Wenn du so weitermachst, bekommst du nie einen Mann! - Noni Höfner - E-Book

Wenn du so weitermachst, bekommst du nie einen Mann! E-Book

Noni Höfner

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Beschreibung

Mit fröhlichem Augenzwinkern können Sie Tillis Erwachsenenwerden in den Fünfziger- und Sechzigerjahren verfolgen, ihre Schwierigkeit, das eigene Liebesleben mit den Vorgaben der Erwachsenen in Einklang zu bringen, ihren Kampf mit den gängigen Moralvorstellungen und die Kehrwendungen in den Achtundsechzigern, wo die Moral plötzlich unvorhergesehene Haken schlägt, wie Hasen auf der Flucht.

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Seitenzahl: 341

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Noni Höfner

Wenn du soweitermachst,bekommst dunie einen Mann!

Knoll und Patze Verlag

Impressum:

2. völlig überarbeitete Auflage 2021

Knoll & Patze Verlag, München

© Dr. Noni Höfner, 2021, München

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung und Satz: Lisa Höfner | www.buxdesign.de unter Verwendung eines Motivs von istockphoto/seenad Druck & Vertrieb: Nova MD GmbH, www.novamd.de

ISBN-Nr. 978-3-96698-968-8

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

Kawumm!

Die wunderbaren, goldenen Fünfziger

Teil I: Die Fünfziger

1

Ottilie

Chantal

Soll Tilli studieren?

2

Ein Schwiegersohn aus gutem Hause

Eigensinn

Frühes Rooming-in

Regeln zur Baby-Behandlung

3

Olga

Leute

Wir Aristokraten

4

Das grüne Haus

Familie Göschle

Familie Karlsbad

5

Gregor

Die Nachkriegs-WG

Yvonne

6

Herbert

Renus

7

Die Familienzimmer

Der Hof

Die Küche

8

Olgas Erzählungen

Quengeln und Betteln verboten

9

Bebelle

Der Tschautschau

Reisen an̕s andere Ende der Stadt

10

Das säuige Büchlein

Aufklärung heute

Aufklärung früher

11

Rechtzeitige Entjungferung

Kiras Entjungferung

12

Oma Katharina

Gertrud

Steffi klärt mich auf

13

Arno ist verschwunden

Eine Wohnung, ganz für uns alleine

Die neue Wohnung

Teil II: Die Sechziger

1

Die Männer und der Busen

Die Silvesternacht

Der BH

2

Biggi

Der Reitstall

Biggi und Bebelle

3

Das Mäuerle

Die Milchbar

Sven

4

Die erste Party

Der Kuss

Die zweite Party

Der Faschingsball

5

Uneheliche Kinder

Gila muss ins Internat

Bebelle verschwindet

6

Tübingen

Die Schwedinnen kommen!

Lennys Schwof

Haare

Der Banküberfall

7

Der erste feste Freund

Der Tanzkurs

8

Eine Scheidung

Eine Art Heiratsantrag

Männer zum Träumen

Glibber in der Hose

9

Biggis Mann für̕s Leben

Verlobung

10

Das Psychologiestudium

Die sündige Großstadt

Katja

11

Das richtige politische Bewusstsein

Drogen

Vererbung oder Prägung

12

Mein antiautoritäres Kind

Besuch bei Olga

In der S-Bahn

13

Der erwachsene Orgasmus

Heiner

14

Knut

Im Bett mit einem Mann

15

Entjungferungsregeln

Freie Liebe

Münchner Fasching

16

Der ist es!

So muss es klappen!

Lustlos und Übellaunig

Ein reicher alter Sack

17

Ein kühner Entschluss

Die Entjungferung

Nachspiel

Über die Autorin

Vorbemerkung

Der von mir hochverehrte Thomas Mann hat behauptet, dass Fantasie nicht heißt, dass man sich etwas ausdenkt, sondern dass man etwas aus den Dingen macht, die man findet. Dieses Buch ist keine Autobiografie, aber ich habe allerlei gefunden, meiner Fantasie freien Lauf gelassen und nicht nur meine, sondern auch die Erlebnisse meiner Familie, meiner Freundinnen und Freunde freizügig eingebaut und ausgeschmückt. Sie mögen mir verzeihen.

Meine Erlebnisse spiegeln den westlichen Teil der Bundesrepublik. Was sich im Osten Deutschlands abspielte, der damals noch „Sowjetzone“ und etwas später „sogenannte DDR“ hieß, war für uns so unbekannt wie Vorkommnisse in Timbuktu. Wenn wir überhaupt etwas erfuhren, waren es Schilderungen von Unterdrückung und Verarmung, die als Gegenstück zu unserem steigenden Wohlstand ausführlich beschrieben wurden. Man schickte Pakete zu den „Brüdern und Schwestern in der Zone“, um ihnen wenigstens ein bisschen etwas abzugeben von unserem neuen Reichtum.

Es ist erstaunlich, wie viel sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Dabei geht es mir nicht um die völlig unerwartete Wiedervereinigung, sondern um den Alltag im Westen Deutschlands, wie ich ihn erlebt habe. Frauen müssen nicht mehr ihren Ehemann um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten wollen, sie studieren ganz selbstverständlich, egal ob sie heiraten wollen oder nicht, und sie dürfen vorehelichen Sex und uneheliche Kinder haben, ohne von der Gesellschaft an- und ausgespuckt zu werden. Gleichgeschlechtliche Liebe ist nicht mehr verboten, auch wenn immer noch ein ziemliches Bohei veranstaltet wird, wenn sich Jemand „outet“.

Es ist genau so erstaunlich, wie viel gleich geblieben ist. Jedes Jahr am 8. März wird weltweit der Frauentag gefeiert. Und die Klagen über die „Sonderbehandlung“, d.h. Benachteiligung von Frauen nach Jahrzehnten der Emanzipation und des Feminismus reißen dabei nicht ab. Es gibt immer noch jede Menge Tabus und Vorschriften was „man macht“ oder was „frau macht“, was politisch korrekt ist und was nicht. Ein Mann darf jetzt zum Beispiel weinen, wenn Bambis Mutter stirbt, aber nicht, wenn der Chef ihn scharf anredet. Eine Frau darf Karriere machen, aber bitte nicht so viel, dass sie am Ende mehr verdient als ihr Ehemann. Und jetzt, in Corona-Zeiten, greifen wir wieder eifrig zurück auf die bewährten alten Mechanismen: Die Männer sichern die Existenz und die Frauen sind zuständig für die Kinder beim Homeschooling und für den Haushalt, auch wenn ihnen erschöpft die Zunge aus dem Hals hängt, weil sie gleichzeitig in ihrem Job homeworken.

Aber nicht nur die „Sonderbehandlung“ von Frauen, sondern auch die „Sonderbetrachtung“ anderer Menschen scheint unausrottbar. Das wunderbare Überlegenheitsgefühl gegenüber Menschen, die wir nicht als dazugehörig empfinden, seien es Fremde, Menschen mit anderer Hautfarbe, der Nachbarn oder der Haumeister, wollen wir um keinen Preis missen.

All das kommt in den besten Familien vor. Und lässt sich nur mit Humor ertragen.

Noni Höfner, März 2021

Prolog

Kawumm!

Ich belauschte einmal meine beiden Enkel, die im Nebenzimmer spielten. Muntere Knaben, acht und zehn Jahre alt.

„Peng! Krscht! Krach! Boing! Kawummm! Jetzt bist du tot!!!“, hörte ich in gewaltiger Lautstärke.

„Was spielt ihr da?“, fragte ich schließlich leicht entnervt.

„Wir spielen Selbstmordattentäter!“, sagte der Kleinere fröhlich.

„Oh!“, sagte ich.

Die wunderbaren, goldenen Fünfziger

In einer Fünfzigerjahre-Retrospektive im Fernsehen meldeten sich allerlei Promis euphorisch zu Wort. Alles Männer, die diese Zeit noch miterlebt hatten. „Das waren Jahre des Aufbruchs, etwas für Macher!“, sagte einer. „Toll war das und gar nicht so eng und muffig, wie manche sagen“, bemerkte ein anderer begeistert. „Wunderbar waren die Fünfziger und Sechziger, nicht wahr?“, schwärmten sie alle im Chor.

Was für eine schöne, übersichtliche und heile Welt damals, in den Fünfzigern und Sechzigern! Klar geordnet und ohne dieses unsittliche und verwirrende Chaos von heutzutage! Der zweite große Krieg war endlich vorbei und die Männer bauten fleißig Deutschland, ihr Eigenheim und ihre Karrieren wieder auf und polierten ihr erstes Auto mit Hingabe, während die Frauen häuslich und anständig waren. Sie gingen als Jungfrau in die Ehe, und wenn sie vorher geschwängert wurden, musste schnell geheiratet werden, um das zu vertuschen. Dann konnten sie ihrer natürlichen Bestimmung folgen und in der Ehe ihre Erfüllung bei Hausarbeit und Kinderaufzucht finden. Sie hatten sich nur mit zwei Fragen zu beschäftigten: Erstens: Was ziehe ich an, um meinen Mann zu erfreuen? Und zweitens: Was koche ich heute?

Frauen hatten in Deutschland zwar schon seit Ende des ersten Weltkrieges das Wahlrecht, aber es galt als besonders weiblich, sich mit Politik nicht auszukennen, und deshalb wurden die Gattinnen von ihren Männern unterrichtet, welche Partei sie wählen sollten. Und die wählten sie dann auch, oder gaben vor es zu tun, und machten ihr Kreuzchen dann bei irgend einem Kandidaten, der ihnen auf einem Plakat sympathisch vorgekommen war.

*

Das Fernsehen breitete sich rasant aus, und wo man sich so einen Apparat leisten konnte, sammelte sich die Familie allabendlich vor diesem Gerät, auch wenn es nicht als gesellschaftsfähig galt, für das Fernsehen zu arbeiten. Das war fast so anrüchig wie Schauspielerin zu werden. Wer sich keinen Fernseher leisten konnte, wie meine Großmutter Olga zum Beispiel, vertrat sogleich die Meinung, dass Fernsehen nur etwas für geistlose und primitive Menschen sei, und die Jugend dadurch verblöden würde.

Es gab keine Selbstmordattentäter, keine Asylanten, fast keine Scheidungen, keine Schwulen, denn schwul sein war verboten und wurde mit Gefängnis bestraft. Es gab auch keine Pizza, keine Döner, keine Pommes und kein McDonalds. Ganz zu schweigen von allen bösen Folgen der Smartphones und des Internet, wie pausenloses Daddeln, Partnersuche per Mausklick, Facebook, Twitter, YouTube und solche Sachen.

Es gab auch keine Drogen außer dem allgemein tolerierten Alkohol, der eifrig konsumiert wurde, und keine zerfetzten Jeans. Es gab überhaupt keine Jeans. Und als es sie endlich gab, durften wir Mädchen solche Arbeiterhosen nicht in der Schule anziehen, weil sie halbstark und ordinär waren, wie die Lehrer sagten. Die strenge Kleiderordnung in der Schule schrieb vor, dass alle Hosen, nicht nur Jeans, für Mädchen prinzipiell verboten waren. Wir trugen Röcke, im Winter mit warmen, juckenden Wollstrümpfen.

Trotzdem besaßen wir natürlich fast alle eine Blue-jeans, und irgendwann duften wir sie auch in der Schule anziehen. Mein Vater Herbert nannte sie eine „blaue Johanna“, weil er Fremdworte verabscheute. Er war sehr erfinderisch bei deren Übersetzung und nannte die Garage ein „Pkw-Häuschen“, den Elektrorasierer einen „Summkratzer“ und den Pullover einen „Überzieher“.

Ich nähte mir meine blaue Johanna hauteng, sodass ich kaum mehr die Knie bewegen konnte, denn Elastanstoffe waren unbekannt. Das war eine ziemlich mühsame Prozedur, weil ich morgens die Naht jedesmal innen an den Beinen mit dickem Zwirn zunähen und abends wieder auftrennen musste, sonst wäre ich mit den Füßen nicht mehr raus gekommen. Meine Freundin Biggi, die nicht nähen konnte und auch keine Lust hatte, es zu lernen, setzte sich mit ihrer Jeans in sehr heißes Badewasser und ließ sie dann am Körper trocknen. Aber ganz so eng wie meine wurde ihre blaue Johanna dadurch nicht, stellte ich befriedigt fest.

Meistens trug ich zur Jeans einen anthrazitfarbenen Shetlandpulli auf der nackten Haut, obwohl das ekelhaft kratzte. Er hatte Übergröße und einen V-Ausschnitt, den ich nach hinten drehte, das war der letzte Schrei. Meinem Vater gefiel diese Tracht absolut nicht.

„Wenn du schon diese Negerhosen tragen mußt, dann lass sie wenigstens weit!“, knurrte er. „Und was soll das, der Ausschnitt auf dem Rücken?? Und zieh gefälligst eine weiße Bluse unter diesen trostlosen Überzieher, damit du ordentlich aussiehst!“

Großer Gott, ich wollte doch nicht ordentlich aussehen!

Teil I: Die Fünfziger

1

Ottilie

Ich verliebte mich zum ersten Mal am Tag meiner Einschulung im Jahr 1952, mit knapp sechs Jahren.

„Ottilie Neumeister“, sagte der Lehrer zum zweiten Mal, diesmal sehr laut, weil ich beim ersten Mal nicht reagiert hatte. Ich erschrak, gab mir einen Ruck und beeilte mich, zu ihm hinüberzulaufen. Er war bereits von einigen Mädchen und Jungen umringt, die erwartungsvoll zu ihm aufschauten.

Der Lehrer war zwar schon mindestens vierzig, also ziemlich alt, fand ich, aber ich stellte beruhigt fest, dass er aus der Nähe nicht so einschüchternd wirkte. Er sah mich mit sanften braunen Augen an und fragte freundlich: „Habe ich deinen Namen nicht richtig ausgesprochen?“

„Äh, doch“, stammelte ich, aber ...“

„Wie wirst du denn normalerweise genannt?“

„Tilli“, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.

„Dann werde ich dich auch so nennen, Tilli“, sagte Herr Schmid, denn so hieß der alte Mann, und ab diesem Moment liebte ich ihn.

Niemand nannte mich Ottilie, aber manche Erwachsenen machten aus Tilli dann Lilli, weil sie ja nie richtig zuhörten. Aber Herr Schmid hörte zu und sagte ganz richtig „Tilli“.

Herr Schmid war schlank und groß wie ein Turm und schaute freundlich zu uns aufgeregten Kindern herunter. Er hatte ziemlich lange, weiche braune Haare mit einer Haarsträhne, die ihm ständig in die Augen fiel und die er alle paar Minuten mit der Hand zurückstrich, weil sie hinter den Ohren nicht halten wollte. Zu seinen Knickerbockern und dem Jacket aus einem rauen Tweedstoff trug er ein Hemd mit offenem Kragen, alles in Beige- und Brauntönen. Außerdem hatte er ziemlich abgelatschte braune Lederhalbschuhe an, wie ich fachkundig feststellte.

Von meinem Großvater Gregor kannte ich diese komischen Hosen, die Knickerbocker. Nickerbocker sagte er, und ließ, wie die Engländer, das K unter den Tisch fallen. Sie waren oben ziemlich weit mit Bundfalten und endeten unter dem Knie mit einem engen Bündchen und einer Schnalle. Gregor war klein und schmal und trug sie mit Begeisterung, weil sie, davon war er überzeugt, seine kräftigen Waden, die so ziemlich das einzig Kräftige an ihm waren, in seinen Strümpfen mit englischem Karo sehr vorteilhaft zur Geltung brachten. Aber Gregor trug keine ausgeleierten Latschen, sondern stets von Hand maßgefertigte, sehr teure Schuhe, die von seiner Gattin Olga, meiner Großmutter, peinlich sauber geputzt werden mussten und im Schrank mit massiven hölzernen Schuhspannern aufbewahrt wurden.

*

Ein paar Tage nach der Einschulung hielt Olga mir vorwurfsvoll ein Foto unter die Nase, auf dem ich, meine Schultüte im Arm, mit krummem Rücken und vorgestrecktem Bauch dastand. „So stehen Leutekinder!“, sagte sie streng. „Unsereiner steht stolz und aufrecht!“ Ich schämte mich, denn ein Leutekind zu sein war so ziemlich das Schlimmste, was es gab.

Neben mir stand ein dickes kleines Mädchen mit langen Zöpfen, das ungefähr einen Kopf kleiner war als ich. Sie beäugte interessiert meine Schultüte.

„Was ist denn in deiner Schultüte?“, fragte sie neugierig.

„Eine ganze Tafel Schokolade!“, sagte ich stolz. Eine ganze Tafel, nur für mich alleine! Sowas bekam ich sonst nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag.

„Oh!“, sagte das Mädchen. „Gibst du mir davon was ab?“

„Natürlich“, sagte ich großzügig. Und das war der Beginn einer schönen Freundschaft.

*

Die kleine Dicke hieß Gabriele und war die Tochter eines Lehrers der Waldorfschule, in der ich die ersten vier Jahre meiner Schullaufbahn verbrachte. Sie war nicht die Tochter des geliebten Herrn Schmid, sondern von einem ebenfalls dicken kleinen Mann, der eine andere Klasse übernahm.

Meine Mutter Frixi war die treibende Kraft gewesen, dass ich in die Waldorfschule kam. Erstens war diese Schule gleich um die Ecke, und zweitens mochte Frixi die üblichen Erziehungsmethoden an den Grundschulen ganz und gar nicht. Frixi liebte die Freiheit und ein bisschen auch den Anarchismus. Die normalen Grundschulen mit ihrem Drill an allen Ecken und Enden, wo man zur Strafe mit Eselsohren in der Ecke stehen musste oder Tatzen auf die blanke Hand bekam, waren nicht nach ihrem Geschmack.

Die kleine dicke Gabriele wurde Gabi genannt, aber wenn man sie fragte, wie sie hieß, sagte sie sehr stolz mit hoch erhobenem Kopf „Gabriele“. Sie mag ihren Namen also, schloss ich messerscharf. Den Namen Gabriele hätte ich auch ertragen, er war ja lange nicht so verstaubt wie Ottilie.

*

Es gibt wohl nur wenige Menschen auf diesem Planeten, die mit ihrem Vornamen zufrieden sind. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die Elfriedes, Notburgas und Gottliebs dieser Welt zu sich sagen: „Ja, genau so wollte ich immer heißen, Notburga ist der schönste Name der Welt.“ So abartig kann man doch gar nicht denken. Ich jedenfalls fand Ottilie immer eine Strafe, oberpeinlich, ganz furchtbar.

Meist wurde ich gefragt „Tilli, woher kommt denn dieser Name??“ Dann sagte ich es widerstrebend. Die Erwachsenen riefen dann unweigerlich: „Ach, was für ein schöner alter Name. Und so selten!“ Kinder hielten sich die Hand vor den Mund und kicherten.

Als kleines Mädchen fragte ich Herbert, wieso er mich ausgerechnet Ottilie genannt hat. Denn es war mir vollkommen klar, dass er das gewesen war und nicht Frixi. Sie hatte aus Ottilie sofort Tilli gemacht, das klang so fröhlich, und wie ich wirklich hieß spielte für sie keine Rolle mehr.

„Ottilie war eine Verwandte, eine sehr kluge Frau, eine der ersten in Deutschland, die studiert hat“, sagte Herbert. „Sie ist schon lange tot. Du kannst später dann auch mal studieren, wenn du Lust hast.“

„Wieso? Mutti hat doch auch nicht studiert!“

„Da war Krieg, das ging nicht. Aber jetzt ist kein Krieg mehr und du kannst es später machen, wenn du es willst und sehr fleißig in der Schule bist!“

„Aha“, dachte ich, „ich wusste doch, dass die Sache einen Haken hat!“

Chantal

Was hätte ich darum gegeben, Brigitte, Helga, Monika oder Ingrid zu heißen, so wie die anderen Mädchen in meiner Klasse. Selbst Annemarie wäre mir lieber gewesen, obwohl ich diese Namen eigentlich auch ziemlich doof fand, aber wenigstens nicht so altmodisch wie Ottilie. Manuela und Daniela fand ich auch ganz toll. Oder Chantal, das fand ich am allertollsten.

Im ersten Schuljahr 1952 kam für einige Zeit eine Chantal in unsere Klasse, die morgens von einem Chauffeur in einer riesigen schwarzen Limousine in die Schule gebracht und mittags von ihm wieder abgeholt wurde. Chantal de Faubourg bewohnte mit ihrer Familie eine riesige Villa auf dem Tübinger Österberg. Ihr Vater war ein hochrangiger Obermotz der französischen Besatzungsmacht, mindestens ein General, vermutete ich, auch wenn ich mir darunter nicht wirklich etwas vorstellen konnte. Aber Olgas Vater war auch General gewesen, vor dem ersten großen Krieg beim deutschen Kaiser, und daher wusste ich: Das war schon was!

Mein geliebter Herr Schmid sprach den Namen Chantal manchmal aus wie Schotal, mit einem offenen O wie bei Otto, oder manchmal wie Schangtalll. Olga konnte diesen Namen ohne jeglichen Akzent aussprechen.

„So so, Chantal de Faubourgh“, sagte sie, „Aristokraten also!“ Dabei zog sie die Nasenflügel und die Oberlippe nach unten und hob ihr Kinn ein paar Zentimeter höher. Das tat sie immer, wenn sie sich als Aristokratin fühlte und auch so aussehen wollte, in der Hoffnung, dass ihre Nase dann schmaler wirken würde. Auch wenn sie sich im Spiegel betrachtete oder fotografiert wurde, machte sie dieses Gesicht. Leider hatte sie eine ziemlich große Kartoffelnase, die von der aristokratischen, schmalen Wunschnase, die sie gerne gehabt hätte, so weit entfernt war wie ein Opel Manta von einem Porsche.

Man hörte Olgas Verdruss, dass diese Besatzer in einer riesigen Villa mit viel Personal residierten, während sie, eine geborene von Krolowski und Rascin, in einer Etagenwohnung ohne Garten wohnen musste. Nun ja, dachte sie pragmatisch, die Deutschen haben den Krieg verloren und die Franzosen haben ihn gewonnen. So ist das nun mal.

*

Chantal hatte dicke dunkelbraune Locken, die sie meistens mit einem rosafarbenen Haarreifen oder mit einem breiten Satinband bändigte, das zu einer großen Schleife, leicht schräg versetzt, auf ihrem Kopf zusammengebunden wurde. Ich fand Chantal wunderschön und war begeistert von ihren tollen Kleidern mit den vielen Rüschen und Schleifchen, die sie wie eine Prinzessin aussehen ließen. Auch im Winter trug Chantal immer weiße Söckchen mit einem gerüschten Rand und Lackschuhe. Wenn es sehr kalt war, hatte sie unter ihren Kleidern eine lange Hose an. Das fand ich besonders schick und viel schöner als die wollenen langen Strümpfe, die ich anziehen musste. Die kratzten und schlugen immer Falten, auch wenn man sie ganz stramm am Strapshalter befestigte. Und besonders furchtbar war dazu die wollene Unterhose mit extra langen Beinen, die auf halbem Oberschenkel endeten, und die ich „wegen der Blase“ bei Kälte tragen musste. Die Erwachsenen nannten solche Unterhosen „Liebestöter“, aber als ich fragte „warum heißen die so?“, bekam ich eine unverständlich genuschelte Antwort.

Chantal wählte jeden Tag fachmännisch ein bis zwei Kinder aus, die nachmittags mit ihr spielen durften und dann von ihrem Chauffeur abgeholt und wieder heimgebracht wurden. Das war nicht nur erstrebenswert, weil sie einen parkartigen Garten hatte, sondern vor allem, weil es bei ihr jede Menge Süßigkeiten und Schokolade, Brote mit echter Butter und tolle Limonaden gab. Chantals Eltern hatten nicht nur einen Chauffeur, sondern zusätzlich auch sowas wie einen Diener, der den Kindern die nachmittägliche Verpflegung servierte. Chantal wurde bei ihrem täglichen Auswahlritual mit flehenden Blicken von den Kindern umringt, die sich drängelten, um in ihr Blickfeld zu geraten. Mir gelang es nur ein einziges Mal, von ihr rausgepickt und nachmittags abgeholt zu werden.

Also, Chantal hätte ich am liebsten geheißen.

Soll Tilli studieren?

Meine Namenspatin Ottilie heiratete nie. Studieren und heiraten vertrugen sich nicht. Mein Vater Herbert war also geradezu revolutionär fortschrittlich, denn für ihn war es im Bereich des Denkbaren, dass auch ich dereinst studieren würde, auch wenn ich nur ein Mädchen war. Ich könnte ja vielleicht trotzdem heiraten, fand Herbert, aber studieren war mindestens genau so wichtig.

Sein Schwiegervater Gregor, mein Großvater, war Professor an der Uni in Tübingen und hatte auch nur zwei Töchter. Als ich etwa zehn war, sagte er zu Herbert: „Ich glaube, Tilli hat eine ganz gute, schnelle Auffassungsgabe. Sie sollte Sekretärin werden. Unter Umständen“, fügte er mit erhobenem Kinn hinzu, „bringt sie es sogar zur Chefsekretärin.“

Sekretärin war der Hit für Frauen, die bis zu ihrer Eheschließung nicht nur rumsitzen und auf den Richtigen warten wollten. Danach gaben sie diese Übergangsarbeit natürlich sofort wieder auf, um zu zeigen, dass der Ehemann es sich leisten konnte, die Familie alleine zu ernähren. Eine arbeitende Ehefrau war für den Mann beschämend und deshalb schlugen sie sich stolz auf die eigene Schulter, wenn ihre Frau „nicht arbeiten muss!“ „Sie wird studieren, wenn sie das will!“, sagte Herbert.

„Wieso und wozu?“, fragte Gregor. „Da sie nicht ganz hässlich ist, wird sie heiraten und dann zu Hause bleiben. Warum Geld in ein Abitur und ein Studium stecken und einem Mann den Studienplatz wegnehmen, wenn sie dann die Kinder versorgt?“

„Mmmpppffffttt!“, machte Herbert und blies geräuschvoll eine große Portion Luft durch die Nase. Das tat er immer, wenn er anderer Meinung war und sich ärgerte. Dieses Schnauben klang wie Schnäuzen ohne Taschentuch. Ich fragte mich immer, wie er das schaffte, ohne dass dabei Popel durch die Gegend flogen.

Es wäre Gregor nie in den Sinn gekommen, seine Töchter studieren zu lassen. Obwohl sie keineswegs zu doof dazu waren, und Frixi sich sogar als kleines Genie in Mathe entpuppte, machten sie beide kein Abitur und verließen die Schule nach der mittleren Reife. Die offizielle Begründung, viel später, war der Krieg. Aber als Frixi die Schule verließ, war noch gar kein Krieg. Dann kam er, der Krieg, und als Frixi im heiratsfähigen Alter war, waren die meisten jungen Männer weit weg und mit der Verteidigung des Vaterlandes beschäftigt. Es gab weit und breit keinen standesgemäßen Mann, der für eine Eheschließung in Frage gekommen wäre.

Olga löste das Problem auf ihre tatkräftige Weise.

2

Ein Schwiegersohn aus gutem Hause

Olga hatte oft Eingebungen. Sie ahnte alles mögliche voraus, spürte Unheil drohen oder Wetterwechsel trotz heiterem Himmel oder merkwürdige Vorkommnisse in der Nachbarschaft. Auch die Zukunft sah sie in ihren Träumen voraus. Sie erzählte aber immer erst hinterher jedem, der es hören oder nicht hören wollte, wie genau sie alles bereits im Vorfeld geahnt oder gewusst hatte, sodass man ihre Vorahnungen nie nachprüfen konnte.

Auch an diesem späten Nachmittag im Februar 1943 hatte Olga eine Vorahnung. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte zum Zeitungskiosk. Es war kühl und wurde schon dunkel. Olga kam heftig ins Schnaufen und blies weiße Wolken stoßartig durch den offenen Mund. Mit ihrem Asthma war das Radeln in der Kälte für sie eine Herausforderung, aber es musste heute sein, das wusste sie mit untrüglicher Sicherheit.

Olga kaufte die Tageszeitung und schlug sie schon an Ort und Stelle auf. Hier waren sie, die Heiratsanzeigen. Hochbefriedigt blieben ihre Augen an einem Text hängen: „Volljurist, mit fester Anstellung beim Staat, Anfang 30, sucht eine nicht zu dünne Frau für´s Leben. Zuschriften unter ...“.

Nicht zu dünn, sehr gut! Frixi, ihre Tochter und meine Mutter, hatte runde weibliche Formen, die sehr sexy, aber irgendwie gerade nicht so in Mode waren. Auch wenn die Anzeige nicht vollkommen das war, was sie sich erhofft hatte, war Volljurist nicht zu verachten. `Adlig´ oder wenigstens `aus gutem Hause´ wäre schön gewesen, aber man durfte in diesen Zeiten nicht zu wählerisch sein.

Olga fand, dass es höchste Zeit für ihre Erstgeborene wurde, endlich unter die Haube zu kommen. Frixi arbeitete als MTA an einer Tübinger Uniklinik. Nach offizieller Lesart eilte Hiltlerdeutschland in diesem Jahr immer noch von Sieg zu Sieg, aber Sieg oder nicht Sieg, es gab kaum Heiratskandidaten, stellte Olga pragmatisch fest. Die meisten jungen Männer kämpften fern der Heimat für den Endsieg, oder waren bereits als Kanonenfutter verheizt worden. Es gab zwar in der Uniklinik so diesen oder jenen Arzt, der es geschafft hatte, sich in der Heimat unentbehrlich zu machen und dadurch in Olgas Visier geriet, aber leider waren sie alle entweder bereits verheiratet oder völlig unattraktiv oder viel zu alt und tatterich.

*

Olga radelte so schnell sie konnte nach Hause und geriet gehörig außer Puste, denn nun ging es bergauf. Aber ihr Asthma war vergessen, denn sie war zufrieden. Noch am selben Abend schrieb sie einen ausführlichen Brief an die angegebene Chiffrenummer und legte ein Foto von Frixi bei. Olga kolorierte es mit Buntstiften. Frixis wunderbare rotgoldene Locken mussten besser zur Geltung gebracht werden, die Bluse und die Augen bekamen einen warmen Blauton und Frixis Sommersprossen verschwanden unter einer leichten Schicht rosa. Olga seufzte befriedigt.

Da junge Männer so rar waren, und Frauen mit weiblichen Formen offenbar sehr zahlreich, erhielt der Volljurist sehr viele Zuschriften, aber er verliebte sich schlagartig in Frixis Foto und antwortete Olga postwendend. Die anderen Anfragen interessierten ihn nicht mehr.

Frixi sah auf diesem Foto nicht nur sehr hübsch, sondern auch sehr lieb und engelsgleich unschuldig aus, wie sie mit gesenktem Kopf und einem zarten Lächeln von unten nach oben scheu in die Kamera blickte. Auch ihre leicht schräg gestellten Katzenaugen, die hohen Backenknochen und die mit zwei Kämmchen nach hinten gesteckten Locken gefielen Herbert sehr. Als er sie näher kennen lernte und feststellte, dass sie zwar anpassungswillig und freundlich, aber auch sehr eigensinnig bis hin zur Sturheit sein konnte, verliebte er sich noch heftiger.

Kurz darauf vereinbarte Olga ein Treffen zwischen dem Volljuristen und ihrer Tochter.

Frixi ahnte von nichts.

*

Im Mai 1943 ging Frixi gut gelaunt in Richtung Tübinger Hauptbahnhof. Sie hatte von Olga den Auftrag bekommen, einen Freund der Familie, einen netten jungen Mann, der Kurzurlaub von der Front hatte und einen kurzen Besuch abstattete, ein Stück entgegen zu gehen. Es war ein sonniger, warmer Tag. Frixi summte leise eine Melodie vor sich hin, die ihr seit dem frühen Morgen nicht aus dem Kopf ging.

Sie trug ein geblümtes, knielanges Sommerkleid, mit kleinen Puffärmeln, das ihre schmale Taille betonte und einen spitzen Ausschnitt hatte, der ihren vollen Busen vorteilhaft zur Geltung brachte. Sie freute sich auf den Besuch und die Abwechslung, die er brachte, obwohl sie Olgas wirre Erklärung, woher dieser junge Mann der Familie bekannt war, nicht ganz verstanden hatte.

In der Hauptstraße kam ein Mann auf sie zu. Er war dunkelblond, mittelgroß und schlank und strahlte sie begeistert, fast verliebt an. Das muss er sein, dachte Frixi, aber warum grinst er so breit. Er kennt mich doch gar nicht.

„Sie sind Frixi Meijer!“, sagte der Mann, und es war eine Aussage, keine Frage. „Ich habe Sie sofort erkannt! Ich konnte leider nicht früher kommen. Oh, Entschuldigung, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Herbert Neumeister.“

Frixi war irritiert, aber sie sagte nichts. Der junge Mann gefiel ihr, obwohl sie ihn ein bisschen zu klein fand.

Frixi und Herbert heirateten im Sommer 1943. Es war eine schlichte, kleine Feier im engsten Familienkreis. Herbert musste nach sehr kurzen Flitterwochen wieder an die Front. Frixis Eigensinn lernte er erst später kennen, denn in dieser kurzen Zeit bot sich wenig Gelegenheit dazu.

Eigensinn

Wenn sie wollte, war Frixi sehr anpassungsbereit. Auch nach mehreren Ehejahren zog sie zum Beispiel jeden Tag bereitwillig beim Servieren des Mittagessens eine frisch gestärkte weiße Schürze an, denn Herbert liebte es, so adrett bedient zu werden. Frixi tat ihm gerne diesen Gefallen, auch wenn diese altmodische Schürze in keiner Weise ihrem Geschmack entsprach, mit den rüschenverzierten Trägern, die auf dem Rücken überkreuzt und hinten zu einer steifen Schleife gebunden wurden. Aber sie fühlte sich dadurch weder herabgesetzt noch in ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigt, es war ihr piepegal.

Aber wenn Frixi etwas nicht einsah, waren Überredungsversuche total aussichtslos. Wenn sie nicht wollte, dann wollte sie nicht. Sie stritt deswegen nicht und machte keine Szenen, sondern sie hörte freundlich zu, schwieg und tat es einfach nicht. Sie weigerte sich zum Beispiel dauerhaft, die Gattinnen von Herberts Kollegen zu Kaffeekränzchen einzuladen oder deren Kaffeekränzchen zu besuchen. Frixi langweilte sich bei Hausfrauenthemen, Klatsch und Smalltalk zu Tode. Wenn Herbert sie bat, sich doch wenigstens gelegentlich ihm zu Liebe mit diesen Damen zu treffen, sagte sie „vielleicht“. Und dabei blieb es.

Selbstverständlich arbeitete keine der kollegialen Ehefrauen. Das wäre unter ihrem Stand gewesen. Ehefrauen kündigten sofort ihren Beruf, sobald sie heirateten, selbst wenn sie kinderlos waren und blieben.

Wollte eine Ehefrau arbeiten, musste sie ihren Gatten um Erlaubnis bitten, denn ohne die schriftliche Einwillig vom Ehemann durfte kein Arbeitgeber eine Ehefrau beschäftigen. Es gab auch ein Gesetz aus dem Jahr 1880, das so genannte Lehrerinnenzölibat, laut dem Lehrerinnen nicht mehr arbeiten durften, sobald sie heirateten. Es entzog ihnen dann sofort den Beamtenstatus, sie wurden kündbar und ihr Anspruch auf eine spätere Pension entfiel. Wozu auch, sie hatten ja jetzt einen Ernährer.

Sollte eine Frau nach der Eheschließung trotz dieser Hürden darauf bestehen, zu arbeiten und ihr Mann ließ sie gewähren, womöglich sogar nachdem Kinder kamen, wurden diese bedauernswerten Geschöpfe von allen bemitleidet. Diese armen, armen Schlüsselkinder waren ja gezwungen, sich mittags auch mal das Essen selbst zuzubereiten, weil ihre Mutter nicht stets zu Hause anwesend war, und dabei waren sie doch erst sechzehn!

*

Charaktereigenschaften sind offensichtlich sehr stabil. Als Frixi sieben Jahre alt und in der zweiten Klasse war, ermahnte die Lehrerin die Kinder, nach den Hausaufgaben unbedingt ein Löschblatt ins Heft zu legen. Frixi war eine freundliche und sehr gute Schülerin, weder frech noch vorlaut, mit einer hübschen Prinz Eisenherz-Frisur, die sich über den Ohren zu kleinen Löckchen kringelte. Sie überlegte: Wozu ein Löschblatt, wenn die Tinte ohnehin schon trocken ist? Sie gab das Heft ohne Löschblatt ab und wurde am nächsten Tag erinnert: „Du hast das Löschblatt vergessen. Bitte denk morgen dran!“ Frixi dachte daran, aber sie legte kein Löschblatt ins Heft, da die Tinte schon trocken war. Die Lehrerin wurde ungehalten: „Wenn du morgen dein Heft abgibst ohne Löschblatt, bekommst du eine Strafarbeit!“

Frixi lächelte, widersprach nicht und gab am nächsten Tag ihr Heft ab. Ohne Löschblatt, da die Tinte schon trocken war. Sie machte sorgfältig ihre Strafarbeit und gab am folgenden Tag ihr Heft ab. Ohne Löschblatt. Die Lehrerin drohte: „Wenn du morgen dein Heft wieder ohne Löschblatt abgibst, wirst du nachsitzen!“ Frixi nickte freundlich, gab ihr Heft ab, ohne Löschblatt, und saß nach. Die Lehrerin war ratlos und gab ihr einen Brief mit nach Hause: „Trotz mehrfacher Aufforderung weigert sich Friederike, in ihr Heft ein Löschblatt zu legen. Ich bitte Sie deshalb, sich mit dem Direktorat in Verbindung zu setzen! Hochachtungsvoll!“

Olga sympathisierte mit Frixis Eigensinn und hatte nichts dagegen, dass sie wegen ihrer Tochter immer wieder in die Schule zitiert wurde. Sie genoss diese Auftritte, die ihr eine willkommene Abwechslung von Küche und Herd boten.

„Ich zog mir mein schickes, enges Kostüm an und machte mich mal wieder auf den Weg zum Direktor“, erzählte sie mir, fuhr sich mit der Hand durch die Haare am Hinterkopf, hob das Kinn und zog die Nasenflügel nach unten.

Selbstverständlich ging sie immer gleich zum Direktor, in ihrem schönsten Kostüm. Sie war schließlich die Frau Professor, eine geborene von Krolowski und Rascin. Nie hätte sie sich, wie ich später bei meinen Kindern, mit strengen und vertrockneten Lehrerinnen herumgeschlagen, die sich hinter Sätzen wie „da kann ich leider nichts für Sie tun, da haben wir unsere Anweisungen vom Direktorat“ zurückzogen.

„Ich betrat das Direktorat und sah den Direktor mit meinem schönsten Augenaufschlag an“, sagte Olga mit zuckersüßem Lächeln, um zu veranschaulichen, wie sie diesen willenlosen Knecht umgarnt hatte. Olga gewann solche Auseinandersetzungen immer. Frixi wurde verziehen und Olga legte in Zukunft für Frixi das Löschblatt ins Heft.

Frühes Rooming-in

Im April 1946 hielt Frixi endlich ihr lang ersehntes Wunschkind, mich, in den Armen, und es kam ihr nicht in den Sinn, es wieder herzugeben, auch wenn es nur für ein paar Stunden am Tag oder in der Nacht gewesen wäre.

Die neuesten Erkenntnisse der Kinderpflege schrieben vor, dass bereits Neugeborene nach starren Fütterungszeiten ernährt werden müssen, um sie von Anfang an mit der für das spätere Leben notwendigen Disziplin vertraut zu machen. Ungeordnetes Chaos musste unbedingt verhindert werden, sonst züchtete man unberechenbare, grausame Tyrannen oder grässliche Anarchisten. In den ersten Tagen sei auch zusätzliche Flaschenfütterung angeraten, damit das Kleine ordentlich zulegt von Anfang an, in diesen schrecklichen Zeiten. Außerdem sei die Mutter zu schonen und daher dürfe sie nicht allzu oft mit dem Geschrei des Säuglings belästigt werden. Und schreien müssen sie, denn Jeder weiß ja, dass das die Lungen stärkt. Das ergänzte wunderbar die Glaubenssätze des untergegangenen tausendjährigen Reiches, bei dem die Kinder, vor allem natürlich die Burschen, hart wie Kruppstahl werden sollten, und man sie deshalb auf keinen Fall auf den Arm nehmen und trösteten durfte, wenn sie schrieen, denn das führt unweigerlich zur Verweichlichung.

Frixi hörte sich die neuesten Erkenntnisse der Säuglingspflege aufmerksam an und sagte dann freundlich: „Ah ja! Aber die kleine Tilli bleibt hier, in ihrem Bettchen neben meinem Bett.“

„Aber das geht unmöglich!“ jammerte die Schwester. „Das ist gegen die Vorschriften!“

„Oh“, sagte Frixi, und blickte verliebt in mein Bettchen, „das tut mir wirklich sehr leid, aber sie bleibt besser hier, neben meinem Bett.“

Die Oberschwester wurde gerufen und versuchte es mit mütterlicher Sorge. „Gute Frau“, sagte sie, „Sie sind noch jung und unerfahren! Das ist ihr erstes Kind! Mütter brauchen ihre Ruhe nach der Entbindung! Wir wissen das. Das ist alles nur zu Ihrem Wohl!“

„Wie nett von Ihnen, dass Sie sich solche Gedanken um mich machen“, sagte Frixi liebenswürdig, „aber mein Kind bleibt lieber hier bei mir.“

„Außerdem muss der Säugling täglich gewaschen und mehrfach gewickelt werden. Das können Sie hier doch gar nicht bewerkstelligen!“, sagte die Oberschwester streng und etwas gereizter.

„Ach, das kriege ich schon hin. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wir schaffen das“, sagte Frixi träumerisch, und blickte wieder liebevoll in mein Bettchen.

Die Oberschwester schwieg beleidigt.

„Nun denn“, sagte sie schließlich spitz, „wir haben hier unsere Vorschriften. Das wird an höherer Stelle entschieden!“

Sie rauschte ab und kam kurz darauf mit der leitenden Stationsschwester wieder. Die hatte ebenfalls nicht den Hauch einer Chance gegen Frixis unverändert freundliche Wiederholung des selben Satzes. Der schließlich zu Hilfe gerufene Stationsarzt gab dann endgültig auf, weil er die Sinnlosigkeit weiterer Diskussionen einsah und anderes zu tun hatte, als sich mit einer sturen Wöchnerin herumzuschlagen.

So kam es, dass in der Tübinger Uniklinik das wahrscheinlich erste Rooming-In nach dem zweiten Weltkrieg stattfand, inklusive Stillen bei Bedarf statt nach der Uhr.

Regeln zur Baby-Behandlung

Ich brachte meine Tochter Anne 1975 in einer großen staatlichen Klinik in München zur Welt, in der es ebenfalls klare Regeln gab, die genau festlegten, was erlaubt war und was nicht. Nur der Inhalt der Regeln hatte sich verändert.

Regel Nummer eins: Stillen ist out. Muttermilch galt als ähnlich vergiftet wie ungefiltertes Abwasser in der Nähe eines Erzbergwerkes und war unbedingt zu vermeiden. Saubere Babynahrung aus sterilem Pulver in sorgfältig sterilisierten Flaschen war angesagt.

Heutzutage, im neuen Jahrtausend, sind wir da viel weiter. Heute ist Stillen Pflicht. Mütter, die keine Lust auf´s Stillen haben, gelten als pervers-neurotische Egomaninnen, die ihre Kinder in eine desolate Zukunft mit irreparablen gesundheitlichen und psychischen Spätschäden stürzen. Ungestillten Kindern wird ein erhöhtes Allergierisiko, Schäden im Atmungsapparat, spätere Verfettung inklusive Diabetes und eine ruinierte Psyche mit deutlichen Zügen eines Heimschadens garantiert.

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Regel Nummer zwei hieß in den Siebzigern: Väter dürfen bei der Geburt nicht dabei sein. Die machen nur Ärger und fallen im falschen Moment in Ohnmacht, weil sie kein Blut sehen können. „So viel Personal haben wir leider nicht!“, sagte der Entbindungsarzt grinsend zu mir

Regel Nummer drei galt in den Siebzigern der Hygiene. Sie war oberstes Gebot. Alles wurde mit Sagrotan absolut keimfrei gemacht, auch die Babys. Jeder, von der Krankenschwester bis zum Chefarzt, wusste mit absoluter Gewissheit, dass eine Missachtung ihrer wunderbar geregelten hygienischen Vorgehensweisen den Grundstock für einen total gestörten Erwachsenen mit defektem Immunsystem legen würde.

Die Schwestern rissen Anne gleich nach der Geburt an sich und säuberten sie sorgfältig. Erst musste dieses verschmierte Bündel abgewaschen, vermessen und verpackt werden, damit es ordentlich aussieht und klinisch sauber ist, bevor die junge Mutter es kurz in die Arme gedrückt bekommt. Anne wurde am Nachmittag geboren. Nach ein paar Minuten in meinen Armen wurde sie unverzüglich in das Säuglingszimmer gebracht und in der ersten Nacht mehrmals mit dem Fläschchen gefüttert, damit sie Ruhe gab. Ich sah sie erst am nächsten Morgen wieder.

Es war normal, dass ich als Privatpatient nach einer normalen Entbindung – das war eine ohne Kaiserschnitt – mindestens eine Woche in der Klinik zu bleiben hatte. Alles andere war hochgefährlich für Mutter und Kind, wegen hygienischer Unvorhersagbarkeiten und anderer Komplikationen und so weiter.

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In dieser ersten Woche wurde Anne drei Mal am Tag für eine halbe Stunde an mein Bett gebracht. Die Babys kamen aus dem Säuglingszimmer auf einer Art Servierwagen. Sie lagen in zwei Etagen übereinander, fest in saubere weiße Tücher gewickelt und parallel ausgerichtet wie frisch gebackene Brote. In jedem Zimmer, je nach Mütterzahl, wurden eins oder mehrere der Brote ausgeliefert. Ich konnte Anne brüllen hören, sobald der Servierwagen die Babystation verließ.

Anne war ein großes, kräftiges Baby und schrie sehr melodisch, in einer Tonleiter von oben nach unten. Die meisten Babys schrieen oder wimmerten eher leise. Anne schrie am lautesten und war eindeutig zu identifizieren. Bereits beim ersten Brüller, wenn der bepackte Servierwagen die Säuglingsstation verließ, schoss mir die Milch in den Busen. Wenn Anne mir dann endlich in den Arm gelegt wurde, hoffte ich inständig und vergeblich auf ein paar Gramm Milch mehr als beim letzten Mal, denn die Babys wurden vor und nach dem Stillen sorgfältig gewogen, und die Zunahme wurde ordentlich registriert.

Ich betrachtete gerührt und zunehmend verzweifelt das kleine Köpfchen und das heftige Saugen, das sehr anstrengend zu sein schien, denn Anne schlief alle paar Minuten erschöpft ein. Schließlich war sie eine Flasche mit großem Saugloch gewohnt und nicht eine so mühsame Plackerei mit mickrigem Ergebnis. Bevor sie noch richtig satt war und rülpsen konnte, kam die militante Oberschwester und nahm sie mir energisch aus den ‚Armen, um sie auf dem Servierwagen ins Säuglingszimmer zurück zu bringen, wo sie dann nochmal nachgefüttert wurde, mit einer Flasche mit großem Saugloch, denn man hat ja nicht ewig Zeit!

Vorsichtig und höflich - denn ich wollte nicht als Querulantin unangenehm auffallen - fragte ich einmal die Oberschwester, warum ich mein Kind nicht öfter zu sehen bekäme. Die Oberschwester war sehr groß und kräftig und trug ihren weißen Kittel wie eine Uniform. Sie hatte es immer eilig und sprach sehr laut. Ich fürchtete mich vor ihrem schmalen Mund.

„Erst wenn Sie mehr als dreißig Gramm Milch pro Stillvorgang produzieren“, brüllte sie bereits mit der Türklinke in der Hand, „bekommen Sie Ihre Tochter häufiger als dreimal täglich.“

Ich flehte: „Aber es steht doch überall geschrieben, dass häufiges Anlegen die Milchproduktion steigert.“

„Es steht viel geschrieben! Lesen Sie nicht so viele Frauenzeitschriften!“, beendete die Oberschwester die Unterhaltung in einem herablassenden Ton, der keinen Widerspruch duldete, und öffnete die Tür.

Sie besann sich dann, kam nochmal zu meinem Bett, griff nach meinem ohnehin nicht sehr üppigen Busen mit Daumen und Zeigefinger, drückte mit verächtlichem Gesichtsausdruck darauf herum und sagte herablassend: „Und ich glaube nicht, dass aus diesem Busen noch viel zu erwarten ist!“ Mit lautem Krachen schloss sie die Tür.

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So kam es, dass ich in Annes erster Lebenswoche im Krankenhaus nur ihre krampfhaft saugenden Lippen und ihre Schädeldecke kannte. Die Schädeldecke wies in der Mitte eine mit Jod rotgepinselte Stelle auf, an der während der Geburt ein Kabel befestigt gewesen war, um die Herztöne zu messen.

Einmal ging ich zu dem Fenster im Flur der Station, wo Väter und andere Anverwandte ihre Kinder durch eine Sprechanlage ordern konnten, denn aus Gründen der Hygiene, so sagten die Vorschriften, durften die aus der verseuchten Außenwelt kommenden Erwachsenen keinerlei Kontakt mit den Babys haben, so lange sie der Obhut des Krankenhauses anvertraut waren. Danach mochte passieren was wollte, zu Hause durften ganze Bakterienschwärme über den frisch entlassenen Säugling herfallen, das ging die Klinik nichts mehr an.

Die über ein Lautsprechersystem angeforderten Babys wurden von einer süßlich lächelnden Schwester hinter einer Glasscheibe hochgehoben und durften vom Gang aus ein paar Minuten betrachtet werden. Es war eine riesige Glasscheibe, wie bei einer Affenaufzuchtstation im Zoo, mit sauber verpackten kleinen Äffchen hinter der Scheibe. Ich stand in meinem rosafarbenen Morgenmantel mit fettigen, zerwühlten Haaren zwischen jauchzenden Omas und Tanten und verlangte etwas verlegen nach Anne, um wenigstens ein einziges Mal ihr Gesicht in Ruhe zu betrachten.

3

Olga

Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen ist für die meisten Menschen sehr erstrebenswert. Es schafft Sicherheit und emotionale Stabilität. Bestimmte Sachen stehen dann einfach fest und müssen nicht dauernd hinterfragt werden.

Natürlich will man nicht jeder beliebigen Gruppe zugeordnet werden. „Ich gehöre zu den Ärmsten der Armen, die unter den Brücken leben und sich selten waschen können“ oder „ich bin stolz darauf, mich zur Gruppe der Kleinen, Fetten zu zählen“ gehören gewiss nicht zu den Favoriten. Viele Menschen, außer eingefleischten Kommunisten, wären aber wahrscheinlich sehr stolz, wenn sie sich zum Hochadel zählen könnten. Meine Großmutter Olga kam aus dem Hochadel.

Olga kam 1895 als sechstes und letztes Kind von Eugen von Krolowski und Rascin, einem General und Regimentskommandeur des Kaisers Wilhelm Zwo, und seiner Gattin Klara auf die Welt. Klara kam selbstverständlich ebenfalls aus dem Hochadel.

Eugen war ein großer, stattlicher Mann mit dem gleichen Bart wie sein Kaiser, den er persönlich kannte und sogar zum Essen einladen durfte. Die riesigen Tischtücher aus weißem Leinen mit dem Monogramm derer von Krolowski und Rascin, an denen der Kaiser gespeist hatte, wurden über mehrere Weltkriege hinweg gerettet und mit hehren Worten weiter vererbt. Ich verwende sie heute als Betttücher, weil Leinen sich sehr schön anfühlt und ich keinen ausreichend großen Tisch habe, den ich damit eindecken könnte.

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Bei Olgas Geburt rollte Eugen seine ausdrucksvollen Augen, die von gewaltigen Brauen fast verdeckt wurden, zur Decke, und seufzte ergeben. Vier von Olgas fünf älteren Geschwistern waren Mädchen, das heißt Eugen hatte nur einen einzigen Sohn. Welche Schmach! Adelige Offiziersfamilien schenkten dem Kaiser Soldaten, keine Mädchen - jedenfalls nicht so viele.