November – das waren nur noch vier Monate.
»Jupp«, sagte Stanhope. »Vor zwei Wochen.« Eine standesamtliche Trauung. Dinner in der 12th Street in einem französischen Restaurant, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. Er hatte auf die Speisekarte deuten müssen, weil er nichts davon aussprechen konnte. Anne hatte mit ihrem Kleid in letzter Minute umdisponieren müssen, weil das, das sie sich ausgesucht hatte, doch schon zu eng geworden war.
»Sie will, dass uns ein Priester traut, sobald das Baby da ist. Wir konnten keinen Pfarrer auftreiben, der sich auf die Schnelle bereit erklärt hätte, nicht mal, als sie ihren Bauch gesehen haben. Anne meint, vielleicht findet sie ja einen, der Trauung und Taufe an ein und demselben Tag erledigt. Wenn’s dann so weit ist.«
»Verheiratet ist verheiratet«, meinte Francis und gratulierte ihm herzlich. Er hoffte, dass Stanhope nicht gemerkt hatte, wie Francis innerlich nachrechnete. Es war ihm ja im Grunde auch egal, es war nur so eine Angewohnheit, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Zweifellos eine Angewohnheit, die er ablegen würde, je länger er in Amerika war. Hier gingen die Leute in T-Shirt und Shorts zur Messe. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er eine Frau am Steuer eines Taxis gesehen. Die Leute liefen in Unterhosen auf dem Times Square herum.
»Willst du sie mal sehen?« Stanhope nahm seine Mütze ab. Ins Futter hatte er einen Schnappschuss von einer hübschen blonden Frau mit langem, schlankem Hals geklemmt. Daneben ein Andachtsbildchen mit dem Heiligen Michael. Und ebenfalls im Futter steckte das Foto eines jüngeren Brian Stanhope mit einem anderen Mann.
»Wer ist das?«, erkundigte sich Francis.
»Mein Bruder, George. Da sind wir im Shea-Stadion.«
Francis hatte noch nicht daran gedacht, dass auch er ein Foto in seine Mütze klemmen könnte. Er hatte Lena Teobaldo am Tag seines Abschlusses an der Polizeiakademie einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte Ja gesagt. Jetzt stellte er sich vor, dass er bald dasselbe tun würde, dass er den Leuten erzählen würde, dass sie ein Baby erwarteten. Lena war halb Polin, halb Italienerin, und wenn er sie manchmal beobachtete – wie sie etwas in ihrer Tasche suchte oder einen Apfel schälte und wie sie dabei das Messer führte – spürte er einen Anflug von Panik, weil er sie um ein Haar nicht kennengelernt hätte. Was, wenn sie nicht nach Amerika gekommen wäre? Wenn ihre Eltern erst gar nicht nach Amerika gekommen wären? Wo sonst würden sich ein Pole und eine Italienerin zusammentun und eine Tochter wie Lena kriegen? Wenn er an dem Morgen nun nicht im Pub gewesen wäre, als sie kam, um sich zu erkundigen, ob ihre Familie einen Nebenraum für ein Fest mieten könne? Ihre Schwester ging aufs College, erzählte sie ihm. Sie hatte ein Vollstipendium bekommen, so schlau war sie.
»Kriegst du ja vielleicht auch, wenn du deinen Highschool-Abschluss gemacht hast«, meinte Francis. Da hatte sie gelacht und gesagt, den hätte sie bereits, und fürs College sei sie nicht geschaffen, aber das sei egal, denn sie möge ihre Arbeit gern. Sie hatte einen wilden Lockenkopf, und aus dem trägerlosen Oberteil, das sie trug, schauten ihre braunen Schultern hervor. Sie war in der Datenverarbeitung bei General Motors in der 5th Avenue, nur ein paar Stockwerke über FAO Schwarz. Er hatte keine Ahnung, was FAO Schwarz war, aber er war ja auch erst seit ein paar Monaten in Amerika.
»Die Leute fragen uns ständig, ob wir in der Stadt bleiben wollen«, sagte Stanhope. »Momentan wohnen wir in Queens, aber die Wohnung ist winzig.«
Francis zuckte mit den Schultern. Was jenseits der Innenstadt lag, sagte ihm nichts, aber er hatte bestimmt nicht vor, für den Rest seines Lebens in einer Mietwohnung zu leben. Er stellte sich einen Ort irgendwo auf dem Land vor. Einen Garten. Raum zum Atmen. Francis wusste nur, dass Lena und er nach der Heirat erst mal bei ihren Eltern einziehen mussten, um Geld zu sparen.
»Hast du schon mal von einer Stadt namens Gillam gehört?«, fragte Stanhope.
»Nein.«
»Ich auch nicht. Aber dieser Jaffe – Sergeant ist er glaub ich – hat gemeint, das liegt bloß dreißig Kilometer nördlich von hier, und da wohnen eine Menge Leute von uns. Er hat gesagt, da haben die Häuser alle einen großen Garten, und die Kinder fahren auf ihren Rädern rum und tragen Zeitungen aus, wie in The Brady Bunch.«
»Wie heißt das noch mal?«, fragte Francis.
»Gillam.«
»Gillam«, wiederholte Francis.
An der nächsten Straße verkündete Stanhope, er habe Durst, und ein Bier wäre jetzt nicht die schlechteste Idee. Francis ging nicht darauf ein. Manche von der Streife in Brownsville tranken im Dienst, aber nur, wenn sie im Wagen saßen, nicht in der Öffentlichkeit. Er war kein Feigling, aber sie hatten schließlich gerade erst angefangen. Wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten kam, waren sie beide dran.
»So ein Soda mit Eis wäre jetzt aber auch nicht schlecht«, sagte Francis.
Als sie in das Diner kamen, fühlte Francis, wie ihm die gestaute Hitze entgegenschlug, obwohl man die offene Tür mit ein paar Ziegelsteinen festgestellt hatte. Der ältere Mann hinterm Tresen trug eine Papiermütze, die sich gelb verfärbt hatte, und eine schiefe Fliege. Eine dicke schwarze Schmeißfliege summte wie wild über seinem Kopf, während er zwischen den beiden Polizisten hin und her schaute.
»Na, ist dein Soda schön kalt, Kumpel? Ist die Milch gut?«, fragte Stanhope. Seine Stimme und die Breite seiner Schultern füllten die Stille, und Francis schaute auf seine Schuhe hinunter, dann hinüber zur Glasscheibe der Auslage, die mit Sprüngen durchzogen war und nur von Klebeband zusammengehalten wurde. Es war ein guter Job, sagte er sich selbst. Ein ehrenwerter Job. Es hatte Gerüchte gegeben, dass es gar keinen 1973er-Jahrgang geben würde, weil die Stadt das Budget so stark gekürzt hatte, doch seine Klasse war gerade noch so durchgekommen.
In diesem Moment erwachten ihre Funkgeräte knisternd zum Leben. Es hatte am Morgen schon einiges Hin- und Hergeflachse gegeben, man hatte Notrufe weitergeleitet und angenommen, aber das war jetzt etwas anders. Francis drehte lauter. In einem Lebensmittelgeschäft auf dem 801 Southern Boulevard war ein Schuss gefallen, höchstwahrscheinlich ein Überfall. Francis schaute auf die Tür des Coffeeshops, den sie gerade betreten hatten. 803. Der Mann am Tresen deutete hinter sich, auf das, was auf der anderen Seite der Wand war. »Sind aus der Dominikanischen Republik«, sagte er, und die Worte blieben in der Luft hängen.
»Ich hab keinen Schuss gehört. Du?«, fragte Francis. Der Mann in der Notrufzentrale wiederholte die Meldung. Ein Zittern sprang von Francis’ Kehle auf die Hüften über, aber er tastete nach seinem Funkgerät und ging auf die Tür zu.
Francis ging voran, Stanhope blieb dicht hinter ihm. Die zwei Anfänger öffneten die Pistolenhalfter an der Hüfte, während sie auf die Tür des Geschäfts zusteuerten. »Sollten wir nicht lieber warten?«, fragte Stanhope, doch Francis ging weiter, vorbei an zwei Münztelefonen, vorbei an einem Ventilator, der hinter einem Gitter die stickige Luft verquirlte. »Polizei!«, rief er, als sie weiter in den Laden traten. Falls bei dem Überfall Kunden da gewesen waren, dann war jetzt nichts mehr von ihnen zu sehen.
»Gleeson«, sagte Stanhope und deutete mit einem Nicken auf die blutbespritzten Zigarettenschachteln hinter der Registrierkasse. Hier hatte das Herz eines Menschen ziemlich kräftig geschlagen: Blut, das eher violett als rot aussah, war bis an die wasserfleckige Decke gespritzt und hatte sich in dicken Tropfen auf dem rostigen Ventilator gesammelt. Francis warf einen raschen Blick auf den Boden hinter der Kasse, dann folgte er dem schmutzigen Weg in den dritten Gang, wo ein Mann auf der Seite lag, mit erschlafftem Gesicht und in einer wachsenden Pfütze aus erstaunlich viel Blut. Während Stanhope das Präsidium anrief, legte Francis zwei Finger in die weiche Grube unter dem Unterkiefer des Mannes. Dann streckte er den Arm des Mannes aus und legte ihm dieselben zwei Finger aufs Handgelenk.
»Es ist zu heiß für so was!«, meinte Stanhope, als er mit gerunzelter Stirn auf die Leiche hinabschaute. Er machte den Kühlschrank auf, der neben ihm stand, nahm eine Flasche Bier heraus, schlug den Kronkorken an der Regalkante ab und kippte das Getränk in sich hinein, ohne einmal abzusetzen. Francis dachte an die Stadt, die Stanhope erwähnt hatte. Keiner konnte vorhersagen, welche Wendungen das Leben nehmen würde. Man konnte nicht wirklich etwas ausprobieren, um zu sehen, ob es einem gefiel – das waren die Worte, die er gewählt hatte, als er seinem Onkel Patsy eröffnete, dass er in die Polizeiakademie eingetreten war –, denn man probiert etwas aus und probiert es aus, und dann probiert man es noch ein bisschen länger, und auf einmal … ist man es. Gerade stand er noch in einem Sumpf auf der anderen Seite des Atlantik, und im nächsten Moment war er plötzlich Polizist. In Amerika. Im übelsten Viertel der bekanntesten Stadt der Welt.
Während das Gesicht des toten Mannes langsam aschgrau wurde, dachte Francis daran, wie verzweifelt der Mann aussah, wie sein Hals gestreckt und das Kinn nach oben gereckt war, wie bei einem Ertrinkenden, der versuchte, den Kopf über Wasser zu halten. Es war erst seine zweite Leiche. Die erste, eine Wasserleiche im April, die nach dem Winter im Hafen von New York an die Oberfläche gekommen war, war als Mensch nicht mehr zu erkennen und vielleicht deswegen nicht besonders real für ihn gewesen. Der Lieutenant, der ihn mitgenommen hatte, meinte, er könne sich über die Reling übergeben, wenn nötig, aber Francis erwiderte, es gehe ihm gut. Er dachte daran, was die Christian Brothers darüber gesagt hatten: dass der Körper nur ein Gefäß sei, während der Geist das Leuchtfeuer für die Seele sei. Diese erste Leiche, ein vollgesogenes Stück Fleisch, das sie tropfend an Bord hievten, hatte sich schon von ihrer Seele getrennt, bevor Francis sie zum ersten Mal sah, aber bei diesem hier konnte Francis geradezu zuschauen, wie sie ihn allmählich verließ. In seiner alten Heimat hätte jemand ein Fenster geöffnet, um den Geist des Mannes fliegen zu lassen, aber für die Seelen, die man hier in der South Bronx freiließ, erschöpfte sich die Freiheit darin, zwischen vier Wänden hin und her zu prallen, bis sie erschöpft in der Hitze dahinwelkten und vergessen waren.
»Mach die Tür mal ganz auf, hörst du?«, rief Francis. »Ich krieg ja kaum Luft hier drin.«
Dann hörte Francis etwas anderes und erstarrte. Er legte eine Hand auf seine Waffe.
Stanhope schaute ihn mit großen Augen an. Da war es wieder – das flüsterleise Geräusch eines Turnschuhs auf Linoleum, es lauschte ihnen, während Francis zurücklauschte, drei menschliche Herzen klopften in ihren Käfigen, ein weiteres Herz schwieg.
»Nehmen Sie die Hände hoch und kommen Sie heraus!«, rief Francis, und dann sahen sie ihn plötzlich beide: einen großen, schlaksigen Teenager mit weißem Unterhemd, weißen Shorts, weißen Turnschuhen, der sich in dem schmalen Spalt zwischen der Kühlauslage und der Wand versteckt hatte.
*
Eine Stunde später hielt Francis die Hände des Jungen fest, tunkte jeden Finger gründlich in die Tinte und dann auf die Karte, vier Finger und dann den Daumen. Erst die Linke, dann die Rechte, und dann wieder die Linke, drei Karten waren es insgesamt – je einmal fürs Register der Stadt, des Bundesstaats, und fürs nationale Register. Nach der ersten Karte stellte sich ein gewisser Rhythmus ein, wie bei einem altertümlichen Tanz: fassen, rollen, loslassen. Die Hände des Jungen waren warm, aber trocken, und wenn er nervös war, sah Francis es ihm zumindest nicht an. Stanhope schrieb bereits seinen Bericht. Der Obsthändler war gestorben, lange bevor der Notarzt eintraf, und hier war der Mörder, mit Händen, die so weich waren wie die eines Kindes, mit gepflegten, sauberen Fingernägeln. Die Hände des Jungen waren locker, biegsam. Als sie bei der dritten Karte waren, wusste der Junge, was er zu tun hatte, und begann mitzuhelfen.
Später, als alle Formulare ausgefüllt waren, sagten die älteren Polizisten, dass es üblich sei, einem Mann nach seiner ersten Festnahme in der Kneipe ein paar Runden auszugeben. Die Festnahme wurde Francis angerechnet, aber sie nahmen auch Stanhope mit und spendierten ein Bier nach dem anderen, während er jedes Mal eine neue Version der Geschichte erzählte. Der Junge war vorgetreten und hatte sie bedroht. Das Blut tropfte von allen Wänden. Stanhope hatte den Ausgang blockiert, während Francis den Übeltäter zu Boden rang.
»Dein Partner«, meinte einer der älteren Polizisten zu Francis, »ist ja ganz schön kreativ.«
Stanhope und Francis tauschten einen Blick. Waren sie Partner?
»Ihr seid Partner, bis der Captain euch was anderes sagt«, erklärte der ältere Polizist.
Der Koch kam aus der Küche, mit Platten, auf denen sich die Burger stapelten, und erklärte, die gingen aufs Haus.
»Gehst du schon nach Hause?«, wollte Stanhope kurz darauf von Francis wissen.
»Ja, und das solltest du auch. Geh nach Hause zu deiner schwangeren Frau«, sagte Francis.
»Seine schwangere Frau ist ja gerade der Grund, warum er wegbleibt«, witzelte einer der anderen.
*
Es dauerte eine Stunde und fünfzehn Minuten mit der U-Bahn, bis man wieder in Bay Ridge war. Sobald Francis nach Hause kam, zog er sich aus bis auf die Boxershorts und kletterte in das Bett, das Onkel Patsy für ihn ins Wohnzimmer gequetscht hatte. Jemand hatte die Mutter des Jungen angerufen. Jemand anders hatte ihn zu den Zellen gefahren. Er sagte, er habe Durst, woraufhin ihm Francis eine Cola aus dem Automaten zog. Der Junge schüttete das Getränk herunter und fragte dann, ob er die Dose mit Leitungswasser auffüllen dürfe. Francis ging in die Toiletten und füllte sie ihm auf.
»Warum machst du das für ihn, du Trottel«, sagte einer der Männer in Zivil. Er musste ihre Namen erst noch lernen. Wer weiß? Vielleicht hatte der Händler dem Jungen ja was getan. Vielleicht hatte er ja verdient, was er bekommen hatte.
Patsy war irgendwo unterwegs. Francis rief Lena an und betete, dass sie selbst abnahm, damit er nicht erst mit ihrer Mutter reden musste.
»Ist heute was passiert?«, fragte sie, nachdem sie eine Weile geplaudert hatten. »Normalerweise rufst du doch nicht so spät an.« Francis schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es Mitternacht war. Die Formulare und das Bier hatten länger gedauert als gedacht.
»Tut mir leid. Schlaf weiter.«
Sie war so lange still, dass er dachte, sie wäre tatsächlich eingeschlafen.
»Hast du Angst gehabt?«, fragte sie. »Du musst es mir erzählen.«
»Nein«, sagte er. Und er hatte ja auch keine Angst gehabt, zumindest hatte er nicht das empfunden, was er unter Angst verstand.
»Was dann?«
»Ich weiß nicht.«
»Versuch, es nicht so an dich ranzulassen, Francis«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gehört. »Wir haben Pläne, du und ich.«
GILLAM
1
GILLAM WAR GANZ NETT, aber einsam, dachte Lena Teobaldo, als sie es zum ersten Mal sah. Es war die Art von Stadt, die sie die ersten zwei Tage eines Urlaubs ganz toll gefunden, am dritten Tag aber nur zu gern wieder verlassen hätte. Es kam einem alles nicht ganz real vor: die Apfel- und die Ahornbäume, die Schindelhäuschen mit der Veranda zur Straße, die Maisfelder, die Molkerei, die Kinder, die auf der Straße Schlagball spielten, als wäre ihnen noch nie aufgefallen, dass hier jedes Haus einen Zweitausend-Quadratmeter-Garten hatte. Später kam sie dahinter, dass die Kinder die Spiele spielten, mit denen ihre Eltern in der Stadt aufgewachsen waren. Schlagball. Himmel und Hölle. Verstecken. Wenn ein Vater seinem Sohn beibringen wollte, wie man einen Ball wirft, ging er mit dem Jungen auf die Straße, als wären sie in einem Viertel voller Mietshäuser, denn dort hatte er es von seinem Vater gelernt. Sie war mit nach Gillam gefahren, weil es eben eine Unternehmung war, und wenn sie an diesem Samstag in Bay Ridge geblieben wäre, dann hätte ihre Mutter sie mit Essen zu Mrs. Venard geschickt, die nicht mehr ganz richtig im Kopf war, seit ihr Sohn in Vietnam vermisst war.
Das Kleid ihrer Cousine Karolina hing am Haken hinter Lenas Zimmertür, man hatte es für Lena geändert, damit sie es in sechs Tagen tragen konnte. Ihre Schuhe und ihren Schleier hatte sie auch schon. Jetzt gab es nichts mehr zu tun außer Warten, und als Francis sie fragte, ob sie auf einen kleinen Ausflug mitkommen wollte, um sich eine Stadt anzuschauen, von der ihm ein Kollege in der Arbeit erzählt hatte, hatte sie gesagt, ja, gern, es war ein schöner Herbsttag, es wäre sicher schön, ein paar Stunden aufs Land rauszufahren, sie würde ihnen ein Picknick vorbereiten. Sie nahmen ihr Mittagessen auf einer Bank vor der Leihbibliothek ein, und während sie ihre belegten Brote auspackten, aufaßen und den gesamten Tee aus der Thermosflasche austranken, besuchte nur eine einzige Person die Bücherei. Ein Zug Richtung Norden hielt am Bahnhof, drei Leute stiegen aus. Auf der anderen Seite des Platzes war ein Feinkostladen, daneben ein Billigkaufhaus, vor dem ein Kinderwagen stand. Francis hatte sich den Datsun von Lenas Vater geliehen – die Kassette, auf die ihr Bruder Karol die Led Zeppelin IV kopiert hatte, steckte noch im Kassettenspieler. Lena hatte keinen Führerschein, sie hatte keine Ahnung vom Autofahren. Sie war davon ausgegangen, dass sie es niemals brauchen würde.
»Na, was meinst du?«, fragte Francis, als sie wieder auf den Palisades Parkway auffuhren. Lena machte das Fenster auf und zündete sich eine Zigarette an.
»Hübsch«, sagte sie. »Ruhig.« Sie streifte die Schuhe ab und legte die Füße aufs Armaturenbrett. Sie hatte zwei Wochen Urlaub eingereicht – eine Woche vor der Hochzeit und eine danach – und der heutige Sonntag war der erste Tag der längsten Zeitspanne seit drei Jahren, die sie am Stück freihatte.
»Hast du den Zug gesehen? Es gibt auch einen Bus, der in die Stadt fährt«, sagte er. Im ersten Moment nahm sie es als beliebige Information auf, doch dann traf es sie auf einmal wie ein Tritt vors Schienbein: Er wollte hier wohnen. Das hatte er nicht gesagt. Er hatte nur gesagt, dass er mit dem Auto eine Runde drehen wollte, sich einen Ort anschauen, von dem er gehört hatte. Sie dachte, er wolle bloß mal eine Pause von dem ewigen Hochzeitsgerede. Die Verwandten aus Italien und Polen trafen bereits jetzt ein, und die Wohnung ihrer Eltern war von morgens bis abends randvoll mit Essen und Menschen. Aus Irland kam niemand, aber ein Verwandter von Francis, der nach Chicago ausgewandert war, hatte ein bisschen irisches Porzellan geschickt. Francis behauptete, es mache ihm gar nichts aus, der Tag sei ja sowieso in erster Linie für die Braut. Doch jetzt wurde ihr klar, dass er durchaus einen Plan hatte. Es kam ihr so weit hergeholt vor, dass sie beschloss, das Thema nicht mehr zur Sprache zu bringen, bis er es selbst wieder erwähnte.
*
Ein paar Wochen später, als die Hochzeit vorbei und überstanden war und alle Gäste wieder abgereist, als Lena mit neuem Namen und neuem Ring wieder in die Arbeit ging, sagte Francis, dass es jetzt an der Zeit sei, aus der Wohnung ihrer Eltern auszuziehen. Er meinte, dass immer alle auf Zehenspitzen durchs enge Wohnzimmer schleichen mussten, wenn Lenas Schwester Natusia dort mit ihren Büchern saß. Karol war fast ständig schlecht gelaunt, wahrscheinlich weil das junge Ehepaar sein Zimmer bekommen hatte. Es gab keinen Ort, an dem man mal hätte ungestört sein können. Francis meinte, jeden Moment, den er dort sei, habe er das Gefühl, jemand seine Hilfe anbieten oder etwas machen zu müssen. Ihre Hochzeitsgeschenke stapelten sich in den Ecken, und Lenas Mutter ermahnte immer alle, ganz vorsichtig zu sein, wegen des Kristalls. Lena fand es schön, mit einem halben Dutzend Leuten am Abendbrottisch zu sitzen, manchmal auch mehr, je nachdem, wer zu Besuch kam. Und zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie ihn eigentlich gut genug kennengelernt hatte, um ihn zu heiraten.
»Aber wohin?«, fragte sie.
Sie suchten auf Staten Island. Sie suchten in Bay Ridge. Sie erklommen endlose Treppen in Mietshäusern ohne Fahrstuhl in Yorkville, Morningside Heights und im Village. Sie gingen durch Häuser, die vollstanden mit den Sachen anderer Leute, ihren Fotos auf Kaminsimsen, ihren Kunstblumensträußen. Und bei all diesen Besuchen sah Lena die Straße nach Gillam näherkommen wie eine Autobahnausfahrt. Sie hatten das Geld gespart, das sie zur Hochzeit bekommen hatten, sowie den Großteil ihres Verdienstes, sodass sie genug für eine Anzahlung hatten.
Eines Samstagmorgens im Januar 1974, nachdem er eine Mitternachtsschicht plus ein paar Überstunden gearbeitet hatte, kam Francis nach Bay Ridge und sagte zu Lena, sie solle ihren Mantel holen, er habe ihr Haus gefunden.
»Ich komme nicht mit.« Sie schaute mit steinerner Miene von ihrem Kaffee auf. Angelo Teobaldo saß ihr gegenüber und machte ein Kreuzworträtsel. Gosia Teobaldo hatte gerade zwei Eier in die Pfanne geschlagen. Francis mit seinen knapp einsneunzig stand in der Küche in seiner Streifenpolizistenuniform und merkte, wie sein Gesicht brannte.
»Er ist dein Mann«, sagte Angelo zu seiner Tochter. Ein Tadel. Als hätte sie ihre Spielzeuge auf dem Teppich liegen lassen und nicht aufgeräumt.
»Sei still«, sagte Gosia und bedeutete ihm mit einer Geste, dass er den Mund halten solle. »Wir gehen jetzt im Hinsch’s frühstücken«, verkündete sie und löschte die Gasflamme unter ihrer Pfanne.
»Komm, Lena, wir schauen es uns bloß mal an. Wir müssen nichts machen, was du nicht willst.«
»Ja ja«, sagte Lena.
Eine Stunde und zwanzig Minuten später saß Lena auf dem Beifahrersitz, drückte die Stirn an die Scheibe und schaute das Haus an, das ihres werden sollte. Ein buntes »Zu verkaufen«-Schild stand davor. Die Hortensie, die im Juni blühen sollte, war nur ein Knäuel aus erfrorenen Stängeln. Die derzeitigen Besitzer waren zu Hause, ihr Ford stand in der Auffahrt – deswegen ließ Francis den Motor laufen.
»Was ist das da? Steine?« Hinten auf dem Grundstück lagen fünf riesige Steine, von Mutter Natur vor Hunderten von Jahrtausenden in aufsteigender Größe hier angeordnet; der größte war ungefähr anderthalb Meter hoch.
»Felsen«, sagte Francis. »Die liegen hier in der Gegend überall rum. Der Makler hat mir gesagt, dass die Baufirmen mit Absicht ein paar Brocken als natürliche Grenzmarkierung zwischen den Häusern liegen gelassen haben. Sie erinnern mich an Irland.«
Lena schaute ihn an, als wollte sie sagen: Deswegen bist du also mit mir hergefahren. Er hatte sich mit einem Makler getroffen. Er hatte sich bereits entschieden. Die Häuser auf dieser Straße – Jefferson Street – und den Straßen rundherum – Washington Street, Adams Street, Madison Avenue, Monroe Street – standen hier näher beieinander als die weiter stadtauswärts. Francis meinte, das liege daran, dass diese Häuser älter waren, man hatte sie in den Zwanzigerjahren gebaut, als es in der Stadt noch eine Gerberei gab und alle zu Fuß zur Arbeit gingen. Er dachte sich, dass Lena das gefallen würde. Vorne hatte das Haus eine Veranda.
»Mit wem könnte ich denn hier reden?«, fragte sie.
»Mit unseren Nachbarn«, sagte er. »Mit den Leuten, die du triffst. Du findest doch schneller Freunde als jeder andere Mensch. Außerdem bist du doch immer noch jeden Tag in der Stadt. Dann hast du die Mädels, mit denen du arbeitest. Die Bushaltestelle ist gleich um die Ecke. Du musst nicht mal Autofahren lernen, wenn du nicht magst.« Dann wäre er ihr Chauffeur, witzelte er.
Er konnte ihr nicht erklären, dass er die Bäume und die Ruhe zum Ausgleich für das brauchte, was er in der Arbeit sah, dass es sich anfühlte, als würde er ein Leben hinter sich lassen und in ein anderes eintreten. In Gedanken hatte er sich alles schon ausgemalt: Officer Gleeson konnte hier leben, und Francis Gleeson konnte hier leben. Unter ihren Ausbildern an der Akademie waren ein paar alte Hasen, die behaupteten, sie hätten in ihrer dreißigjährigen Laufbahn nicht einmal die Waffe gezogen, aber Francis hatte sie nach gerade mal sechs Monaten schon mehrfach gezogen. Sein Sergeant hatte vor kurzem erst bei einer Konfrontation am Bruckner Expressway einem Dreißigjährigen in die Brust geschossen, und der Mann war noch an Ort und Stelle gestorben. Dem Sergeant schien die Sache jedoch nicht das geringste Kopfzerbrechen zu bereiten. Francis hatte genickt, wie die anderen, und war mit ihnen nach Dienstschluss einen trinken gegangen. Aber als am nächsten Tag jemand mit der Mutter des Mannes und der Mutter seiner Kinder sprechen musste, um ihnen zu erklären, was passiert war, weil sie sich ums Verderben nicht aus dem Wartezimmer wegschicken ließen, kam es Francis so vor, als wäre er der einzige, der wirklich erschüttert war. Der Mann hatte eine Mutter gehabt. Er war Vater gewesen. Er war nicht immer ein Junkie gewesen. Als er an der Kaffeemaschine stand und sich innerlich wünschte, dass die Frauen endlich abhauten, kam es ihm so vor, als würde er das ganze restliche Leben dieses Mannes vor seinem inneren Auge sehen – nicht nur den Moment, in dem er so dumm gewesen war, mit seiner kleinen .22 in der Hand herumzufahren.
Und obwohl er Lena nichts von all dem erzählte, immer nur sagte, dass die Arbeit prima war und dass sie viel zu tun hatten, spürte sie, was er nicht sagte, und schaute das Haus noch einmal an. Sie stellte sich ein Beet voll bunter Blumen unter der Veranda vor. Hier konnten sie ein Gästezimmer einrichten. Es stimmte ja auch, dass der Bus aus Gillam schneller in Manhattan war als die U-Bahn aus Bay Ridge.
*
Im April 1974, nur wenige Wochen, nachdem sie ihren gemieteten Lieferwagen vollgepackt hatten und nach Gillam gezogen waren, beendete der ortsansässige Arzt eine internistische Untersuchung in seinem kleinen Sprechzimmer neben dem Kino und eröffnete Lena, sie sei in der neunten Woche schwanger. Über kurz oder lang dürfe sie nicht mehr dem Bus hinterherrennen, sagte er. Jetzt habe sie nur noch die Pflicht, gut zu essen, ruhig zu leben und nicht zu viel auf den Füßen zu sein. Francis und sie gingen gerade durchs Haus und überlegten, wo sie Tomaten pflanzen könnten, als sie es ihm erzählte. Er blieb ganz verdattert stehen.
»Du weißt schon, wie das passiert ist, oder?«, fragte sie mit ihrer ernstesten Miene.
»Du solltest dich hinsetzen«, sagte er, stellte die Pflanze ab, fasste sie bei den Schultern und dirigierte sie in den Hof. Die Vorbesitzer hatten zwei rostige gusseiserne Stühle hinterlassen, und er war froh, dass er sie nicht weggeworfen hatte. Er blieb erst stehen, dann setzte er sich gegenüber von ihr hin, dann stand er wieder auf.
»Soll ich hier jetzt bis November sitzen bleiben?«, fragte Lena.
In der fünfundzwanzigsten Woche hörte sie auf zu arbeiten, weil ihre Mutter sie wahnsinnig machte mit ihren Schreckensszenarien, wie ihr diese ganzen Leute im Busbahnhof Port Authority in ihrer achtlosen Eile den Ellbogen in den Bauch rammen oder sie umwerfen könnten. An dem Tag, als sie zum letzten Mal die Schutzhaube über ihre Schreibmaschine zog, schmissen die anderen Mädchen im Pausenraum eine kleine Feier für sie und setzten ihr am Ende ein Babymützchen auf, das sie mit Geschenkbändern dekoriert hatten.
Nun war sie den ganzen Tag zu Hause, mit mehr Freizeit, als sie ihr Leben lang gehabt hatte, aber kaum hatte sie das ältere Ehepaar besser kennengelernt, das im Haus rechts neben ihrem wohnte, da starb die Frau an Blasenkrebs und ihr Mann folgte gerade mal zwei Wochen später nach einem massiven Schlaganfall. Eine Weile blieb das leere Haus unverändert und kam Lena immer vor wie ein Familienmitglied, dem keiner was erzählt hat. Das Windspiel, das an ihrem Briefkasten hing, klimperte immer noch. Arbeitshandschuhe lagen auf dem Mülleimer, als könnte jeden Augenblick jemand kommen und sie anziehen. Die Ränder des Rasens sahen immer zerrupfter aus. In der Auffahrt stapelten sich Zeitungen, vom Regenwasser aufgequollen und von der Sonne ausgebleicht. Da sich niemand zu kümmern schien, ging Lena eines Tages hinüber und räumte sie weg. Ab und zu führte ein Makler ein Paar die Auffahrt hoch, aber es schien nie mehr draus zu werden. Irgendwann wurde Lena klar, dass ein ganzer Tag vergehen konnte, ohne dass sie etwas sagte oder eine menschliche Stimme hörte, wenn sie nicht gerade den Fernseher einschaltete.
Natalie Gleeson kam im November 1974 zur Welt, auf den Tag genau einen Monat nach Francis’ und Lenas erstem Hochzeitstag. Lenas Mutter kam eine Woche, aber länger konnte sie Angelo nicht alleine lassen. Der Mann war ja nicht mal fähig, sich Wasser für seinen Tee zu kochen. Sie gab vor, gekommen zu sein, um Lena zu helfen, aber die meiste Zeit beugte sie sich über den Stubenwagen und gurrte: »Ich bin deine Busha, meine Kleine. Ich freu mich ja so, dich kennenzulernen.«
»Du gehst mit dem Baby jeden Tag nach draußen, egal, wie das Wetter ist, und fährst es eine Stunde im Viertel spazieren«, belehrte Gosia ihre Tochter. Natalie schlief in ihrem Kinderwagen, fest eingepackt in eine Wolldecke. »Schau dir die Bäume an, die schönen geraden Gehwege. Wink deinen Nachbarn zu und denk dran, was für ein Glück du hast. Und was dein Baby für ein Glück hat. Sie hat jetzt schon eine ganze Schublade voll Sachen. Francis ist ein guter Mann. Sag dir das immer wieder vor. Und du musst in die Geschäfte gehen und den Leuten sagen, wie du heißt, und dass du gerade erst hergezogen bist. Jeder liebt neugeborene Babys.«
Lena begann zu weinen. Als der Bus kam, verspürte sie den dringenden Impuls, mit ihrer Mutter einzusteigen, das Baby auf den Arm zu nehmen, den Kinderwagen auf dem Gehweg stehen zu lassen und niemals wiederzukommen.
»Als du auf die Welt gekommen bist, hab ich immer davon geträumt, dich bei Mrs. Shefflin zu lassen – weißt du noch, Mrs. Shefflin? Ich hab mir gerne vorgestellt, dass ich sie bitte, kurz auf dich aufzupassen, während ich schnell Milch holen gehe, um dann nie mehr nach Hause zu kommen.«
»Was? Im Ernst?« Lenas Tränen versiegten sofort. Das war so unerwartet, dass sie anfing zu lachen. Und dann lachte sie so heftig, dass sie wieder weinte.
*
An einem Freitag, am Wochenende vor dem Memorial Day, saß Lena gerade im Schaukelstuhl im ersten Stock und stillte Natalie, als sie aus dem Fenster schaute und draußen einen Umzugswagen halten sah. Sie hatte gerade erfahren, dass sie schon wieder schwanger war, bereits im zweiten Monat, und ihr Arzt hatte gewitzelt, dass ihr Mann offenbar nicht mal ein Jahr vergehen lassen wollte, bevor sie ihr nächstes Kind in die Welt setzen. Das Schild des Maklers war vor ein paar Wochen entfernt worden, und als sie jetzt darüber nachdachte, fiel ihr ein, Francis hatte tatsächlich erwähnt, dass das Haus endlich verkauft worden war. In letzter Zeit war sie so erschöpft, dass es ihr schwerfiel, irgendwas zu behalten.
Sie rannte die Treppe hinunter und auf die Veranda, mit Natalie auf dem Arm. »Hallo!«, rief sie ihren neuen Nachbarn zu, und später, als sie Francis von der Begegnung erzählte, meinte sie, sie habe Angst gehabt, sie könnte etwas Abgedroschenes gesagt und einen schlechten Eindruck gemacht haben. Natalie hatte immer noch Hunger und nuckelte an ihrer kleinen Faust.
Eine blonde Frau in einem hübschen Sommerkleid mit Lochstickerei kam die Auffahrt hoch. Sie hatte in jeder Hand eine Lampe.
»Sie haben das Haus gekauft.« Lenas Stimme war eine Oktave zu hoch. »Ich bin Lena. Wir sind letztes Jahr hier eingezogen. Herzlich willkommen! Kann ich Ihnen bei irgendwas helfen?«
»Ich bin Anne«, sagte die neue Nachbarin, und Lena hörte den Nachhall eines irischen Akzents. »Und das ist mein Mann, Brian.« Sie lächelte höflich. »Wie alt ist denn Ihr Baby?«
»Sechs Monate«, sagte Lena. Endlich, am ersten warmen Tag des Jahres, war ein neuer Mensch da, der das Baby bewundern konnte, der Natalie einen Finger zum Umklammern hinhielt. Sie hätte am liebsten tausend Fragen auf einmal gestellt. Woher sie kamen, wie lang sie verheiratet waren, warum sie sich Gillam ausgesucht hatten, wie sie sich kennengelernt hatten, welche Musik sie gerne hörten, aus welchem Teil Irlands Anne stammte, und ob sie nicht nach dem Auspacken noch auf ein Getränk reinkommen wollten?
Anne war sehr schön, stellte Lena fest, aber da war noch etwas anders an ihr. Als Lena einmal bei einer Beförderung übergangen worden war, hatte ihr Chef Mr. Eden erklärt, es habe nichts mit Lenas Leistung zu tun, es liege einfach daran, dass die andere Frau mehr Präsenz habe, und dass sie im Rahmen ihrer neuen Position in Zukunft Kunden begrüßen würde. Lena hatte keine Ahnung, was er meinte, aber sie wollte nicht dumm dastehen, also akzeptierte sie seine Erklärung und ging wieder an ihren Schreibtisch. Vielleicht war es ihr Akzent, der zu sehr nach Brooklyn klang. Vielleicht war es ihre Angewohnheit, sich nach dem Mittagessen am Schreibtisch die Haare zu richten. Oder wie sie sich einmal eine Selleriefaser zwischen den Backenzähnen hervorgeholt hatte, die sie mit der Zunge einfach nicht rausbekam, bis sie sich am Ende die Finger in den Mund schob und das Ding mit dem Fingernagel rauspulte. Jetzt überlegte sie, ob Präsenz wohl das war, was ihre neue Nachbarin hatte. Ob es etwas war, womit man geboren werden musste, und was man nicht lernen konnte.
Anne schaute über die Schulter zu ihrem Mann, während sie sich die Hand flach auf den Bauch legte und die Stimme senkte. »In ein paar Monaten bekommt sie Gesellschaft.«
»Das ist ja wunderbar!«, sagte Lena.
Brian Stanhope, der noch nicht Hallo gesagt hatte, überquerte in diesem Moment den Rasen hinter ihnen und hörte, was seine Frau sagte. Er strauchelte, als wäre er über etwas gestolpert, und statt zu den Frauen herüberzukommen, wie es im ersten Moment ausgesehen hatte, drehte er sich brüsk um und lud weiter den Lieferwagen aus. Lena fragte Anne, ob sie müde sei, ob sie sich viel übergeben müsse. Das sei völlig normal, sagte sie. Jede Schwangerschaft ist anders. Es könnte helfen, wenn sie Kekse griffbereit neben dem Bett hatte. Denn wenn sie zu lange nichts aß, würde ihr den ganzen Tag schlecht werden. Anne nickte, aber der Ratschlag schien nicht recht zu ihr durchzudringen, und es sah so aus, als wollte sie über solche Dinge vor Brian auch gar nicht reden. Lena konnte sich erinnern, dass sie auch nicht unbedingt auf die Ratschläge anderer gehört hatte. Jede Frau lernt durch ihre eigenen Erfahrungen.
Irgendwann kam Brian zu ihnen herüber. »Ich bin ein Kollege von Francis«, sagte er. »Na ja, war ich jedenfalls. Bis vor ein paar Wochen war ich im 41. Bezirk.«
»Ach, ist nicht wahr«, sagte Lena. »Das ist ja ein Zufall!«
»Nicht wirklich«, grinste Brian. »Er hat mir von dem Haus hier erzählt. Hat er das nicht erwähnt?«
Als Francis nach Hause kam, wollte sie wissen, warum er ihr nicht erzählt hatte, dass die Stanhopes heute kamen. Sie hätte eine Willkommensfeier organisieren, Essen bereithalten können. Doch er behauptete hartnäckig, dass er es ihr gesagt hatte. Sie widersprach, er hätte erzählt, dass das Haus verkauft worden sei, aber nicht, dass es an seinen Freund gegangen war.
»Na ja, als Freund würde ich ihn vielleicht nicht unbedingt bezeichnen«, meinte Francis.
»Du arbeitest mit ihm zusammen. Du isst mit ihm. Du kennst ihn seit der Polizeiakademie. Wart ihr nicht sogar eine Weile Partner? Er ist dein Freund«, sagte Lena.
»Tut mir leid«, sagte Francis. »Das hab ich vergessen. Er ist versetzt worden. Ich hab ihn seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen.« Er zog sie an sich. »Wie ist denn seine Frau? Sie haben ein Baby verloren, hatte ich dir das erzählt? Eine Totgeburt, glaube ich. Dürfte so zwei Jahre her sein.«
Lena schnappte nach Luft und dachte an Natalies warmen Bauch, der sich oben in der Wiege hob und senkte. »Das ist ja schrecklich.« Sie dachte mit Grauen an die Tipps, die sie ihr gegeben hatte, und wie wortkarg Anne sie aufgenommen hatte.
*
Lena schaute aufmerksam auf den Bauch ihrer Nachbarin, um im Auge zu behalten, wie er wuchs, aber Anne trug so weite Sachen – ihre übergroß geschnittene Schwesternkluft an Arbeitstagen und an ihren freien Tagen Bauernblusen und Röcke, die so lang waren, dass sie fast über den Boden schleiften. Lena beobachtete oft, wie Anne morgens mit den Schlüsseln in der Hand zu ihrem Auto lief, und spürte einen kleinen eifersüchtigen Stich über die Freiheit der anderen Frau. Manchmal ging sie hinaus zum Briefkasten, wenn sie sah, dass Anne draußen war, und versuchte, ein Gespräch anzufangen, aber meistens winkte Anne ihr nur kurz zu und ging wieder hinein. Ein paar Mal, als sie Annes Auto in der Auffahrt sah, ging sie hinüber und klopfte, aber es machte nie jemand auf. Einmal schob sie einen Zettel in den Briefkasten und fragte sie, ob sie nicht einmal an einem Samstagabend ihrer Wahl zum Abendessen kommen wollten, aber auch darauf bekam sie keine Antwort.
Francis meinte, vielleicht hätten sie den Zettel nie bekommen. Vielleicht hatte der Briefträger ihn weggetan. »Kannst du Brian nicht fragen?«, bat Lena.
»Hör zu«, sagte Francis. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Manche Leute mögen eben keine so engen Freundschaften. Ich kann das verstehen, du nicht?«
»Ich verstehe das vollkommen«, erwiderte Lena, dann nahm sie Natalie in die Arme und ging hoch ins Schlafzimmer, wo sie sich auf die Bettkante setzte.
*
Der Sommer kam und ging. Eines Samstags war Brian draußen und rechte die Blätter im Garten zusammen, als Lena sah, wie Francis auf dem Grasstreifen zwischen ihren Auffahrten stand und mit ihm plauderte. Francis lachte so heftig, dass er sich ein bisschen vorbeugen musste, um wieder zu Atem zu kommen. Sara war zur Welt gekommen, ebenfalls ein gesundes Mädchen, nur dass Lena sich diesmal nicht ausruhen konnte, wenn das Baby schlief, denn Natalie war auch da, auf wackligen Füßen, und krabbelte in der Nähe der Treppen herum. Irgendwann waren volle neun Monate seit dem Einzug der Stanhopes vergangen, und selbst wenn die Schwangerschaft damals noch in einem ganz frühen Stadium gewesen wäre, hätte das Baby mittlerweile auf der Welt sein müssen. Kein einziges Mal hatte Lena nebenan Anzeichen einer Krise entdeckt oder über dem Haus diesen Schleier der Traurigkeit wahrgenommen, den der Verlust eines Babys mit sich bringt. Eines Tages, als sie vom Einkaufen nach Hause kam und beide Babys auf dem Rücksitz heulten, stand Lena am offenen Kofferraum des Autos und betrachtete die Dutzende von Tüten, die sie hineintragen musste, da blickte sie auf und sah, dass Anne sie vom Ende ihrer Veranda anstarrte. Lena hatte fahren gelernt, war aber noch nicht besonders sicher. Der einzige Weg, den sie sich bis jetzt ohne Francis zutraute, war der bis zum Supermarkt und zurück. Sie hatte Angst, dass sie etwas falsch gemacht und Anne es beobachtet hatte.
»Hallo!«, rief Lena hinüber, doch Anne wandte ihr den Rücken zu und ging hinein.
*
Kurz vor Saras erstem Geburtstag bemerkte Lena, dass Annes Bauch wieder zu wachsen schien. Sie belagerte Francis, er solle Brian fragen, wenn er ihn das nächste Mal sah.
»Ich bitte dich«, sagte Francis. »Das werden sie uns schon erzählen, wenn sie wollen.«
Aber eines Tages musste das Thema zur Sprache gekommen sein. Lena nähte gerade einen Knopf an ein Hemd von Francis, als er zum Händewaschen in die Küche kam. Ohne sich vom Waschbecken umzudrehen, meinte er, sie habe Recht, die Stanhopes erwarteten tatsächlich ein Kind. Da er ein Mann war, hatte er sich natürlich überhaupt nicht nach Einzelheiten erkundigt, aber Lena wusste, dass Anne schon kurz vor der Entbindung stehen musste, als ihr Auto den ganzen Tag in der Auffahrt stehen blieb und sie nicht mehr zur Arbeit zu gehen schien. Lena passte den richtigen Moment ab, den richtigen Tag, und dann stellte sie Sara in ihren Laufstall, machte für Natalie den Fernseher an, faltete ihre alte Babyschaukel zusammen und stapfte über die schneebestäubten Auffahrten zur Haustür der Stanhopes. Anne schien etwas überrumpelt von der Geste, und obwohl sie Lena nicht hereinbat, fragte sie doch, ob sie ihr kurz zeigen wollte, wie man die Wiege faltete und wie man die Bänder schnüren musste. Lena war begeistert, zog die Handschuhe aus und machte die Schaukel auf der Veranda der Stanhopes auf, um ihr zu zeigen, wie sie den Stoff abknöpfen konnte, wenn er gewaschen werden musste, wie sie ihn wieder am Rahmen befestigen und sichern musste. Als sie sprachen, sagte Anne, die nur eine dünne Wollstrickjacke anhatte, dass sie nächste Woche entbinden sollte, und Lena erzählte ihr, was sie noch nicht mal ihrer Mutter erzählt hatte, dass sie nämlich auch wieder schwanger war. Da sie davon ausging, dass ihr Entbindungstermin ein halbes Jahr nach Annes lag, dachte sie sich, dass das Baby der Stanhopes die Schaukel ja sechs Monate lang benutzen konnte – dieses Alter hatte der Hersteller ohnehin als Obergrenze angegeben – und dann konnte Anne sie ihr zurückgeben. Sie konnten zusammenlegen, was sie hatten, und versuchen, sich gegenseitig auszuhelfen.
Anne würde eine Weile mit dem Baby zu Hause bleiben und dann weitersehen mit der Arbeit. Sie arbeitete gerne, erzählte sie Lena, als wäre es ein Geständnis, und Lena, die hier einen Einstieg ahnte, meinte, das verstehe sie gut, es sei schwieriger, mit einem Baby zu Hause zu bleiben, als es von außen aussah, schwieriger, als man annehmen könnte.
»Wenn du irgendwas brauchst – falls Brian gerade nicht zu Hause sein sollte, wenn es losgeht – oder sonst irgendwas, dann weißt du, wo du mich findest.« Als sie über die Auffahrt zurückging, dachte sie: Wir haben nur einen krummen Start gehabt. Sie dachte: Sie hat das Baby wahrscheinlich verloren und konnte es nicht ertragen, mir gegenüberzutreten, wo ich doch zwei habe. Sie dachte: Vielleicht hab ich sie irgendwie beleidigt, ohne es zu merken, und jetzt ist alles vergeben und vergessen.
Peter wurde eine knappe Woche später geboren, viertausenddreihundertsechzig Gramm.
»Es war grauenvoll«, sagte Brian zu Francis.
»Soviel ich weiß, sind Geburten immer so«, sagte Francis. Und dann: »Du hast aber nicht gesehen … ich meine, den Moment, in dem …«
»Nein, nein. Das nicht. Die haben das schon vorher gewusst, weißt du.«
»Ich wollte keinesfalls …«
»Nein, schon gut. Alles in Ordnung.«
Auf der Heimfahrt aus dem Krankenhaus hatte Anne ihren Sohn auf dem Schoß, und als sie ihn ins Haus trug, flatterte eine Ecke seiner dicken blauen Decke im bitterkalten Februarwind. Lena hatte Natalie und Sara »Willkommen zu Hause«-Bilder malen lassen, die sie vor der Tür der Stanhopes abgelegt hatte, beschwert mit einem Mohnzopf, den sie frisch gebacken hatte.
Am nächsten Morgen, während Francis darauf wartete, dass der Teekessel kochte, und Lena Porridge in Schüsseln füllte, klingelte es an der Tür. Der Wind hatte die ganze Nacht lang am Haus gerüttelt, und in den Morgennachrichten hatte es geheißen, dass überall im Land Äste heruntergerissen worden waren. Francis dachte, das Klingeln hätte etwas damit zu tun, dass jemand Hilfe brauchte oder jemand sie warnen wollte, vor einem heruntergefallenen Stromkabel, einer versperrten Straße. Doch als er die Tür aufmachte, stand dort Anne Stanhope in einem schönen knöchellangen, bis obenhin zugeknöpften Kamelhaarmantel mit der Babyschaukel in der Hand. Sie trug leuchtend roten Lippenstift, hatte aber dunkle Ringe unter den Augen. »Hier«, sagte sie und hielt ihm die Schaukel hin.
»Ist alles in Ordnung?« Lena spähte ihrem Mann von hinten über die Schulter. »Geht es dem Baby gut?«
»Ich kann mich sehr gut selbst um mein Baby kümmern«, sagte Anne. »Und ich kann auch sehr gut selbst für meinen Mann backen.«
Lena verstummte, ihre Augen weiteten sich. »Selbstverständlich kannst du das!«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nur, dass es zu Anfang schwierig ist, deswegen dachte ich …«
»Es ist überhaupt nicht schwierig. Er ist ein perfektes Baby. Es geht uns gut.«
Francis fand in diesem Wortwechsel seine Fassung wesentlich schneller wieder als Lena. »Gut, danke schön«, sagte er, nahm die Schaukel und wollte die Tür zumachen, doch Lena hielt ihn zurück.
»Moment. Einen Moment bitte. Ich glaube, da hat es ein Missverständnis gegeben. Behalt die Schaukel«, sagte sie. »Das Baby kann schön da drin schlafen. Wirklich. Wir benutzen sie gar nicht.«
»Hast du nicht zugehört?«, sagte Anne. »Ich will sie nicht. Wenn ich etwas für meinen Sohn brauche, bin ich jederzeit in der Lage, es selbst zu kaufen.«
»Na dann«, sagte Francis, und diesmal machte er die Tür wirklich zu. Er schmiss die zusammengefaltete Babyschaukel aufs Sofa, aber sie prallte vom Polster ab und fiel scheppernd zu Boden. Als Lena noch mit offenem Mund und dem Holzlöffel in der Hand im Wohnzimmer stand, zuckte er mit den Schultern und meinte: »Nur er tut mir leid. Er ist nämlich ein netter Kerl.«
»Was zum Teufel hab ich ihr getan?«, fragte Lena.
»Gar nichts«, sagte Francis, der schon wieder in die Küche zu seinem Tee und seiner Zeitung ging. »Bei der stimmt was nicht.« Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Kümmer dich einfach nicht mehr um sie.«
*
Sechs Monate später kam Kate zur Welt, in einem sumpfig-feuchten August. Lena sagte immer, sie konnte Kate nicht stillen, weil sie beim ersten Hautkontakt sofort so schweißbedeckt waren, dass das Baby abglitt. Nach nur ein oder zwei Tagen gab sie es auf, und wenn Francis die Mitternachtsschicht hatte, kam er nach Hause, ließ seine Sachen an der Tür fallen und gab Kate ihr erstes Fläschchen am Morgen. Für Lena bedeutete es so eine Erleichterung, und es war so rührend zu sehen, wie Vater und Tochter sich anstarrten, während sie trank, dass Lena wünschte, sie hätte alle drei Kinder mit dem Fläschchen großgezogen. »Du bist mein Goldstückchen«, sagte Francis immer, wenn das Baby ausgetrunken hatte, und dann legte er sie sich an die Schulter zum Bäuerchenmachen.
Peter, der sechs Monate älter war, aß schon Haferflocken und Apfelmus, als Kate noch nackt auf dem Bauch lag und lernte, das Gewicht ihres eigenen Kopfes zu tragen. Später fragten sie sich beide, wann ihre Gehirne zum ersten Mal die Anwesenheit des jeweils anderen zur Kenntnis genommen hatten. Konnte Peter Kate weinen hören, wenn die Fenster beider Häuser offen waren? Als er lernte, am Verandageländer zu stehen, sah er da Kates Schwestern, wie sie sie in ihrem roten Bollerwagen über den Gehweg zogen, und überlegte er, wer sie wohl war?
*
Wenn man Kate später bat, ihre frühesten Erinnerungen zu schildern, dann erinnerte sie sich daran, wie sie ihn bei sich zu Hause herumrennen sah, er hatte einen roten Ball in der Hand und konnte schon seinen Namen sagen.
2
DER SCHNEE