Wenn es Nacht wird am Lago Maggiore - Bruno Varese - E-Book
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Wenn es Nacht wird am Lago Maggiore E-Book

Bruno Varese

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Beschreibung

Tödliche Schüsse in Locarno. Der vierte Fall der erfolgreichen Krimi-Reihe von Bruno Varese um den wohl ungewöhnlichsten Ermittler Italiens. Locarno im August: Wenn Cineasten aus aller Welt das sonst so beschauliche Städtchen am Ufer des Lago Maggiore stürmen, um dem legendären Filmfestival beizuwohnen, ist es mit der Ruhe vorbei. Der ehemalige Polizeipsychologe Matteo Basso, der eigentlich viel lieber in die Oper als ins Kino geht, hat sich breitschlagen lassen, seinen Freund Flavio zu einer der Premieren zu begleiten. Dieser hofft, seiner Jugendliebe zu begegnen, die mittlerweile eine international gefeierte Filmdiva ist. Doch als die ersten Bilder über die Leinwand auf der Piazza flackern, fällt ein Schuss aus einem der umliegenden Häuser. Eine junge Schauspielerin stirbt. Matteo Basso nimmt die Ermittlungen auf, die ihn zu seiner Überraschung zurück in sein italienisches Heimatörtchen Cannobio führen, wo er eine kleine Macelleria betreibt. Abseits der glamourösen Filmwelt hat die Schauspielerin hier ehrenamtlich in einem Altersheim gearbeitet. Als Matteo Basso es gleich mit einer ganzen Serie merkwürdiger Todesfälle zu tun bekommt, wird klar: Manchmal ist das echte Leben dramatischer als jeder Film.

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Bruno Varese

Wenn es Nacht wird am Lago Maggiore

Ein Fall für Matteo Basso

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Bruno Varese

Über dieses Buch

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Epilog

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ein Schuss durchbrach die laue Sommernacht Locarnos und hallte von den Hausfassaden der Piazza Grande wider. Irritiert blickte Matteo Basso auf die überdimensionierte Leinwand, konnte aber keinen Zusammenhang zwischen dem Gehörten und der Szene herstellen, die sich vor seinen Augen in grellen Farben abspielte. Niemand war in Deckung gegangen. Niemand sank blutüberströmt zusammen. In Großaufnahme war stattdessen ein elegant gekleidetes Paar in einem Restaurant zu sehen.

Die beiden plauderten leise und vertraulich miteinander, im Hintergrund klimperte dezente Klaviermusik und die Glasfront, hinter der sich, wenn auch verschwommen, ein breiter, baumbestandener Boulevard erkennen ließ, war unversehrt. Lächelnd goss ein heraneilender Sommelier der Dame Wein nach, was sie zunächst halbherzig abwehrte, um gleich darauf das gefüllte Glas zum Mund zu führen. Matteo wurde mit einem Mal eiskalt.

Offenbar hatte der Großteil des Filmfestival-Publikums ebenfalls ein paar Sekunden gebraucht, um den eben vernommenen Knall als reale Bedrohung zu empfinden. Ängstlich sprangen die ersten Zuschauer auf, Stühle fielen um. Aufgeregte Rufe und Schreie vermischten sich mit der Tonspur des Films. Verwundert registrierte Matteo, dass diese alarmistische Stimmung nicht jeden der achttausend Besucher erfasst zu haben schien.

Einige der Zuschauer jedenfalls hatten sich kaum bewegt, als eine beruhigende und tiefe Männerstimme erst in italienischer und dann in deutscher Sprache über die Lautsprecher verkündete, dass kein Grund zur Panik bestehe.

Matteo versuchte einen Blick auf das Geschehen vor der Leinwand zu erhaschen, vermochte aber trotz seiner Körpergröße nichts zu erkennen. Flavio hatte sich in seinen Arm verkrallt und stieß entsetzt ein »Karla, Karla!« hervor.

Inhaltsverzeichnis

1

»Tutto è fumo! Tutto è fuoco! L’orrida caligine si fa incendio, poi si spegne più funesta«, donnerte es. »Alles Rauch! Alles Feuer! Die schreckliche Finsternis birst in Flammen und erlischt in noch tieferer Nacht!« Matteo schob den Lautstärkeregler in die Höhe und gab Speck und Schweineschulter in den Fleischwolf, dazu eine großzügig bemessene Menge Knoblauch.

Ein bisschen viel Drama für einen so idyllischen Sonntagmorgen, dachte er und verdrehte die Augen, als er am Blinken auf dem Regal erkannte, dass das Display seines Handys erneut aufleuchtete. Bis zum Ausflug nach Locarno hatte er noch einiges vorzubereiten und er war nicht gewillt, sich von dem wild gewordenen Anrufer, der seit fast zwei Stunden alle paar Minuten bei ihm durchklingelte, aus der Ruhe bringen zu lassen.

Wieder flackerte das Display, während die Ouvertüre von Verdis Otello von dem Rumoren des Fleischwolfes übertönt zu werden drohte. Matteo runzelte aber nicht deshalb die Stirn, sondern aufgrund des blechernen Orchesterklangs, der aus den Lautsprechern kam. Vielleicht sollte er diese scheppernde Aufnahme aus der Mailänder Scala, die so antiquiert klang, als säße der Komponist selbst noch im Publikum, endlich gegen eine eintauschen, die das großartige Zusammenspiel der Holz- und Blechbläser, der Streicher und Singstimmen adäquat zu transportieren vermochte. Ein bisschen an Tempo fehlte es ihr für seinen Geschmack ohnehin.

Immer noch blinkte das Handydisplay.

»Madonna mia«, brummte Matteo, »das kann ja heiter werden, der ist ja vollkommen von der Rolle.«

Er griff eines der Messer und hackte den frischen Koriander. Unmittelbar erfüllte der intensive Geruch des Krauts die kleine Küche der Macelleria, die Matteo einige Jahre, nachdem sein Vater gestorben war, neu eröffnet hatte, um das Handwerk fortzusetzen, das sein alter Herr so meisterlich beherrscht hatte.

Seufzend wischte er die Hände an seiner Schürze ab. Er weigerte sich, Kittel und ein Haarnetz zu tragen, wie es die Gesundheitsverordnung eigentlich vorschrieb. Schließlich war er ja auch kein richtiger Fleischer, sondern – ja, was eigentlich? Ein Zweidrittelfleischer, der sich von seiner Freundin, der Kommissarin Nina Zanetti, hatte überreden lassen, außerdem für die Polizia di Stato als psychologischer Berater zur Verfügung zu stehen.

Lange hatte er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, wieder in den Polizeidienst einzutreten. Denn es hatte damals mehr als gute Gründe für ihn gegeben, den Dienst zu quittieren, Mailand den Rücken zu kehren und in das kleine Städtchen Cannobio am Westufer des Lago Maggiore zurückzukehren, in dem er aufgewachsen war.

Und tatsächlich empfand er seine Entscheidung, die Großstadt hinter sich zu lassen, im Nachhinein als nicht nur richtig, sondern als geradezu glückliche Wendung. Er war zur Ruhe gekommen und wieder heimisch geworden, hatte die Hektik Mailands gegen die beschauliche Provinzialität dieser mit Schönheit überreich gesegneten Landschaft eingetauscht. Und dass er in den vergangenen Jahren in den ein oder anderen Kriminalfall hineingeraten war, war purer Zufall gewesen, wie er Nina ein ums andere Mal erklärt hatte, was sie ihm aber nicht geglaubt hatte. Was konnte er dafür, dass sich ausgerechnet hier, wo man sich dem Paradies so nahe fühlte, menschliche Abgründe aufgetan hatten, Morde unmittelbar vor seinen Augen verübt worden waren? Aus Bürgersinn hatte er geholfen, sie aufzuklären, nicht aus Leidenschaft. Sogar gestritten hatten sie sich deswegen.

Aber Nina war mindestens so hartnäckig, wie sie hinreißend war. Und so hatte er ihrem Drängen schließlich nachgegeben. Aus pragmatischen Gründen, um den häuslichen Frieden zu wahren, um sie nicht in die Bredouille zu bringen oder ihre Polizeikarriere zu gefährden, weil er sich in Fälle einmischte, in die sich einzumischen ihm als Zivilist nicht zustand, und auch, aber nur ein bisschen, weil er sich geschmeichelt gefühlt hatte, als Nina sich begeistert von seinem Talent und seinem Wissen gezeigt und auch ihre Vorgesetzten von seinen Qualitäten überzeugt hatte.

Außerdem war es lästig gewesen, so zu tun, als wäre man in offizieller Mission unterwegs, obwohl man in Wirklichkeit nur ein Metzger auf Abwegen war. Ein schrulliger Hobbyermittler, wenn auch einer mit ausgezeichneter Aufklärungsquote. Nein, es hatte durchaus Vorteile und man nahm seine Dienste ja nur im Bedarfsfall in Anspruch. Er war Teilzeitpolizeipsychologe ohne eigenes Büro, ohne direkte Vorgesetzte, er stand beratend zur Seite, wenn man ihn darum bat.

Noch beharrlicher als Nina schien sein alter Freund Flavio heute zu sein, den er zu Recht als den Daueranrufer verdächtigt hatte. Neun entgangene Anrufe zeigte das Display seines Handys an. Der anstehende Ausflug zum Filmfestival im nahe gelegenen Locarno regte den alten Herren merklich auf.

Im Vorbeigehen drehte Matteo die Verdi-Oper leiser, in der es der heimkehrende Otello mittlerweile trotz des Unwetters mit seinem Schiff an Land geschafft hatte und von den Zyprioten freudig begrüßt wurde.

Er trat auf die Terrasse, die sich direkt an die Küche anschloss und von der aus man einen herrlichen Blick auf den Lago Maggiore hatte. Matteo war jeden Morgen aufs Neue überwältigt von dessen satter blauer Oberfläche, die von grünen, dicht bewachsenen Bergketten gesäumt war. Und am fantastischsten war der Anblick in den Sommermonaten, wenn das Blau des Sees mit dem des Himmels konkurrierte und die Blütenpracht am Ufer regelrecht explodierte.

Konnte es ein größeres Geschenk geben, als hier zu leben? Auch wenn es ein bescheidenes Leben war? Sogar eine eigene kleine Bucht gehörte zu dem Laden, den seine Eltern ihm vererbt hatten und in dessen Hinterzimmer er es sich häuslich eingerichtet hatte. Seit der Anbau fertig war, konnte Matteo sich über mangelnden Platz wirklich nicht mehr beklagen.

Das Telefon klingelte erneut. Offenbar legte Flavio auf, sobald die Mailbox ansprang, und drückte dann die Wahlwiederholung. Wie aufregend die Liebe sein konnte, vor allem, wenn sie unerfüllt blieb!

»Pronto?! Was ist denn jetzt schon wieder, Flavio? Haben wir etwa noch etwas vergessen? Oder hast du es dir doch anders überlegt? Hast du keine Lust mehr, nach Locarno zu fahren?«

Matteo gab sich alle Mühe, seiner Stimme einen strengen Beiklang zu geben. In Wirklichkeit rührte es ihn, wie aufgewühlt sein Freund war. Flavio, ein Mann von Mitte siebzig, war seit Tagen aufgekratzter als jeder Teenager. Und der Grund dafür war ein unverhofftes Wiedersehen mit einer früheren Liebe.

Eine Liebe, die, so viel hatte Matteo aus den Andeutungen des Alten heraushören können, ein unglückliches Ende genommen oder erst gar nicht recht begonnen hatte. Jedenfalls schien diese Begegnung vor fünfzig Jahren so bedeutend gewesen zu sein, dass die Erinnerungen daran noch immer Gefühle in Flavio wachriefen, von denen Matteo nicht gedacht hätte, dass er zu ihnen fähig wäre. Die damalige Angebetete war heute eine sehr bekannte Schauspielerin, die an der Seite von Stars wie Claudia Cardinale, Isabella Rossellini, Franco Nero oder Roberto Benigni gestanden hatte. Selbst Matteo, der selten ins Kino ging und sich Schauspielernamen grundsätzlich nicht merken konnte, erinnerte sich, schon mal einen Film mit ihr gesehen zu haben.

»Scusi, Matteo, scusi«, von Flavios gewöhnlich sonorer Stimme war nur ein heiseres Krächzen geblieben. »Meinst du, es wäre nicht doch vernünftiger, wenn wir ein wenig früher starten?! Es kann doch immer mal etwas passieren. Ein Stau. Ein Motorschaden. Ich will dich nicht nerven«, im Hintergrund vernahm Matteo kreischendes Gelächter, »wirklich nicht«, Flavio klang regelrecht erschöpft, »aber meinst du nicht, es wäre besser? Nur ein Stündchen.«

Matteo klemmte sich eine Futura zwischen die Lippen und ließ das Zippo aufschnappen.

»Nur damit wir sie nicht verpassen.«

Ein leichter Wind ging über den Lago, sodass sich feine Rillen auf der Wasseroberfläche bildeten. Matteo ließ den Rauch der Zigarette in die Lungen gleiten. Auf der anderen Seite des Telefons intonierte ein dissonanter, zweistimmiger Altherrenchor dermaßen schief O sole mio, dass es in den Ohren schmerzte. Vernünftig wäre es gewesen, Flavio zu erläutern, dass es vollkommen ausreichte, am späten Nachmittag in Richtung Locarno aufzubrechen, aber für rationale Erklärungen war er nicht mehr empfänglich.

»Flavio, bis Locarno sind es weniger als zwanzig Kilometer«, versuchte es Matteo dennoch. »Selbst wenn wir zu Fuß gehen würden, hätten wir noch reichlich Zeit, bis die Vorführung beginnt. Aber sei’s drum. Wir werden die Stunden bis zum Eröffnungsfilm des Festivals schon rumkriegen. Also, du Nervensäge, du hast gewonnen. Ich komme um zwölf Uhr. Und um ehrlich zu sein, ich kann es kaum erwarten, in die alte Diva zu steigen und dich damit abzuholen. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Auto je besser am Gas hing. Wie habt ihr das nur angestellt?«

Matteo fuhr ein Lancia Gamma Coupé mit einem 2,5-Liter-Boxermotor. Einen elegant gezeichneten Gran Turismo aus dem Jahr 1982 von geradezu magischer Zeitlosigkeit, wie es der Redakteur einer Oldtimerzeitschrift, die Matteo sich am Kiosk gekauft hatte, nachdem er das Auto auf dem Cover entdeckt hatte, in seinem Artikel ausgedrückt hatte. Aber die Technik war durchaus anfällig, und so hatte Flavio, der mit Luigi und Beppo eine auf die Restauration und Reparatur von Oldtimern spezialisierte Werkstatt in Cannobio unterhielt, in den zurückliegenden Tagen viel Zeit in die Inspektion des Fahrzeugs investiert. Nur damit auch ja nichts schiefging auf den wenigen Kilometern in die benachbarte Schweiz.

Er hatte zudem darauf bestanden, für sich und Matteo Zimmer in einem Hotel in Locarno zu reservieren. Es lag unweit der Piazza Grande, auf der die Freiluftpremiere von Morto non vi serve a niente stattfinden sollte. Die Karten dafür hatte Matteo Wochen zuvor besorgt und seitdem im Handschuhfach des Wagens deponiert, damit er sie ja nicht vergaß. Ob sie Karlotta Tramboni bereits vor Filmbeginn zu Gesicht bekommen würden, war ungewiss. Der Film war für 21:30 Uhr angesetzt und bis dahin galt es, Flavio bei Laune zu halten.

»Ma un altro sole più bello non c’è. Il sole mio, sta in fronte a te! – Es gibt keine Sonne, die schöner ist als du. Oh, meine Sonne!«, schmetterten Flavios gnadenlose Werkstatt-Gefährten, und Matteo vermutete, dass dem Alten nicht nur die Aufregung vor dem möglichen Wiedersehen mit Karlotta zu schaffen machte, sondern dass ihn auch die Foppereien seiner beiden Kumpanen Luigi und Beppo heute tatsächlich quälten. Auch wenn diese liebevoll-bösartigen Sticheleien die gängige Form ihrer gegenseitigen Liebesbekundungen war.

Warum Flavio sich ihnen heute aussetzte und nicht in seiner Wohnung in der Via Roma darauf wartete, dass Matteo ihn abholte, war vermutlich damit zu erklären, dass die ironischen Zuwendungen seiner Freunde immer noch besser auszuhalten waren als das alleinige Warten. Der Lebensmittelpunkt der drei Alten war nun einmal ihre Werkstatt, deren Tor stets geöffnet war, was den Vorteil hatte, dass immer genügend Bekannte vorbeikamen, die sie in ein Gespräch verwickeln konnten, wenn sie der gegenseitigen Beschimpfungen müde waren.

Matteo warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Lago, in dem er sich noch hatte erfrischen wollen. »Ich muss noch rasch die Salsiccia fertig machen, nicht dass deine beiden hochgedrehten Kesselflicker mir morgen die Kunden verprellen.«

»Das haben wir gehört, du vertrocknete Mohrrübe«, krähte Beppo empört.

Matteo fragte sich, ob die drei Alten immer nur mit aktiviertem Lautsprecher telefonierten.

»Und wir verwehren uns dagegen, du sechsfach gehörntes Flusspferd, dass wir als hochspezialisierte Spezialisten von dir zu Handlangern degradiert werden, während sich der Kollege Flavio in erotischen Abenteuern verlustiert«, ereiferte sich nun Luigi.

Matteo sog vernehmlich an der Futura und entließ den Rauch in kleinen Wölkchen durch die Lippen.

»Männer, ihr wisst, dass ihr von mir aufs Allerhöchste geschätzt werdet. Ich bin euch – der See und der Himmel sind meine Zeugen – irrsinnig dankbar, dass ihr mich morgen Vormittag in der Macelleria vertreten werdet. Ihr wisst, wie sehr mir der Laden am Herzen liegt und dass ich ihn keinem Menschen auf der Welt anvertrauen würde, abgesehen von euch. Und natürlich weiß ich, dass ihr selbst auch ganz köstliche Würste zu produzieren versteht.«

Das alles war noch nicht einmal gelogen, vor allem die Qualität der Fenchelwürste, die die Alten fabrizierten, konnte Matteo nur neidlos anerkennen. Und weil er aus dem zufriedenen Gemurmel, das von der anderen Seite des Telefons zu ihm herüberdrang, schließen konnte, dass er das Ziel seiner Rede erreicht hatte, fügte er hinzu:

»Und tut mir bitte den Gefallen, behandelt den guten Flavio ein wenig nachsichtiger. Ihr wisst doch, dass das heute ein ganz besonderer Tag für ihn ist.«

Und bevor aus dem Gemurmel wieder ein hysterisches, von hanebüchenen Verwünschungen durchzogenes Gezeter werden konnte, versetzte Matteo rasch: »Ich bin um Punkt zwölf da. Ciao«, und legte auf.

Die Temperaturen ließen bereits jetzt, obgleich es erst halb zehn Uhr war, erahnen, was für ein heißer Tag es werden würde. Kurz entschlossen hangelte Matteo sich die Uferböschung hinab und entledigte sich seiner Kleidung. Die fünf Minuten sind jetzt auch egal, dachte er, während er ins Wasser watete, das angenehm kühl seine Beine umspielte. Als er die Stelle erreichte, wo der Lago abrupt tiefer wurde, tauchte er unter, schwamm einige Züge und genoss die klare Kälte, die ihn einhüllte. Das Wasser war gleichzeitig frisch und sanft, geradezu samtig. Eine Kombination, die nur hier und bei wenigen anderen großen Bergseen zu finden war. Der Lago Maggiore war fast siebzig Kilometer lang und an der tiefsten Stelle dreihundertsiebzig Meter tief.

Prustend tauchte er wieder auf, ließ sich eine Weile auf dem Rücken treiben, kraulte aber schließlich mit leichtem Bedauern wieder an Land. Zu lange wollte er Flavios Geduld nicht strapazieren, denn dessen Nerven lagen offenkundig blank.

Rasch schlüpfte er in seine Sachen. Trocknen würde er bei den Temperaturen von selbst. Er kletterte das Ufer hinauf, um sich wieder der Salsiccia-Masse zuzuwenden, die in der Küche darauf wartete, gründlich durchgeknetet zu werden. Es fehlte nur noch die Mischung aus Pfeffer, Salz, Nelken, Paprika und Chili, die er bereits gemörsert hatte und die er ihr nun beigeben würde.

Er hatte die Klinke der Küchentür schon in der Hand, als er sich noch einmal umdrehte und die paar Schritte zu der mächtigen Platane zurückging, in deren Schatten es sich selbst bei größter Hitze gut aushalten ließ.

»Gustavo, mein Bester, willst du heute gar nicht aufwachen?« Matteo kniete sich zu dem riesigen schwarzen Hund, der am Fuße des Baumes döste, und kraulte ihn sanft hinter den Ohren. Als Antwort erhielt er ein verschlafenes Grunzen. Matteos Herz zog sich zusammen, das Tier hatte abgebaut über den Winter. Der vorherige Besitzer Gustavos hatte sich geweigert, Auskunft darüber zu geben, aber Matteo war überzeugt, dass es sich bei dem Hund um das Ergebnis eines nicht ganz legalen Experiments aus einem Labor handelte. Die skurrilen Proportionen des Tieres, der riesige Kopf, die winzigen Ohren und die Tatzen, die aussahen, als hätte es sich überdimensionierte Hausschuhe übergestülpt, ließen kaum Zweifel daran.

Noch im vergangenen Sommer war Gustavo, der vor ein paar Jahren auf kuriosen Wegen zu ihm gekommen war, voller Energie gewesen. Aber nun machte es den Anschein, als wäre aller Lebenswille aus ihm entwichen.

»Großer, ich fahre gleich los. Willst du zu Beppo und Luigi, hm?«, lockte Matteo. Nur eines der winzigen Ohren zuckte. Matteo tätschelte seinen Gefährten und holte erneut das Handy hervor, während er sich erhob.

Nina war sofort am Apparat.

»Ich habe mich gar nicht getraut, dich anzurufen, weil ich davon ausgegangen bin, dass du den ganzen Morgen von Flavio auf Trab gehalten wirst.«

»Bist du Hellseherin?«

»Nö, Realistin.« Nina lachte ihr glockenhelles Lachen, das Matteo so sehr liebte. »Und, hat er dich dazu überredet, noch drei Stunden eher aufzubrechen?«

»So ungefähr. Sag mal, kannst du mir bitte einen Gefallen tun? Ich wollte Gustavo eigentlich in der Werkstatt abgeben. Aber ich glaube, er ist nicht dazu zu bewegen.«

»Vielleicht solltest du doch mal mit ihm zum Tierarzt gehen«, sagte Nina zaghaft.

Matteo murrte unwillig.

»Jaja, ich weiß schon, Matteo. Du meinst, an dem armen Gustavo ist schon genug herumgedoktert und -gepfuscht worden. Du hast ja recht. Ich komme nachher vorbei und stelle ihm etwas zum Fressen hin. Und vielleicht schaffe ich es sogar, ihn dazu zu überreden, ein paar Schritte mit mir zu gehen. Darum wolltest du mich doch bitten, oder?«

»Du bist ein Schatz, ich danke dir.«

»Di niente. Kümmere du dich um unseren liebeskranken Vogel. Ich halte den alten Gustavo bei Laune.«

Matteo grinste.

»Ich hoffe, es wird für Flavio keine allzu heftige Enttäuschung. Wer weiß, ob wir überhaupt an die Dame herankommen. Und wie sie dann reagiert. Solche Menschen werden ja ständig von Fans belagert.«

»Aber wenn ich das richtig verstanden habe«, entgegnete Nina, »kennen Flavio und sie sich doch sehr gut von früher. Ich glaube, zwischen den beiden ist mehr gewesen, als Flavio bisher preisgegeben hat. Du wirst dich vermutlich noch wundern. Und ich gäbe wirklich einiges dafür, bei eurem Ausflug Mäuschen spielen zu dürfen.«

»Kann schon sein«, stimmte Matteo zu. »Aber es ist auch möglich, dass ihre Erinnerungen ein wenig löchriger und weniger leidenschaftlich sind als Flavios.«

»So oder so, Matteo, ich wünsche euch eine schöne Zeit. Und ich warne dich. Verlieb dich nicht in eine von diesen Roter-Teppich-Schönheiten«, lachte Nina.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Ciao, Matteo. Fahr vorsichtig.«

 

Keine drei Stunden später hatten Matteo und Flavio den Wagen geparkt, die Zimmerschlüssel in Empfang genommen und saßen nun in einem kleinen, unverschämt überteuerten Ristorante auf der Piazza Grande in Locarno. Am Kopfende des Platzes war eine riesige Leinwand aufgebaut, davor war ein Meer aus gelb-schwarzen Stühlen zu erkennen, die sich farblich an dem Wappentier des Festivals, einem Leoparden, orientierten.

Dass bis zu achttausend Personen in dieser Freiluftarena Platz fanden, verblüffte Matteo und er spürte tatsächlich so etwas wie Vorfreude auf den abendlichen Film, der vor so schöner Kulisse und, das hatte er mehrfach nachgeschaut, bei besten Wetterbedingungen gezeigt werden würde. Heute würde, das versprachen die Vorhersagen, keines der im Sommer so häufigen und mit Sturzregen einhergehenden Gewitter über den See hereinbrechen.

Flavio hatte während der kurzen Fahrt, die vollends stau- und störungsfrei abgelaufen war, wie gebannt aus dem Fenster gestarrt und kein Wort gesagt. Auch das Essen war weitgehend schweigend verlaufen, der alte Mann hatte mit weit aufgerissenen Augen in einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht die Fassaden der umliegenden Häuser betrachtet, scheinbar ohne irgendetwas wahrzunehmen. Im Gegensatz zu Matteo, der sehr entspannt auf seinem Stuhl saß und den Blick schweifen ließ.

Der Platz war das Herzstück der Altstadt, die ihn flankierenden gelb, blau, rot und orange getünchten und mit Laubengängen im lombardischen Stil versehenen Häuser beherbergten zahlreiche Restaurants und Geschäfte und waren fast zu schön, um wahr zu sein.

Die Seepromenade lag nur wenige Schritte entfernt. Von dort stammten die Abertausend Flusskiesel, mit denen die Piazza Grande seit dem frühen 19. Jahrhundert gepflastert war. Was für hochhackige Festivalpremieren-Schuhe beziehungsweise deren Trägerinnen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellte, wie Matteo angesichts einiger an ihm vorbeidefilierender Damen amüsiert feststellte. Das Schweigen des alten Mannes neben ihm war keineswegs unangenehm. Es gab Matteo die Möglichkeit, die Atmosphäre des Platzes in sich aufzunehmen.

Alles wirkte festlich, wenngleich Matteo die Eleganz ein wenig bieder anmutete. Die Menschen waren gut, aber keineswegs glamourös gekleidet. Es gab einige unter ihnen, die wichtiger als andere zu sein schienen und dies auch zeigten, aber auch diese zur Schau gestellte Eitelkeit war nicht wirklich störend. Matteo empfand sie sogar als angemessen, schließlich war das der Schauplatz eines internationalen und sehr traditionsreichen Filmfestivals und nicht das Jahrestreffen irgendwelcher reicher, aber unkultivierter Unternehmer oder Lobbyisten.

Und über die gecken Selbstdarsteller, die sich hier ebenfalls tummelten, konnte er schmunzeln, er musste ja nicht mit ihnen in Kontakt treten. Er wollte Flavio gerade auf einen dürren hochgewachsenen Mann im Nadelstreifenanzug hinweisen, der einen Salvador-Dalí-Schnurrbart trug und einen Windhund an der Leine führte, als er feststellte, dass der Alte am ganzen Körper zitterte.

Derart aufgelöst hatte er Flavio noch nie erlebt. Und auch nicht annähernd so schweigsam. Üblicherweise war der Alte alles andere als gebrechlich. Auch wenn er sich seine zwei, manchmal drei Gläser Wein am Abend nicht nehmen ließ und ein gutes Essen niemals verschmähen würde: Flavio hielt seinen Körper mit eiserner Disziplin in Schuss, indem er allmorgendlich ein Gymnastikprogramm absolvierte. Das wusste Matteo, weil Beppo und Luigi es sich nicht verkneifen konnten, regelmäßig über die Leibesertüchtigungen ihres Kompagnons zu spotten, die, so wurde vor allem Luigi nicht müde zu behaupten, der konservativen Gesinnung Flavios geschuldet waren.

»Soldatisch«, krähte Luigi, der während der Studentenrevolten in Paris gelebt hatte und beim Reparieren der Oldtimer mit Hingabe linke Arbeiterlieder summte, dann stets. Dabei hatte Flavio in politischer Hinsicht in den zurückliegenden Monaten eine Läuterung erfahren. Er, der unter Berlusconi zum Anhänger der Lega Nord geworden war, verabscheute den plumpen, populistischen Nationalismus, dem Matteo Salvini seinen Erfolg verdankte. Auch die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppo Grillo hatte unter Luigi Di Maio nach Flavios Dafürhalten allen Glanz verloren. Im Grunde fehlte ihm derzeit eine politische Heimat und er beneidete heimlich Beppo, den Dritten im Bunde, der von jeher wenig von Politik hielt. Er fand sein seelisches und moralisches Gleichgewicht im katholischen Glauben.

»Willst du mir nicht erzählen, wie du Karlotta kennengelernt hast?«, fragte Matteo den Alten, in der Hoffnung, dass dieser sich ein wenig entspannte.

Ein versonnenes Lächeln glitt über Flavios Gesicht.

»Bei der Aufnahmeprüfung. Bei Strehler. Sie war so, so, so …«, seine Augen, auch wenn das kaum möglich schien, leuchteten noch ein wenig heller, »engelsgleich. Ich war dagegen ein grobschlächtiger Knochen.«

»Was war das für eine Aufnahmeprüfung?«

»Strehler«, wiederholte Flavio selig.

Matteo verstand rein gar nichts.

»Könntest du das etwas genauer erklären?«

Flavio strich sich über das mit Pomade akkurat nach hinten gekämmte Haar.

»Giorgio Strehler, das wird dir vielleicht nichts sagen, das waren andere Zeiten, das war eine Ära, in der die Kultur noch etwas bedeutete, das war …«

»Moment, Moment«, unterbrach Matteo ihn. »Natürlich weiß ich, wer Giorgio Strehler gewesen ist. Einer der wichtigsten Theatermacher Italiens. Wie du weißt, habe ich lange in Mailand gelebt, dort gibt es noch heute das Piccolo Teatro, und das hat Strehler gegründet. Aber was ich nicht verstehe: Was hast du mit Theater am Hut? Das ist mir vollkommen neu.«

Flavio grinste verschmitzt und sah glücklicherweise nicht mehr ganz so angeschlagen aus.

»Jeder war mal jung.«

»Geht es etwas genauer?« Matteo legte die Futura zur Seite, die seit geraumer Zeit in seinem Mundwinkel klemmte und die er vergessen hatte anzuzünden. Nina würde sich freuen, sie ermahnte ihn in letzter Zeit regelmäßig, seinen Zigarettenkonsum einzuschränken.

Der alte Mann schlug kokett die Augen nieder.

»Nun, damals, ungefähr zu der Zeit, als Luigi sich mit dem französischen Lumpenproletariat verlustiert hat, habe ich mich der schönen Kunst verschreiben wollen. Und als ich eines Tages davon las, dass Giorgio Strehler Darsteller für eine seiner Inszenierungen suchte, bin ich sofort hingefahren, um mich zu bewerben.«

»Du bist extra nach Mailand gefahren?«

»Dio mio«, theatralisch schüttelte Flavio den Kopf und hob die Hände gen Himmel. Für einige Augenblicke schien er wieder ganz der Alte zu sein. »Du pochiertes Erbsenhirn, meinst du, ich habe die vergangenen fünfundsiebzig Jahre in Cannobio gesessen, an Autos geschraubt und abends RAI 1 eingeschaltet?«

Ertappt. Wenn Matteo ehrlich war, dann hatte er genau das tatsächlich geglaubt. Eigentlich hatte er sich nie Gedanken über Flavios Vergangenheit gemacht. Luigi schwelgte oft in Erinnerungen, während Flavio und Beppo beharrlich schwiegen. Vielleicht hatte Matteo daraus geschlossen, dass sich in dem Leben der beiden wenig Spektakuläres zugetragen hatte und dass sie stets in dem gemütlichen Örtchen am Westufer des Lago Maggiore gewohnt hatten. Nachgefragt hatte er nicht, schließlich sprach er selbst auch nicht so gern über seine Vergangenheit.

»Nun erzähl schon«, knurrte Matteo, in der leisen Hoffnung, durch eine gewisse Bärbeißigkeit die Peinlichkeit überspielen zu können, von Flavio durchschaut worden zu sein. »Du hast sicherlich noch«, er schirmte seine Courage mit einer Hand ab, damit die Zeiger im spiegelnden Sonnenlicht zu erkennen waren, »fünf Stunden Zeit, bis der ganze Trubel hier losgeht.«

»Höchsten vier«, erwiderte Flavio, ohne auf Matteos Spitze einzugehen. Und dann begann er zu erzählen, wie er als junger Mann davon geträumt hatte, Schauspieler zu werden. »Bei dem Filmfestival hier habe ich mir als Jugendlicher und junger Mann jedes Jahr im August ein paar Franken dazuverdient. Das ist aufregend gewesen und hat meine Fantasie angeregt, aber meine eigentliche Liebe hat dem Theater gegolten. Ich verdanke sie einem Jungen aus gutem Hause, wie man damals sagte, dessen Familie in Mailand lebte und in Cannobio ein stattliches Sommerhaus besaß. Er nahm mich eines Tages mit zu einer Mailänder Aufführung von Dario Fo. Und du weißt ja hoffentlich, Matteo«, Flavio warf ihm einen skeptischen Blick zu, »dass Dario Fo ein großartiger Dramatiker und Theaterregisseur gewesen ist. Und dass der letzte italienische Literaturnobelpreisträger aus unserer Gegend stammte, aus Porta Valtravaglia, auf der anderen Seite des Sees.«

Matteo nickte vielsagend. »Und weiter, Flavio?«

»Meine Eltern waren einfache Leute. Ihnen war meine plötzliche Liebe zum Theater suspekt und mein Vater bestand darauf, dass ich einen anständigen Beruf ergreife. Also habe ich tagsüber bei einem Automechaniker gelernt und abends bis spät in die Nacht gelesen. Romane, vor allem aber Theaterstücke. Von Pirandello bis Shakespeare und die damals berühmten absurden Autoren wie Beckett und Ionesco, die heute kein Mensch mehr spielt. Ich fand das alles inspirierend. Nur bei Alfred Jarry und seinem verrückten Stück König Ubu, das von den Dadaisten und Surrealisten gefeiert wurde, bin ich ausgestiegen. Kennst du das?«

Matteo verneinte und blickte seinen Freund aufmerksam an. Im ersten Moment hatte er gezögert, als Flavio ihn um diesen Ausflug gebeten hatte. Vor allem deswegen, weil ihm auf einem Filmfestival entschieden zu viel Trubel herrschte. Allein die Aussicht auf aufgeregte, bis in die Haarspitzen parfümierte Frauen, die sich bei Typen eingehängt hatten, die sich vor lauter Testosteron kaum noch bewegen konnten, verursachte ihm Übelkeit. Aber er musste zugeben, dass er sich getäuscht hatte. Er genoss es sogar, unter Menschen zu sein. Und vor allem dieses Gespräch mit Flavio gab ihm das sichere Gefühl, dass er die Entscheidung herzukommen kaum bereuen würde. Im Gegenteil, es war ganz herrlich, hier mit dem Alten zu sitzen, sich von ihm Teile seines Lebens erzählen zu lassen und mit ihm über Kultur zu diskutieren. Das war noch nie vorgekommen. Wie schön, ihn mal unabhängig von diesem sich ständig kabbelnden Dreiergespann zu erleben. Flavio offenbarte Seiten an sich, die Matteo gänzlich neu waren. Das lag wohl an der außergewöhnlichen Begegnung, die ihm bevorstand.

Und außerdem – jetzt steckte Matteo sich doch eine Zigarette an – wehte über die pittoreske Piazza von Locarno ein so laues sommerlich duftendes Lüftchen, dass man sich nur zufrieden in seinem Stuhl zurücklehnen konnte. Er bedeutete Flavio fortzufahren.

Eine Rolle hatte Flavio bei dem Vorsprechen bei Giorgio Strehler nicht ergattern können, aber dafür eine Verabredung mit der bildhübschen Karlotta, die er während des Wartens auf den Auftritt vor den strengen Augen des Theaterleiters kennengelernt hatte. Und in diesem Moment sei es ihm erschienen, beteuerte Flavio sehr glaubwürdig, als hätte er mit dem weitaus größeren Zukunftsversprechen den Nachhauseweg angetreten. Was war schon ein Job am Theater gegen die Frau des Lebens? Wenn Matteo das Glühen der Wangen des alten Mannes richtig interpretierte, dann war er noch immer davon überzeugt.

»Und ihr seid dann ein Paar geworden?« Matteo nahm einen Schluck von dem Weißwein, dessen Preis in keinem Verhältnis zum Geschmack stand, aber davon ließ er sich die Stimmung nicht trüben. Dass die Schweiz, und dazu zählte das Tessin nun einmal, für alle, die nicht in diesem Land ihr Geld verdienten, sündhaft teuer war, war ein alter Hut.

Flavio griff ebenfalls nach seinem Glas und trank zwei hastige Schlucke. Dabei blickte er Matteo verzweifelt an.

»Beinahe«, hauchte er. »Beinahe.«

»Woran ist es gescheitert?«

Mit einem Zug leerte Flavio das Glas und stellte es heftig ab, sodass der Kellner sich aufgefordert fühlte, an ihren Tisch zu kommen.

»Noch einen Wein?«, fragte er.

»Unbedingt.« Flavio nickte eifrig und streckte dem Kellner das leere Glas entgegen, was dieser dezent ignorierte, schließlich widersprach es allen Regeln der gehobenen Gastronomie, sich das Geschirr von den Gästen in die Hände drücken zu lassen. Und Gläser wurden selbstverständlich erst dann abgeräumt, wenn neue gebracht wurden oder der Gast das Lokal verlassen hatte. Alles andere, wusste Matteo, war ein besserer Rausschmiss.

Angesichts der Hitze orderte Matteo noch eine zweite Literflasche Wasser. Es war doch zu wünschen, dass Flavio den Abend noch einigermaßen klar bei Sinnen erlebte.

»Und?« Auffordernd nickte Matteo zu Flavio hinüber.

Der schien nicht zu verstehen.

»Warum ist es damals nichts geworden mit dir und Karlotta?«

Als Flavio nachdenklich den Kopf schüttelte, hätte man glauben können, dass er immer noch fassungslos war über das, was sich vor gut fünf Jahrzehnten zugetragen hatte.

»Diese verdammte Eifersucht«, presste er schließlich hervor. »Diese verdammte Eifersucht. Ich sage dir, Matteo, lass dir von dieser Natter nie den Verstand abschnüren.«

Der Kellner stellte die neuen Gläser auf den Tisch und schenkte Wasser nach. Flavio machte Anstalten zu trinken, entschied sich dann aber zunächst weiterzuerzählen.

»Karlotta war nicht nur wunderschön, sie war auch eine glänzende Schauspielerin. Im Gegensatz zu mir. Ich habe mir eingeredet, dass es mir nichts ausmacht, aber natürlich war ich gekränkt, dass sie eine Rolle bekam, nicht nur bei dieser Produktion, sondern auch bei einer zweiten, während meine Hoffnungen schwanden, dass ich jemals auf einer Bühne stehen würde. Meine Bühne blieb die Hebebühne.«

Flavio zog eine schiefe Grimasse. Matteo war nicht ganz sicher, ob ihm die Erinnerung oder sein mittelmäßiger Witz Schmerzen bereitete.

»Was hast du getan?«, hakte er nach, als er bemerkte, dass Flavio wieder zu verstummen drohte.

Der Alte seufzte schwer.

»Ich weiß nicht, Matteo, ob ich das erzählen will. Es fühlt sich an, als würde ich eine Beichte ablegen.«

Matteo nickte. »Ja, entschuldige. Ich möchte dich nicht drängen. Es ist nur so …«

»Du hast recht, Matteo, wer einem alten Mann so lange zuhört wie du, hat auch ein Anrecht darauf, die ganze Geschichte zu hören.«

Flavio holte tief Luft und setzte seine Erzählung fort: »Ich habe sie schlecht behandelt. Ich habe sie nicht beachtet, habe Verabredungen abgesagt, habe mich mit anderen Frauen getroffen. Natürlich wollte ich nur sie, nur Karlotta, aber ich fühlte mich so klein und unbedeutend und hässlich, dass ich dachte, ich kann nur ein bisschen Stärke demonstrieren, wenn ich nicht zeige, wie viel sie mir bedeutet. Wie sehr ich sie verehre.«

Abrupt ergriff er Matteos Hand.

»Behandle ja nie die zauberhafte Nina so, hörst du?«

»Aye, aye, Commandante«, versetzte Matteo, merkte aber sofort, dass Flavio für solcherart Humor heute keinen Sinn hatte.

»Was ist dann passiert? Hat sie dich verlassen?«

Flavio senkte den Kopf.

»Zu ihrer zweiten Premiere bin ich mit einer anderen Frau gekommen. Vollkommen idiotisch. Die war mir egal, eine kapriziöse, oberflächliche Person.«

Matteo wusste bislang nur von einer Ehefrau, die aber bereits vor Jahren verstorben war. Ein wenig beschämt musste er sich zudem eingestehen, dass es ihn überraschte, dass Flavio sich nicht nur für Kunst begeistern konnte, sondern auch für tiefsinnige Frauen. Eigentlich sollte er als Psychologe – auch wenn er sich seit einigen Jahren vorwiegend als Fleischer betätigte – wenigstens die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung besser einschätzen können.

Flavio schien seine Gedanken zu erraten.

»Ich weiß schon, ich habe mich ein bisschen verändert.«

Matteo nahm einen Schluck Wein, der immerhin besser gekühlt war als das erste Glas.

»Und dann?«

»Nichts dann.« Flavio zuckte hilflos die Schultern. »Sie hat mich nach diesem unsäglichen Abend noch einmal getroffen und mir gesagt, dass es aus ist. Ich habe gedacht, in ein paar Tagen überlegt sie es sich anders. Oder in ein paar Wochen. Wir haben noch ein paarmal telefoniert, sie war höflich, aber vollkommen distanziert. Ich muss sie sehr gekränkt haben. Theater hat sie nie wieder gespielt, soweit ich weiß. Sie hat ein paar Filme in Cinecittà gedreht und ist relativ bald nach Amerika gegangen.«

»Cinecittà?«, fragte Matteo.

»Matteo, du wirst ja wohl die Filmstudios vor den Toren Roms, wo Federico Fellini La Dolce Vita gedreht hat, kennen. In Cinecittà standen Peter Ustinov, Audrey Hepburn und Liz Taylor vor der Kamera. Dreihundert Filme sind da gedreht worden und siebenundvierzig davon haben Oscars gewonnen.«

»Was du alles weißt!«

Flavio deutete auf die Futura-Schachtel.

»Kann ich eine?«

Matteo wunderte sich, klopfte aber eine Zigarette aus der Packung, reichte sie ihm und ließ das Zippo aufschnappen. Flavio nahm einen erstaunlich tiefen Zug, ohne zu husten, dann nickte er entschlossen.

»Ich danke dir, du gegrillte Peperoni, dass du mit mir hier bist. Du denkst vielleicht, der Alte spinnt. Aber ich spinne nicht. Ich will sie noch einmal sehen, jetzt, wo sie nach Jahren wieder in dieser Gegend ist. Ich weiß natürlich, dass sie sich vermutlich nicht mehr an mich erinnert.«

Er schaute konzentriert auf die Fassaden der Häuser, die die Piazza Grande säumten, betrachtete eingehend die Leinwand, auf der bald Karlotta Tramboni aufscheinen würde. Mit ein bisschen Glück würden sie auch schon auf dem roten Teppich einen Blick auf sie werfen können.

»Aber ich will ihr sagen, dass es mir leidtut. Dass ich nichts so sehr bereue wie meine Dummheit von damals. Und dass ich sie nie vergessen habe. Das will ich noch loswerden, bevor ich ins Jenseits entschwinde.«

Unvermittelt schlug er mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirrten.

»Und jetzt ist mal Schluss, das klingt ja wie das Finale einer amerikanischen Seifenoper.«

Matteo grinste, von Flavios Geschichte berührt und zugleich erleichtert, endlich wieder die gewohnte Ruppigkeit zu vernehmen.

»Haben Seifenopern ein Ende? Ich dachte, die gehen ewig weiter?«

»Mach du mal deine Salsicce, Fleischermeisterchen, mach du mal deine Salsicce und spuck keine großen Töne.«

Da war er wieder, der gute alte Flavio.

Matteo gab dem Kellner ein Zeichen, dass er bezahlen wollte. Dann zwinkerte er Flavio zu.

»Komm, den Caffè nehmen wir woanders.«

»Wo denn?«

»Ich habe gehört, das Belvedere soll eine Terrasse mit wunderbarer Aussicht haben, außerdem werde dort eine ganz hervorragende Crema zubereitet.«

Matteo grinste, als er Flavios verdutztes Gesicht sah.