Wenn Dunkelheit die hellen Nächte bedeckt - Sebastian Lindell - E-Book

Wenn Dunkelheit die hellen Nächte bedeckt E-Book

Sebastian Lindell

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Beschreibung

Dieser Erstlingsroman von Sebastian Lindell erzählt, wie Markus Edelmann, Sohn eines deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, zum berühmtesten Kriminalkommissar Lapplands wurde. LAPPLAND nach dem Krieg; ein gottverlassener und einer der abgelegensten Orte Finnlands. Eine heiße Sommernacht in den frühen Sechzigern. Als das Dorf Tervola noch schläft, entscheidet sich jemand für das Böse. Später in der Nacht wird der Körper einer jungen Frau im Fluss versenkt, der sich friedvoll durch die Gemeinde zieht. Und vom Täter fehlt jede Spur. Vierzig Jahre später, in einem kleinen Wald in der Nähe des Flusses entdeckt ein altes Ehepaar etwas, was schon bald das Interesse von Oberkommissar Markus Edelmann und Kommissarin Sonja Friberg von der Kripo Rovaniemi wecken wird. Aber sie sind gezwungen, die Ermittlungen zu unterbrechen, als ein kaltblütiger Mord am hellichten Tag die Gemeinde erschüttert. Die Kripo muss allmählich feststellen, dass sich die russische Grenze näher befindet, als man je dachte, und dass sie offener als jemals zuvor ist. Die Entschlüsselung von Geheimnissen führt die Ermittler durch Finnland und bis an die westliche Grenze nach Südschweden. Als der Gang der mystischen Ereignisse sie wieder nach Lappland leitet, gerät das Leben von Polizeiermittlern in Gefahr. In der überraschenden Wende im Fall 'Flussleiche' strebt der Schuldige danach, sich selbst zu schützen und seine niederen Beweggründe zu verschleiern. Dieser außergewöhnliche und fesselnde Krimi - durch wahre Ereignisse inspiriert - deckt allmählich die dunklen Gebiete der menschlichen Psyche sowie unserer Nachkriegsgeschichte auf. Auf der Web-Seite https://lapland-crime-mysteries.jimdosite.com/ finden Sie z.B. mehr Info von dem Buch, Youtube-Videos (mit deutschem Subtext) von interessanten Finnisch Noir -Podiumsdiskussionen (Sebastian Lindell auf der Bühne der Helsinki Buchmesse 2015 und 2017), und vielen Leseproben des Buches.

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Für meine liebe Mutter, die Frau mit dem grossen Herzen, die leider seit März 2017 nicht mehr bei uns ist. Besten Dank für Alles.

Bemerkung des Autors

Geschichten über einen alten Mord gaben die Inspiration für dieses Buch. An einem heißen Sommertag, um die Wende der 40er zu den 50er Jahren, wurde die Leiche einer jungen Frau im Fluss Kemijoki entdeckt. Die Leiche, die den ganzen Winter auf dem Grund des Flusses gelegen hatte, war auf brutale Weise getötet worden. Den Anwohnern des friedlichen Ortes nach zu urteilen, wurde weder die Identität der jungen Frau noch die des Täters je geklärt.

Auch dieses Buch nimmt seinen Lauf am prächtigen Fluss Kemijoki. Aber das Buch ist ein Produkt der Fantasie, die der Autor hier zum Besten gibt. Namen, Charaktere, Unternehmen, Schauplätze und Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie des Autors oder werden auf fiktionale Weise genutzt. Jegliche Ähnlichkeiten mit Personen, egal ob tot oder lebendig, Begebenheiten und Orten sind rein zufällig, und nicht vom Autor beabsichtigt.

Danksagung

Herzlicher Dank an Frank und Robina aus Teijo, Finnland, für das Korrekturlesen und für Ihre Vorschläge das Manuskript zu verbessern.

In Salo, Finnland, Dezember 2018

Der Autor

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Prolog

Am Fluss Kemijoki ‒ Dienstag, 6. Juni 1961

DER SOMMER KAM in diesem Jahr sehr früh. Bereits Ende Mai hatte das heiße Wetter in Süd- und Mittelfinnland begonnen, und endlich hat sich die Hitze auch in den Norden geschoben. Das Wochenende war wunderbar und sonnig gewesen. In Lappland war dies eine Seltenheit, wenn man die Jahreszeit betrachtete, und am Dienstag hatte das Thermometer schon die magische +25 Grad-Marke erreicht. Der Sommer 1961 hätte nicht besser starten können. Es schien so als ob die kleinen Birkenblätter über das Wochenende auf ihre volle Größe gewachsen wären. Es war also endlich Sommer in Tervola, einem Dorf und Gemeindezentrum etwa 75 km südlich von Rovaniemi, der Hauptstadt vom finnischen Lappland.

Die Kinder nutzten das Wetter in vollen Zügen aus. So schnell ihre kleinen Füße sie tragen konnten, rannten sie nackt vom Strand zum Kemijoki-Fluss.

»Raisa! Geht nicht zu weit! Es wird sehr schnell tief. Keiner von euch beiden kann schwimmen!« rief Laura Pekkalainen ihrer Tochter zu, die gerade mit ihrer Cousine, Tiina, im Wasser Fangen spielte.

Tiinas Mutter, Helena Liimatta, schaute ihrer Tochter ein wenig besorgt hinterher, sagte aber nichts. Sie drehte sich zu Laura und schüttelte den Kopf, während sie das Badetuch, auf dem sie lag, gerade zupfte und die Sonne genoss. Auf demselben Strandtuch lag auch Oskari, Tiinas kleiner Bruder, der gerade mal ein paar Monate alt war.

Die jungen Frauen trugen Badeanzüge und cremten sich gut mit Sonnenschutz ein an den Stellen, die der Sonne ausgesetzt waren. Sie hatten viele Sachen zum Strand mitgenommen: einen Picknickkorb voll mit belegten Broten, Limonade, Kaffee in einer Thermoskanne, Zeitschriften und für die Kinder Donald Duck -Comics. Das Eis, das sie in einem Dorfladen gekauft hatten, hatten sie bereits beim Fahrradfahren verspeist.

»Das Wetter ist perfekt!« wiederholte Helena und hielt ihr Gesicht in die Sonne, die am wolkenlosen Himmel schien.

Laura stellte das Transistorradio etwas lauter, das hinter ihr im Gras lag. Paul Anka sang die letzten Töne seines Hits des Jahres:

In the Garden of Eden, a long time ago, there was a story, I´m sure you all know... Die Musik hörte langsam auf und die Nachrichten ertönten.

»Hey, lass uns Nachrichten hören, es ist schon 12 Uhr!« rief Laura.

Kurzmeldung von der finnischen Nachrichtenagentur. Heute am Dienstag, dem 6. Juni zum Mittag. – Eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung wurde vom Staatsanwalt für die Magd Irma Kaarina Vuorinen verlangt. Diese wurde wegen zwei versuchten Raubüberfällen und zwei Morden angeklagt. Der sogenannte Poikmetsä-Doppelmordfall geht heute vor das Gericht Hollola im Gerichtsbezirk Lahti. Aufgrund der erbarmungslosen Brutalität, mit der die Opfer ermordet wurden, sorgte der Fall damals für großes Aufsehen. Aus der Anklage, die dem Gericht gestern vorgelegt wurde, geht hervor, dass die angeklagte Magd Irma Vuorinen am 25. Oktober 1958 zu dem benachbarten Bauernhaus im Dorf Poikmetsä in der Gemeinde Lammi ging, um sich von dessen Eigentümern, der Witwe Aleksandra Lampinen und deren Tochter Eeva Lampinen, etwas Geld zu leihen. Als die Witwe Lampinen die Angeklagte darüber informierte, dass sie kein Geld zum Verleihen habe, schlug die Beschuldigte, Irma Vuorinen, der Witwe und ihrer Tochter – mit dem Vorsatz diese zu töten – mehrmals mit einer Axt in den Kopf. Die Entscheidung des Gerichts zu diesem Fall wird morgen erwartet.

Nachrichten aus dem Ausland – Präsident Kennedy, der jüngste Präsident der Vereinigten Staaten, und der erfahrene sowjetische Premierminister Hrustsev, schienen sich am Wochenende bei ihrem Treffen in Wien gut zu verstehen. Die Verhandlungen fanden in der Sowjet- und US-Botschaft statt. Bei dem ersten Treffen der beiden Weltmachtführer herrschte eine herzliche Atmosphäre, kommentierte eine zuverlässige Quelle. – Präsident Kennedy traf gestern den Premierminister Macmillan in London...

Laura machte das Radio leiser.

»Dieser Mord hört sich schrecklich an. Vor einem Jahr hatten wir den Fall Bodom an einem See in der Nähe von Helsinki, bei dem drei junge Camper in ihrem Zelt getötet wurden, und bis heute weiß niemand, wer es getan hat! Und wie du dich bestimmt noch erinnerst, hat ein Jahr zuvor jemand zwei Camper in Tulilahti umgebracht; die armen Mädchen, ihr Zelt und ihre Fahrräder wurden komplett im Sumpf begraben. Wer weiß, ob nicht der gleiche Wahnsinnige hinter all den Fällen steckt«, sagte Laura angewidert und drehte sich auf den Rücken.

»Da hast du vollkommen Recht. Diese Welt ist verrückt geworden. Und es ist gerade einmal fünf Jahre her, als Elli Immo in Kemi tot aufgefunden wurde – und das an ihrer Haustür!«

»Oh bitte, erinnere mich nicht daran! Kemi ist gar nicht so weit von uns entfernt. Hey, würdest du mir die Limo geben? Die Sonne scheint… vielleicht ein wenig zu doll, oder was meinst du?«

Helena reichte Laura die Flasche und stand auf.

»Würdest du bitte auf Oskari aufpassen? Ich gehe jetzt das erste Mal in diesem Jahr im Kemijoki-Fluss schwimmen.«

»Bist du dir sicher, dass das Wasser nicht zu kalt ist? Du holst dir noch eine Blasenentzündung oder sonst was weg.«

»Ach, hab dich nicht so. Das Wetter ist super und genauso wird das Wasser auch sein – erfrischend!« Helena begann auf die großen Steine zu springen, die aus dem Wasser ragten.

»Ich dachte, du wolltest schwimmen gehen und nicht nur auf den Steinen herumhüpfen! Gleich hast du keine Steine mehr und dann musst du deine Zehen eh ins eisige Wasser stecken«, lachte Laura.

Helenas Aufschrei schreckte alle auf. Die Kinder hörten auf am Wasserrand zu spielen. Laura nahm Oskari auf den Arm und stand auf, um Helena besser sehen zu können.

Plötzlich verstummte Helenas Schrei. Sie versuchte ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen, fiel jedoch mit dem Kopf voran ins Wasser. Schnell kam sie wieder an die Oberfläche, blickte hinter sich und fing wieder an zu schreien. Dann lief sie zurück zu den anderen, nahm Tiinas und Raisas Hand und zog sie aus dem Wasser hinter sich her. Laura rannte zum Wasser und sah nun, was Helena so erschreckt hatte. Ihr erster Gedanke war, dass es sich um ein Stück Treibholz handelte. Aber auf den Wellen, die Helena hinterließ, etwa zehn Meter vom Ufer entfernt, trieb ein dunkler Körper.

1

39 Jahre später ‒ Donnerstag, 27. Juli 2000, 01:24 Uhr

LAURA PEKKALAINEN ERWACHTE schreiend aus dem Schlaf. Ihr Haar war verschwitzt. Es war fast dunkel im Zimmer. Die grüne digitale Displayanzeige der Uhr neben ihrem Bett war die einzige Lichtquelle. Es war halb zwei. Die hellen Nächte der Mittsommerzeit veränderten sich nun wieder stetig in länger werdende, dunkle Nächte. Auch in Petäjäskoski, einem kleinen Dorf etwa vierzig Kilometer südlich von Rovaniemi und dem nördlichen Polarkreis, war es bereits dunkel.

Lauras Ehemann, Patrik, machte die Leselampe an. »Hattest du wieder Albträume wegen Kemijoki?« fragte er.

»Na, was denkst du? Es fühlte sich so echt an, als wenn das alles erst gestern passiert wäre«, erwiderte sie und rieb sich die Stirn.

»Die alten Zeiten lassen dir nicht mal nach all diesen Jahren Ruhe. Deine Erinnerungen sind etwas zu lebendig geworden, wegen dem, was wir gestern getan haben, nicht wahr?« Patrik sprach mit seiner ruhigen Stimme und massierte sanft Lauras Schultern. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in Richtung Toilette.

»Es ist noch nicht einmal zwei Uhr. Würdest du uns zwei Tassen heiße Schokolade machen? Ich könnte auch ein paar von den Haferkeksen vertragen. Davon liegt eine volle Packung im unteren Küchenschrank. Ohne einen Kakao ist es vollkommen unmöglich, überhaupt noch ans Schlafen zu denken«, sagte sie und ging zum Bad.

Patrik erhob sich und schlenderte in die Küche. Er stellte zwei Tassen mit Milch in die Mikrowelle. Leider hatte er keine Ahnung, wo sich der Kakao befand, aber er wollte Laura nicht damit nerven. Also begann er, einen Küchenschrank nach dem anderen zu durchwühlen. Er war so darin vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie Laura in die Küche kam.

»Ich nehme an, du suchst das hier?« sagte sie.

Patrik drehte sich um. Laura stellte die Packung Kakao auf den Tisch hinter ihm und lächelte. »Armer Patrik! Wie oft hast du schon gesehen, wo der Platz für diese Tüte ist...«

Sie saßen sich am Tisch gegenüber und tunkten die Kekse in die dampfende Schokolade. Patrik nahm einen alten, kettenlosen Anhänger in Kreuzform vom Tisch, betrachtete ihn von allen Seiten und hielt ihn dann dichter an die Küchenlampe, die über dem Tisch hing, um ihn besser sehen zu können.

»Ich glaube, das ist ein altes Konfirmationskreuz«, sagte er. »Die Kette ist wahrscheinlich schon vor Jahren verloren gegangen. Die Rückseite ist etwas uneben. Es kann sein, dass dort etwas eingraviert ist, aber jetzt kann man es gar nicht mehr erkennen.«

»Aber wie kann es sein, dass Tessu gerade da gegraben hat?« wunderte sich Laura.

»Denkst du, die alte rostige Zinndose mit Halstabletten hat irgendwas damit zu tun? Ich meine, dass es vielleicht etwas danach gerochen hat?«

Die Dose war sehr stark verwittert, aber an einer Ecke konnte man die senfgelbe Farbe und ein kleines rötliches Stückchen sehen. Diese Farben waren sehr charakteristisch für Tervaleijona, die Teer-Löwen-Pastillen, eine sehr bekannte und alte Marke in Finnland für einen wunden Hals.

»Da ist irgendein braunes, hartes, altes Zeug drin.«

»Erinnerst du dich noch daran, ob das genau der gleiche Ort war, wo die Kinder die Kleidung gefunden hatten?« fragte Patrik. Zur gleichen Zeit kam ihr Hund Tessu, der gerade aufgewacht war, in die Küche. Der Irish Setter schüttelte laut seinen Kopf und die langen Ohren flatterten. Dann setzte er sich an das Tischende und hob seine Schnauze, um den Duft vom Küchentisch riechen zu können. Laura schob die Dose etwas näher zu seiner Schnauze. Der Hund schnüffelte noch eifriger.

»Irgendwo dort an der Stelle im Romsinmutka-Wald, soweit ich mich richtig daran erinnere. Da war der sehr spitz geformte Stein, du hast ihn auch gesehen, der war schon immer dort. Tessu hat neben diesem Stein gebuddelt. Ich glaube, die Sachen haben sie etwas weiter zur Straße hin gefunden... zu der Zeit waren dort viele Büsche. Und die Kleidung war direkt dazwischen geworfen worden.«

»Ich habe eine Idee!« sagte Patrik. »Wenn wir am Montag ins Theater in Rovaniemi gehen, dann fahren wir früher los und gehen davor noch zur Polizei. Danach haben wir noch genug Zeit, um vor der Aufführung etwas zu essen. Das gibt dir vielleicht ein wenig Ruhe. Was meinst du?«

»Wir können die mit so etwas nicht stören, die lachen uns doch aus, uns zwei Senile?«

»Lass sie doch lachen wie sie wollen! Alle Leute in Tervola wissen, dass dieser Fall damals nicht gelöst werden konnte, also kann dieses Kreuz ein wenig Licht in die Sache bringen. Oder es hat nichts damit zu tun. Egal was der Fall ist, wir bringen dieses Konfirmationskreuz am Montag zur Polizei. Aber nun lass uns die heiße Schokolade trinken und ab ins Bett. Wir können morgen früh weiter darüber reden.«

DER FOLGENDE TAG. Die kleine Stadt Naantali, in der südwestlichen Ecke von Finnland, schwitzte in der sanften, beruhigenden Sonne im späten Juli. Nur wenige Wolken waren am blauen Himmel zu sehen, und die Temperatur erreichte fast 30 Grad. Man konnte keinen Windhauch spüren, und heute war einer der heißesten Tage dieses Sommers, und somit auch des neuen Millenniums, welches gerade begonnen hatte.

Ein schwarzer neuer Audi A6 2.5TDI Limousine hielt vor dem Naantali Spa Hotel. Der Fahrer drehte seinen Kopf hin und her wie eine Eule, auf der Suche nach einem geeigneten Parkplatz. Als er keinen freien Platz in der Nähe des Eingangs finden konnte, wendete er sein Auto und fuhr fast bis zum Ende der Reihe von parkenden Autos. Die Straße verengte sich um die Hälfte. Der Audi-Fahrer, ein etwa 60 Jahre alter, charmanter, grauhaariger Mann, schaute in den Rückspiegel und entfernte seinen priesterlichen Kollar. Dann tauschte er sein violettes Hemd gegen ein schwarz-graues und stieg aus dem Auto. Einen Moment verweilte er neben seinem Audi und rauchte eine schmale Zigarre. Während er rauchend dastand, schaute er sich ein paar Mal rund um. Dann ließ er den Rest der Zigarre auf den Asphalt fallen, zerdrückte ihn vorsichtig unter seinem italienischen Lederschuh und ging schnurstracks auf den Eingang vom Spa Hotel zu. Trotz seines Alters ging er voller Selbstbewusstsein und mit einwandfreier Haltung.

Zwei andere Männer, auch so um die 60 Jahre alt, saßen im Restaurant Tammikellari vom Naantali Spa Hotel und nippten an großen Bierkrügen. Sie sprachen so ruhig und leise, dass die Leute an den Tischen um sie herum kein einziges Wort ihrer Unterhaltung verstehen konnten. Die meisten Tische im Restaurant waren zu dieser Zeit des Tages leer. Die Männer hatten sich den Tisch ausgesucht, der in einer Ecke am weitesten von der Bar entfernt stand.

Einer der beiden Männer hatte einen respektvollen Bierbauch und eine Glatze. Er war weit unter 170 cm groß, was ihn noch umso fetter wirken ließ. Er trug ein weißes Shirt ohne Krawatte und eine schwarze Hose. Der Schweiß auf seiner Stirn zeigte seine Unfähigkeit, sich dem Wetter entsprechend zu kleiden. Er hatte sich bereits Taschentücher in die Achselhöhlen gesteckt, aber es schien kaum zu helfen. Sein Shirt war nass und dunkle Stellen zogen sich seitlich vom Bereich der Achseln bis zur Hälfte seines Bauches.

Der andere Mann dagegen schien eine Person zu sein, die auf Gesundheit und Aussehen achtete. Er war in jedem Aspekt harmonisch, hatte blondes, kurzes Haar und einen blonden Bart. Er trug lässige Kleidung, eine knielange Hose und ein gelbes Polo-Shirt. Typisch finnisch hatte er auch Socken und braune Sandalen an den Füßen.

»Wir haben gerade über dich geredet!« Der Mann mit dem blonden Bart stand auf, um dem Mann Hallo zu sagen, der sich gerade ihrem Tisch näherte. Der glatzköpfige Mann folgte seinem Beispiel und tat lächelnd genau das Gleiche.

»Hallo, Aarne! Der Heilige Vater ist mehr als willkommen!« sagte der Mann mit dem blonden Bart und schüttelte fest die Hände mit dem Mann, der gerade dazu kam. »Möchtest du auch so ein Bier? Wir haben schon mal angefangen, während wir auf dich gewartet haben. Bitte, setz dich, ich hol dir eins.«

Auch der Glatzköpfige stand auf und streckte seine Hand zur Begrüßung aus.

»Hallo Simo. Hi Jaakko!« grüßte der Neuankömmling die beiden Männer am Tisch. »Der Hexendoktor darf mir jetzt gerne ein Bier holen.

Ich nehme an, alkoholfreie Getränke holen wir uns später noch zum Essen?

»Ja. Wenn wir etwas zu Essen von der Karte ausgesucht haben. Ich werde schon hungrig. Seit heute Morgen spiele ich hier schon Golf, sie haben einen wunderbaren Golfplatz hier«, sagte der Mann mit dem Polo-Shirt während er sich auf den Weg machte, ihnen ein paar Bier zu holen.

»Na, wie sieht es mit unserem reisenden Vertreter aus, stark wie immer? Deinem Bauch nach zu urteilen hast du nicht gehungert...« sagte der Geistliche, der von den anderen Männern gerade Aarne genannt worden war. Er setzte sich auf einen Stuhl und tätschelte dem Glatzköpfigen den Bauch.

»Besser denn je. Der lang andauernde Aufschwung hat es uns ermöglicht, auch in die baltischen Länder und nach Russland zu expandieren«, antwortete der Glatzkopf.

»Ich hatte eine PR-Veranstaltung in Turku basierend auf meiner alten Stelle. Ich komme gerade von dort. Also war dieses Treffen geradezu perfekt für den gleichen Tag geplant.«

In dem Moment kam Simo mit einem großen Bier in der Hand zurück. Er brachte eine Kellnerin mit, damit diese die Bestellung aufnehmen konnte.

Während sie auf ihr Essen warteten, plauderten die drei Männer über dies und jenes: Neues über Frau und Kinder, wenn jemand welche hatte, neue Häuser und auch neue Autos schienen sie zu interessieren. Hin und wieder wurde ihr Lachen so laut, dass andere Besucher zu ihnen herüber schauten.

Die Herren hatten diese Treffen über die letzten Jahrzehnte etwa einmal im Jahr, wo sie zusammensaßen und bei einem Essen über alte Erinnerungen schwatzten. Zwischendurch riefen sie sich gegenseitig an und fragten, was es so neues im Leben gab. Es war offensichtlich, dass ihre Freundschaft, die bereits begonnen hatte als sie alle noch sehr jung waren, sehr innig war.

Es wurden schnell ein paar Stunden mit essen und plaudern verbracht. Dann machten sich die drei Männer auf den Weg zum Ausgang, um noch zu rauchen, bevor sich ihre Wege trennten.

Die Zigarette zerdrückend unterbrach Simo endlich die Stille: »Haben die Winde aus dem Norden etwas neues gebracht? Ich habe nichts mitbekommen außer ruhigem Wetter.«

Die anderen beiden Männer bestätigten dies. Sie verfielen in Schweigen, als zwei kleine Kinder mit ihren Eltern an ihnen vorbeigingen. Die Kinder waren begeistert, wie man ihrem lebhaften Geschwätz entnehmen konnte, denn sie waren auf dem Weg zum Mumin-Freizeitpark, der auf einer kleinen Insel in Naantalis Yachthafen lag.

»Hoffentlich nicht die Ruhe vor dem Sturm«, sagte der Vertreter Jaakko lächelnd, als die Familie bereits ein Stück weg war. Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, gingen sie alle ihrer Wege. Unternehmer Jaakko und Priester Aarne gingen zum Parkplatz, während der golfbegeisterte Simo wieder in Richtung Hotel zum Golfplatz ging.

Es war fast 16 Uhr, und die Sonne strahlte immer noch am wolkenlosen blauen Himmel.

2

AM MONTAG, DEM letzten Tag im Juli, saß Kriminalkommissarin Sonja Friberg aus dem Zentralen Kriminalpolizeiamt an ihrem Tisch im Großraumbüro. Die finnische zentralisierte Kriminalpolizei (KRP) könnte vergleichbar sein mit einer Stufe zwischen dem deutschen Bundeskriminalamt (BKA) und der deutschen Kriminalpolizei. Das Büro der Kripo in der Stadt Rovaniemi lag auf der vierten Etage in der Hallituskatu-Straße. Telefone klingelten, Kollegen schwatzten miteinander über die Trennwände hinweg, Kriminalbeamte und Streifenpolizisten gingen aus und ein.

Fribergs Telefon klingelte. Der diensthabende Offizier vom Hauptquartier der Polizei in Rovaniemi informierte sie, dass sie Besucher aus Petäjäskoski hatte. Ein älteres Paar, das eine etwas seltsame Geschichte zu erzählen hatte. Dafür wollte der Offizier das Pärchen zu Kommissarin Friberg schicken.

Das Polizeirevier und das Kripo-Büro lagen im gleichen Haus auf der Hallituskatu-Straße, aber aus organisatorischen Gründen wurden sie getrennt und nun befanden sich 200 Meter Fußweg dazwischen. Die Polizeistation wurde im Flügel 1A und die Kripo in 3B einquartiert. Normalerweise hätte Friberg die Besucher darum gebeten, selber von der Polizei zur Kriminalpolizei zu gehen, gemäß der Beschreibung, die ihnen vom Offizier gegeben würde. Aber da es sich um den Besuch eines älteren Paares handelte, versprach sie netterweise, zu ihnen zu kommen und die beiden dort zu treffen.

Nach ein paar Minuten holte Friberg Herr und Frau Pekkalainen vom Informationsschalter ab. Sie gingen zusammen zum Büro, indem sie den Weg draußen um die Ecke des Gebäudes nahmen, dann zu einen Innenhof gelangten und schließlich durch die Tür gingen, die Friberg für sie offen hielt. Während sie in der untersten Etage auf den Fahrstuhl warteten, bemerkten Herr und Frau Pekkalainen, dass sich in dem gleichen Gebäudeteil auch das Geomatik-Büro von Lappland und ein kleiner Laden vom Karttakeskus, dem nationalen Kartenzentrum, befanden.

Kurz darauf betraten sie das vierte Stockwerk und standen vor einer grauen Stahltür. Auf der Wand rechts neben der Tür, unterhalb der Klingel, befand sich ein Schild, auf dem stand:

Zentralisierte Kriminalpolizei Einheit Rovaniemi und Nationale Verkehrspolizei

Friberg öffnete das Schloss mit ihren Schlüsseln, machte die Tür auf und begleitete Herr und Frau Pekkalainen in den Raum, der extra für Interviews und Anhörungen genutzt wurde.

»Bitte, setzen Sie sich. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Naja, ich weiß nicht genau... wo ich anfangen soll«, sagte Laura Pekkalainen etwas zögerlich.

»In diesem Fall ist es das Beste, ganz von vorne anzufangen.«

»Eine Freundin und ich haben damals im frühen Sommer 1961 einen Frauenkörper im Fluss Kemijoki in Tervola gefunden. Soweit ich weiß... war sie umgebracht worden, und wer das getan hat, das haben weder ich noch andere je erfahren. Also nehme ich an, dass niemand bisher herausgefunden hat, wie der Täter oder die getötete Frau hießen. Ich meine... soweit ich das weiß.«

Kommissarin Sonja Fribergs Interesse an dem alten Fall war sofort geweckt. Sie beugte sich weiter vor zu dem sitzenden Paar und fragte:

»Und...?«

»Im Sommer davor, das war 1960, etwa um die Mittsommerzeit, waren unsere ältesten Kinder und ihre Freunde im Wald Romsinmutka und fanden dort auch ein paar Frauensachen, also auch Unterwäsche, welche einfach so zwischen die Weidenbüsche und auf die Birkenäste geworfen worden waren. Der Ort, ich meine, wo sie die Kleidung gefunden hatten, ist nur ein paar Kilometer flussaufwärts von dort entfernt, wo der tote Körper lag.«

»Ok, interessant. Aber diese Dinge sind schon vor fast einem halben Jahrhundert passiert, also ich denke nicht, dass wir–« begann Friberg und wurde sogleich von Laura Pekkalainen unterbrochen:

»Letzten Freitag habe ich im Wald Romsinmutka zusammen mit Patrik ein paar Heidelbeeren gepflückt, irgendwo in der Nähe, wo die Sachen damals gefunden wurden. Unser Hund, Tessu, buddelte dort eine rostige alte Tervaleijona-Zinnbox aus. Sie war schon sehr verrostet, aber an einer Ecke konnten wir noch ein paar Farben erkennen und wussten sofort, dass es Tervaleijona-Teerbonbons waren. Die Zinnbox hatte etwas hartes innen drin... es sah ein wenig aus wie festes Öl. Wir haben die Box auch mit hierher gebracht.«

»Okay...« sagte Sonja Friberg und nahm die Dose in ihre Hände. Sie hob sie etwas näher zum Gesicht. War es nur Einbildung... oder konnte sie wirklich einen schwachen Geruch von Teer wahrnehmen?

»Ich wollte nachsehen, was Tessu da ausgrub, und bin hinüber zu dem Hund gegangen«, Patrik Pekkalainen öffnete zum ersten Mal den Mund, »und da sah ich etwas Schimmerndes im Sand und Heidekraut, das Tessu dort angehäuft hatte.«

»Und das war...«

»Eine Halskette, ein Konfirmationskreuz... in schlechtem Zustand. Irgendetwas war auf der Rückseite eingraviert, aber wir konnten nicht herausfinden was, nicht einmal mit einer Lupe«, sagte Patrik Pekkalainen, nahm das Kreuz aus seiner Tasche und legte es direkt vor Kommissarin Friberg auf den Tisch.

»Das wird immer interessanter. Würden sie bitte einen Moment warten?« sagte Friberg, ging zum Korridor und betrat einen Raum, auf dessen Tür stand: Oberkommissar M. Edelmann.

»Komm mal her, Markus. Hier ist ein älteres Paar, das eine recht interessante Geschichte zu erzählen hat«, sagte Friberg von der Tür aus.

Am Tisch saß ein großer Mann, Mitte 50, dessen blonde Haare kurzgeschnitten waren, mit einem Scheitel auf der linken Seite. Er trug dunkle Hosen und Hemd ohne Krawatte. Friberg dachte, dass Oberkommissar Edelmann von einem gewissen Grad wie Frank Drebin, alias Leslie Nielsen, aus dem Film Die nackte Kanone aussah.

Edelmann schaute von seinen Papieren auf. Er lächelte, legte seine Lesebrille auf den Tisch und sah zu Friberg. »Ja, Fräulein Sonja. Einen kleinen Moment.« Der Zweisprachige Edelmann betonte „Fräulein Sonja“ dabei extra auf Deutsch.

Friberg drehte sich um und ging zurück zum Vernehmungsraum. Sie versuchte nichts zu sagen. Der alte Fuchs wirft wieder seine deutschen Witze... Fräulein Sonja! dachte sie. Er nennt mich nur Fräulein, wenn er gute Laune hat. Sonst nennt er mich nur Friberg...

Sie betrat den Raum und Oberkommissar Edelmann folgte ihr langsam.

»Markus Edelmann. Guten Tag!« Edelmann schüttelte Hände mit Herr und Frau Pekkalainen und setzte sich auf einen Stuhl, den Friberg ihm hingeschoben hatte.

Dann begann Laura Pekkalainen das Gleiche zu wiederholen, was sie gerade Kommissarin Friberg berichtet hatte.

3

ZWEI WOCHEN SPÄTER, Mitte August, rief Sonja Friberg Frau Pekkalainen an und informierte sie, dass die Ermittler von der Kripo planten, nach Tervola zu fahren. Sie wollte sich erkundigen, ob Herr und Frau Pekkalainen dabei sein könnten. Wenn es für sie in Ordnung wäre, würde die Polizei sie in Petäjäskoski abholen. Von Tervola würden die Offiziere dann später ihren Weg noch 50 Kilometer weiter südlich nach der Stadt Kemi fortsetzen, aber das Paar würde natürlich sicher von einem Streifenwagen nach Hause gebracht werden.

Eine halbe Stunde später parkte Edelmann seinen Ford Mondeo in Mäntykuja, der Straße, in der das ältere Paar wohnte. Laura Pekkalainens Gesicht war kurz hinter dem Wohnzimmerfenster zu sehen, und nicht mehr als zwei Minuten später saß das Ehepaar bereits auf den bequemen Rücksitzen des Autos. Es waren immer noch mehr als 20 Grad draußen und keine Hoffnung auf kühlenden Wind. In Edelmanns Autoradio wurde gerade Gewitter für das südliche Lappland vorhergesagt.

Schon bald fanden Friberg und Edelmann es angenehm, mit dem Ehepaar Pekkalainen zu plaudern. Als sie auf der Hauptstraße 4 an dem kleinen Dorf Peura vorbei kamen, wollte Edelmann noch etwas Benzin nachfüllen. Also fuhren sie zur Esso Tankstelle. Nachdem Edelmann getankt hatte, klopfte er an die Rückscheibe seines Autos. Patrik Pekkalainen öffnete das Fenster.

»Hatten Sie schon die Gelegenheit heute Nachmittag zuhause Kaffee zu trinken? Sie servieren hier sehr leckere Pfannkuchen; sie sind sehr beliebt. Und außerdem komme ich hier jedes Mal vorbei, wenn ich in der Nähe bin«, sagte Edelmann.

Herr und Frau Pekkalainen schauten sich gegenseitig an. Sie hatten schon eine Stunde bevor die Ermittler sie abholten Kaffee getrunken, aber keiner von ihnen wollte es laut sagen.

»Liebend gerne würden wir einen Kaffee trinken«, sagte Laura freundlich, als sie bemerkte, welche Antwort der Oberkommissar sich wirklich wünschte.

»Und besonders mit Pfannkuchen«, sagte Patrik lächelnd.

Sie betraten das Café in der Tankstelle. Der Eigentümer versprach, ihnen Kaffee und Pfannkuchen zu bringen, sodass das Paar Pekkalainen sich an den gleichen Tisch mit Friberg und Edelmann setzen konnte. Die zwei Streifenpolizisten in Uniform setzten sich an einen anderen Tisch etwas weiter entfernt von ihnen, denn Edelmann wollte keine Aufmerksamkeit erregen.

Fünfzehn Minuten später gingen sie zur Tür hinaus und Edelmann rief schnell noch ein paar Grüße in die Küche, dass die Pfannkuchen mal wieder unglaublich gut und groß genug waren. »Ich bin froh, dass ihr sie mochtet, kommt bald wieder!« hörten sie den Eigentümer antworten.

Nachdem sie am Staudamm Ossauskoski und dem dazugehörigen Wasserkraftwerk vorbeigefahren waren und den Kemijoki Fluss überquert hatten, fuhren sie weiter über die Landstraße 926 nach Süden. Sie erreichten den kleinen Wald Romsinmutka etwa fünfzehn Minuten später. Sie waren fast auf halbem Weg vom Staudamm Ossauskoski zum Dorf von Tervola. Edelmanns Mondeo und der Streifenwagen wurden am Straßenrand geparkt, da sie in der Umgebung keine Kreuzung oder Parkplatz finden konnten.

Die relative Luftfeuchtigkeit betrug fast 100%. Als sie aus dem klimatisierten Auto stiegen, bemerkten sie sofort, wie kochend heiß das Wetter war – es war, als wenn man gegen eine unsichtbare dicke Wand läuft.

Sie brauchten nur fünf Minuten, um die 300 Meter von der Straße in Richtung auf das Flussufer zuzugehen. Patrik Pekkalainen führte sie zu dem spitzgeformten Stein, der sehr erstaunlich der Form von stehenden Hundeohren ähnelte. Auf dem Weg kreuzten sie die alte Landstraße zwischen Kemi und Rovaniemi, die nun schon komplett mit Gras, Moos, Heidekraut und Büschen bedeckt und somit fast verborgen war. Der enge Schotterweg wurde 1962 von einem neuen Weg mit Ölkiesbelag abgelöst, der an einer anderen Stelle in einer besseren Ausrichtung gebaut wurde. Die neue Landstrasse 926, auf der die Ermittler und die Familie Pekkalainen gerade entlang gingen, wurde in den Achtzigern endlich mit richtigem Asphalt bedeckt. Der kleine Wald zwischen der Straße und dem Fluss verschluckte den Straßenlärm von vorbeifahrenden Autos überraschend gut.

Markus Edelmann sah sich um. »Und es war hier, wo Ihr Hund... Tessu, war der Name, wenn ich mich nicht irre... die Halskette ausgegraben hat? « Neben dem Stein erkannte er einen kleinen Haufen Erde, neben dem man einige gebrochene Wurzeln und Reisig sehen konnte. Er beugte sich etwas weiter nach vorne, um noch besser nachschauen zu können.

»Ja genau, es war dort«, sagte Laura und zeigte auf den Erdhaufen. »Die Halskette war zusammen mit der Dose in dem kleinen Haufen.«

Sonja Friberg umrundete indessen den spitzgeformten Stein. »Eine sehr merkwürdige Form für einen Stein, oder?« ergriff sie das Wort.

»Sie haben Recht. Der ist schon seit einer Ewigkeit hier, einfach zu erkennen und er sieht definitiv sehr komisch aus«, antwortete Laura und berührte den Stein mit ihrer Hand.

Tatsächlich war der Stein sogar aus zwei verschiedenen Steinen geformt, welche beide je eine scharfe Spitze hatten. Und zusammen sahen sie wie ein Hundekopf mit aufrecht stehenden Ohren aus, besonders aus Richtung der Straße. Der Brocken war ungefähr eineinhalb Meter lang und bis zur Spitze der zwei Hundeohren etwa einen halben Meter hoch.

Friberg dachte, dass wenn jemand hier irgendetwas Illegales getan hätte, dann wäre dieser Platz ein prima, vielleicht sogar der einzige Ort gewesen, um sich hinter dem Stein vor neugierigen Blicken zu schützen...

»Unsere Männer werden morgen herkommen, um sich ein wenig umzusehen. Sie werden auch einen Metalldetektor dabei haben. Mal schauen, ob wir hier noch irgendetwas anderes finden können«, sagte Kommissarin Friberg.

Kieferbäume und Weidenbüsche wuchsen hier und da um den Stein herum. Geografisch betrachtet war der Untergrund hier recht eben und es gab genug Unterholz überall. Sie konnten auch weiche Blaubeeren auf dem Boden entdecken. Sonja Friberg pflückte ein paar ab und nahm sie in den Mund. Dann drehte sie sich zu Patrik Pekkalainen und merkte an: »Das Gelände hier war doch sicher etwas offener in den Sechzigern, weniger Bäume und Büsche?«

»Ich glaube, es gab Büsche, aber sie waren kleiner... Um den Stein herum waren noch keine Bäume, aber der Wald zwischen der Straße und dem Stein war zu der Zeit schon sehr dicht. Also ich meine den alten Schotterweg, die jetzige Landstraße hat da noch nicht existiert.«

»Und hier haben Ihre Kinder die Frauensachen gefunden?« fragte Friberg.

»Nein, nein, nicht ganz genau hier. Sie haben sie dort drüben gefunden, 40 bis 50 Meter weiter zur Straße hin. Laura, warum zeigst du ihnen nicht die Stelle?« sagte Patrik Pekkalainen und deutete mit seiner Hand in die richtige Richtung.

»Die Kinder kamen zu mir und haben mir von der Wäsche erzählt. Sie hatten sie bereits angefasst, vielleicht auch ein wenig damit gespielt und umher geworfen. Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich nehme an, dass die Sachen nicht versteckt oder bedeckt waren, als sie gefunden wurden«, erklärte Laura Pekkalainen. Sie führte die Ermittler etwa 50 Meter weiter zur Straße hin und dann gingen sie ungefähr 100 Meter nach Süden.

»Ich bin mir nicht 100% sicher, aber es war in etwa hier, wo die Sachen gefunden wurden. Damals konnte man von hier aus durch die Bäume noch ein wenig von der alten hölzernen Tanzbühne sehen. Jedenfalls ging ich dann zu Tarvainens Laden und rief die Polizei an. Sie suchten den Platz ab und nahmen die Kleidung mit. Ich vermute, dass es vielleicht... in irgendwelchen Karten oder Berichten von der Polizei verzeichnet wurde... Ich weiß es nicht«, nahm Laura Pekkalainen in Betracht.

Edelmann drehte seinen Kopf und versuchte klare Orientierungspunkte in der Landschaft auszumachen. Der Wald sah in alle Richtungen gleich aus. Er sah zu Friberg. Sie schaute auf eine Straßenkarte, die sie aus dem Handschuhfach des Autos genommen hatte.

»Das bedeutet leider«, sagte er, »dass die Halskette und die Kleidung, und vielleicht sogar der Leichnam der Frau, nichts miteinander zu tun haben. Sie scheinen alle auf eine unterschiedliche Person hinzuweisen.«

Friberg nickte leicht und wandte sich an das Paar Pekkalainen. Sie konnte die Enttäuschung in ihren Gesichtern sehen. »Sie sagten etwas über einen... Tanz... platz?« fragte sie.

»Ja, dort war eine sehr kleine Holzplattform, auf der man draußen tanzen konnte. Und dahinter stand eine sogar noch kleinere Bühne. Die Plattform hatte keine Wände oder Dach, es war einfach nur ein viereckiger Boden aus Holz zum Tanzen. Sie befand sich dort drüben, etwa 200 Meter südlich. Da war eine kleine Kreuzung an der alten Straße, von der aus man zum Tanzplatz kam. Irgendwann in den fünfziger Jahren wurde der Platz geschlossen und in den Siebzigern hatte man die verrottete Konstruktion dann abgerissen. An der gleichen Stelle wurde ein Sommerhaus erbaut. Man kann es von hier aus sehr schlecht sehen.« Patrik begann in die Richtung zu laufen und bedeutete den anderen ihm zu folgen.

Anstatt Patrik hinterher zu laufen, ging Oberkommissar Edelmann zurück zum Abhang, der den Fluss begrenzte. Die Frauen folgten ihm und Patrik sprintete ihnen hinterher, um sie einzuholen. Nach 250 Metern Fußweg erreichten sie den Abhang. Sie sahen einen schmalen Weg, der sich entlang des Flussbettes zog. Der Fluss schlängelte sich weit unter ihren Füßen durch die Landschaft. Von oben nach unten bis hin zur Wasserkante waren es mindestens zehn Meter. Einige Jahre zuvor war ein Teil des Hanges eingestürzt, sodass nun auch Bäume direkt am Wasser wuchsen, was die Stelle etwas komisch aussehen ließ.

Der Oberkommissar schaute zum Fluss herunter. »Und irgendwo hier wurde das Opfer hingeschleppt und... ermordet, indem sie im Fluss ertränkt wurde.«

Patrik Pekkalainen hielt neben ihm an und spähte auch zum Wasser. »Das kann man sich gut vorstellen. Als Jukka und Hanna, unsere ältesten Kinder, die Kleidung gefunden hatten... Ich meine, der Körper der Frau kam den nächsten Sommer zutage und das dann ein paar Kilometer stromabwärts von hier.«

»Tatsächlich könnte man sich das gut vorstellen, wenn die Sachen und die Leiche irgendwas miteinander zu tun hätten. Dann lasst uns schnell zu der Stelle gehen, an der man die Frau gefunden hat. Danach fahre ich mit Kommissarin Friberg weiter nach Kemi. Also lasst uns jetzt zum Auto gehen. Die Streife wird euch dann zurück nach Petäjäskoski bringen, wenn sie nach Rovaniemi fahren«, sagte Edelmann und wandte sich an die zwei uniformierten Polizisten.

Als sie gerade in den Mondeo einsteigen wollten, sahen sie eine Frau, die auf der Grabenseite am parkenden Auto vorbei gehen wollte. Sie hielt jedoch da an, wo Frau Pekkalainen am Auto stand, und starrte ihr direkt in die Augen. »Bist du nicht... Laura Pekkalainen, oder irre ich mich?«

»Ja, genau die bin ich. Und du bist Fanny Rantala, stimmt’s?«

Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände und ein Lächeln zog sich über ihre Gesichter. Als Teenager waren sie gute Freunde, verbrachten viel Zeit miteinander und wurden sogar zur gleichen Zeit in der Kirche von Tervola konfirmiert.

»Lange Zeit ist es her... wie lange? Mindestens 30, nein, mehr ... 40 Jahre? Aber wie kommt es, dass du hier mit der Polizei stehst?« Fanny hatte bereits die beiden uniformierten Polizisten bemerkt.

»Wir haben nur ein wenig alte... du weißt schon, die Sache mit der Kleidung. Du erinnerst dich bestimmt noch, als unser Jukka und Hanna die Frauensachen in den Büschen da drüben gefunden hatten. Sie gehörten vielleicht dieser armen Frau, die Helena und ich im folgenden Sommer im Fluss treibend gefunden haben. Sie sagen, dass der Fall... nie gelöst wurde.«

Oberkommissar Edelmann legte seine Hand auf Laura Pekkalainens Schulter und unterbrach die beiden Frauen. »Kein Grund zur Sorge, meine lieben Damen. Die Polizei macht solche Routineuntersuchungen öfter mal, um sicher zu gehen. Aber wie ich bereits erwähnte, dies hier ist reine Routine, nicht mehr. Keine weiteren Aktionen sind erforderlich. Mein Name ist übrigens Markus Edelmann.«

Er reichte Fanny Rantala die Hand zur Begrüßung und drehte sich dann schnell zu Laura Pekkalainen um. Er blickte ihr starr in die Augen. Laura verstand den wortlosen Hinweis: Der Oberkommissar wollte, dass sie umgehend das Thema änderte.

»Und wie geht es den Kindern? Tuomo und Elisa, richtig?« fragte Laura ohne zu zögern.

»Tuomo hat seinen Militärdienst bei der Luftwaffe in Rovaniemi absolviert und arbeitet nun als Pilot bei Finnair. Elisa ist Lehrerin und lebt mit ihrer Familie in Kemi. Aufgrund seiner Arbeit musste Tuomo natürlich in die Hauptstadt ziehen. Und mein armer Benjamin hatte im Sommer 1985 einen Schlaganfall. Er starb noch am Frühstückstisch.«

»Oh das tut mir Leid mit Benjamin. Ich hatte die Traueranzeige in Lapin Kansa gesehen und eigentlich vorgehabt dich anzurufen... aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Aber Raisa, unsere Jüngste, ist jetzt Krankenschwester und wohnt in Sodankylä. Jukka ist Elektriker und lebt auf der Westseite von Tervola und dem Fluss. Er arbeitet im hiesigen Kraftwerk. Und unsere Hanna ist schon vor vielen Jahren nach Rovaniemi gezogen, um dort bei der Kemijoki GmbH zu arbeiten.«

Edelmann öffnete die Hintertür seines Mondeos. »Ich denke, wir sollten uns wieder auf den Weg machen, in zwei Stunden müssen wir bereits in Kemi sein.«

Die beiden Damen sagten Tschüss und Laura setzte sich auf die Rückbank neben ihren Ehemann. Edelmann lenkte den Ford wieder zurück auf die Straße in Richtung Tervola. Nur noch ein kurzer Stopp am Flussufer des Kemijoki-Flusses ein paar Kilometer südlich... Er dachte darüber nach, wie schwierig es sein würde, dort direkt bis zum Wasser zu kommen. Der Wasserstand war beachtlich angestiegen, seit man den Damm Taivalkoski und das Wasserkraftwerk gebaut hatte. Diese waren etwa 25 Kilometer nördlich von der am Meer gelegenen Stadt Kemi und stromaufwärts von der Mündung des Kemijoki-Flusses errichtet worden. Das passierte irgendwann Mitte der Siebziger Jahre. Besonders im Frühjahr, wenn der ganze Schnee schmolz, stieg das Wasser oft so rasant an, dass es zu Überschwemmungen kam. Das Unternehmen Kemijoki GmbH, örtlich bekannt als „die Wasserfirma“, war über viele Winter dazu gezwungen, riesige Felsbrocken an das Flussufer zu transportieren, um die Umgebung vor Überflutungen zu schützen.

Der Oberkomissar ärgerte sich, dass Fanny Rantala nun die Chance hatte, mit Frau Pekkalainen über den alten Fall zu sprechen. Aber daran war jetzt leider nichts mehr zu ändern! Es war sein Fehler, dafür gibt es keine Entschuldigung! Er hätte die Situation von Anfang an erkennen und das Thema sofort mit einem Wechsel beenden müssen. Gerüchte über diesen Fall konnten sie jetzt wirklich nicht gebrauchen! Jedenfalls war er sich sicher, dass die Akten nach diesen Untersuchungen zum zweiten Mal geschlossen werden konnten – und dieses Mal für immer.

4

KLAUS ERIK VANHANEN, ein 67 Jahre alter Rentner und Junggeselle, schloss die Tür hinter sich und hörte das Klicken der Verriegelung. Er steckte die Schlüssel in seine Tasche und ging durch seinen kleinen Garten von der Garage zum Haus. Er war sehr zufrieden damit, dass er vor vielen Jahren eine besonders lange Garage gebaut hatte. Die Nachbarn hatten sich zwar darüber gewundert, aber er hatte seine Pläne immer damit gerechtfertigt, dass er sein Auto mitsamt Anhänger in die Garage fahren wollte, falls es nötig wäre. Manchmal, so wie zum Beispiel heute, stellte er seinen Anhänger im hinteren Ende der Garage ab. Aber die meiste Zeit über stand der Hänger mit Abdeckhaube neben der Garage im Schatten, außerhalb der Reichweite der Sonnenstrahlen.

Klaus Vanhanen ging langsam auf die Haustür zur. Sein Haus befand sich in der Sulhastie Straße, dem ältesten Wohngebiet im kleinen Dorf Pölhö. Der Ort gehörte zu Keminmaa, einer ländlichen Gemeinde im Norden von Kemi. Klaus schmunzelte vor sich hin während er seinen Gang fortsetzte. Erinnerungen an die guten alten Zeiten verbesserten seine Stimmung doch jedes Mal. Auf eigenartige Weise war er wieder einmal glücklich. Er hielt sich für etwas Besseres als alle anderen, schon sein ganzes Leben lang. In der Schule sagte man ihm nach, dass er von egozentrischer und sogar bösartiger Natur war. »Ein Junge aus der Hölle«, sagte der Direktor einmal zu ihm.

Die Schule hatte ihn nie interessiert. Mädchen ärgern war das Einzige, was ihm die Stärke gab, morgens aufzustehen und sich zum Unterricht zu schleifen. Die Mädchen und sogar die Jungs beschimpften ihn als kleines Arschloch. Glücklicherweise gab es dort Dinge, die ihm Chancen boten, die er wahrnehmen musste. Er liebte es, sich unter den Plumpsklos zu verstecken und wartete dort auf die Mädchen um ihnen beim Pinkeln zuzuschauen. Die kamen normalerweise zu zweit. Doppelter Spaß! Es war spannend zu raten, welche sich wohl als erste über die Luke setzen würde... Das Beschatten bereitete ihm unwiderstehliches Vergnügen. So wie die Mädchen kicherten, wussten sie vielleicht schon, dass man ihnen zuschaut - und sie mochten es. Später im Unterricht bereitete es ihm Freude, von der Rückbank aus genau dieselben Mädchen zu beobachten. Er hatte wirklich eine Schwäche dafür. Manchmal schauten die Mädchen auch unerwartet herunter zur Luke und er wurde fast erwischt. Aber sogar in solchen Situationen schaffte er es, die Schuld auf Andere zu schieben. Es gab immer einen Waschlappen in der Klasse, der sich nicht verteidigen konnte. Und bevor das arme Opfer überhaupt den Mund aufmachen konnte, wurde er vom Lehrer schon wegen kurzem Schweigen für schuldig befunden und an den Ohren zum Direktor befördert. Der benötigte Dumme ist immer zur Hand; genau das war Klaus‘ Motto.

Seine Eltern zogen am Ende seiner Schulzeit von Haukipudas – einem Dorf in der Nähe von der Stadt Oulu, etwa 90 km südlich von Kemi – nach Keminmaa. Und das zum perfekten Zeitpunkt: Klaus hatte sich bereits mehr Feinde in Haukipudas gemacht, als ihm lieb war.

»Hey Klaus!«

Klaus Vanhanen schreckte zuckend von seinen geliebten Gedanken auf, als seine Nachbarin, eine 85 Jahre alte Dame namens Elisabet Tarvonen, ihn von der anderen Seite des Lattenzaunes begrüßte, der ihre Grundstücke trennte.

»Hallo Elisabet!« er zwang sich ihr zu antworten. »Schönes Wetter, nicht wahr?«

»Da stimme ich dir zu. Lass uns nur hoffen, dass es noch so bleibt... ein paar Wolken ziehen bereits auf. Hör mal, Klaus. Könnte ich dir morgen Abend meine Ersatzschlüssel vorbei bringen, bevor ich zu meiner Schwester nach Laivakangas fahre? Ich meine, falls du meine Miisu nachmittags füttern und sie mal rauslassen könntest? Du weißt ja, Klaus, du bist der Einzige hier, dem ich vertraue.«

»Aber sicher. Bring mir einfach die Schlüssel gegen Abend«, sagte Vanhanen und lächelte. Dann stieg er die Stufen hinauf und öffnete die Tür zu seinem Haus. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, begann er zu lachen. Dann nahm er die Garagenschlüssel aus seiner Tasche und verstaute sie wieder im alten, sicheren Versteck.

5

NACHDEM DIE KRIMINALERMITTLER und das Ehepaar Pekkalainen von Romsinmutka noch ein paar Kilometer nach Süden gefahren waren, bat Patrik Pekkalainen Oberkomissar Edelmann anzuhalten. Glücklicherweise gab es eine kleine Einfahrt zu einem Feld in der Nähe, sodass die Polizisten die Autos etwas sicherer parken konnten. Der unbenutzte Acker war etwa 200 Meter lang und erreichte am hinteren Ende bereits den Abhang zum Fluss. Der Hang war an dieser Stelle nicht ganz so hoch und man konnte sehen, dass dieser Teil Jahrzehnte lang von den Einwohnern genutzt worden war, um zum Wasser zu gelangen. Büsche und Wiesen-Kerbel wuchsen hier und da. Das Gras hatte keinen Schaden von der Hitze davongetragen, es war sehr hoch gewachsen. Eine Stockente flog plötzlich weg, als Friberg fast auf sie getreten wäre. Die Kommissarin erschrak sich so sehr, dass sie fast auf ihre Nase gefallen wäre. Zu ihrem Glück kam Patrik Pekkalainen sofort, um sie am Arm festzuhalten.

»Vielen Dank!« sagte Kommissarin Friberg verlegen und rückte ihre Sachen gerade.

Kurz darauf standen sie alle an der Kante zum Wasser. Es war relativ schwierig hier normal zu laufen, denn anstatt von Sand befanden sich hier nun faustgroße Steine.

»Es war ungefähr hier«, sagte Laura Pekkalainen. »Hier lagen wir damals Anfang Juni 1961 und haben uns gesonnt. Ich, Helena und die Kinder. Aber anstelle der Steine war hier zum größten Teil Lehm. Dennoch gab es genügend Gras, wo man sich mit den Badetüchern hinlegen konnte. In den Sechzigern konnte man noch ein paar höhere Steine aus dem Wasser ragen sehen. Aber nachdem das Wasserwerk gebaut worden und der Wasserpegel angestiegen war, wurden sie alle bedeckt.«

Edelmann zeigte auf den Fluss. »Ihre Freundin wollte... von hier anfangen zu schwimmen, bevor sie den treibenden Körper entdeckt hatte, richtig?«

»Genau. Sie kam nicht weit. Sprang immer noch auf den Steinen herum, und als sie sah, was sich dort befand, bekam sie so große Angst, dass sie ins Wasser gefallen ist. Dann rannten wir alle so schnell es ging aus dem Wasser. Hastig nahmen wir unsere Sachen und fuhren zu Tarvainens Laden, um die Polizei anzurufen. Keiner von uns wollte hier alleine bleiben.«

»Das kann man gut nachvollziehen. Es war bestimmt ein Schock für Sie.« Edelmann blickte über den Fluss. Der Kemijoki war beeindruckend breit und auch der längste Fluss in Finnland. Edelmann erinnerte sich daran, einmal in einem Readers Digest Touristenführer gelesen zu haben, dass sich der Fluss besonders in Tervola von seiner schönsten Seite zeigt. Und das stimmte auf jeden Fall.

Der Oberkommissar machte sich auf den Weg zur Straße. »Gut. Ich danke Ihnen! Ich denke, wir brauchen uns hier nicht länger aufhalten. Die Streife wird Sie nach Hause bringen und wir werden weiter nach Kemi fahren. Es kann sein, dass wir in diesem Fall noch etwas tiefer graben müssen um herauszufinden, was man in den Sechzigern dazu gesagt hat.«

Während sie zu den Autos gingen, erkundigte sich Patrik Pekkalainen bei Friberg über die Ermittlungen bezüglich der Halskette.

»Wir haben sie an die Techniker weiter gereicht. Dort wird sie gereinigt und untersucht, aber bis jetzt haben wir noch kein Resultat. Durch die Sommerurlaube brauchen die Dinge hier immer länger als normal. Man muss sehr vorsichtig mit solch alten Gegenständen sein. Während der Reinigung können sie ganz schnell kaputt gehen. Die Techniker haben gesagt, dass sich auf der silbernen Oberfläche glücklicherweise eine dicke schützende Schicht Oxid gebildet hat. Wir haben keine großen Hoffnungen, aber wir werden sehen. Übrigens, ich hätte noch eine Frage. Wie weit von hier entfernt haben Sie damals gelebt?«

»Ungefähr vier Kilometer nördlich von hier, in Richtung Rovaniemi.«

»Und berichtigen Sie mich, falls ich falsch liege. Aber die Sachen wurden ein paar Tage oder eine Woche vor Mittsommer gefunden, was 1960 der 24. Juni war. Haben Sie davor irgendetwas Ungewöhnliches gehört? Zum Beispiel in der vorigen Woche oder vielleicht sogar noch früher im Juni? Ich habe mich etwas in unseren Archiven erkundigt und es stellte sich heraus, dass der Pfingstsonntag Anfang Juni außerordentlich warm war.«

»Leider haben wir nichts gesehen oder gehört. Die Polizei hat damals das gleiche gefragt, aber ich nehme an, dass wir einfach zu weit weg gewohnt haben. Das Wetter war toll, daran erinnere ich mich noch. Und während der hellen Sommernächte waren wir immer bis spät in die Nacht draußen. Ich würde sagen, Sie sollten mal bei den näheren Häusern um Romsinmutka nachfragen. In beide Richtungen, nach Norden und Süden der Straße entlang. Das nächste Haus nach Norden war Kuusinen, aber es steht leer seit Tilda und Edvard gestorben sind. Die Kinder zogen weg. Richtung Kemi war das nächste Haus Mattila. Ich nehme an, die alte Reetta lebt immer noch irgendwo in Tervola. Ihr Mann starb schon vor langer Zeit, noch bevor wir nach Petäjäskoski gezogen sind. Das war in den Sechzigern.«

Friberg bedankte sich für die Informationen und sie gaben sich zum Abschied die Hand. Dann entfernten sich die Autos in entgegengesetzte Richtung voneinander.

DER HIMMEL BEGANN im Süden immer dunkler zu werden und zeigte die mögliche Ankunft eines Sturmes an. Oberkommissar Edelmann und Kommissarin Friberg hatten um 17 Uhr noch eine Versammlung in der Polizeistation von Kemi. Andere Teilnehmer kamen aus Nordschweden und Norwegen. Hauptthema war die polizeiliche Zusammenarbeit in der Region Nordkalotte und die Kontrolle von Schmugglern, die versuchten Drogen über die Grenze zu bringen. Das Projekt wurde teilweise durch die EU finanziert.

Vor der Sitzung glaubte Friberg noch genügend Zeit zu haben, um zu den Archiven zu gehen und sich ein paar Kopien von den originalen Autopsieberichten zu machen, die in den frühen Sechzigern geschrieben worden waren. Beide wussten, dass dieses Treffen sehr lange dauern würde und somit hatten sie sich schon vorher Motelzimmer in Tervola gemietet. Am nächsten Morgen würden sie dann wieder zurück in den Wald Romsinmutka fahren. Dieses Mal zusammen mit Kriminalobermeister (KOM) Jouni Autti und Polizeimeisteranwärter (PM) Antti Latikainen, beide aus Edelmanns Team. Bei ihrer Anreise aus Rovaniemi würden sie einen Metalldetektor mitbringen.

Edelmann war während der Fahrt nach Kemi sehr unruhig und unzufrieden. Als sie den Taivalkoski Damm erreicht hatten, begann heftiger Regen und über Kemi zuckten die Blitze. Er wäre noch missgelaunter und besorgter gewesen, wenn er gewusst hätte, dass Fanny Rantalas Tochter, Elisa, mit ihrer Familie aus Kemi heute Abend ihre Mutter besuchen würde. Elisas Gatte arbeitete als Journalist für die Tageszeitung Pohjolan Sanomat.

UM NEUN UHR abends waren alle Zeichen eines Gewitters verschwunden. Die Sonne schien wieder vom fast klaren Himmel und die Temperatur stieg auf über 20 Grad. Sonja Friberg und Markus Edelmann erreichten gerade das Tervakuksa Motel, das sich auf der westlichen Seite des Kemijoki-Flusses befand.

Friberg setzte sich an einen Tisch in einer Ecke des Motelrestaurants, während Edelmann ihnen erst zwei große Bier holte und sich dann zu ihr an den Tisch setzte.

»Wir haben hier ein paar Zusammenfassungen der Polizeiermittlungen aus den Sechzigern. Die Entdeckung des Körpers war genauso grausam wie uns Frau Pekkalainen bereits beschrieben hat«, merkte Friberg an. »Da damals niemand in Tervola als vermisst gemeldet wurde, ging die Polizei davon aus, dass die arme tote Frau von etwas weiter weg stammte. Vielleicht kam sie aus Lappland oder sogar aus einem anderen Gebiet in Finnland. Sie gingen alle Listen von vermissten Frauen durch, die bis zu etwa einem Jahr vor Auffinden des Körpers als vermisst gemeldet wurden. Die Zeitspanne wurde wegen der Frauensachen erweitert, die ein Jahr zuvor gefunden worden waren. Aber es hatte sich nichts herausgestellt. Ein Name nach dem anderen wurde von der Liste gestrichen.«

Bevor sie weiter sprach, kostete Friberg das Lapin Kulta Bier, das Gold von Lappland. Es war gekühlt und schmeckte ausgezeichnet. »Etwas Gutes hatte die ganze Suche jedenfalls. Eine Menge der vermissten Frauen wurden dank der Ermittlungen lebendig gefunden. Die Polizei überprüfte dutzende Adressen von Briefen, die über die Post zurück zum Absender gegangen waren. Es gab auch ein paar polizeiliche Bekanntmachungen zu den vermissten Frauen in den lokalen Nachrichten: sie forderten Leute auf, die Polizei zu benachrichtigen, falls die eigene Schwester, eine Freundin, Schul- oder Brieffreundin schon seit einiger Zeit nicht mehr erreicht werden konnte. Trotz aller Bemühungen gab es keinen einzigen Hinweis auf die Identität der Frau im Kemijoki-Fluss.«

Edelmann stellte sein Glas auf den Tisch. »Aaaaaahhh! Das ist gut! Okay, wie sieht es mit dem Autopsiebericht aus?«

Friberg schaute auf die restlichen Blätter in ihrer Hand. »Vad fan!« fluchte sie auf Schwedisch. »Ich habe hier nur einen Bericht auf Schwedisch. Ich habe in Kemi extra nach beiden Ausführungen gefragt, schwedisch und finnisch, als ich hörte, dass der Pathologe Finnlandschwede war. Ich dachte, es wäre sicherer, beide Exemplare zu haben, damit wir mögliche Übersetzungsfehler ausschließen können. Aber der dumme Archivar hat mir nur den schwedischen Originalbericht gegeben. Tut mir Leid, dass ich es nicht schon dort durchgeschaut habe...«

»Das ist schon okay so. Deine Muttersprache ist doch auch Schwedisch. Also haben wir doch gar kein Problem. Ich nehme an, ich könnte mit meinem Deutsch auch Einiges aus dem Text verstehen, aber nun lass mal hören. Übersetze einfach ins Finnische. Ich höre dir zu.« Und Kommissarin Friberg begann auf Finnisch zu lesen und dabei das Augenmerk besonders auf die wichtigsten Details zu legen.

Der Beitrag wurde am 9. Juni 1961 von Dr.med. Gösta Granbom in Kemi verfasst. Demnach haben das Röntgen des Schädels und der Knochen des Opfers aufgezeigt, dass das ungefähre Alter der verstorbenen unbekannten Frau zwischen 16 und 21 Jahren liegt. Eine blaue Verfärbung, versursacht durch den Zersetzungsprozess, ist auf dem größten Teil des Körpers zu finden. Das lange Liegen im Wasser und Zersetzungsgase haben dazu geführt, dass der Körper unförmig und unerkennbar ist. Innere Organe und weiches Gewebe sind überraschend gut erhalten. Fische im Fluss haben einige Teile weitreichend angefressen. Der Prozess der Zersetzung begann sehr rapide. Später erfolgte die Zersetzung langsamer und kam dann fast vollkommen zum Stillstand. Die Meinung des Pathologen war, dass sich das Opfer bereits seit der heißen Periode des letzten Sommers im Wasser befand und dort auch den Winter verbrachte. Der Todeszeitpunkt wird auf 10 Monate +/- 3 vor Autopsiebeginn geschätzt. Durch den langen Zeitraum der Zersetzung ist dies eine sehr grobe Schätzung.

Der linke Arm der Verstorbenen fehlt vollständig. Die rechte Hand wurde am Karpalgelenk abgetrennt; Gleiches gilt für die Füße und die Fußwurzelgelenke. Gemäß der Beurteilung des Pathologen könnte dies zum Beispiel durch schwere Gewichte verursacht worden sein, die an Handgelenk und Knöcheln befestigt wurden. Die Gelenke sind höchstwahrscheinlich durch den fliessenden Strom der Gase und den Druck des Auftriebes kollabiert. Unterstützt wurde dieser Prozess durch die Vor- und Rückschwankungen des Körpers inmitten des Flussstromes. Durch das Fehlen der Füße kann die Größe der Verstorbenen auf 159 cm geschätzt werden, +/- 1-2 cm (Die Vermutung wurde mit der mathematischen Formel von K. Pearson überprüft, welche auf die Nutzung des längsten Knochens basiert).

Sonja Friberg machte eine Pause und nahm einen langen Zug aus dem Bierglas während sie zum Oberkommissar schaute. Er saß zurück gelehnt in seinem Stuhl und hatte die Arme über der Brust gekreuzt. Seine Augen waren geschlossen und er hörte sehr entspannt zu. Friberg nahm ihre Übersetzungsarbeit wieder auf und las weiter.

Zeichen von Ertrinken sind nicht mehr zu erkennen. Es ist unmöglich, jeglichen sexuellen Verkehr oder frühere Schwangerschaften festzustellen. Knochen eines Embryos konnten nicht gefunden werden, also war das Opfer zum Todeszeitpunkt wahrscheinlich nicht schwanger. Viele Verletzungen durch zugefügte Gewalt sind vorhanden. Das Opfer wurde sehr heftig an der Kehle stranguliert, weil...

Friberg machte eine Pause, um über die richtige Übersetzung aus dem Schwedischen ins Finnische nachzudenken. »Wurde sehr heftig an der Kehle stranguliert, weil... wegen der Schilddrüse? Sie ist gebrochen...?«

»Meinst du den Schildknorpel? Er bildet den Rahmen des Adamsapfels und ist bei Männern größer als bei Frauen. Er kann sehr schnell kaputt gehen, wenn man erwürgt wird«, erklärte Edelmann. Er hatte seine Augen geöffnet. »In den Siebzigern änderte ein zertrümmerter Kehlkopf einen Selbstmordfall durch Erhängen zu einer Mordermittlung im Westen Deutschlands. Die deutschen praktizierenden Ärzte haben es nicht herausgefunden, aber unser guter Freund Dr.med. Toivo Tyrväinen hatte es gesehen.«

»Der Schildknorpel? Ja, das muss es sein«, stimmte Friberg zu.

Das Opfer wurde heftig stranguliert, was daran zu erkennen ist, dass das linke Horn des Schildknorpels gebrochen war. Der Hinterkopf wurde mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert. Äußerliche stumpfe Gewalteinwirkung auch auf Nase und Mund. Mehrere Zähne sind locker oder abgebrochen. Das restliche Gesicht ist so heftig angeschwollen, dass kaum etwas zu erkennen ist. Verletzungen durch scharfe Gegenstände wurden nicht gefunden.

Todesursache war eine Art Zerschmettern durch massive äußere Gewalteinwirkung auf einer großen Fläche der unteren Brustregion und des Bauches. Äußere Geschlechtsorgane, ein Großteil der Beckenregion und die unteren Rippen sind zertrümmert. Beide Oberschenkelknochen sind gebrochen. Der Pathologe schätzt diese Schäden so ein, dass sie z.B. das Resultat eines fallenden Steinbrockens auf den Bauch der Toten ist. Dieser Stein muss ein Gewicht von dutzenden Kilogramm gehabt haben. Das Opfer lag dabei wahrscheinlich auf dem Rücken. Dies ist auch eine mögliche Erklärung, warum die Wirbelsäule der Verstorbenen in der Lendenregion gebrochen ist.

Die verstorbene Frau hatte glattes langes Haar. Die originale blonde Haarfarbe trat zum Vorschein, nachdem mehrere Schichten von Dreck durch das Säubern in Karbolsäure erfolgreich entfernt werden konnten.

Friberg legte den Befund auf den Tisch. Edelmann nahm einen Schluck Bier. »Wie genau kann man das Alter bei so einem Fall bestimmen? Das Geschlecht von Verstorbenen konnte man schon seit den Sechzigern leicht herausfinden. Ich hoffe nur... Wenn die Identität noch nicht geklärt wurde, dann kann das Alter eine sehr wichtige Rolle spielen. Lass uns mal Toivo anrufen und hören, was er dazu sagt!« beschloss er. Dann nahm er sein Nokia 2110i Handy aus der Tasche, wählte die Nummer und hielt sich das Telefon an sein Ohr. Mit der linken Hand griff er zum Bier während er darauf wartete, dass jemand am Ende der Leitung abnahm. War es die Hitze, die ihn so durstig machte, oder war das Bier einfach nur so gut.

»Toivo Tyrväinen am Apparat.«

»Hallo Toivo, hier ist Markus. Ich hoffe, ich rufe nicht zu einer unverschämten Zeit an?«

»Absolut nicht. Ich bin gerade in der Sauna gewesen. Zusammen mit Gisse. Und nun sitze ich hier auf unserer Terrasse und genieße die letzten Sonnenstrahlen. Und natürlich warte ich darauf, dass Gisse mir ein Bier bringt. Die Mücken sind eine wahre Plage. Was schwirrt dir so in den Gedanken rum, Markus?«

»Ich rufe gerade aus dem Motel Tervakuksa in Tervola an. Bin noch im Dienst mit Friberg. Wir sitzen zusammen in der Bar und gönnen uns ein Kaltes. Genau das, was du jeden Moment bekommst. Heute Nachmittag haben wir kurz an der Stelle angehalten, wo die arme Frau im Wasser treibend gefunden wurde. Das war der Fall von 1961. Ich hatte das gestern mal schnell erwähnt. Naja, auf jeden Fall haben wir ein paar Papiere aus Kemi bekommen. Diese beinhalten auch den alten Autopsiereport. Und über den möchte ich dich gerne was fragen, wenn das ok für dich ist?«

»Klar, schieß los. Danke Liebling! Letzteres war für Gisse, nicht für dich, Markus. Sie hat mir gerade ein Bier gebracht und sitzt jetzt neben mir.«

Toivo Tyrväinen und Gisela Müller-Tyrväinen hatten sich 1971 in Westdeutschland kennen gelernt, als er dort mit Markus Edelmann einen sechsmonatigen Arbeitsauftrag zu erledigen hatte. Es war ein Projekt der Kripo und der finnischen KRP, bei dem ausgewählten Polizisten ein Anti-Terror-Training absolvierten. Als die Männer nach Finnland zurückkehrten, brachte Toivo seine Freundin Gisse mit, die später seine Frau wurde.

»Grüß Gisse von mir! Ich werde Eeva fragen, ob sie sie später anrufen könnte. Dann können wir uns mal wieder zu einem Essen treffen. Aber... kannst du mir erklären, wie leicht oder schwer es ist, das Alter und Geschlecht einer Leiche herauszufinden, die für mindestens ein Jahr lang auf dem Grund des Kemijoki-Flusses gelegen hatte? Im Befund stand, dass das Opfer fast vollständig schwarz war. Und dazu wurden noch überraschend viele Weichteile gefunden. Die Zersetzung hatte anfangs schnell eingesetzt, jedoch dann komplett aufgehört. Sie sind davon ausgegangen, dass der kalte Winter etwas damit zu tun hatte. Der Schädel und andere Knochen wurden geröntgt. Als Schlussfolgerung kam man zu dem Ergebnis, dass die Verstorbene den ganzen Winter über im Wasser war. Über zehn Monate lang. Das Alter wurde auf 16 bis 21 Jahre geschätzt, Geschlecht weiblich. Wie hört sich das alles für dich an?« fragte Edelmann.

Toivo Tyrväinen war ein paar Jahre älter als Edelmann und hatte seine Ausbildung zum Polizisten als Erster abgeschlossen. Nach etwa einem Jahr Praxiserfahrung auf diesem Gebiet, einschließlich einem halben Jahr in Westdeutschland, hatte er die Möglichkeit, Medizin an einer Universität zu studieren. Forensische Pathologie wurde zu seinem Spezialgebiet und er half bei der Kripo in Rovaniemi für viele Jahre als Gerichtsmediziner aus. Sein richtiger Arbeitsplatz war in dem Hauptkrankenhaus von Lappland. Dort arbeitete er als Chefarzt in der Pathologie. Das Krankenhaus arbeitete eng mit der Universität von Oulu zusammen was die Ausbildung von Pathologen betraf. Tyrväinens Spezialgebiet war die forensische Zahnkunde, die das Thema seiner Doktorarbeit von 1980 war. Doktor Tyrväinen war ein bei den Kollegen sehr hoch angesehener Mann und bekannt für seine Gründlichkeit bei der Arbeit. Durch seine Entdeckungen bei schwierigen Autopsien konnte schon so mancher Fall gelöst werden. Auch wenn Toivo nicht offiziell dem Team der Kripo angehörte, war er doch einer der Ersten, die Edelmann an einen Tatort rief. Der Oberkommissar vertraute seinen Fähigkeiten ohne jegliche Zweifel.