Wer die Leidenschaft flieht - Barbara Cartland - E-Book

Wer die Leidenschaft flieht E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Leidenschaftlich verliebt in Lucien de Sardou, einem französischen Aristokraten, entflieht Fleur Garton der engstirnigen englischen Heimat um mit ihm im herrlichen Chateau zu leben – aber ihr Glück ist von kurzer Dauer. Als Krieg ausbricht, ist Lucien unter den ersten Opfern, tapfer sein Heimatland als Pilot verteidigend. Allein zurückgeblieben mit Luciens Mutter bleibt Fleur im Château bis sie vor den Deutschen die Flucht ergreifen muss und eine risikoreiche Heimreise beginnt mit unerwarteten Folgen. Daheim in England ist sie wurzellos und findet eine Stellung im Hause des Motorenkönigs Sir Norman Mitcham. Wird sie ihren Weg finden?

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2020

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1

Fleur kam aus dem Zimmer, in dem die tote Comtesse de Sardou lag.

Im Gegensatz zu der stickigen, warmen Atmosphäre im Krankenzimmer war es hier im Flur kühl - die frische Luft belebte sie wie ein Glas kaltes Wasser.

Sie trat an eines der Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück. Die ersten schwachen Strahlen der Sonne drangen durch den weißen Bodennebel, der über den grünen Rasenflächen im Garten lag.

Fleur seufzte und lehnte die heiße Stirn einen Augenblick lang an die graue Wand. Dunkle Schatten der Erschöpfung lagen unter ihren Augen, aber sie war von einem sonderbaren Gefühl des Friedens erfüllt.

Am Horizont erblickte sie eine dünne schwarze Rauchwolke, die sich dunkel vom dunstigen Blau des Himmels abhob. Sie wußte, daß sie ein Zeichen der Zerstörung war, die am gestrigen Tag stattgefunden hatte. Die ganze Nacht über hatte das Feuer gewütet - die Folge von Aktionen der Royal Air Force-Flugzeuge, die am frühen Nachmittag im Tiefflug übers Land gezogen waren.

Sie hatte die Bomben gehört und gespürt, wie sie auf dem Fabrikgelände, nur zwanzig Meilen entfernt, detoniert waren. Französische Arbeiter stellten dort Woche für Woche Hunderte von Lastwagen für ihre deutschen Herren her.

Das Haus bebte bei der Erschütterung, aber als man ihr erzählte, was geschehen war, murmelte die Comtesse nur: »Das ist gut. Nur die Engländer können uns befreien.«

»Pst, Madame!« warnte Marie. »Es ist nicht klug, so etwas zu sagen.«

Aber Fleur lächelte stolz. Ja, es waren ihre Landsleute, die der eroberten französischen Nation die Freiheit bringen würden.

Als sie jetzt zu der Rauchwolke hinüberschaute, dachte sie an Lucien ... dachte daran, wie er im Triumph durch den Himmel geflogen war ... nur um in seiner brennenden Maschine zu Boden zu stürzen - auch bei dem gestrigen Angriff waren ein paar tapfere Männer gefallen.

Bei der Erinnerung an Lucien füllten sich Fleurs Augen mit Tränen.

Seltsam, dachte sie, daß ich in diesem Augenblick um Lucien weine und nicht um seine Mutter.

Die Comtesse starb, als ob sie ihre letzte Rolle in einem Theaterstück spielen müßte, auch die Kulisse paßte: die feine, aristokratische alte Dame mit dem weißen Haar und den strengen Zügen, das perfekte Porträt einer grande dame, der ernste Priester und der grauhaarige Doktor neben dem Bett. Marie schluchzte hörbar am Fuß des Himmelbettes, in dem Generationen der Familie de Sardou die Welt begrüßt und auch wieder verlassen hatten.

In dieser Szenerie lag nichts Beängstigendes, es war nicht einmal Verzweiflung und Elend zu spüren gewesen, und jetzt, da es vorüber war, wurde sich Fleur einer unermeßlichen Erleichterung bewußt. Die Spannung, die sie in der Erwartung eines grauenvollen unausweichlichen Ereignisses umklammert gehalten hatte, war plötzlich von ihr gewichen. Nie zuvor hatte sie jemanden sterben sehen, und der Gedanke an den Tod war erschreckend, bis sie herausfand, daß es nichts weiter war als das Schließen der Augen und das Falten der Hände. Aber so friedlich war der Tod nicht immer. Lucien war anders gestorben: sein Ende war vielleicht schnell und sauber gewesen - ganz unerwartet im Kampf, in einem Augenblick des Triumphes.

Sie hatten erfahren, daß er einen feindlichen Bomber abgeschossen hatte, ehe ihn dasselbe Schicksal ereilte. Lucien - fröhlich, lebhaft, lachend -, der aus dem sonnenhellen Himmel herabgestürzt war auf die Erde seines geliebten Frankreichs.

Fleur wandte sich vom Fenster ab und ging den Gang entlang zu ihrem Zimmer.

Selbst nach fast drei Jahren fiel es ihr immer noch schwer, ohne dieses schmerzliche Gefühl des Verlustes, das sie fast körperlich verspürte und das ihr anfangs unerträglich schien, an Lucien zu denken.

Sie wusch sich das Gesicht und begann das Kleid auszuziehen, das sie die ganze Nacht über getragen hatte.

Sie war noch nicht halb ausgezogen, als es an der Tür klopfte. Es war Marie. In der Hand hielt sie ein Glas, das eine weißliche Flüssigkeit enthielt.

»Was ist das?« wollte Fleur wissen.

»Monsieur le Docteur schickt es. Sie sollen es trinken und schlafen. Sie brauchen den Schlaf, ma pauvre - wie wir alle.«

Müde ließ Fleur die letzten Kleidungsstücke zu Boden fallen, zog das weiche Seidennachthemd über den Kopf, das Marie ihr hielt, und schlüpfte zwischen die nach Lavendel duftenden, handbestickten Laken.

»Trinken Sie das, ma petite«, zwang Marie sie sanft, und gehorsam schluckte Fleur das Mittel.

Es schmeckte ein wenig bitter, und unwillkürlich verzog sie das Gesicht, als sie Marie das leere Glas zurückgab und sich dann in die Kissen kuschelte.

»Ich werde später wieder nach Ihnen sehen, Mademoiselle.«

Marie zog die schweren Vorhänge vor das offene Fenster, ging leise hinaus und schloß die Tür hinter sich. Fleur schloß die Augen. Es war wohltuend zu fühlen, wie sich die Muskeln entspannten, wie ihre Glieder in das weiche Federbett sanken. Sie spürte, wie der Schlaf in warmen Wellen von ihr Besitz ergriff ... zurückwich ... näher kam ... jedes Mal ein bißchen mehr das Bewußtsein umhüllte ...

Sie wachte auf und sah, daß Marie mit einem Tablett an ihrem Bett stand, auf dem eine Tasse dampfenden Kaffees und ein paar Kekse zu sehen waren. Fleur rieb sich die Augen und setzte sich auf.

»Ich habe wunderbar geschlafen, Marie. Wie spät ist es?«

»Fast drei Uhr.«

»So spät schon? Du hättest mich nicht so lange schlafen lassen sollen.«

Marie lächelte. Ihre alten Augen waren vom Weinen verschwollen, aber Fleur fand, daß sie weniger mitgenommen aussah als einige Stunden zuvor.

»Was ist passiert?«

»Wir haben Madame in die Kapelle gebracht und sie dort aufgebahrt - übermorgen ist die Beerdigung.«

Fleur setzte sich auf und kostete den Kaffee. Dann stieß sie einen leisen Schrei aus.

»Aber Marie! Das ist unser bester Kaffee - aus unserem Vorrat - und Madames Kekse!«

»Warum nicht?« entgegnete Marie trotzig. »Wofür sollen wir das alles aufbewahren? Für die Deutschen? Oder für die Cousins, die nicht einmal kommen konnten, um ihren letzten Segen zu erhalten? Nein! Lassen Sie sich die Sachen schmecken, Mademoiselle; die Comtesse würde wünschen, daß Sie sie bekommen. Die anderen sollen sich mit dem Rest begnügen.«

Marie spie die Worte fast aus. Ihre alten Hände zitterten.

»Wir dürfen Madames Verwandte nicht verurteilen, ohne sie gehört zu haben«, erklärte Fleur vorwurfsvoll. »Vielleicht konnten sie nicht kommen - es ist schwierig, eine Einreisegenehmigung in unser Gebiet zu bekommen.«

»Sie haben es niemals auch nur versucht«, behauptete Marie. »Die ganze Zeit nicht, seit Monsieur Lucien gestorben ist. Aber jetzt, da sie sicher sein können, daß es was zu holen gibt, werden sie sich hier ganz rasch wie die Geier versammeln, Sie werden schon sehen.«

»Wie meinst du das? Der Doktor hat sie schon vor Wochen von Madames Krankheit in Kenntnis gesetzt, aber wir haben keine Antwort erhalten. Hast du gehört, daß jemand hierher unterwegs ist?«

Marie schüttelte den Kopf.

»Aber sie werden trotzdem kommen«, beharrte sie.

»Und nur du und ich sind da, um sie zu empfangen!« Nachdenklich stützte Fleur ihr Kinn in die Hand. »Ich muß fort, Marie. Die Deutschen kann man ja noch täuschen, aber die Familie wird sich nicht so leicht hinters Licht führen lassen.«

»Aber wohin wollen Sie gehen, Mademoiselle?«

»Ich weiß es nicht.«

Fleur streckte die Hand aus und nahm einen der süßen, gezuckerten Kekse, die sie während all dieser Monate des Hungers für die Comtesse aufbewahrt hatten.

Aber wenn Marie auch Kekse und Brandy und andere kleine Delikatessen verstecken konnte, Menschen konnte sie nicht verstecken, und Fleur begriff zum ersten Mal, wie gefährlich ihre Lage war.

Die Monate waren wie im Traum vergangen - ohne Schwierigkeiten. Die Deutschen waren zwar wirklich schon im Haus gewesen, und die Comtesse war ihren Forderungen mit kühler Würde nachgekommen, die eine größere Beleidigung war als es Schimpfworte hätten sein können.

Das Château lag etwas abseits, und man hatte keine Offiziere oder Soldaten einquartiert. Die Deutschen hatten die Damen zuvorkommend behandelt, nur ein Teil der landwirtschaftlichen Erträge, Luciens Wagen und Maschinen und Werkzeuge wurden ohne Erklärung oder Entschuldigung beschlagnahmt.

Im Übrigen ging das Leben ohne Veränderungen weiter. Nur wurden die Schloßbewohner seit diesen Ereignissen von einer unbestimmten Furcht beherrscht. Niemand sprach darüber, aber alle hatten Angst, daß noch etwas Schreckliches geschehen könnte.

»Wir müssen nachdenken, Marie«, meinte sie jetzt. »Irgendeine Lösung wird uns schon einfallen.«

Sie trank langsam ihren Kaffee aus und genoß jeden Schluck. Er war köstlich. Und auch die Kekse! Wie sehr hatte sie sich manchmal nach etwas Süßem gesehnt!

Marie zog die Vorhänge zurück, und die heiße, goldene Nachmittagssonne erhellte den Raum.

»Waren heute noch keine Flugzeuge zu sehen?«

Marie schüttelte den Kopf.

»Kein einziges«, antwortete sie. »Aber Fabian kam vor einer Weile vom Dorf herauf und erzählte, daß gestern zwei Maschinen abgeschossen wurden, eine ist ungefähr zehn Meilen von hier in ein Feld gestürzt. Die Dorfbewohner sind zu Hilfe geeilt, aber es war schon zu spät. Die Männer sind alle, bis auf einen, verbrannt, und den haben die Deutschen ins Lazarett gebracht.«

»War er schwer verwundet?«

»Fabian wußte es nicht, aber ich wäre lieber in Gottes Händen als der Gnade dieser Teufel ausgeliefert.«

Fleur strich sich das Haar aus den Augen. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn Lucien ein Gefangener gewesen wäre, anstatt sich, wie Marie es ausdrückte, in Gottes Händen zu befinden.

Nach dem Abzug der British Expeditionary Force aus Dünkirchen machten Gerüchte die Runde, daß die Gefangenen in deutschen Lagern hungerten und froren. Aber jetzt sollte alles - wenn man den Leuten Glauben schenken durfte - besser werden, und es bestand die schwache Hoffnung, daß die französischen Gefangenen wieder in die Heimat zurückkehren durften. Es wurde viel geredet, der Optimismus war unerschütterlich, aber dennoch geschah nichts, na ja, vielleicht entwickelte sich doch noch alles zum Guten. Fleur fiel es schwer, das zu glauben, wenn sie daran dachte, daß Lucien bereits zwei Wochen nach Beginn der Feindseligkeiten abgeschossen worden war.

In der zweiten Woche! Fleur erinnerte sich noch so gut an die ungläubige Überraschung, an das Staunen und den Schmerz, die sie nach der Schreckensnachricht, daß Lucien beim Überfliegen der Maginot-Linie getötet worden war, empfunden hatte. An diesem Tag war die Kälte zwischen ihr und Luciens Mutter geschwunden, war die Barriere gefallen. Die beiden Frauen hatten zusammen geweint, vereint durch den Verlust, vereint wie sie es nie hätten sein können, hätte Lucien gelebt. Es war merkwürdig, wenn sie jetzt daran dachte, wie sehr sie die Comtesse gefürchtet hatte, denn Fleur war nicht auf jemanden wie Luciens Mutter vorbereitet. Erst jetzt konnte sie verstehen, was das Geheimnis war, das ihre eigene französische Großmutter zu umgeben schien, nach der sie benannt worden war, konnte begreifen, warum ihre Mutter immer mit mehr Ehrfurcht als Zuneigung von ihr gesprochen hatte.

Aristokraten! Es war unmöglich, fand Fleur, daß sie oder eine andere Frau ihrer Generation jemals eine solche Würde und Haltung ausstrahlen würden.

Uns fehlt die Muße, graziös und ruhig zu sein, dachte sie einmal. Wir müssen gierig nach allem greifen, was wir haben wollen, damit nicht jemand anderer es zuerst bekommt.

Dieser Gedanke erinnerte sie an Sylvia - Sylvia, mit ihren rotlackierten Nägeln, dem geschminkten, geschwungenen Mund und dem herausfordernden Blick ... Sylvia, die bis zum Mittagessen in einem schmuddeligen Hausmantel und einem alten Paar Hausschuhe mit abgelaufenen Absätzen durchs Haus schlurfte ... Sylvia, unordentlich und nachlässig, und doch immer auf triumphierende Art schön - aufreizend durch eine Sinnlichkeit, die man nicht übersehen konnte - grell und doch begehrenswert.

Fleur schauderte noch heute, wenn sie an den Tag dachte, an dem ihr Vater Sylvia in ihr Heim gebracht hatte. Sylvia stellte das ganze Haus auf den Kopf und erfüllte es mit ihrem schrillen Gelächter. Fleur konnte nicht fassen, daß ihr Vater wollte, daß diese Frau den Platz ihrer Mutter einnahm; und dennoch, trotz ihres Schmerzes, trotz ihrer bitteren Abneigung verstand Fleur doch ein wenig, daß er von Sylvia fasziniert war.

In der ersten Zeit war Fleur verwirrt und zog sich zurück. Erst später begriff sie, wie verdorben Sylvia war. Sie hatte sich heimlich an einen jungen Mann herangemacht, den Fleur ihrem Vater vorgestellt hatte. Fleur ließ sich zunächst von Sylvias Charme, mit dem sie den jungen Mann willkommen geheißen hatte, täuschen, doch dann fiel ihr auf, daß ihr Freund anfing, ihr aus dem Weg zu gehen und beschämt vor ihr zurückzuweichen. Fleur war tief verletzt und - auch um ihres Vaters willen - entsetzt.

Sie würde nie vergessen, wie sie damals aus dem Haus in den strömenden Regen gelaufen und blindlings über die Klippen gerannt war, ungeachtet ihrer durchnäßten Kleidung.

Sie kehrte nur nach Hause zurück, weil sie ihren Vater trotz all seiner Schwächen liebte. Arthur Garton war ein kluger Mann, was die Literatur betraf; was Frauen anging, war er ein Narr.

Kurz nach seinem fünfundvierzigsten Geburtstag hatte er sich aus dem Familienunternehmen zurückgezogen und widmete sich seit dieser Zeit nur noch der Schriftstellerei und dem Golfspiel. Er baute ein Haus am Ortsrand von Seaford. Arthur Garton war glücklich dort, saß bequem an seinem eigenen Kamin und schrieb.

Nach dem Tode von Fleurs Mutter hätte er vielleicht in diesem Stil weitergelebt, wäre er nicht Sylvia begegnet.

Sylvia suchte jemanden, der ihre Rechnungen bezahlte und ihr ein Dach über dem Kopf bot. Es war ganz einfach für sie, einen so schwachen und idealistischen Mann wie Arthur Garton zu umgarnen. Nur einen Monat nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, heirateten sie, und Fleur erfuhr erst nach der Zeremonie davon. Natürlich war es dann zu spät für Protest. Fleur konnte ihren Vater nicht mehr an die Frau erinnern, die ihr zwanzig Jahre zuvor das Leben geschenkt und die ihn, bis sie starb, geliebt hatte. Sylvia sorgte dafür, daß Fleur nicht mit ihrem Vater sprechen konnte, und bewies damit, daß sie ein untrügliches Gespür für Gefahr hatte und sie abwehrte, ehe sie ihr schaden konnte.

Doch nach vier Jahren Ehe mit Arthur Garton wurde sie sorglos. Sie unterschätzte ihn, unterschätzte auch den Anstand eines Gentleman. Als er bestätigt fand, was er wohl schon lange vermutet hatte, ging Arthur Garton eines Morgens sehr früh zum Schwimmen.

Es war August, und es war nicht ungewöhnlich, einen Mann zu sehen, der seine Kleider säuberlich auf den steinigen Strand von Seaford legte und in den Ärmelkanal hinauswatete.

Er hinterließ keine Nachricht und keinen Abschiedsbrief. Die Welt hielt das Ereignis für einen tragischen Unfall. Nur Fleur kannte die Wahrheit, denn es war mehr als zehn Jahre her, seit ihr Vater zum letzten Mal im Kanal geschwommen war.

Kurz zuvor hatte sie Lucien kennengelernt. Sie war ihm begegnet, als sie in London eine Schulfreundin besuchte.

Er wurde ihr beiläufig vorgestellt, und doch wußte Fleur in dem Augenblick Bescheid, als sich ihre Hände berührten und Lucien mit dieser graziösen Bewegung den Kopf neigte, die charakteristisch für ihn war.

Sie spürte, wie etwas sie zu ersticken drohte, und glaubte, ihre Augen müßten wie Leuchtfeuer strahlen und ihm ihre Botschaft übermitteln.

Vielleicht fühlte er, daß ihre Finger zitterten, vielleicht nahm er auch in diesem Augenblick wahr, daß sich eine wunderbare, schöne Flamme entzündete..

Nur sehr kurze Zeit verging, bis sie sich ihre Liebe gestanden, die sie nur noch stärker füreinander empfanden, weil Lucien fort mußte. Er kehrte nach Frankreich zurück. Er war Offizier der Luftwaffe und war im Auftrag des Luftfahrtministeriums in England gewesen. Jetzt mußte er seinen Bericht daheim abgeben.

»Wann sehe ich dich wieder?«

»Bald - sehr, sehr bald, mein Liebling.«

»Aber wann?« wollte sie wissen.

Er zuckte mit den Schultern und beantwortete ihre Frage mit Küssen.

In einem solchen Augenblick war es unmöglich, sich vorzustellen, daß das Schicksal sie für lange Zeit trennen würde. Lucien reiste ab, und fast sofort nachdem sie nach Seaford zurückkehrte, brachte sich ihr Vater um.

Fleur war verzweifelt - so verzweifelt, daß sie fast den Verstand verloren hätte. Sie wollte unbedingt das Haus verlassen, das sie einst als Heim angesehen hatte und das jetzt die Frau bewohnte, die am Tod ihres Vaters Schuld hatte.

Sie packte in aller Eile, und ohne jemandem ein Wort über ihr Vorhaben zu verraten, überquerte sie den Ärmelkanal. Bleich und erschöpft gelangte sie bei Lucien in dessen Château an.

Lucien freute sich sehr, sie zu sehen. Wenn er erstaunt über ihren unangemeldeten Besuch war, ließ er sich das ebenso wenig wie seine Mutter anmerken. Seine Miene und seine Worte zeigten keine Spur von Vorwurf.

Er hielt sie fest in seinen Armen und versprach, daß sie bald heiraten würden. Fleur war überglücklich.

Genau zwölf Stunden waren sie in dem Château zusammen, bevor Lucien wieder einberufen wurde, was weder Fleur noch seine Mutter besonders beunruhigte. Sie hatten sich kaum um die Gerüchte gekümmert, die über die Schwierigkeiten in den internationalen Beziehungen im Umlauf waren. Erst als Frankreich und England Deutschland den Krieg erklärten, begannen sie sich ernsthaft Sorgen zu machen. Nun begriffen sie allmählich, was diese Einberufung für Lucien und für sie selbst bedeutete: Zwei Wochen nachdem der Krieg erklärt worden war, fiel Lucien de Sardou ...

Fleur band sich die Uhr ums Handgelenk und stand auf.

»Ich bin soweit, Marie. Laß uns hinuntergehen.«

»Möchten Sie Madame noch einmal sehen?«

»Natürlich.« Fleurs Stimme wurde weicher, »aber zuerst möchte ich ein paar Blumen pflücken - die weißen Rosen, die sie so geliebt hat.«

Das junge Mädchen und die alte Frau gingen den Flur entlang. Plötzlich hörten sie, daß sich ein Fahrzeug dem Schloß über die Kiesauffahrt näherte. Erschreckt blieben beide stehen. Wer war das? Ängstlich trat Fleur an das Fenster, von dem aus man die Auffahrt sehen konnte. Der Wagen kam langsam näher.

Fleur ergriff Maries Hand. Der Wagen, der dort vor der Haustür gehalten hatte, gehörte zweifellos den Deutschen.

Ein uniformierter Soldat stieg aus und riß den Schlag auf. Eine untersetzte Gestalt in dunklen Zivilkleidern verließ den Wagen. Der Mann drehte sich um, um ein paar Worte zu jemandem zu sagen, der noch im Auto saß. Als er dann die Hand hob, konnten die beiden Frauen seine dröhnende Stimme hören: »Heil Hitler!«

Dann kam das Echo »Heil Hitler!«, und die schrille Türglocke ertönte.

2

Mit schlurfenden Schritten durchquerte Marie die Diele und öffnete die Riegel und Ketten der großen Eingangstür. Die Tür knarrte, und der Mann, der im hellen Sonnenschein wartete, trat entschlossen ein, als wäre er schon ungeduldig wegen der Verzögerung.

»Ich bin Pierre de Sardou«, stellte er sich energisch vor, und seine Stimme, die durch die Diele hallte, war laut und unangenehm.

»Wo ist die Comtesse?« erkundigte er sich und starrte Marie an, die sich halb hinter der Tür versteckte.

»Madame ist tot.«

»So!«

Der Mann durchschritt die Halle. Fleur, die das Gespräch mitanhörte, hatte den Eindruck, daß die Nachricht ihn nicht sonderlich überraschte - er mußte bereits vom Tod der Comtesse erfahren haben, davon war sie überzeugt. Sie fragte sich, wer es ihm erzählt haben konnte. Der Arzt? Der Priester? Aber sie hätten bestimmt wenigstens Marie gewarnt, daß ein Verwandter unterwegs war.

Sie betrachtete Monsieur Pierre de Sardou. Er war nicht so klein, wie sie vermutet hatte, als sie ihn vom Fenster im oberen Stock aus gesehen hatte, aber er neigte zur Korpulenz, und es war schwer zu glauben, daß er ein Blutsverwandter von Lucien sein sollte. An seiner Erscheinung oder seiner Haltung war nichts Aristokratisches, seine Arroganz und sein befehlsmäßiger Ton schienen eher angelernt als angeboren zu sein.

Jetzt blickten sie seine dunklen Augen an, und sie hatte das Gefühl, als wäre er von ihrer Anwesenheit unangenehm überrascht.

»Und das ist...?« fragte er und wandte sich an Marie, nicht an sie.

»Monsieur Luciens Frau.«

Fleur spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie rührte sich nicht von der Stelle und wartete darauf, was passieren würde.

»Seine Frau?« stieß Monsieur Pierre hervor. »Aber warum hat man uns keine Heiratsanzeige geschickt? Man hat uns nur von seinem Tod unterrichtet.«

Keine der beiden Frauen erwiderte etwas. Monsieur Pierre kam mit langen Schritten auf Fleur zu.

»Stimmt es, was sie sagt, daß Sie Luciens Frau sind?«

Fleur holte tief Luft.

Dann log sie mit einer Stimme, die sie kaum als ihre eigene erkannte: »Ja, ich bin Luciens Frau.«

»Madame!«

Sie fühlte, daß er ihre Hände ergriff und an seine Lippen zog.

Plötzlich sprach er in einem freundlichen Ton.

»Sie müssen mir meine Überraschung verzeihen. Ich hatte ja keine Ahnung! Ich dachte, daß meine Tante, die Comtesse, allein mit ihren Dienern hier lebte, aber wie ich sehe, habe ich mich geirrt. Verzeihen Sie mir, wenn ich frage - ob aus Ihrer Ehe Kinder hervorgegangen sind?«

Fleur empfand plötzlich das unsinnige Verlangen, ihn ins Gesicht zu schlagen. Sie bemerkte, daß in seinem Lächeln und im Ausdruck seiner Augen etwas lag, das seine Fragen nicht nur verabscheuenswert, sondern gefährlich machte.

Fleur war so unvorbereitet in diese verworrene Situation gestolpert, daß es ihr jetzt schwerfiel, emotionslos zu reagieren, aber sie zwang sich zur Vorsicht, denn sie spürte die Feindseligkeit, die ihr Pierre de Sardou entgegenbrachte.

»Ich habe keine Kinder.« Sie sprach leise. »Möchten Sie nicht in den Salon kommen? Vielleicht hätten Sie nach der Reise gern eine Tasse Kaffee?«

»Vielen Dank, ich habe gerade erst zu Mittag gegessen.«

Fleur ging voraus in den Salon. Als sie die Tür öffnete, fiel ihr Blick auf Maries Gesicht, und sie erkannte, daß die alte Frau auch Angst hatte und sie warnen wollte.

Die Nachmittagssonne fiel durch die Jalousien und zauberte goldene Streifen auf den Aubusson-Teppich. Die Streifen erinnerten an Gitter - Gefängnisgitter.

»Sind Sie schon lange hier?«

»Lange, ja.«

»Ich kann nicht verstehen, warum meine liebe Tante mich nicht über ein so interessantes Ereignis wie Luciens Hochzeit unterrichtet hat. Ich hätte gern ein Geschenk geschickt.«

»Wir haben erst kurz vor Luciens Tod geheiratet«, erklärte Fleur steif.

»Das erklärt natürlich Einiges. Der Schock ... meine Tante hat bestimmt sehr gelitten, und doch hat sie die Beileidsschreiben so tapfer beantwortet - ich habe erst einen Brief erhalten. Sie schrieb ziemlich ausführlich von Lucien und lobte stolz seinen Heldenmut - seltsam, daß sie seine Frau nicht erwähnt hat. Sie muß es vergessen haben - die Trauer kann natürlich der Grund dafür sein, aber es ist dennoch merkwürdig, Madame, das sehen Sie doch gewiß selbst. Meine Tante war in familiären Angelegenheiten sehr genau, wie Sie selbst bemerkt haben werden. Wann ist sie gestorben?«

»Heute morgen um halb sieben. Würden Sie sie gern sehen?«

»Dazu ist noch genügend Zeit. Ich bleibe heute nacht natürlich hier. Die Beerdigung findet morgen statt?«

»Übermorgen.«

»So. Dann kann ich mich Ihrer Gesellschaft also noch bis Mittwoch erfreuen. Vielleicht tauchen noch andere Familienmitglieder auf, das weiß ich nicht. Ich werde bestimmt sehr viel zu tun haben. Schließlich bin ich jetzt das Familienoberhaupt, Sie verstehen.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Ich habe nun das Recht, mich Comte de Sardou zu nennen, aber wir von der jüngeren Generation machen uns ja nichts aus solchen Nebensächlichkeiten. Ich ziehe es vor, Monsieur genannt zu werden. Ich bin Demokrat wie Sie sicher auch, Madame?«

»Natürlich.«

»Ich bin entzückt, das zu hören. Ich sehe schon, wir haben vieles gemeinsam. Haben Sie das Testament von Madame la Comtesse schon gesehen?«

Diese Frage traf Fleur wie ein Pfeil. Sie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, ordnete ein paar kleine Schnupfdosen aus Porzellan, die auf einem Tischchen standen, und es gefiel ihr, daß sie ihren Inquisitor zappeln lassen konnte. Sie wußte, daß Madame Sardous Vermächtnis ihn am meisten interessierte.

»Nein, ich weiß nichts davon«, antwortete sie schließlich. »Wenn sie ein Testament gemacht hat, dann wird es beim Notar liegen.«

»Natürlich.«

Sie hörte, daß Monsieur Pierre erleichtert aufatmete. Er ging ein paar Schritte zur anderen Seite des Zimmers, kam dann zurück.

»Darf ich rauchen, Madame?«

»Natürlich - bitte. Es tut mir leid, daß ich vergaß, es Ihnen vorzuschlagen.«

»Das kommt wahrscheinlich daher, daß Sie lange Zeit in einem männerlosen Haushalt gelebt haben.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Waren Sie hier, als Lucien fiel?«

»Ja, ich war hier.«

»Wo wurden Sie getraut?«

Fleur fing an zu zittern. Das war die Frage, vor der sie sich gefürchtet hatte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er alles herausgefunden hatte.

»In Paris.«

»In Notre Dame?«

»Nein, in Madeleine.«

Sie wußte nicht genau, warum sie ihm widersprach, vermutlich machte es ihr einfach Spaß.

»Das ist allerdings merkwürdig! Alle Sardous haben in Notre Dame geheiratet.«

»Lucien wollte eine Ausnahme machen.«

»Verzeihen Sie mir, Madame, aber wie lautet Ihr Mädchenname?«

Fleur lächelte. Jetzt befand sie sich wieder auf sicherem Boden und mußte nicht mehr lügen. Sie konnte den Namen ihrer Großmutter angeben - den Namen einer großen Familie.

»Fleur de Malmont.«

»Aber natürlich - ich kenne die Familie.«

Jetzt lag so etwas wie Respekt in seiner Stimme, aber Fleur wußte, daß ihn diese Neuigkeit ganz und gar nicht erfreute. Er war noch immer mißtrauisch, möglicherweise war er jetzt sogar noch argwöhnischer als zuvor.

Zu spät begriff Fleur, daß die einzig mögliche Erklärung für eine heimliche Hochzeit darin gelegen hätte, daß Lucien ein Mädchen von zweifelhafter Herkunft, dessen Familie nicht akzeptiert worden wäre, zur Frau genommen hatte.

Jetzt konnte sie ihre Worte nicht mehr ungesagt machen und nichts weiter tun, als auf die nächste Frage zu warten. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als die Tür geöffnet wurde. Für einen Augenblick zumindest war sie gerettet.

Marie brachte den Kaffee, oder vielmehr den scheußlichen Ersatz, mit dem sie sich seit über einem Jahr begnügen mußten.

»Kaffee, M’sieur?«

»Danke. Ich werde mich in ein paar Minuten selbst bedienen.«

Fleur bemerkte, wie er bei dem Geruch die Nase rümpfte. Zweifellos hatte Monsieur Pierre die Möglichkeit, sich durch Beziehungen wohlschmeckendere Getränke zu besorgen als seine weniger glücklichen Landsleute.

Marie wandte sich um, um das Zimmer zu verlassen. Als sie die Tür erreichte, wandte Monsieur Pierre sich in scharfem Ton an sie.

»Ich möchte eine Nachricht ins Dorf schicken. Gibt es jemanden, der sie überbringen kann?«

»Mais non, M’sieur. Hier im Haus leben nur Madame und ich selbst.«

»Aber das ist ja lächerlich! Es gibt doch bestimmt einen Gärtner oder einen Knecht?«

»Niemand, M’sieur, dem wir Aufträge erteilen können. Vor dem Krieg gab es viele, die froh waren, im Château dienen zu können. Jetzt dienen sie unseren Eroberern.«

Monsieur Pierre stieß einen Ausruf der Verärgerung aus.

»Dann muß ich selbst gehen. Ich muß mit dem Priester und dem Arzt sprechen ...«

Er brach ab.

Und dem Notar, fügte Fleur in Gedanken dazu.

»Ja, M’sieur.«

Marie blieb geduldig wartend stehen, ohne ihm ihre Hilfe anzubieten.

»Du kannst gehen.«

»Danke, M’sieur.«

»Sie sagt vermutlich die Wahrheit«, wandte er sich an Fleur. »Es gibt niemanden, den ich ins Dorf schicken kann. Gibt es eine andere Möglichkeit, diese Leute hierher zu bestellen?«

»Ich fürchte nicht. Und wir haben auch kein Fahrzeug.«

»Natürlich. Der Wagen ...?«

»Den haben die Deutschen schon vor über einem Jahr geholt.«

»Ja natürlich. Hat man die Comtesse entschädigt?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Fleur wußte sehr wohl, daß Madame keine Entschädigung für Luciens Auto erhalten hatte. Man hatte angedeutet, daß sie eine Quittung erhalten würde, die ihr später eine Entschädigung einbringen könnte, wenn sie einen Antrag stellen würde. Aber die Comtesse hatte nichts unternommen.

Fleur hatte den Entschluß gefaßt, nichts zu unternehmen, was Pierre de Sardou einen Vorteil verschafft hätte, und sie wollte unter allen Umständen verhindern, daß er von dem profitierte, was Lucien zugestanden hätte.

»Nun, dann muß ich wohl selbst gehen - der Prophet zum Berg!« Er lachte gezwungen. »Au revoir, Madame, ich bleibe nicht lange. Ich hoffe, wir essen zusammen zu Abend.«

»Um welche Zeit würde es Ihnen passen, Monsieur?«

»Wäre sieben Uhr recht?«

»Ausgezeichnet.«

»Gut. Dann also bis später, Madame.«

Er warf ihr einen Blick zu, der galant wirken sollte. Dann stolzierte er aus dem Zimmer wie jemand, der sich bewußt ist, daß alle Frauen ihn bewundernswert finden.

Fleur rührte sich nicht. Sie wartete, bis sie hörte, daß die Haustür geschlossen wurde und die Schritte, die auf dem Kies knirschten, leiser und leiser wurden. Dann herrschte nur noch Stille. Sie sank aufs Sofa und preßte die Hände an die schmerzende Stirn. Langsam fühlte sie, wie ihre Spannung nachließ.

»Ich muß nachdenken«, sagte sie laut.

Was sollte sie tun? Wie konnte sie dieser Schlinge entkommen, die sich langsam um sie schloß? Warum hatte Marie behauptet, sie wäre Luciens Frau? Es war Wahnsinn - und doch, was hätte sie sonst sagen können?

Möglicherweise hätte er ihre Papiere sehen wollen, und jede Ausflucht, jede andere Lüge hätte ihn vielleicht noch mißtrauischer gemacht, als er ohnehin schon war.

Wie konnte sie nur so dumm sein, warum hatte sie diese Entwicklung nicht vorausgesehen? fragte sie sich. Warum war sie nicht schon längst fortgegangen? Aber wie hätte sie die todkranke Comtesse im Stich lassen können?

Sie hatte die alte Dame geliebt und dennoch gefürchtet, weil sie sie nicht verstand. Sie lebte in einer anderen Welt und gehörte noch dazu einer anderen Nationalität an. Aber für Fleur war sie die letzte Verbindung zu Lucien gewesen, und Fleur war allein schon darüber glücklich, in seinem Haus leben zu dürfen.

Ja, es war unmöglich gewesen, abzureisen und all die Erinnerungen hinter sich zu lassen. Aber nun befand sie sich in Gefahr. Früher hatte die Comtesse mit der ihr eigenen Nonchalance alle Angelegenheiten geregelt, und all ihre Anweisungen wurden strikt befolgt. Fleur hatte sich oft amüsiert, daß sogar der Bürgermeister auf den Befehl der Comtesse zum Château gekommen war. So sehr sich Frankreich auch mit der Demokratie brüstete, in den kleinen, abgeschiedenen Dörfern hatten die Aristokraten noch immer Gewicht und wurden wie Herren behandelt. Als die Comtesse nach dem Bürgermeister verlangte, betrat der kleine Mann, ein Kaufmann von Beruf, eine Stunde später zögernd den Salon, in dem Madame auf ihn wartete. Er schwitzte ein wenig, bemerkte Fleur, und drehte seinen Hut in den Händen, während er zuhörte, was Madame zu sagen hatte.

»Monsieur le Maire, wieder einmal sind Barbaren in unser geliebtes Land eingefallen. Wieder einmal schreit das Blut unserer Landsleute nach Rache. Stimmen Sie mir zu, Monsieur le Maire?«

»Ja, Madame - aber Madame werden verzeihen, wenn ich vorschlage, daß Sie von diesen Dingen nicht ganz so laut sprechen.«

Die Comtesse hatte gelächelt.

»Ich bin eine alte Frau, Monsieur le Maire, und ich kann nur einmal sterben. Mein Sohn hat sein Leben bereits für Frankreich gegeben - und ich wäre stolz, meines für dieselbe Sache zu opfern.«

»Madame, Sie sind sehr tapfer.«

Trotzdem hatte Fleur erraten, daß er sich um sich selbst und um seine große fette Frau, die er ständig betrog, und seine sechs Kinder, von denen der älteste Sohn als Gefangener in Deutschland war, Sorgen machte.

»Wir verstehen einander«, fuhr die Comtesse fort. »Es ist nicht nötig, daß ich mehr sage. Aber, Monsieur, über meiner Sorge bezüglich der Politik habe ich ganz vergessen, Ihnen meine Schwiegertochter Fleur vorzustellen - Monsieur le Maire - Madame Lucien de Sardou.«

Für einen kurzen Augenblick sah der kleine Mann überrascht aus, dann begriff er.

»Enchanté, Madame, meinen Glückwunsch«, murmelte er und wartete ab.

»Meiner Schwiegertochter«, fuhr die Comtesse fort, »widerfuhr ein verhängnisvolles Mißgeschick, Monsieur. Ein kleines Feuer brach gestern abend hier aus, nichts Ernstes, wir konnten es selbst löschen, aber unglücklicherweise sind Madames Papiere verbrannt, ihre carte d'identité.«

»Ich verstehe, Madame - die Unterlagen lassen sich ersetzen.«

»Das ist schön, Monsieur le Maire. Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen.«

Die Comtesse streckte die Hand aus, damit der Bürgermeister einen Handkuß darauf hauchen konnte, und damit war die Unterredung zu Ende. Am folgenden Morgen brachte sein zweitältester Sohn, Fabian, einen Personalausweis auf den Namen Fleur de Sardou, das Ausstellungsdatum war verschmiert und nicht mehr zu entziffern.

Fleur war damals sehr erleichtert, aber jetzt erkannte sie ganz deutlich die Gefahr, in der sie sich befand. Am meisten bedauerte sie, daß sie der Aufforderung der Comtesse gefolgt war und ihren britischen Paß verbrannt hatte.

»Diese Papiere bereiten Ihnen nur Schwierigkeiten«, hatte Madame beharrt, und trotz Fleurs Protest hatten die Flammen gierig die blaue Canvashülle verschlungen, dann die Seite, auf der sich die Unterschrift des Außenministers befand.

Aber die Comtesse hatte recht behalten. Am nächsten Tag kamen die Deutschen. Marie, einen besorgten Ausdruck auf dem sonst so ruhigen Gesicht, holte die Comtesse und Fleur aus dem Garten.

»Madame! Nom de Dieu! Verzeihen Sie, Madame, aber da sind Deutsche an der Tür.«

Sie keuchte, die gefältelte Kappe saß schief auf ihrem grauen Haar.

»Deutsche?«

»Ja, Madame. Sie wünschen Sie zu sprechen.«

»Danke, Marie. Bleib ganz ruhig.«

»Oui, Madame.«

Die Deutschen durchsuchten das Haus. Sie suchten in jeder Nische, in jedem Winkel nach französischen Soldaten. Sie schleppten Schweine und Hühner fort, auch einen Schinken, der in der Vorratskammer gehangen hatte. Sie saugten das Benzin aus dem Wagen in der Garage ab und beschlossen, den Wagen selbst später zu holen.

Ein paar Tage später kamen sie wieder und holten Louis, den Mann, der im Garten arbeitete.

Fleur stand auf und ging zum Fenster. Der Garten lag ruhig und friedlich vor ihr.

Es fiel ihr schwer zu glauben, daß auf dem ganzen Kontinent Krieg und Feindschaft herrschten und daß Männer erschossen und gefangengenommen wurden.

O Gott, ich habe Angst! dachte Fleur.

Aber dann wußte sie, daß sie auf irgendeine Art und Weise alle Schwierigkeiten überwinden konnte.

3

Irgendetwas ging hier vor... irgendetwas ängstigte sie. Fleur bewegte sich, versuchte zu schreien. Im selben Augenblick wurde eine Hand auf ihren Mund gepreßt. Einen Moment lang empfand sie nichts als schieres Entsetzen ... dann hörte sie Maries Stimme.

»Alles in Ordnung, Mademoiselle - ich bin es, Marie. Haben Sie keine Angst.«

»Marie!«

Fleur drehte sich um. Sie konnte noch immer fühlen, daß ihr Herz zu schnell schlug und ihr Atem keuchend und stoßweise über ihre Lippen kam.

»Pst! Wir müssen ganz leise sein. Ich habe Neuigkeiten für Sie.«



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