Wer bist Du wirklich? - Frank Bock - E-Book

Wer bist Du wirklich? E-Book

Frank Bock

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Beschreibung

Dunkel. Packend. Atemlos. Ein freilaufender Mörder. Ein radikaler Polizist und das Verlangen nach Gerechtigkeit. Als der Mörder von Angelas kleinem Sohn wieder auf freien Fuß kommt, sinnt der Polizist Peter Johnson auf Rache. Doch was er nicht ahnt: Mit seinen Ermittlungen sticht er in ein Wespennest. Übermächtige Gegner leiten alle Mittel in die Wege, um ihn zu stoppen. Seine Flucht führt ihn nach Schottland, wo er sich nicht nur den Beamten des BND stellen muss, sondern auch den Schatten seiner eigenen Vergangenheit. Loyalität, Freundschaft, Liebe - und die zentrale Frage: Wer bist du wirklich im Angesicht des Todes? "Frank Bock versteht es vorzüglich, seine Charaktere leben zu lassen." - Rezension auf LovelyBooks

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Prolog
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Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig

Impressum neobooks

Souls, having touched, are forever entwined.

(Deep Purple, “Above & Beyond”)

Prolog

Isle of Hoy, Orkney Islands, Schottland

»Was zum Teufel ist da draußen los?«

Antons Frage war an niemand Bestimmten gerichtet. Er starrte aus dem Fenster in das Grauschwarz hinaus und kniff die Augen zusammen. Sein Haar war verschwitzt, seine Kopfhaut juckte unerträglich. Er rechnete nicht mit einer Antwort, aber er wünschte sich, jemand würde etwas Beruhigendes sagen. Etwas, das ihm eine Erklärung gab, die nichts mit den Schüssen von eben zu tun hatte. Eine Bemerkung, die ihm eine Garantie gab, dass Peter nichts passiert war. Dass sie alle nicht in Gefahr waren. Dass das Ganze ein schlechter Traum gewesen war.

Er lauschte. Aber das Einzige was er hörte, waren der Regen und sein eigener Herzschlag, dumpf und unnatürlich laut in seinen Ohren.

Schließlich drehte er sich um und sah in Gesichter, die ebenso ratlos – und ängstlich – aussahen, wie er selbst sich fühlte.

Automatisch suchte er den Belgier, aber Patrik schien weiter hinten im Haus zu sein. Anton konnte ihn dort mit irgendetwas hantieren hören.

Schließlich kam Patrik in sein Blickfeld. Er hatte eine Entschlossenheit im Blick, die dem Langen ein gutes Gefühl vermittelte.

Wie eine Eiche im Sturm, dachte er und merkte die Banalität nicht einmal. Vielleicht war jetzt die Zeit für Parolen und martialische Statements gekommen.

»Ich geh nach die Jong schauen«, sagte Patrik. »Ich denke, dass Peter Hilfe braucht«. Die Art und Weise, wie er sie alle dabei ansah, ließ keinen Zweifel aufkommen. Er war wild entschlossen, nicht länger abzuwarten, sondern aktiv etwas an ihrer Situation zu ändern. Koste es, was es wolle.

In die Truppe, die eben noch wie paralysiert gewirkt hatte, kam Leben.

»Ich bin dabei«, sagte Angela knapp, aber entschieden, und griff nach ihrer Jacke.

»Ich auch«, sagten Wolfram und Anton fast gleichzeitig, was Malcolm mit einem Augenrollen quittierte.

»Hey, hey! Rustig maar«, versuchte Patrik, die anderen zu beruhigen. »Wir können nicht allen gehen.«

»Wieso? Was für einen Sinn macht es, hier zu warten?«, raunzte Angela ihn an.

»Rüstig?«, fragte Wolfram und schüttelte den Kopf.

»If the boys are going, I’m going as well«, warf Malcolm ein.

Patrik sah verwirrt von einem zum anderen.

Er sah in fahle, abgekämpfte Gesichter, die allesamt um Jahre gealtert zu sein schienen. Aber er konnte auch die Bestimmtheit sehen, mit der jeder Einzelne seine Entscheidung getroffen hatte. Keiner von ihnen würde zurückbleiben.

»Okay, okay… Dann gehen wir eben allen die Jong helpen.«

Er drehte sich zur Eingangstür, öffnete sie einen Spalt, zögerte.

Dann wandte er sich Anton zu.

»Und es heißt rustig, niet rüstig.«

Anton konnte nicht anders. Er lachte laut los und irgendwie half dieses typische, meckernde Lachen allen.

»Und was bedeutet dein rüstich?«

Patrik suchte nach dem richtigen Wort.

»Ruhig«, sagte er schließlich. »Es bedeutet, ruhig zu sein.«

»Na, das kommt ja vom Richtigen«, entgegnete Wolfram trocken.

Patrik setzte zu einer Entgegnung an, entschied sich dann aber anders. Abrupt drehte er sich wieder um und riss die Tür vollständig auf.

Und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Guten Abend zusammen«, sagte Walter Hartmann jovial. »Schön, Sie endlich alle kennenzulernen.«

Patrik benötigte in der Dunkelheit einen Moment, um die Situation zu erfassen. Als er schließlich das ganze Ausmaß erkennen konnte, passierte etwas von höchster Seltenheit.

Den Belgier verließ jede Zuversicht. Mutlos starrte er auf die Truppe, die ihnen da gegenüber stand.

Der grinsende Hartmann, die fleischigen Finger seiner linken Hand um die Brust einer trotzig dreinschauenden Frau gelegt. Links und rechts von ihm in einem Halbkreis vier weitere Männer, bewaffnet mit Pistolen und einem Gewehr. Und alle Waffen waren auf sie gerichtet – auf ihn selbst und die kleine Schar von Freunden, die hinter ihm zur Tür drängten.

Zu Hartmanns Füßen lag ein undefinierbares Objekt. Dann bewegte sich dieses Etwas und Patrik wusste, dass sie dieses ungleiche Spiel endgültig verloren hatten.

Peter stöhnte leise, als er langsam wieder zu sich kam. Offensichtlich hatten die Kerle ihn bewusstlos geschlagen. Patrik spürte eine Welle von Wut in sich aufsteigen. Er atmete tief ein, zwang sich zur Ruhe, während er ihre Chancen abwog. Das waren nutzlose Gedankenspiele eines ewigen Rebellen und er wusste es. Dass sie Peter entdeckt und ausgeschaltet hatten, machte jede Option auf eine überraschende Wendung zunichte.

Patrik resignierte endgültig. Sie hatten nicht die Spur einer Chance.

»Die Waffe auf den Boden legen, schön langsam«, mischte sich Hartmann in seine Gedanken.

Und mit Nachdruck in Richtung der anderen, die sich hinter Patrik aufgestaut hatten:

»Und Sie kommen bitte auch aus dem Haus, schön langsam, einer nach dem anderen. Ihre Waffen bitte ebenfalls auf den Boden legen.«

Der einstige BND-Agent zeigte ein Lächeln, das seine kleinen Augen fast in den Hautfalten verschwinden ließ.

»Wir wollen ja nicht, dass jemand was passiert.«

Patrik bückte sich bemüht langsam, um die Pistole auf den Boden zu legen. Dabei gab er den Blick für die anderen frei, die immer noch nicht erfasst hatten, was da draußen los war.

Angelas erster Impuls war, zurück in Deckung zu gehen, aber Malcolm legte ihr die Hand auf den Arm.

»Forget it, honey. We’re done here…« Seine Stimme war tonlos und ohne jeden Optimismus.

Wolfram und Anton starrten unisono wie hypnotisiert auf die Szene, die sich vor ihnen ausbreitete. Keiner der beiden war fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Schließlich fügte sich Angela.

Sie zwängte sich an Malcolm und Patrik vorbei, starrte Hartmann mit funkelnden Augen an.

»Ihre Waffe, Schätzchen. Ich sage das nur ein einziges Mal«. Hartmanns Drohung war unmissverständlich.

Einen Moment war es fast totenstill. Selbst der Sturm schien einen Augenblick zu lauschen, der Regen fiel lautlos.

McFall hob den Lauf seines Gewehrs ein Stück an. Hartmanns Augen verengten sich.

Schließlich legte Angela ihre Waffe zu der von Patrik auf den Boden. Sie warf Hartmann einen vernichtenden Blick zu, schwenkte dann mit den Augen zu Caitlin. Mit kindlicher Freude sah Hartmann die Wut – und die Verachtung – in ihrem Blick.

»Sehr vernünftig, Frau Hansen«, sagte er fast liebenswürdig. »Und nun der Rest der illustren Truppe. Raustreten. Waffen ablegen. Jetzt.«

Und, als hätte er sich gerade an seine Erziehung erinnert: »Bitte!«

Malcolm schob die Jungs, die immer noch wie paralysiert in der Tür verharrten, sanft nach draußen. »No weapons«, sagte er, nachdem er ihnen gefolgt war und sich neben die anderen gestellt hatte.

Hartmann nickte McFall zu, der sein Gewehr ablegte und sich daran machte, Malcolms Aussage zu überprüfen. Er tastete einen nach dem anderen ab. Bei Angela ließ er sich Zeit, verharrte an den Rundungen ihrer Hüfte, ließ die Hände grinsend über ihren Po gleiten.

Sie raunte ihm etwas Unverständliches zu.

Irritiert beugte er den Kopf, kam ihrem Gesicht nahe genug, dass sie ihm etwas ins Ohr flüstern konnte.

Abrupt wich er zurück. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, als er die Hand hob.

»Stopp!«, bremste ihn das Kommando Hartmanns. »Wir wollen uns doch nicht an einer Dame vergreifen, Mr. McFall. Was sind das denn für Manieren?«

»Aber sie hat….«

Er unterbrach sich mitten im Satz.

»Was hat sie?«

»Nichts«, sagte McFall und strafte seine Aussage Lügen, als er mit hochrotem Kopf zurück an seine Position ging.

Hartmann zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

»Ich hab ihm gesagt, dass sein Schwanz viel zu klein ist für seine schmutzigen Fantasien«, bemerkte Angela trocken und sorgte für allgemeines Grinsen.

Für einen Außenstehenden hätte die Situation fast wie eine nette kleine Unterhaltung unter Bekannten wirken können.

Ein plötzlicher Windstoß peitschte kalten Regen über den Platz.

»Nun gut«, nahm Hartmann die Windbö als Stichwort. »Zeit, wieder ernst zu sein.«

Peter hatte sich mittlerweile in eine aufrechte Position gebracht und stand auf leicht wackeligen Beinen genau zwischen den beiden Parteien. Er suchte automatisch den Blick Caitlins. Was er sah, war abgrundtiefe Traurigkeit. Sie beide wussten, dass sie das hier nicht überleben würden. Zu schade. Es gab noch so viel zu bereden. Aber dazu würden sie nicht mehr kommen, nicht in diesem Leben.

»Ich habe keinen Freund«, sagte sie mit ganz kleiner Stimme.

Trotz der Situation musste er lächeln.

Er musste an so vieles denken, was er ihr noch sagen wollte. So vieles, das jetzt für immer ungesagt bleiben würde.

Er spürte weder den Wind noch den Regen. Nur eine nahende, fast sanfte Dunkelheit.

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte sie.

Peters angedeutetes Lächeln wurde von Hartmann brutal weggewischt. Er hatte jetzt seinen lang erhofften Auftritt. Und er genoss jede Sekunde davon.

»Getrennt im Leben, vereint im Tod«, sagte er scheinbar beiläufig.

Trotz der relativ leise gesprochenen Worte hatte er die Aufmerksamkeit aller.

Hartmann übergab Caitlin an Frantz, der sie wortlos mit seiner Linken am Arm packte. Wie ein Schraubstock schloss sich seine Pranke um ihren Oberarm. Peter sah, dass sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ganz gelang ihr das nicht und Peters Wut erreichte ein neues Level.

Wenn er jetzt die Möglichkeit gehabt hätte, dann wäre er mit Freuden bereit gewesen, jeden Einzelnen der Bande mit den eigenen Händen zu töten. Ohne einen Moment zu zögern, ohne jeden Skrupel.

Als hätte er seine Gedanken erraten, lächelte ihn Hartmann mit einer Überheblichkeit an, die kaum zu ertragen war.

Peter war hilflos, ausgeliefert. Er hatte sich noch nie so verloren gefühlt.

»Nun, meine Herren… oh, und die kratzbürstige Dame natürlich«, begann Hartmann seinen Monolog. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf Peter, dann wanderte er zu Angela und zu den anderen.

»Sie alle haben mir eine Menge Ärger bereitet, das muss ich schon sagen.«

Wie er da stand, die Beine leicht gespreizt, die Hände so vor dem Bauch gefaltet, dass sich die Fingerspitzen berührten – er hätte als Sprecher einer Betriebsversammlung durchgehen können.

»Und mein erster Impuls war, Sie alle zu eliminieren. Aber Sie wissen ja selbst, wie das mit impulsiven Gedanken so ist. In der ersten Wut denkt man Dinge, die sich später relativieren, wenn der größte Ärger verraucht ist.«

Er sah selbstgefällig in die Runde.

Alle starrten ihn nur an, unsicher was sie von dem Vortrag halten sollten. Vielleicht regte sich bei den beiden Studenten so etwas wie ein Fünkchen Hoffnung, wider besseres Wissen noch einmal davonzukommen. Aber sie zeigten ebenso wenig eine Reaktion wie die anderen.

Sie alle hatten gemeinsam zu viel erlebt, um jetzt plötzlich an Wunder zu glauben. Selbst wenn die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt.

Hartmann gab sich überbetont enttäuscht:

»Na was denn? Sollten Sie nicht ein wenig mehr Begeisterung zeigen?« Er begann, wie ein Feldherr die kleine Riege abzuschreiten, sah jedem dabei prüfend in die Augen. Der Regen hatte seine wenigen verbliebenen Haare platt auf die Kopfhaut geklatscht. Die ohnehin kleinen Augen waren wegen des Windes zu Schlitzen geworden – es war ein hochgradig lächerlicher Auftritt.

Trotzdem war keinem zum Lachen zumute.

Peter bemerkte, wie nervös und angespannt Heinlein seinen Chef nicht aus den Augen ließ. Vielleicht hatte er vorhin doch etwas in Bewegung setzen können mit seiner Bemerkung, dass sie längst von der Kripo und vom BND gejagt wurden. Vielleicht hatte er bei dem Assistenten ja nur offene Türen eingetreten. Der Mann würde sich längst seine eigenen Gedanken über das Vorgehen seines Chefs gemacht haben.

»Um ehrlich zu sein, weiß ich immer noch nicht, was ich mit Ihnen machen soll«, riss ihn Hartmann aus seinen Gedanken.

»Erschießen?« Er hielt Patrik die Pistole an den Kopf, spannte den Hahn. Der Belgier zuckte nicht einmal mit den Wimpern.

Hartmann ließ sich die Enttäuschung nicht anmerken, ging weiter zu den Jungs und wiederholte das Spielchen bei Anton und Wolfram. Abwechselnd hielt er ihnen die Pistole an den Kopf, jede Regung in den Gesichtern der beiden aufsaugend. Und davon gab es eine Menge.

Peter zog es die Eingeweide zusammen, als er beobachtete, wie die beiden tapfer zu sein versuchten – und wie die Angst trotzdem die Oberhand gewann. Ein unkontrolliertes Zucken unter Antons linkem Auge verriet deutlich seine Panik. Wolfram stand da wie paralysiert, als hätte er diesen ungastlichen Ort in Gedanken längst verlassen. So als sei nur noch seine Hülle anwesend. Seine Augen allerdings waren so weit aufgerissen, dass sein Gesicht einer grotesken Maske glich.

»Ihr zwei kleinen Computergenies habt geglaubt, ihr könnt euch mal eben so in unseren Datenbanken bedienen, was? Hat euch keiner beigebracht, dass man in fremden Angelegenheiten nicht rumschnüffeln soll?«

Hartmann war den beiden so nah, dass sie seinen Körpergeruch selbst hier draußen im abklingenden Sturm wahrnehmen konnten. Wolframs Augen begannen zu flackern wie eine Lichtorgel zu einem Technostück. Antons Zucken verstärkte sich exponentiell. Sekunden wurden zu Minuten, Augenblicke zu endlos langen Qualen. Hartmann sog die Angst der beiden ein, als wollte er diese Momente für immer konservieren. Ein Soziopath direkt aus dem Lehrbuch, dachte Peter angewidert.

»Genug!«, schrie er den Agenten an. »Lassen Sie die Zwei endlich in Ruhe, Sie verdammter Sadist!«

Er wusste selbst, wie erbärmlich das war. Er war nicht in der Position, irgendetwas zu verlangen. Er war nicht einmal in der Lage, halbwegs gerade auf den Beinen zu bleiben.

Trotzdem wandte sich Hartmann ihm zu.

Immerhin, dachte Peter. Zumindest habe ich ihn von den Jungs ablenken können.

Das Gesicht des Dicken verlor jede gespielte Jovialität, als er Peter langsam von oben bis unten taxierte. Seine Mundwinkel zeigten direkt nach unten, was Peter absurderweise an einen Farmer auf dem Markt in Dounby erinnerte, den er als Kind beobachtet hatte. Genauso hatte der Mann geguckt, als er eine Kuh eingeschätzt und für minderwertig befunden hatte.

»Zu Ihnen, mein lieber Johnson, komme ich gleich noch«, sagte Hartmann und seine Stimme schien sich den äußerlichen Gegebenheiten anzupassen, so schneidend kalt war sie.

»Was also soll ich mit Ihnen allen machen?«, wandte er sich wieder der ganzen Runde zu.

»Einfach so gehen lassen? So ganz ohne jede Strafe? Mmmh…«

Er neigte den Kopf zur Seite, als würde er angespannt überlegen.

»Wie sollen Sie dann aus Ihren Fehlern lernen? Nein, eine kleine Strafe muss sein, als erzieherischer Effekt gewissermaßen.«

Zufrieden blickte er in die Runde, wartete auf Reaktionen. Alles, was er bekam, war eisiges Schweigen.

»Ich habe hin und her überlegt und mir den Kopf zermartert, wie ich Sie ungeschoren aus Ihrem Dilemma herausbekomme und trotzdem meinen Standpunkt klarmachen kann. Und wissen Sie was?«

Wieder sah er sie der Reihe nach fast freundlich an.

»Es geht nicht.«

Entschuldigend breitete er die kurzen, fleischigen Arme aus.

»Es geht einfach nicht«, betonte er und schaffte es, einen bedauernden Ton in seine Worte zu bringen.

»Also werden wir Sie doch alle töten. Wir werden Sie erschießen müssen wie tollwütige Tiere. Dann verscharren wir Sie hier irgendwo in diesen ungastlichen Feldern und bald wird kein Mensch mehr wissen, dass es Sie jemals gegeben hat. Also fangen wir an…«.

Hartmann strahlte über das ganze Gesicht, als er die Worte ausklingen ließ.

Diesmal war die Wirkung deutlich zu spüren, wie er zufrieden feststellen konnte. Die beiden Computer-Genies sahen aus, als würden sie sich gleich in die Hose machen. Selbst der riesige Typ, den er schon ganz zu Beginn hatte ausschalten wollen, zeigte Wirkung. Das Beste aber war Johnson, dieser verdammte Mistkerl. Der sah zu seiner Angebeteten hinüber, und schien geradezu zu zerfließen vor Schuldgefühlen. Das Leben konnte so schön sein.

»Und nun zu dir, Johnson. Knie dich hin!«

Peter rührte sich nicht.

»Knie dich hin, oder ich schneide deine Frau vor deinen Augen in kleine Scheiben«, sagte Hartmann eindringlich.

Langsam sank Peter auf die Knie. Seine Augen waren starr auf Caitlin gerichtet.

Hartmann trat näher, richtete die Waffe auf seinen Kopf.

»Viel zu schnell für dich«, sagte er bedauernd. »Aber wir haben schon zu viel Zeit vergeudet.«

Peter zwang sich dazu, dem Mann in die Augen zu sehen. Er sah nichts, das auf menschliche Regungen schließen ließ.

Er sah auch keinen Film vor seinen Augen ablaufen, keinen Zeitraffer seines zu kurzen Lebens. Nur eine große Leere, die ihn jetzt aufnehmen würde.

Er verspürte ein unendliches Bedauern. Für Caitlin. Für die Jungs. Für seine neuen Freunde Patrik und Malcolm. Für Angela.

Ganz kurz dachte er an das schlechte Gefühl, das er von Anfang an gehabt hatte. Vor gerade einmal zehn Tagen, als alles angefangen hatte.

Eins

Berlin, 10 Tage vorher

In der Dunkelheit des frühen Morgens starrte Peter Johnson müde auf das Display des Telefons. Was er gerade erfahren hatte, legte sich wie eine Schraubzwinge um seinen Brustkorb.

Kerner, der verdammte Mistkerl! Nach sieben Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Der Mann, der Angelas Leben für immer verändert hatte.

Und seins damit auch.

Der Kaffee vor ihm auf dem Tisch war längst kalt geworden.

Peter versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Vergeblich. Das Geräusch eines einzelnen Autos draußen zerriss die monotone Lautlosigkeit der Nacht. Die Scheinwerfer erhellten kurz das Zimmer, warfen sich bewegende Schatten an die Wand.

Dann wieder Dunkelheit. Und die Stille, durchbrochen nur vom leisen Ticken der Wanduhr.

Kurz nach vier. Noch lag Berlin im Tiefschlaf. Bis zum Dienstbeginn auf dem Revier hatte er drei weitere Stunden totzuschlagen.

Eine ganze Weile blieb er regungslos sitzen, bis die ersten Streifen von Licht den neuen Tag ankündigten.

Schließlich ertrug er das Ticken nicht mehr.

Wie ein Countdown ins Desaster, dachte er und wählte widerstrebend Angelas Nummer.

Er ahnte nicht, wie recht er damit hatte.

In ihrem Traum besuchte sie ihre Eltern, in ihrem alten Haus am Meer. Alles war wie früher in ihrer Kindheit. Das Kreischen der Möwen, die Brandung, die Weite, der Wind. Selbst den Geruch glaubte sie zu erkennen. Ihr Vater hockte in seinem Schaukelstuhl vor der Tür, den Blick zum Horizont gerichtet, ohne eine Regung. Man hätte ihn für tot halten können. Herrgott, er war tot, seit über zehn Jahren. Sie folgte seinem Blick, spürte etwas Erschreckendes, etwas, das an ihm nagte und irgendwie auf sie übergriff. Wie eine schreckliche Wahrheit, vom Vater an die Tochter weitergegeben nach alter Sitte, wenn die Zeit reif dafür war.

Doch da war nichts als das Meer, der Himmel und der Sand, vom Wind aufgewühlt und in Kaskaden hochgeschleudert, sich verteilend wie Sprühregen. Und doch gab es noch mehr, das sie fühlen, aber nicht greifen konnte. Ein Anflug von Panik, eine Welle von Fragen, die sich zu einem unbestimmten Objekt zusammenrauften. Fragen, die sie stellen wollte und nicht in Worte fassen konnte. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Hilfesuchend sah sie zu ihrem Vater. Aber da war nur noch der Stuhl, knarzend im Wind schaukelnd. Auf der Sitzfläche sah sie eine Bewegung, milchig weiß und grau und unförmig. Irritiert sah sie genauer hin. Hunderte von Maden ringelten sich auf der Suche nach Nahrung. Und dann – sie wusste selbst im Traum, wie unsinnig das war, aber es änderte nichts an dem realen Schrecken, den sie empfand – entdeckten sie sie. Die Masse aus zuckenden Leibern hielt einen Moment inne, schien zu wittern, fügte sich zu einem Ganzen zusammen und glitt vom Stuhl. Dann begann das groteske Wesen zielstrebig, in ihre Richtung zu kriechen. Sie wollte nicht schreien, obwohl der Impuls dazu übermenschlich groß war. Schreien war Schwäche und sie musste stark sein, mehr als alles andere. Hart, wie sie es gelehrt worden war, seit sie denken konnte. Ein Mädchen, das ursprünglich ein Junge werden sollte. Ihr Vater hatte die Enttäuschung über die Geburt einer Tochter auf seine Art überwunden. Er hatte sie wie einen Sohn erzogen.

Für ihn wollte sie Stärke zeigen, für sich selbst und für ... Nicky? Dann verschmolz der Traum mit der Realität und plötzlich war da die kalte Wahrheit, schlimmer als jede Fantasie und endgültiger in ihrer ganzen Hoffnungslosigkeit. Nicolas, ihr einziger Sohn. Ihre Lebensaufgabe, ihre Berufung - und gerade acht Jahre alt, als er ermordet wurde.

Sie schrie.

Kaltes Licht drang durch die Jalousie in ihr Schlafzimmer und schuf ein diffuses Grau. Angela Hansen fand sich sitzend im Bett wieder. Noch völlig in den Emotionen des Traums gefangen, fuhr sie sich mit fahrigen Händen durch die schweißnassen Haare. Sie tastete nach dem Wecker. Zehn nach fünf.

Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, das Grauen abzuschütteln, das ihr die Maden verursacht hatten. Die Maden und noch mehr der Gedanke an Nicky. Und in den Tiefen ihres Bewusstseins befand sich noch etwas, ein vages Gefühl erst, verschwommen und abstrakt, um dann zu einem Empfinden zu wachsen: Etwas stimmte nicht, genau wie im Traum zuvor. Irgendetwas Schreckliches war geschehen. Sie wusste es mit der gleichen Sicherheit, mit der sie atmete, Hände und Beine benutzte, ohne den konkreten Ablauf erklären zu können. Eine universelle Wahrheit, die nicht hinterfragt werden musste.

Das Telefon klingelte. Oder besser, es dudelte eine dieser modernen, atonalen Klangfolgen, von Misanthropen erdacht, um ihre Mitmenschen zu quälen.

Angela erstarrte. Obwohl sie halb mit einem Anruf gerechnet hatte, spürte sie die Angst so intensiv, dass sie wie gelähmt war. Sie ließ es klingeln, rührte sich nicht und hoffte insgeheim, dass es aufhören würde, wenn sie lange genug in ihrer Katatonie verharrte. Kein Läuten, keine schlechten Nachrichten.

Das Telefon klingelte weiter, fordernd und gnadenlos. Sie gab auf. Mit leicht zitternden Händen nahm sie den drahtlosen Hörer, drückte auf den Knopf und flüsterte ihren Namen in die Sprechmuschel.

»Angie, ich bin’s.«

Die vertraute Stimme von Peter Johnson, erstaunlich wach für die frühe Stunde. Ganz offensichtlich kein Whisky-Absturz am Abend zuvor, dachte sie. Und noch etwas registrierte sie ohne Zögern: Er klang besorgt, gestresst. Als wüsste er nicht, wie er das Folgende am besten ausdrücken sollte.

»Ich habe schlechte Nachrichten. Karl rief mich vorhin an, und ... ich wollte, dass du es von mir erfährst. Nicht von sonst ...«

»Rede nicht um den heißen Brei herum, Peter! Sag mir, was passiert ist!« Sie sprach den Namen englisch aus.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Schließlich, mit einem Seufzer:

»Kerner ist draußen. Seit gestern. Sie haben ihn auf Bewährung entlassen. Gute Führung, keine Fluchtgefahr … Wahrscheinlich feiert er gerade mit Kaviar und Champagner seine Freiheit.«

Angela Hansen hörte nicht mehr hin. Apathisch drückte sie den Knopf zum Beenden des Gesprächs. Dann ließ sie das Telefon einfach aus der Hand gleiten.

Kerner entlassen. Der Mörder ihres Sohnes auf freiem Fuß. Das war undenkbar. Es durfte nicht sein. Auf Bewährung wegen guter Führung? ‚Okay – ich hab zwar ein Kind getötet, aber es war ja eigentlich nur ein Unfall. Es tut mir ja auch leid ... Da ist man doch schon genug gestraft, oder?’

Welches Rechtssystem brachte so etwas fertig?

Es war wie ein Schlag in den Magen. Wieder einmal.

Sie fragte sich, wie viel ein Mensch ertragen konnte. Erst der Tod Nickys. Für sie war es Mord und nichts anderes. Die Tat eines narzisstischen Egozentrikers, in seiner Eitelkeit gekränkt, weil sein lautes Werben auf Taubheit gestoßen war.

Dann die demütigende Verhandlung, in der Kerners Anwälte ihre Rolle als Frau und Mutter genüsslich seziert hatten. Oh nein, sie waren nicht so plump gewesen, sie als Schlampe und Flittchen hinzustellen. Das nicht. Was sie taten, war wesentlich subtiler. Hier eine kleine Bemerkung, da ein Satz mit einem Fragezeichen, der genug Spielraum für eigene Interpretationen ließ.

Nicht, was sie sagten, ließ sie in einem denkbar schlechten Licht erscheinen. Es war vielmehr das, was sie nicht aussprachen.

Es war frustrierend und ernüchternd. Es machte ihr erneut schmerzhaft deutlich, auf welchem Fundament die Stellung der Frau gebaut war, in einer immer noch von Männern dominierten Welt. Ein Mann wie ihr Vorgesetzter Kerner, dem die Frauen reihenweise zu Füßen lagen. Ein Genie auf seinem Gebiet, Professor mit zweiunddreißig, gesellschaftlich geachtet und beneidet. Einer, der alles haben konnte. Was musste sie ihm angetan haben, um solch eine furchtbare Reaktion in ihm auszulösen?

War nicht sie es gewesen, die mit ihm ausgegangen war, freiwillig und nur zu gern bereit? Die kurz danach eine Gehaltserhöhung verlangte und nicht bekam? Die daraufhin den privaten Kontakt abbrach, sich bei der Institutsleitung über ihren Chef beschwerte? Ja? Interessant. Keine weiteren Fragen.

Doch, sie waren sehr geschickt gewesen. Hatten Fakten aus dem Zusammenhang gerissen und dafür andere Verknüpfungen geschaffen. Aus Halbwahrheiten und Andeutungen, in Verbindung mit dem Weglassen bestimmter Fakten, hatten sie ein cleveres Konstrukt geschaffen. Und das ließ keinerlei Zweifel an der wahren, der moralischen Schuld an dieser Tragödie.

Erst ungläubig staunend, dann immer verzweifelter und schließlich hilflos resignierend, hatte sie das alles verfolgt. Satte, selbstzufriedene Männer in gediegenen Anzügen, die ein Bild zeichneten, das sie auf ein skrupelloses, egoistisches und berechnendes Wesen reduzierte. Bereit, für die Karriere alles zu tun ohne die geringste Rücksicht auf etwas oder jemanden - und eingeschnappt und rachsüchtig antwortend, weil ihr Plan nicht aufging.

Das milde Urteil – Kerner wurde von einem verständnisvoll argumentierenden Richter zu zehn Jahren wegen Totschlags verurteilt – war dann nur die logische Konsequenz. Und letztlich der traurige Höhepunkt einer Verhandlung, die selten klar erkennen ließ, wer auf der Anklagebank saß und wer anklagte. Als sie versteinert das Gericht verließ, hatten sich zwei Dinge für immer in ihr Bewusstsein gebrannt:

Erstens die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit nicht erreicht werden konnte, wenn man auf ein System baute, das von Geld, Macht und Chauvinismus bestimmt wurde. Ein Modell, das Justitias Hallen zu einem Zeltlager der Willkür degradierte.

Und zweitens der kalte Glanz in den Augen des Mannes, der als Mörder ihres Sohnes den Rest seines Daseins im tiefsten Loch vegetieren sollte. Ein Killer, der stattdessen in wenigen Jahren wieder frei sein würde. Frei genug, um genauso weiterzumachen wie vorher: fordernd, nehmend, an sich reißend mit dem Unrechtsbewusstsein eines Raubtieres.

Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, auch jetzt nicht. Die Welt drehte sich weiter wie seit Jahrtausenden und in eben dieser Sekunde wurden andere Leben ausgelöscht. Unzählige Menschen wurden in tiefstes Leid gestürzt, Schicksale besiegelt, und so würde es immer weitergehen bis zum Ende aller Tage. Erstmals seit Jahren weinte Angela Hansen. Dicke Tränen rannen über ihr Gesicht und mischten sich mit Rotz und Speichel zu einem nicht endenden Strom von Verzweiflung und Trauer. Sie weinte um ihren Sohn und die verlorene Unschuld, die jedes Verbrechen mit sich bringt. Sie betrauerte ein junges ungelebtes Leben - und der Schmerz in der Kehle war so heftig, dass sie würgen musste und sich röchelnd und keuchend übergab.

Und ganz zum Schluss, als es nichts mehr gab, das sie auswürgen konnte, weinte sie lautlos auch ein wenig um sich selbst.

»Du kannst dich nicht auf Dauer verstecken, das weißt du?«

Peter Johnsons Stimme war sanft und einfühlsam, die grünen Augen voller Sorge. Der schottische Akzent klang immer noch ganz leicht durch, obwohl er den größten Teil seines Lebens hauptsächlich in Deutschland lebte.

Johnson war der leitende Kommissar bei der Untersuchung nach Nickys Tod gewesen, der Mann, der Kerner festgenommen hatte.

Jetzt, drei Tage nach seinem Anruf, saß er Angela in ihrem Wohnzimmer gegenüber. Sie im Schneidersitz zusammengekauert auf der Couch, die Ärmel des weiten Shirts bis über die Hände gezogen und zwischen den Beinen versteckt. Ein Häufchen Elend, die blonden Locken stumpf und glanzlos, zu einem lieblosen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Blau ihrer sonst so strahlenden Augen schien einem schmutzigen Grau gewichen zu sein. Tiefe Ränder zeugten von durchwachten Nächten, trüben Gedanken und zu vielen Tränen.

»Ich verstecke mich nicht. Ich will nur meine Ruhe.« Ihre Stimme tonlos, als hätte sie jede Resonanz verloren.

»Natürlich.« Peter lächelte wissend. »Du stöpselst das Telefon aus, meldest dich auf der Arbeit krank, der Briefkasten ist kurz vor dem Platzen. Deine Wohnung sieht unaufgeräumt und du selber schrecklich aus. Wie ich nach drei durchzechten Nächten. Es liegt auf der Hand: Du willst nur deine Ruhe.«

Sie sah ihn an, registrierte wieder einmal, wie gut er aussah. Groß, noch schlank genug für einen Mittvierziger, jungenhaftes Lachen, die Haare immer ein wenig ungekämmt. Wache, intelligente Augen, die ebenso hart und kalt wie sanft und warm blicken konnten.

Sie zeigte beinahe auch den Anflug eines Lächelns. »Du kennst mich zu gut, Peter. Das hast du immer schon, selbst ganz am Anfang.«

»Deshalb bin ich hier. Lass mich dir helfen.« Er blickte beiläufig um sich. »Wir könnten einen Schluck zusammen trinken und du redest dir alles von der Seele.«

Jetzt lächelte sie wirklich.

»Entschuldige, ich bin nicht sehr aufmerksam. Mal sehen ... Ich habe einen Laphroaig, einen Dalwhinnie und einen Macallan. Keinen Highland Park, wie du wohl weißt …«.

Er wusste. Leider, dachte er schuldbewusst.

Der Single Malt Whisky von den Orkney Inseln war sein absoluter Lieblingsdrink. Ein flüssiges Teil Heimat. Sein letzter Besuch hatte damit geendet, dass er in dem Sessel aufwachte, in dem er jetzt saß, mit dem schlimmsten Kater seines Lebens. Plus einem Filmriss, was den größten Teil der vorangegangenen Nacht betraf. Auf dem Tisch hatte die fast leere Flasche Highland Park gestanden, daneben eine Karaffe mit Orangensaft, eine Packung Paracetamol und ein Zettel.

‚Guten Morgen!

Musste los zur Arbeit – nicht jeder hat den Traumjob eines Bullen. Dies hier ist nur als Erste-Hilfe Set gedacht; du weißt, wo du alles findest.

Angie.

PS.: Du tanzt wie ein Highland Cattle. (Falls die tanzen…)

PPS: Was ist ein »Bonnie Lassie«??‘

Er hatte den Zettel beschämt eingesteckt und nicht mehr erwähnt. Schlimm genug, dass er unter dem Einfluss inspirierender Getränke dazu neigte, seine nur rudimentär vorhandenen tänzerischen Fähigkeiten zur Schau zu stellen. Er hatte ihr offensichtlich Avancen gemacht, obwohl er sich geschworen hatte, das nie wieder zu versuchen. Als er sich in sie verliebt hatte, war der Zeitpunkt denkbar ungünstig gewesen. Zu frisch noch die Narben nach Nickys Ermordung, zu tief der Kummer. Zu unfrei der Kopf. Er war sich so plump, so dumm vorgekommen, als Angela ihn sanft aber bestimmt abgewiesen, um mehr Zeit gebeten hatte. Niemals wieder, hatte er sich vorgenommen – und jetzt hatte er sie sein Bonnie Lassie, sein schönes Mädchen genannt…

Peter Johnson schüttelte sich, immer noch verlegen und spürte eine leichte Hitzewelle aufsteigen. Wie ein dummer Teenager.

»Ich nehme den Dalwhinnie. Erscheint mir angemessen.«, sagte er schließlich kryptisch.

»Dalwhinnie soll es sein. Ein milder Whisky für einen starken, sanften Mann.«

Während sie die Getränke holte und die Hi-Fi Anlage einschaltete, sah er sich um. Ihre Pflanzen hatten gelitten. Der Ficus war völlig vertrocknet. Staub auf Regalen und dem Tisch. CDs lagen wild verstreut auf dem Teppich. Sara K., Rickie Lee Jones, Nick Drake. Soundtracks zum Selbstmord, wie Peter diese Musik einmal genannt hatte. Es war höchste Zeit zu reden.

Als die ersten Klänge von Jethro Tulls Aqualung aus den Boxen erklangen, kam Angela mit zwei Gläsern und der Flasche zurück. Kein Wasser, kein Eis.

»Cheers! Auf unsere Freundschaft!«

Der Whisky entfaltete seine Wirkung sofort. Ein verführerischer Reiz in der Nase, ein warmer, dezent scharfer Geschmack im Mund, ein leichtes, angenehmes Brennen auf dem Weg in den Magen. Dann die wohlige Wärme, Ruhe und Geborgenheit vorgaukelnd. Perfekt und verdammt gefährlich.

Peter leerte sein Glas mit zwei Schlucken. Angela nippte nur an ihrem, sah ihm ernst in die Augen.

»Peter?«

Ein kurzer, fragender Blick.

»Danke, dass du gekommen bist.«

Der Elitesse-Club war gut besucht an diesem Abend. Ledersitze in mattem Schwarz, Glastische auf Metallbeinen, die Klientel zwischen lässig cool – oder was sie dafür hielten – und gewichtig und gesetzt. Leise Musik aus gut versteckten Lautsprechern, hauptsächlich Barmusik und Jazz, nicht laut genug, um weh zu tun. Gelangweilte Gesichter, sich der eigenen Wichtigkeit bewusst. Designeranzüge und Jeans, T-Shirt mit Sakko, ebenso leger wie teuer. Die Frauen zu kräftig geschminkt, gestylte Frisuren, die jeden Hurrikan schadlos überstehen würden. Haarlack und Gel, zementierte Oberflächlichkeit.

Der Mann stand mit dem Rücken zum chromglänzenden Tresen, ein Glas Martell in der linken Hand und beobachtete scheinbar gelangweilt das Treiben um sich herum. Er sah auf eine distanzierte Art gut aus, die vollen schwarzen Haare kurz geschnitten und dezent gegelt, nach hinten gebürstet. Schwarze Armani-Jeans und passende Slipper, dazu ein weißes Hemd, das am Kragen offenblieb.

Seine Mundwinkel zeigten leicht nach oben, deuteten ein Lächeln an, das an den Augen endete.

Er war weit davon entfernt, sich zu langweilen. Unter der gleichgültigen Oberfläche wütete ein verbissener Sturm aus Selbstmitleid und Wut. All diese Warmduscher mit ihren alltäglichen Belanglosigkeiten. Sie saßen selbstgefällig in ihren Stühlen, verbreiteten eitle Nichtigkeiten mit einer Selbstverständlichkeit, die nur den Reichen zueigen sein konnte. Sie waren meilenweit weg von den Tragödien und Katastrophen, die sich unmittelbar neben ihnen abspielten. Es war verrückt.

Nicht, dass er sich dadurch auszeichnete, besonders über den eigenen Tellerrand zu sehen. Bis vor wenigen Jahren hatte er auch zu diesen Snobs gehört, hatte sich einer speziellen Elite zugehörig gefühlt. Ein harter Kern von Insidern, losgelöst von der Banalität des normalen Lebens da draußen.

Und dann hatte man ihm seine Reputation genommen.

Sie hatten ihn erniedrigt, ihn reduziert auf eine Nummer unter Tausenden anderer, ihn eingereiht in die endlose Schlange der Gescheiterten, der Verlierer, der Erbärmlichen.

Abrupt trank er sein Glas aus, knallte es auf den Tresen, wo es in Hunderte winziger Scherben zersplitterte. Einige Tropfen des Cognacs verteilten sich auf der Thekenoberfläche, schimmerten golden im diffusen Licht der Barlampen.

Ungerührt entfernte der Barkeeper die Schweinerei, stellte ihm, ohne zu fragen, einen neuen Schwenker hin. Herrmann Maurer war seit dreißig Jahren im Geschäft. Mit der auf langer Erfahrung basierenden Menschenkenntnis eines Profimixers hatte er instinktiv erkannt, dass er besser daran tat, das kleine Missgeschick nicht zu thematisieren. Der Mann hier war zweifellos kultiviert. Er war nicht auf die Art und Weise betrunken, die Randalieren oder den Verlust der motorischen Kontrolle befürchten ließ. Nein, dieser Mann war nicht auf Ärger aus, wenn man ihn in Ruhe ließ. Aber etwas schwelte in ihm und Maurer beschloss, es drinnen zu lassen. Der zahlende Kunde hat immer Recht, dachte er. Und bei den Preisen, die wir euch abknöpfen, sind noch ein paar Gläser mehr drin.

Der Mann, der Maurers Einschätzung nach keinen Ärger machen würde, war Thomas Kerner, bis vor sieben Jahren Deutschlands führender Kernphysiker. Professor Dr. Kerner.

Ich hatte die Welt offen, dachte Kerner verbittert, die ganze Welt. Und dann kommt diese Schlampe und erschleicht sich mein Vertrauen, profitiert von meinem Wissen, saugt mich aus wie eine Spinne. Kauft mich mit ihren Reizen, benutzt mich und stößt mich dann weg…

Er nahm einen großen Schluck, starrte über das Glas hinweg ins Leere. Der Gedanke an die Demütigung ließ ihn schaudern.

Er bestellte das nächste Glas Martell. »Einen Doppelten! Nein, einen Dreifachen!«. Er trank es zur Hälfte leer und schüttelte sich angewidert. Hatte er heute nicht seine Entlassung feiern wollen? Er konnte sich nicht erinnern, wie er auf die Idee gekommen war. Was gab es zu zelebrieren, wenn einem wiedergegeben wurde, was einem von Rechts wegen sowieso gehörte, nämlich die Freiheit? Sieben gottverdammte Jahre hatten sie ihm gestohlen, 2555 Tage – und Nächte. Endlose Stunden, in denen er wachgelegen und sich den Kopf zermartert hatte, was an diesem Tag tatsächlich passiert war. Dem Tag, der sein Leben verändert hatte.

Verdammtes Kokain! Special K, Koks, Schnee… es gab unzählige Ausdrücke dafür, aber die Wirkung war immer dieselbe.

Er hatte zu viel gearbeitet, zu lange Nächte im Dienste der Wissenschaft durchwacht, unregelmäßig gegessen, übermäßig getrunken. Er war unkonzentriert geworden, fahrig, hatte Fehler in seinen Berechnungen gemacht. Was er dringend gebraucht hatte, war ein Mittel, das es ihm ermöglichte, mit wenig Schlaf auszukommen und trotzdem leistungsfähig zu sein. Auf einem Kongress in München war er zum ersten Mal mit Kokain in Berührung gekommen. Es war während des abendlichen Drinks in der Hotelbar. Pochende Kopfschmerzen, bleierne Müdigkeit. Die Vorträge des Tages waren gänzlich an ihm vorbeigegangen; er hätte nicht einmal die einzelnen Themen nennen können, wenn er gefragt worden wäre.

»Sie sehen müde aus.«, hatte John Hartson, ein englischer Kollege aus Cambridge, in fast akzentfreiem Deutsch zu ihm gesagt.

»Ich habe seit Wochen keine Nacht mehr durchgeschlafen.«

»Wine, women and song?«, hatte Hartson gelächelt und ihn fixiert.

»Brandy, women and work«, hatte Kerner lachend geantwortet. ‚Brandy, women, boys and work‘ hätte es eher getroffen. Aber seine Vorliebe, zur Abwechslung das Bett mit einem möglichst jungen Mann zu teilen, ging den Briten nichts an. Ihn nicht und den Rest der Welt auch nicht. Die Konsequenzen, sowohl beruflich wie gesellschaftlich, wären unabsehbar gewesen.

»Wenn ich erschöpft bin und es mir nicht leisten kann, eine Auszeit zu nehmen …«, hatte Hartson begonnen und sein Gegenüber taxiert. Offensichtlich hatte Kerner die Prüfung bestanden gehabt, denn Hartson war fortgefahren: »… dann vertraue ich auf ein kleines Zaubermittel.«

Er hatte eine silberne Dose in der Größe einer EC-Karte zum Vorschein gebracht, sich verstohlen umgesehen und sie geöffnet. Vier kleine Ampullen, jeweils mit einem puderigen weißen Pulver gefüllt.

»Sie nehmen Rauschgift?« Kerner hatte seine Empörung kaum verbergen können. Spießig hatte er aber auch nicht erscheinen wollen. »Ich meine, dieses Zeug ist doch teuflisch…«.

»Kokain. In Maßen nicht abhängig machend. Dafür der absolute Muntermacher. Sie können nächtelang wachbleiben und arbeiten. Unter anderem. Ihre Ladies werden Sie nicht wiedererkennen…«, hatte Hartson anzüglich gegrinst.

Kerner war skeptisch gewesen, fast ein wenig ängstlich – aber noch mehr war er neugierig geworden. Vielleicht war es Hartsons letzter Satz, der den Ausschlag gegeben hatte. Der Gedanke an ausschweifende Nächte ohne die üblichen Kunstpausen hatte ihn erregt. Er hatte gespürt, wie er hart wurde.

»Und wie nimmt man das Zeug?« Kerner hatte es kaum fassen können, dass er diese Frage stellte. Rauschgift war nie ein Thema für ihn gewesen. Und doch hatte er es von einem Moment auf den anderen geschafft, alle seine Prinzipien über den Haufen zu werfen.

»Wie Schnupftabak. Snuff.«, hatte Hartson gelächelt, während er Kerners Hand genommen und aus einem der Röhrchen eine blitzsaubere weiße Linie darauf angerichtet hatte.

Es war gekommen, wie es kommen musste. Hartson hatte in einem Punkt nicht gelogen: Die Wirkung war fantastisch. Kerner fühlte sich wie ein neuer Mensch, explodierte zu alter Leistungsfähigkeit auch unter schwersten Bedingungen, konnte sein Durchhaltevermögen als Liebhaber kaum fassen.

In einem anderen Punkt jedoch hatte der Engländer die Wahrheit verdreht, günstigstenfalls verharmlost:

Das Rauschgift machte sehr wohl abhängig und innerhalb weniger Monate war Kerner dem Kokain verfallen. Und mit der Sucht kamen die Blackouts …

Er bestellte noch einen Martell. Die Unfähigkeit, die letzte Stunde jenes Tages vor über sieben Jahren zu rekonstruieren, erfüllte ihn mit Wut. Und die Hilflosigkeit fraß in seinem Innersten wie Säure.

Kerner hatte in all der Zeit nicht alles gesagt.

Er war an jenem Abend, als Nicky starb, nicht allein gewesen.

Sie tranken schweigend.

Angela in ihren Gedanken gefangen, fast ein wenig autistisch, nicht fähig, ihren Kummer wirklich zu teilen. Peter, auf der Suche nach dem richtigen Anfang, beobachtete sie. Sie nippte wieder an ihrem Glas und er wurde den Eindruck nicht los, dass es genauso gut Wasser oder Tee hätte sein können. Sie hätte den Unterschied nicht bemerkt. Ihr Blick ruhte auf etwas, das nur sie sah. Peter fragte sich, welche Dämonen dort in der Leere auf sie warteten. Er fühlte sich unwohl.

Er war gekommen, um zu helfen – das war er ihr schuldig. Er konnte sich zu gut ausmalen, welche Wirkung Kerners Entlassung auf Angela haben musste. Alles, was mühsam aus dem Bewusstsein verdrängt worden war, zeigte sich plötzlich wieder gegenwärtig. Man verbannte seine Phantome nicht einfach aus dem Leben. Sie zogen sich zurück, verhielten sich ruhig, jedenfalls eine Weile lang. Aber sie schliefen nur unter einer trügerisch stillen Oberfläche. Eine Fassade, die durch Ablenkung und eine barmherzige Eigenschaft des menschlichen Verstandes gebildet wurde: Zu schmerzhafte Erinnerungen auszublenden, bis sie nach und nach immer mehr verblassten, und schließlich ganz verschwunden zu sein schienen. Und dann, in der Stille der Nacht, in der verlogenen Harmonie des Selbstbetrugs, klingelt plötzlich ein Wecker namens Realität. Die Phantome sind wieder da, ausgeschlafen und mächtiger denn je. Und diesmal stellt sich der Verstand taub, als habe er sein Maß an Gnade längst übererfüllt. Er kannte das alles nur zu gut. Peter hatte eigene Phantome im Übermaß.

Was hatte er erwartet? Ein Wundermittel für Angela zu sein? Dass seine bloße Anwesenheit das Lachen zurückzaubert, die Tränen versiegen lässt? Er hätte diese Wirkung gern gehabt, aber würde das nicht andererseits bedeuten, dass ihr dann ihre Tiefgründigkeit gefehlt hätte? Diese absolute Abwesenheit von Oberflächlichkeit, die er so an ihr mochte? Sie war schwierig, hinterfragte alles und jeden. Ließ sich niemals mit Allgemeinplätzen abspeisen, ging den Dingen auf den Grund. Und sie war offen und schonungslos ehrlich.

Nein, dachte Peter. Das habe ich nicht wirklich erwartet und ich würde es auch nicht wollen. Es wäre nicht mehr Angela. Es wäre nicht mehr diese einzigartige Frau.

Erneut wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie viel sie ihm bedeutete. Als sie ihn endlich wieder ansah, spürte er das altbekannte Kribbeln im Bauch – und darunter. Er schämte sich augenblicklich.

»Ihr werdet nichts gegen ihn unternehmen, richtig?«, begann Angela und ihre Stimme klang rau.

»Wir haben keine Handhabe gegen ihn. Er ist offiziell entlassen worden und damit de facto wieder ein normales Mitglied der Gesellschaft. Der Rest seiner Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden, was bedeutet, dass er Auflagen erhalten hat. Das wiederum hat zur Folge ... «

»Auflagen?«, unterbrach ihn Angela und strich sich die Haare aus dem geröteten Gesicht. »Du meinst, er muss sich hin und wieder melden? Guten Tag, ich bin Professor Kerner – und heute habe ich kein Kind umgebracht?«

»Ich weiß, dass es lächerlich ist. Aber das Urteil lautete Totschlag. Für das Gericht hat er keine Tötungsabsichten gehabt. Es war offiziell ein Versehen, ein unglücklicher Unfall.« Er spürte die Wirkung der Worte, als er in Angelas entgeistertes Gesicht sah, bemühte sich um Wiedergutmachung. Nur keine weiteren Tränen. Nicht durch ihn ausgelöst. Er hätte am liebsten seine Zunge verschluckt.

»Ich kann jemanden auf ihn ansetzen. Ich kann ihn selber beschatten, wann immer mein Dienst es zulässt. Ich könnte …«

»Lass es gut sein, Peter!«. Angela lächelte ihn traurig an. Immerhin, dachte er. Besser als Tränen.

»Ich weiß, dass du es gut meinst. Und es ist nicht deine Schuld, dass es so gekommen ist. Aber du kannst nicht die Arbeit vernachlässigen, um mir einen Gefallen zu erweisen. Denn eine Genehmigung, Kerner im Auge zu behalten, würdest du nicht bekommen.«

Es war eine Feststellung, keine Frage. Und wie so oft hatte sie recht. Ihre glasklare Logik in Anbetracht ihres Gemütszustandes war erstaunlich.

Angela hielt die Hände vors Gesicht, einen ewigen Augenblick lang, wie ihm schien. Für einen kurzen Moment dachte Peter, sie würde wieder weinen, aber als sie endlich aufsah, war es, als säße ihm eine andere Frau gegenüber. Als hätte sie eine verborgene Energiequelle angezapft, schaute sie ihm direkt in die Augen, der Blick herausfordernd und klar. Ihre Körpersprache hatte sich komplett gewandelt. War sie bis eben in sich zusammengesunken gewesen, Verzweiflung und apathische Traurigkeit ausstrahlend, so ging plötzlich eine Aura von Stärke und Willenskraft von ihr aus. So kannte Peter sie, so hatte er sie immer bewundert und oft ein wenig beneidet. Er war sich nicht sicher, ob er das, was sie aussendete, auch jetzt mochte.

Sie füllte ihre Drinks auf, ließ ihr Glas mit einem schottischen »Slainte« gegen seins klirren. Als sie ihren Whisky mit einem einzigen entschlossenen Schluck austrank, hatte er das Gefühl, gerade einen unheiligen Pakt geschlossen zu haben. Und zwar, ohne den genauen Wortlaut zu kennen. Sie hätten das Kleingedruckte lesen sollen, Mr. Johnson…

Nachdenklich trank er seinen eigenen Whisky. Er kannte sie zu gut, um sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte für sich eine Entscheidung getroffen und daran würde sie konsequent festhalten. Er war Polizist und wurde dafür bezahlt, immer misstrauisch zu sein. Und jetzt hatte er die deutliche Vision von Ärger, der auf Angela zukommen würde. Und auf ihn selbst ebenso.

Man brauchte kein Kriminalist zu sein, um eins und eins zusammenzurechnen. Die Fakten lagen klar auf der Hand:

Hier war eine Frau mit tief verankerten Grundsätzen und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, dort ein frühzeitig – und ungerechtfertigt - entlassener Mörder.

Auf der einen Seite eine Mutter, deren achtjähriger Sohn sinnlos ermordet wurde. Auf der anderen der Mann, der verantwortlich war – und nicht mehr dafür im Gefängnis saß.

Angela war eine Frau, die es gewohnt war, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, aktiv und stark. Ihr gegenüber stand die Staatsgewalt in Form der Polizei und der Justiz – blind, passiv und uninteressiert. Dazu Angelas urplötzlicher Wandel von einem Bündel menschlicher Verzweiflung zu einem leibhaftigen Energiefeld, wütend und entschlossen.

Peter sehnte sich nach einer Zigarette, aber er verzichtete darauf, sich eine anzustecken. Sie hasste es, wenn er in ihrer Wohnung rauchte.

Ihre Augen trafen sich, als sie sein Glas nachfüllte.

»Tu es nicht, Angela! Es ist falsch«, sagte Peter so ruhig wie möglich, obwohl alle Sinne bis zum Bersten gespannt waren.

Wieder verblüffte sie ihn mit ihrer Antwort. Sie fragte nicht, was er gemeint hatte. Sie stritt nichts ab, leugnete nicht, was beide sowieso wussten. Sie kannten sich zu gut, um alberne Spielchen zu spielen.

»Einer muss es tun, Peter. Mein Junge verrottet in seinem Grab und Kerner kann weiter die Welt unsicher machen und kein Schwein tut etwas dagegen. Es gibt andere Frauen, andere Kinder und niemand beschützt sie. Die Welt schaut einfach zu. Ich werde nicht zusehen.«

Sie lächelte. »Und Du kannst ruhig rauchen. Ich sehe es dir an, dass Du das jetzt brauchst.«

Er erwiderte das Lächeln nicht. Seine Hände zitterten leicht, als er die Zigarette anzündete, während sie die CD wechselte. Er sah dem Rauch hinterher, beobachtete, wie sich Ringe bildeten, um sich langsam wieder aufzulösen. Das Nikotin tat ihm gut. Die Stones baten um »Sympathy For The Devil«.

»Und ich werde nicht zusehen, wie du dich ins Unglück stürzt.«, nahm er das Gespräch wieder auf. Und mich dazu. Weißt du, wie ich mich fühlen werde, wenn sie dich ins Gefängnis stecken? Wenn du nicht mehr in meinem Leben bist?

»Wie willst du das jemals mit dir selbst ausmachen? Du begibst dich auf dasselbe Niveau wie Kerner. Und dann ist es Mord – aber für dich werden sich keine mildernden Umstände finden lassen. Könntest du damit leben?«

»Dasselbe Niveau wäre verletzte Eitelkeit, Größenwahn, Narzissmus, krankhafte Egomanie…« Angela ruderte mit den Armen auf der Suche nach den richtigen Worten. »Dieses Tier hat meinen Sohn getötet, weil er mich nicht haben konnte. Mach dir das mal klar! Ich habe mich des Verbrechens schuldig gemacht, nicht auf seinen vermeintlichen Charme anzuspringen. Und weil sein krankes Ego das nicht verkraftet, bringt er meinen Kleinen um. Dasselbe Niveau? Nein, Peter, du weißt genau, dass das nicht stimmt. Die Welt sollte sich glücklich schätzen, wenn dieses Schwein nicht mehr da ist, um andere ins Unglück zu stürzen. Was, wenn sich so etwas wiederholt? Was, wenn noch mal ein Kind sterben muss, weil sich Herr Kerner zurückgewiesen fühlt? Oder vielleicht tötet er beim nächsten Mal die Frau direkt? Weißt du das? Kannst du mir garantieren, dass nichts dergleichen wieder vorkommt? Kannst du das?«

Zuletzt war sie so laut geworden, dass die Stille nach ihren Worten unnatürlich wirkte. Peter nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Welche Argumente konnte er dagegen vorbringen?

»Du sagtest einmal, Du würdest niemals in ein Land reisen, das die Todesstrafe praktiziert. Das sei unzivilisiert, pervers, grausam, selbstgerecht … staatlich sanktionierter Mord. Was ist der Unterschied zu dem, was du vorhast? Was gibt dir das Recht, über Leben und Tod eines Anderen zu entscheiden? Du hast das Recht, diesen Mistkerl zu hassen für das, was er dir und Nicky angetan hat. Du kannst ihm den Tod, die Pest, ein langes Leiden und Siechen wünschen. Das ist dein gutes Recht und niemand wird dich deswegen verurteilen. Aber du kannst dich nicht zum Richter über Leben und Tod aufschwingen. Dafür gibt es andere Instanzen.«

»Aber wen, Peter? Alle anderen Instanzen haben versagt. Die Wahrheit ist so lange bearbeitet, verdreht, verbogen worden, bis nichts mehr übrig geblieben ist. Welche Instanz meinst du? Du siehst, was Anwälte zu tun in der Lage sind. Solange Geld mächtiger ist als das Recht eines Kindes auf ein normales Leben, solange Menschen wie Kerner so etwas ungestraft…«.

Ihre Stimme brach. Die Erinnerung an das Geschehene ließ sie schweigen.

Sie hatten ihr damals den Körper ihres Sohnes nicht noch einmal gezeigt. Er musste schlimm ausgesehen haben, obwohl ihr niemand Näheres sagen wollte. Aber sie war in die Straße vor Kerners Haus gegangen, ganz früh am Morgen. Sie konnte sich an den Wind erinnern, der an ihr gezerrt hatte und die Büsche und Bäume, die sich gebogen hatten. Und dann hatte sie die Stelle entdeckt: Löschkalk im Morgengrauen, schmutzig und farblos, ungerührt verstreut. Es hatte einen Moment gedauert, bis sie den Zusammenhang erkannt hatte. Kalk zum Binden von Flüssigkeit. Man benutzte ihn, wenn Öl ausgelaufen war. Oder große Mengen Blut. Nickys Blut.

Sie empfand die Sehnsucht nach ihrem Sohn so schmerzhaft, dass sie unkontrolliert zu zucken begann.

Peter nahm sie behutsam in die Arme, vorsichtig darauf bedacht, sie nicht zu verschrecken. Er spürte, wie sie sich nach und nach entspannte, weicher wurde in seinem Griff. Verblüfft stellte er fest, dass er anfing, den Augenblick zu mögen, trotz der gegebenen Umstände. Verrücktes, schreckliches, wunderbares Leben.

Sie waren zusammengekommen unter den denkbar ungünstigsten Vorzeichen. Angela nicht sie selbst, durch den Irrgarten ihrer Gefühle stolpernd bis hin zu der ernsthaften Erwägung eines Mordes. Er selber hilflos in seinem Wunsch beizustehen, ein wahrer Freund zu sein und sich doch nur als nutzloser Beobachter vorkommend. Und jetzt kniete er hier auf dem Boden ihrer Wohnung, hielt sie umschlungen, streichelte ihren Kopf, ihren Rücken. Und genoss den Moment so sehr, dass er wünschte, er möge niemals enden.

Alles war ausgeklammert in diesen Minuten. Trauer, Wut, Verzweiflung blieben ausgesperrt aus dem fragilen Häuschen, das sie sich errichtet hatten. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Er spürte ihre Wärme, roch ihr Haar, fühlte die Wirbel ihres Rückens unter dem T-Shirt. Er hätte fast glücklich sein können.

Dann klingelte laut und misstönend das Telefon.

Kerner war jetzt ziemlich betrunken. Kurioserweise blieb sein Blick geschärft, sein Gang zur Toilette verlief schnurgerade und sein Sprachvermögen war klar und deutlich.

Sein Selbstmitleid hatte sich mehr und mehr in Richtung blanke Wut verschoben.

Das WC war leer. Er ging in eine der Kabinen, sperrte sich ein und zog vorsichtig das Röhrchen mit dem Kokain aus der Tasche der Jeans. Seine Hand war ruhig, als er sich eine Straße baute, die er teilte – eine für jedes Nasenloch. Die Wirkung setzte schlagartig ein. Es war, als würde ihm das Gehirn freigepustet. Der sanft beruhigende Effekt des Cognacs wich einer bösartigen Energie. Er verließ die Kabine und betrachtete sich im großen Spiegel. Was er sah, gefiel ihm. Ein gut aussehender böser Junge, die leicht geröteten Augen voller Tatendrang. Er atmete einmal tief durch, dann betrat er wieder die Bar.

Kerner bestellte einen weiteren Martell, dazu ein Bier gegen die trockene Kehle und steckte sich die erste Zigarette des Abends an. Sein Verstand arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks. Zwei Dinge galt es ins Reine zu bringen:

Da war zum Einen seine frühere Assistentin. Das Miststück hatte ihn ausgenutzt, hatte sich sein Vertrauen erschlichen, sein Wissen zunutze gemacht und ihn dann abblitzen lassen, als er die verdiente Belohnung einforderte. Durch Angela war es erst zu dieser Katastrophe gekommen. Er hatte nicht vorgehabt, das Balg zu töten. Er hatte den Jungen nicht einmal entführt, wie ihm zur Last gelegt wurde. Er hatte ihn von der Schule abgeholt, nicht zum ersten Mal, und der Knabe war freiwillig mitgegangen. Er hatte Angela einen Schrecken einjagen wollen, eine kleine Demonstration seiner Macht. Eine Warnung, ihren Standpunkt zu überdenken, mehr nicht. Einen Thomas Kerner wies man nicht zurück. Schon gar nicht nach all den Vorteilen, die er ihr verschafft hatte. Er hatte keine Heirat angestrebt, Gott bewahre. Er hatte sie nur vögeln wollen und nach allem, was er für sie getan hatte, wäre das nur recht und billig gewesen.

Und zweitens war da das ganz große Fragezeichen namens Alex. Alex war sein Dealer gewesen, der Beschaffer der glücklich machenden Pülverchen. Und nebenbei sein Liebhaber.

Alex war gerade 17 gewesen, aber schon schwer abhängig. Trotzdem sah er verdammt gut aus in seinen eng anliegenden Lederjeans, die deutlich zeigten, wie gut er ausstaffiert war, dort, wo es drauf ankam. Dazu die blonden Locken, die blauen melancholischen Augen. Kerner musste ihn haben, vom ersten Moment an.

Der Sex mit Alex war fantastisch. Allerdings auch anstrengend, denn der Junge war nicht satt zu bekommen. Außerdem hatte er ein paar unangenehme Wesenszüge gezeigt. Anfangs war Kerner noch amüsiert gewesen. Alex hatte ihn auf eine fast devote Art angehimmelt. Der Straßendealer und der Geistesmensch. Aber so nach und nach hatte Alex angefangen, Eifersucht zu entwickeln, Besitzansprüche zu stellen. Kerner hatte vorgehabt, sich bald einen anderen Händler zu besorgen. Der Knabe war lästig geworden.

So auch an dem besagten Abend. Alex war unangemeldet aufgetaucht und hatte einen Riesenstreit wegen des Jungen begonnen. Bruchstückhaft erinnerte sich Kerner daran, dass der Dealer ihn verdächtigt hatte, es mit einem Kind zu treiben. Wie lächerlich! Kerner hatte in seiner Wut eine weitere Prise genommen und dann wurde es leer in seiner Datenbank. Er konnte einige verschwommene Bilder rekapitulieren, wie er nach Nicolas sehen wollte, hatte eine vage Ahnung davon, dass der Junge geweint und geschrien hatte. Wie durch einen dichten Nebel hindurch sah er Nicky vor sich auf dem Boden, jammernd, zitternd, im Schritt eine sich vergrößernde dunkle Stelle ... Der hatte sich doch glatt in die Hose gepisst. Widerlich. Verdammt noch mal, das lief auf den Teppich … Er konnte immer noch die Wut spüren, die ihn angesprungen hatte. Aber danach? Was zum Teufel war dann passiert? Er war auf den schreienden Knaben zugegangen, um ihn… ja, was genau? Ihn zur Ruhe zu bringen, ihm den Mund zuzuhalten? Ich glaube, ich wollte ihn schlagen. Da war noch etwas. Ein gewaltiger Krach. Jemand hat geschrien. Aber wer? Er bekam es einfach nicht zusammen, die Szenerie wurde undeutlicher, je intensiver er versuchte, sich zu erinnern. So war es die ganzen sieben Jahre gewesen. Manchmal hatte er geglaubt, das Rätsel der letzten Minuten lösen zu können. Hatte gespürt, dass sich die Wahrheit tief in seinem Inneren versteckte, in einem verborgenen schmutzigen Winkel, den er nicht einsehen konnte. Aber er hatte sie mit aller Kraft seiner Gedanken gezwungen, ihr Versteck zu verlassen, sich zu offenbaren. Wieder und wieder war er drauf und dran zu triumphieren. Aber wenn er nur noch einen winzigen Schritt von der Klarheit eines Frühlingsmorgens in den Bergen entfernt war, kam der Nebel zurück. Nichts. Seine eigene, persönliche Wahrheit spielte mit ihm, ärgerte ihn, verhöhnte ihn. Aber sie zeigte sich nicht.

Wer hat geschrien? Ich selbst? Es hätte auch Alex gewesen sein können. Hatte der kleine Junkie geahnt, dass eine Katastrophe mitten auf ihre Klimax zusteuerte? Wollte er ihn davon abhalten, dem Jungen etwas anzutun? Aber das hatte er doch nicht. Oder doch? Es war wie der Lauf durch ein Labyrinth. Ein Irrgarten der unvollständigen Erinnerungen.

Da stand er nun, der Professor, der Meister der analytischen Schärfe. Der Logiker, das Genie der subatomaren Prozesse. Er konnte sicheren Fußes durch den Mikrokosmos der Quarks spazieren, jedoch Struktur in simple Speichervorgänge im Kleinhirn zu bringen, ließ ihn straucheln. Er kam einfach nicht weiter als bis zu dem Moment des beängstigenden Schreis. Danach völliger Blackout bis zu dem Zeitpunkt, da der Bulle mit dem stechenden Blick ihm die Handschellen angelegt hatte. Von Alex war weit und breit nichts zu sehen gewesen.

Das war eine Tatsache, über die Kerner anfangs sehr froh gewesen war. Dem lächerlichen Vorwurf der Kindesentführung ausgesetzt zu sein, war schlimm genug. Mit der abstrusen Anklage des Kindesmordes konfrontiert zu werden, war wahrscheinlich schon nicht wieder gut zu machen. Egal wie sehr sie sich später dafür würden entschuldigen – und verantworten – müssen. Zumindest hatte Kerner das gedacht. Aber zu allem Überfluss in den Schlagzeilen zu lesen, dass er einen drogenabhängigen, minderjährigen Dealer gevögelt hatte, wäre das Ende seiner Laufbahn gewesen.

Später dann, als er den Ernst der Situation begriffen hatte, als eine Verurteilung sich tatsächlich abzeichnete, hätte er anders gedacht. Da hätte er alles dafür gegeben, wenn Alex aus der Versenkung aufgetaucht wäre. Er hätte ihn entlasten können. Hätte er das? Was wäre herausgekommen, wenn sie Alex vernommen hätten? Kerner schüttelte den Zweifel unwillig ab, trank einen weiteren Schluck.

Dieser Mistkerl hatte sich niemals auch nur nach ihm erkundigt. Kein Besuch. Kein Anruf. Kein Brief. Es war, als hätte Alex nie existiert. Natürlich hätten sie keinesfalls die ganze Wahrheit erzählen können, nichts über Drogen und Sex. Aber das wäre auch nicht nötig gewesen. Sie hätten eine Geschichte erfinden können, die erklärt hätte, warum Alex bei ihm gewesen war. Aber der hatte es vorgezogen, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Aus Angst vor der Polizei? Aus Gleichgültigkeit? Weil Kerner eben doch den Jungen bewusst getötet hatte, es kein Unfall war? Nein, nein, nein! Es war müßig, reine Spekulation und es spielte keine Rolle für Kerner. Es war ihm schlicht egal. Was blieb, war der Verrat. Er würde sich darum kümmern, zu gegebener Zeit. Er ließ den Gedanken genießerisch noch eine Weile schweben, bevor er ihn wegwischte und sich zusammenriss.

Er sah sich in der Bar um, die sich merklich geleert hatte. Weiter hinten entdeckte er, was er suchte: eine ruhige Ecke abseits der wenigen verbliebenen Gäste. Er füllte sein Getränkekontingent nochmals auf und zog sich unter den müden Blicken Maurers dorthin zurück.

Ob sie immer noch so unverschämt gut aussah? Kerner wischte auch diesen Impuls schnell beiseite. Jetzt kam die Zeit, ein paar alte Rechnungen zu begleichen. Er nahm sein Handy aus der Tasche und wählte ohne Zögern Angela Hansens Nummer.

Zwei

Berlin, April

Erste Zeichen des neuen Tages ließen den Himmel am Horizont eine Nuance heller werden. Ein Streifen Grau, der sich gegen das vorherrschende Schwarz abhob. Regen klatschte in dicken Tropfen auf die Windschutzscheibe des schwarzen Golfs. Peter Johnson stellte den Scheibenwischer an und beschleunigte in den fünften Gang, hielt den Wagen bei 160 km/h. Die Avus gehörte ihm fast allein, nur hin und wieder durchbrachen Scheinwerfer das Dunkel des frühen Morgens.

Er drehte die Lautstärke des Radios höher. Joan Osbornes One Of Us stellte die Frage in den Raum, was wäre, sollte Gott einer von uns sein.

Peter schaltete auf den CD-Player um. Iron Maidens Number of the beast dröhnte aus den Boxen. Draußen peitschte weiter der kalte Regen.

Auch irgendwie eine Antwort auf die Frage, dachte Peter.

Sein Kopf schrie nach Paracetamol, seine Augen taten weh und seine Kehle war rau. Er brauchte dringend Schlaf. Aber er musste auch nachdenken und das hatte Vorrang. Er hatte eine Entscheidung zu treffen.

Peter nahm die Ausfahrt Wannsee und bog nach kurzer Zeit in die Havelchaussee ein. Der Regen ließ nach, wich einem stetigen Nieseln. Bodennebel über dem trägen Wasser der Havel, Trauerweiden und Schilf, müde im Wind schaukelnd.

Er lenkte den Golf auf einen Parkplatz gegenüber dem Fluss.

Kühle, feuchte Luft schlug ihm entgegen, als er den Wagen verließ. Der Boden unter seinen Füßen war modrig und schwer, jeder Schritt von schmatzenden Geräuschen begleitet. Er fluchte, als er ausrutschte und fast hingefallen wäre.

Am Ufer blieb er stehen, atmete tief durch. Der Tag hatte den Kampf gegen die Nacht endgültig gewonnen. Fahles Licht breitete sich am Himmel aus.

In der Stille der kühlen Morgendämmerung hallten die Schreie der erwachenden Vögel unnatürlich laut wider.

Es roch nach Moder und feuchtem Laub, nach brackigem Wasser und faulenden Pflanzen. Peter dachte daran, wie Angelas Haare geduftet hatten, wie sie sich in seinen behutsamen Händen angefühlt hatte. Erstaunlich, dass man einen solchen Moment der Verzweiflung so genießen konnte. Und doch empfand er kein Bedauern, keine Scham. Es hatte sich richtig angefühlt. Es war seine Aufgabe, sie zu beschützen. Vor der Welt, vor Menschen wie Kerner – und nicht zuletzt vor sich selbst.

Kerner. Der Mistkerl hatte es tatsächlich gewagt. Trotz der Bewährungsauflagen, trotz der Verfügung, keinen Kontakt – in welcher Form auch immer – aufzunehmen, hatte er Angela angerufen. Mehr noch, er hatte ihr massiv gedroht. Es war eine bizarre Situation gewesen. Das Läuten des Telefons hatte die kurze Idylle abrupt beendet. Widerstrebend hatte er nachgegeben, als sich Angela aus seiner Berührung befreit und den Hörer genommen hatte. Er hatte sich zurückgelehnt und sein Glas aufgefüllt, während sie sich gemeldet hatte. Etwas in ihrer Stimme hatte sich plötzlich verändert, sodass er aufsah, schlagartig hellwach. Ihr Körper hatte sich gestrafft, die Augen verengt. Sie hatte heftig gezittert.

Peter nahm einen kleinen Stein in die Hand und warf ihn ins Wasser. Fast lautlos versank er in der Havel. Konzentrische Kreise breiteten sich an der Stelle aus, wo er die Oberfläche durchdrungen hatte, um sich bald danach aufzulösen. Löst sich mein Leben gerade auf? Ist Angela so sehr zum Zentrum meines Daseins geworden, dass ich dafür alles andere aufs Spiel setzen würde?