Wenn Erdbeerjoghurt auf Asphalt trifft - Natalie Friedrich - E-Book

Wenn Erdbeerjoghurt auf Asphalt trifft E-Book

Natalie Friedrich

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Beschreibung

Wir Menschen sind seltsame Wesen. Da sind wir einerseits dazu imstande durch unser Konsumverhalten dafür zu sorgen, dass sich superreiche Unternehmer selbst auf den Mond schießen, drücken dann aber andererseits auf Türen ein, die den gut lesbaren Schriftzug "Bitte Ziehen" tragen. Alle Menschen haben ihre Eigenheiten, Ansichten, Sturheiten und ihre Erziehung, und richtig interessant wird es, wenn all das auf andere trifft. Denn aus eben dieser Kollision entstehen Geschichten. In diesem Buch geschieht genau das 17 Mal – und zwar in Ettlingen: in Parks, Schulen, der Altstadt, auf Spiel- und Parkplätzen, Friedhöfen und an Bushalte­stellen. Irrtümer und Fehleinschätzung bleiben da natürlich nicht aus. Nur zu, suchen Sie sich im Inhaltsverzeichnis eine Geschichte Ihrer Wahl aus, entlarven Sie die ein oder andere Fehleinschätzung und lesen Sie Ettlingen mal anders!

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Natalie Friedrich wurde 2000 in Karlsruhe geboren und ist in Ettlingen aufgewachsen. Sie studiert Germanistik in Karlsruhe und stand dort 2018 auch erstmals auf einer Bühne. Das war der Ausgangspunkt für viele weitere Poetry-Slam-Auftritte im gesamten deutschsprachigen Raum. Neben erhaltenen Literaturpreisen, wie beispielsweise demjenigen für Deutsche Sprache und Literatur 2018, hält sie ebenfalls den Titel der Baden-Württembergische U20-Vize-Meisterin im Poetry Slam 2018 und den BW-U20-Meisterschaftstitel 2019 inne. „Wenn Erdbeerjoghurt auf Asphalt fällt“ ist, abgesehen von Beiträgen in Anthologien, ihre erste Buchveröffentlichung.

Natalie Friedrich

Wenn Erdbeerjoghurt auf Asphalt trifft

Über Irrtümer und ihre Geschichten

Lindemanns

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ein zentraler Wunsch der 38. Baden-Württembergischen Literaturtage, die 2021 in Ettlingen stattgefunden haben, war, dass nicht nur Autorinnen und Autoren in unsere Stadt kommen und ihre veröffentlichten Werke lesen, sondern dass während dieser Zeit auch neue Literatur entsteht. Daher war es mir eine Herzensangelegenheit, eine junge Autorin damit zu beauftragen, Geschichten aus der Ausrichterstadt der Literaturtage zu erzählen. Mit Natalie Friedrich konnten wir dafür eine Lokalmatadorin finden, die prädestiniert für diese Aufgabe war. Besuchte sie doch das Albertus-Magnus-Gymnasium in Ettlingen, wo sie bald für ihr literarisches Talent bekannt war. Längst hat sie sich auch im Poetry Slam einen Namen gemacht und ist seit ihrem Titel als baden-württembergische U20- Meisterin im Jahr 2019 auf Bühnen in ganz Deutschland und der Schweiz unterwegs. Im vorliegenden Band zeichnet sie in 17 Kurzgeschichten konturenscharfe Charaktere, die sowohl komplett fiktive wie realitätsnahe Menschen lebendig werden lassen. Die Texte spielen in und mit unserer Stadt und entwerfen so ein lesenswertes Kaleidoskop an Geschichten. Jenseits der Postkartenidylle unserer Altstadt erlebt man Ettlingen ungeschminkt, unrasiert und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen äußerst liebenswert. Dabei war Natalie Friedrich ein Punkt besonders wichtig: Es sollte kein Buch nur für eine ausgewählte Zielgruppe werden, sondern von Geschichte zu Geschichte die Leserschaft neu herausfordern und unterhalten. Und es sollte für jeden was dabei sein, vom Schüler bis zur hochbetagten Leserin.

Mein sehr herzlicher Dank gilt der Stadtbau Ettlingen GmbH und deren Geschäftsführer Steffen Neumeister, die mit ihrem Sponsoring Natalie Friedrich als Stadtautorin während der baden-württembergischen Literaturtage gefördert und dieses Buch ermöglicht haben.

Ich wünsche Ihnen nun viel Freude beim Lesen. Und blicke mit der gleichen Freude bereits voraus: 2025 dürfen wir die Baden-Württembergischen Literaturtage noch einmal in Ettlingen ausrichten. Und ich hoffe sehr, dass spätestens dann Natalie Friedrich mit einem neuen Werk wieder auf einer der Ettlinger Bühnen steht.

Johannes Arnold,

Oberbürgermeister der Stadt Ettlingen

Du bist in anderen Dingen gut oder Out of focus

„Du bist in anderen Dingen gut“ gehört zu jenen Sätzen, die man niemals von seiner Physiklehrerin unmittelbar vor der Abschlussprüfung hören möchte. Oder generell von irgendwem. Irgendwann. Esra starrt auf das Blatt, das ihr hingehalten wird. Die Längsseiten zeigen nach oben, wodurch ihre Abschlussarbeit ein U formt. Die Schülerin ist außerstande danach zu greifen, außerstande, etwas anderes zu sehen als die rot umkringelten drei Punkte in der Kopfzeile über dem Kürzel des Korrektors. Das Muskelzittern ihrer Lehrerin, die Esra noch immer mit ausgestrecktem Arm gegenübersteht, überträgt sich auf das Blatt Papier. Du bist in anderen Dingen gut – mal ehrlich, diese Aussage rangiert auf einer ähnlichen Skala, wie wenn man aus dem Mund von medizinischem Fachpersonal hört: „Interessant. Das habe ich so jetzt auch noch nicht gesehen“. Und ist in etwa so tröstlich wie ein „Es liegt nicht an dir, es liegt an mir“ per WhatsApp.

Plötzlich ertönt der charakteristische Gong für Schuldurchsagen, dann ein Knacken, gefolgt von einer Stimme, die ihr entfernt bekannt vorkommt: „Hey Esra, wie schön, dass du dich für unser ,All-inclusive‘-Schulabschluss-Paket entschieden hast! Wir gratulieren dir herzlich dazu, dass du eine Leistung erbracht hast. Immerhin, nicht wahr? Zudem möchten wir dich auch gleich auf unser Kleingedrucktes aufmerksam machen: Da steht hellgrau auf dunkelgrau und kaum verklausuliert, dass es keine Garantie gibt. Also so generell nicht. Daher können wir dir die ausgeschlagenen Partyeinladungen, Treffen und Kinoabende zugunsten deines Notendurchschnitts sowie angesengte Synapsen mit etwaigen Nervenzusammenbrüchen leider nicht zurückerstatten – tschuldi. Aber wie heißt es so schön? Shit happens! In diesem Sinne: Lache, liebe, lebe und bezahle immer pünktlich deine Rechnungen!“

Esra riss die Augen auf. Hotelzimmerfremde umfing sie. Energisch setzte sie sich auf und schlug dabei die Bettdecke auf die Seite. Was war das denn bitte?

Sie blickte in eine der zahlreich verspiegelten Oberflächen im Zimmer und fuhr sich über die Augen, unter denen sich noch hartnäckige Mascaraüberbleibsel hielten. Vielleicht der Stress ... Beunruhigend langsam verschwand jener Ausdruck, den sie in dieser Intensität zuletzt vor elf Jahren auf ihrem Gesicht getragen hatte. Und zwar in der Schule.

Gemeinsam mit den Resten ihres Traumes versickerte der Ausdruck im harten Teppichboden, der vor dem Servierwagen mit der Nespressomaschine ein wenig fleckig war. Allmählich drang nun auch wieder das gedämpfte Verkehrsrauschen durch die Fenster zu ihr und rechts auf dem Nachttisch zerhackte der Sekundenzeiger ihres mitgebrachten Weckers erneut die Zeit. Zeit in einer Fremde, die schon beinahe vertraut geworden war. Esra schwang ihre Beine über die weiche Kante des Boxspringbettes und schaltete sowohl den mitgebrachten Wecker als auch die fünf Backup-Alarme auf ihrem Smartphone aus. Dann wurden die festgeschriebenen To-Dos abgeackert: Umziehen und den Kosmetikbeutel plündern. Sich den Rücken schmerzhaft verrenken, um das Rückenschmerzen-Soforthilfe-Gel auftragen zu können, anschließend alles wieder in den Rollkoffer packen, wegen der zerknitterten Bluse fluchen und Ladekabel nicht vergessen. Schon das Zimmer verlassen wollen, dann aber doch nochmal in alle Schränke schauen (auch in diejenigen, von denen man eigentlich genau weiß, dass man sie Zeit seines Aufenthaltes nicht geöffnet hat). Anschließend einen weiteren Punkt auf die Liste setzen und den ohnehin fehl am Platz wirkenden Kalender mit „Lache, Liebe, Lebe“ abhängen. Im Fahrstuhl schließlich noch via Online-Banking die ausstehende Wasserrechnung begleichen. Manchmal hasste sie ihr Unterbewusstsein – aber hilfreich war das Mistding leider schon.

Auf das Fahrstuhlflüstern folgten Frühstücksbuffetklappern und Lobbygemurmel, dann trat sie endgültig den Heimweg an.

Einen langen Heimweg: In keinem der SEVs konnte sich Esra richtig auf die Mails, geschweige denn die Excel-Tabellen konzentrieren. Aber vielleicht bin ich ja auch besser darin, aus dem Fenster zu schauen ... wer weiß das schon?

Trotzig sah sie von ihrem Laptop auf und verfolgte die sich vorbeischiebende Landschaft. Wäre sie Teil einer Netflix-Serie, hätte Esra diese atmosphärische Zwischenepisode übersprungen. Sie hatte schon seit Monaten keine Geduld mehr für Unterhaltung. Oder die Zeit dafür. Aber nervige Health-Care-Tipps in ihrem Instagram-Feed taten wohl etwas mit ihrem offenbar viel zu beeinflussbaren Unterbewusstsein und daher schaute sie doch manchmal Netflix. Aber nur Netflix, denn dort konnte man die Wiedergabe immerhin auf 1,5-fache Geschwindigkeit stellen und somit zeitökonomisch unterhalten werden. Aber es war schon seltsam. Als Kind hatte sie nämlich diese Landschaft da vor dem Zugfenster geliebt. Sich freiwillig entgegen der Fahrtrichtung ans Fenster gesetzt, weil sich dann alles von ihr weg- statt auf sie zubewegte. Ganz so, als würde sie in die Vergangenheit reisen. Heute trifft das sogar irgendwie zu, dachte Esra, als sie resigniert den Laptop wegpackte und ihre Schläfe an die kühle Scheibe lehnte. Es ärgerte sie, dass diese Erinnerung so viel in ihr auslöste. Sie war doch eigentlich darüber hinweg, hatte einen Job, der ihr lag und hatte es damit sich und allen anderen bewiesen: Sie war in anderen Dingen als Physik gut. Also vor allem in dieser einen Sache. Aber mehr brauchte sie ja auch nicht. Sie brauchte nichts außer Fokus, doch genau den begann sie gerade zu verlieren. Wegen eines Traums ... meine Güte wie alt bin ich? Fünf?

Sie schnaubte so laut durch ihre FFP2-Maske, dass sich ein älterer Herr zwei Sitzplätze weiter pikiert umdrehte. Während der restlichen Fahrt verhielt sie sich ruhig. 90 Minuten später trennten sie nur noch zwei S-Bahnfahrten von ihrem Ziel, ihrem ehemaligen Zuhause.

Es war absurd, wie viel vertrauter, aber auch gewöhnlicher alles wirkte, wenn man in bekannte Gefilde zurückkehrte. Wo es außerhalb des unmittelbaren Karlsruher Raums meist nur eine Route zu bestimmten Locations gab, führten hingegen viele Wege nach Hause. Und Esra kannte sie alle. Als dann noch eine Frauenstimme mit gewohnt ungelenker Intonation etwas blechern verkündete: „Nächster Halt: Ettlingen Erbprinz, Schloss“, erkannte sie auch die ersten WLAN-Netzwerknamen wieder und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

Ankommen.

Als sich die Türen direkt hinter ihrem Koffer schlossen, sah sie auf ihren Fitnesstracker: 15.11 Uhr. Eigentlich müsste in 22 Minuten ein Bus in Richtung Ettlingenweier kommen. Die kvv-App gab ihr recht. 22 Minuten genügten, um der Sentimentalität wegen durch die Altstadt zu schlendern. Während ihr Rollkoffer wenig später über das Kopfsteinpflaster vor dem Rathaus holperte, verhielten sich ihre Gedanken wie in unruhigem Schlaf – mal klar und nachvollziehbar, dann wieder schwammig und eher unterbewusst.

Ähnlich war es ihr immer ergangen, wenn sie im Baggerloch gemeinsam mit anderen wehrlosen Jugendliche durch den 12-minütigen Cooper-Test gefoltert und der Ausgabe von Teilnahmeurkunden bei den Bundesjugendspielen gedemütigt worden war. Immerhin konnte man an diesem Ort des Schreckens inzwischen auch selbstgemachte Maultaschen kaufen ... Offenbar gab es immer ein Licht am Ende des Tunnels.

Gedankenverloren lächelte sie der Sonne entgegen, die über die Rathausfassade strich und ihr einen sandig-goldenen Schimmer verlieh: Die Essensthematik hatte ihr aber in der Vergangenheit nicht immer geholfen. Esra verstand bis heute nicht, warum diese Sofia in der Klasse 5 a einen Kuchen in 2/32 aufteilen sollte, mathematisch 1/16 aber auch okay sind, wenn die restlichen 15 verfressenen Bälger aus der 5a auch einfach ihren eigenen Kuchen hätten backen können! Aber hey, auch Mathebücher sind sicherlich in anderen Dingen als Nachvollziehbarkeit oder Realitätsnähe gut. Sie blickte durch den Torbogen mit dem Skelettreiter – in jeder fremden Stadt hätte sie davon ein Bild gemacht oder vom Schloss in ihrem Rücken, dem Brunnen, der Alb, den Kirchen, aber wenn man an einem solchen Ort aufgewachsen ist, sieht man das alles nicht mehr. Es ist nichts Besonderes.

In diesem Moment fiel ihr Blick auf ein Wahlplakat des Jugendgemeinderats an einer schwarzen Straßenlaterne: Vermutlich haben sich die Wahlprogramme der Jugendlichen nicht verändert: McDonalds und H&M wollten schon zu der Zeit, als ich noch im Horbachpark zwischen bemalten Schulsäulen über Logarithmen gestolpert bin, durchgesetzt werden ...

Esra ging durch das Tor. Von den Wänden wurde das Geräusch der Kofferrollen stark reflektiert und dann vom Rauschen der Alb abgelöst. Einige Schritte weiter kam sie zur Kleinen Kaffeeblüte, in der sie oft ihre Mittagspausen verbracht hatte. Zumindest bevor sie sich auf ihren Abschluss fixiert und alles andere dafür ausgeblendet hatte.

Als sie nun vorbeilief hatte sie das Gefühl, dass da noch immer Überbleibsel ihrer Anekdoten in den Deckenecken hingen und sich das zu laute Lachen während ihres ersten Dates noch immer in den Sitzpolsterritzen versteckte. Lächelnd atmete sie durch und plötzlich fiel ihr auf, dass sich die Geräusche um sie herum das erste Mal seit Wochen nicht mehr dumpf anhörten – der Ohrendruck, an den sie sich so gewöhnt hatte, war tatsächlich weg. Was so ein Heimatbesuch alles ausmachen kann!

Deutlich beschwingter lief sie zurück: Am Eiscafé, in dem ein Schokoeisbecher Wunder gegen Liebeskummer wirkte, vorbei über den Marktplatz und dann wieder in Richtung Bushaltestelle, doch kurz davor verlor ihr Gang seine Leichtfüßigkeit. Das hatte gerade noch gefehlt: ein Schulbus!

„Ach, das macht fast gar nichts!“, grummelte Esra zwei Minuten später. Gemeinter Fünftklässler, der sich in den Vierersitz des Busses gedrängt und ihr dabei heftig auf den Fuß getreten war, fühlte sich keineswegs angesprochen. „KOMM SCHON BENNY!“, brüllte er und anstatt nur seinen Kopf zu drehen, bewegte er seinen gesamten Oberkörper in Bennys Richtung. Dass er ihr dabei seinen dunkelblauen „4You“-Rucksack ins Gesicht ranzte, schien er gar nicht zu bemerken. Sowas hätten wir uns als Fünftklässler nicht getraut!, dachte sie grimmig. Kurz darauf wurde sie Zeugin, wie ein kleines Handgemenge um ein Smartphone begann. Natürlich unfassbar laut. Augenblicklich fielen ihr wieder die Ohren zu. Doch das Geschreigeflecht hatte sich bereits durch die Gehörgänge gewunden und rammte sich nun wie ein Wrestler gegen ihre Hirnwände, dehnte diese aus, nur, um mit noch mehr Schwung auf die andere Seite katapultiert zu werden. Esra krallte die Finger in ihre Oberschenkel. Alle übrige Kraft musste sie darauf verwenden, um die Fünftklässler nicht ihrerseits anzuschreien. Zu meiner Schulzeit hat man noch Hausaufgaben im Bus abgeschrieben oder sich zumindest in friedlicher Übereinkunft angeschwiegen! Aber heute, ja heute, da zerstören spielesüchtige Schreihälse das sakrale Schweigen der Oberstufenschüler und zerren an den Nerven hart arbeitender Menschen! Scrollt doch emotionslos und stumm verurteilend durch Instagram, wie sich das im Jahre 2021 gehört! Betonung auf STUMM. Keine Ahnung, was die Jugend von heute so „zockt“, aber sie können es offenbar nicht leise.

Sie schob sich ihre Kopfhörer über die Ohren – einfach alles war besser als das Gebrüll. Feuer mit Feuer und so.

Endlich fuhr der Bus los und das Brummen des Motors überlagerte alle anderen Geräusche. Immerhin. Sie versuchte sich nur auf die Musik in ihren Kopfhörern zu konzentrieren und alles andere auszublenden. So, wie das auch während ihrer Arbeit machte. Es verhielt sich damit so ein bisschen wie mit Buslinien auf einem Fahrplan. Allein in Ettlingen sind es zwölf: Vom 101er über den 104er bis zum 112er ist alles dabei und daher sieht man auf diesem Plan zunächst einmal nur ein verwirrendes buntes Wollknäuel aus Verbindungen, die auf den ersten Blick gar nicht zu erfassen sind. Aber Menschen, wie diese Schreihälse da vor ihr, vergraben sich lieber in ihren Spielen, entfliehen der unangenehm komplexen Realität, weil sie überfordert sind. Überfordert von den Möglichkeiten. Vermutlich, weil sie in zu vielen anderen Dingen gut sind, als dass sie sich entscheiden könnten, wo sie anfangen sollen. Ja, dann einfach ganz sein lassen, ist bestimmt ’ne großartige Idee ...!

Esra war hingegen schon seit der Schule pragmatisch gewesen: Es wird sich eine Buslinie ausgesucht, ein Weg – und an diese Linie wird sich gehalten, sie wird verfolgt und zwar bis zur Endhaltestelle. Ohne Kompromisse, ohne Blick nach rechts oder links, immer in dieselbe Richtung. Um jeden Preis.

Der Jugend heute fehlt einfach die Fähigkeit, mal was durchzuziehen. Es ist ja auch leicht zu sagen „Och, fünf Minuten Umstiegszeit für 200 Meter, das ist mir zu stressig. Ich warte lieber auf ’ne andere Verbindung!“ Aber mit dieser Einstellung erreichte man nun einmal nichts. Weder den Zug 200 Meter weiter noch die Endhaltestelle. Das wusste sie.

Und vielleicht wäre es einfach mal sinnvoll, wenn diese ganzen – ein heller Blitz zuckte durch ihr Sichtfeld. Dann begann ihr Kopf dumpf zu pochen und erstickte jeden Gedanken, jeden verinnerlichten Glaubenssatz. Stille. Dann ein hohes Fiepen. Keine Musik, kein Motorbrummen, nur das Fiepen. Panisch krallten wieder ihre Finger in die Oberschenkel. Sie bemerkte, wie die beiden Fünftklässler sie anstarrten, aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, sie konnte allgemein nicht ... in diesem Moment brandeten die Geräusche wieder auf. Leicht zittrig ließ sich Esra gegen die Rückenlehne fallen. Noch zwölf Minuten, dann bin ich da. Und dann mach ichne kleine Pause. Vielleicht ne halbe Stunde ... Starr blickte sie auf die bunte Spiegelung des Smartphonedisplays in der Busscheibe. ... oder auch nur 15 Minuten, schließlich hab’ ich doch noch einiges zu tun ... Plötzlich glotzte der Kumpel von Benny wieder zu ihr herüber. Mit dem unfreundlichsten Blick, den sie imstande war abzurufen, sah sie ihm direkt in die Augen. Wage es ja nicht, mich jetzt blöd anzumachen. Der Junge öffnete den Mund. Esra wappnete sich für einen frechen Spruch.

„Möchten Sie auch mal?“ Der Junge hielt ihr sein Smartphone hin. Ihre Überraschung rang mit dem sofort einsetzenden schlechten Gewissen. Was ist eigentlich falsch bei mir?

„Ähm, das ... ist nett, aber ich weiß gar nicht, wie das geht ...“

Der Junge hockte sich weiter in Richtung Sitzkante und seine Augen waren ernst, als er ihr versicherte: „Das is’ gar nicht so schwer! Ich zeig’s Ihnen kurz.“

Und was sollte Esra sagen? Bis Waldprechtsweier saß sie im Bus und spielte dieses „League of Legends“. Erst als sie der Junge, Leon hieß er, kurz am Knie anstupste, bemerkte sie, dass der Bus bereits die Endhaltestelle erreicht hatte. „Oh, entschuldige!“, Esra stand auf und gab ihm sein Smartphone zurück. Während sie hinter ihm aus dem Bus stieg, fiel ihr auf, dass sie soeben ganze 20 Minuten lang nicht über ihre Arbeit oder etwaige To-Dos nachgedacht hatte.

Doch jetzt verengte sich sofort wieder ihr Gedankentunnel: Mit welcher Verbindung komme ich jetzt von hier nach Ettlingenweier? Und um wie viel Uhr? Wie viel Zeit habe ich verplempert? Schaffe ich noch alle To-Dos?

Da unterbrach der Junge ihre Gedanken, indem er konstatierte: „Sie sind ziemlich gut in dem Spiel!“

Verwirrt lachte Esra auf: „Danke!“

Und damit meinte sie eher sekundär das Kompliment. Kopfschüttelnd beobachtete sie den auf- und abhüpfenden „4you“-Schulranzen: Tja, sowas hätten wir uns früher als Fünftklässler nicht getraut ...

That’s the game

Ich realisiere zu spät, wie sie sich mit einem tiefen Atemzug für die Wurftechnik wappnet.