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Amerika in den 30er-Jahren. Die Geschwister Scout und Jem Finch wachsen in einer äußerlich idyllischen Welt heran: im Örtchen Maycomb, Alabama, inmitten weißer Villen und tropischer Bäume. Erzogen von ihrem Vater Atticus, einem menschenfreundlichen Anwalt. Doch die Idylle trügt, durch die alte Gesellschaft des Südens ziehen sich tiefe Risse: zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Arm und Reich. Als Scouts Vater die Verteidigung eines schwarzen Landarbeiters übernimmt, der angeblich ein weißes Mädchen vergewaltigt hat, erfährt die Achtjährige staunend, dass die Welt viel komplizierter ist, als sie angenommen hat. Tapfer versucht sie, die demokratischen Gerechtigkeitsideale ihres Vaters gegen alle Anfechtungen hochzuhalten, und gerät selbst in Gefahr … Unvermindert aktuell: ein Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen. Der zeitlose Klassiker über Rassismus und Heldenmut.
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Harper Lee
Roman
Die Geschwister Scout und Jem Finch wachsen in einer äußerlich idyllischen Welt heran: im (fiktiven) Örtchen Maycomb, Alabama, inmitten weißer Villen und tropischer Bäume. Erzogen von ihrem Vater Atticus, einem menschenfreundlichen Anwalt.
Doch die Idylle trügt, durch die alte Gesellschaft des Südens ziehen sich tiefe Risse: zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Arm und Reich. Als Scouts Vater die Verteidigung eines schwarzen Landarbeiters übernimmt, der angeblich ein weißes Mädchen vergewaltigt hat, erfährt die Achtjährige staunend, dass die Welt viel komplizierter ist, als sie angenommen hat. Tapfer versucht sie, die demokratischen Gerechtigkeitsideale ihres Vaters gegen alle Anfechtungen hochzuhalten, und gerät selbst in Gefahr …
Unvermindert aktuell: ein Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen.
«Eine der schönsten Coming-of-age-Geschichten der modernen Literatur.» Süddeutsche Zeitung
«Kaum ein Buch wird so heiß geliebt und so oft gelesen.» Frankfurter Allgemeine Zeitung
«Wer die Nachtigall stört… […] ist schon ewig so etwas wie Amerikas Nationalroman – Lieblingsbuch, Schullektüre und Identifikationsstoff.» Die Welt
Harper Lee, geboren 1926 in Monroeville, studierte Jura an der University of Alabama, zog nach New York und begann zu schreiben. Sie war befreundet mit Truman Capote, der ihr Kindheitsfreund war und dem sie bei den Recherchen für «Kaltblütig» half. Nach dem Welterfolg ihres in 40 Sprachen übersetzten Romans «Wer die Nachtigall stört…», für den sie 1961 den Pulitzerpreis erhielt, zog sie sich aus dem literarischen Leben und weitgehend auch aus der Öffentlichkeit zurück. 2015 wurde eine frühe Manuskriptfassung von «Wer die Nachtigall stört …» gefunden und publiziert, die 50 Jahre lang als verschollen galt. Harper Lee starb 2016 in ihrer Heimatstadt Monroeville in Alabama.
Die Originalausgabe erschien 1960 unter dem Titel «To Kill a Mockingbird» bei J.B. Lippincott Company, Philadelphia und New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 1962, 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«To Kill a Mockingbird» Copyright © 1960 by Harper Lee
Covergestaltung any.way, Hamburg, nach dem Original von Werner Rebhuhn
ISBN 978-3-644-02238-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Mr. Lee und Alice
als Dank für Liebe und Zuneigung
Auch Rechtsanwälte,
glaube ich, waren einmal Kinder.
Charles Lamb
Das Unglück mit dem Arm passierte kurz vor Jems dreizehntem Geburtstag. Als der komplizierte Ellbogenbruch verheilt war und die Sorge, nie mehr Football spielen zu können, hinfällig wurde, kümmerte sich mein Bruder kaum noch um seine Behinderung. Der linke Arm war etwas kürzer als der rechte; im Stehen und beim Gehen knickte der Handrücken rechtwinklig zum Körper ab, während der Daumen nach unten wies. Das störte Jem jedoch nicht im Geringsten, solange er nur den Ball annehmen und zuspielen konnte.
Als so viel Zeit vergangen war, dass wir gelassen auf die Ereignisse zurückblicken konnten, sprachen wir bisweilen über die Umstände, die zu dem Unfall geführt hatten. Ich behauptete, die Ewells seien an allem schuld gewesen; aber Jem, vier Jahre älter als ich, meinte, es habe schon früher begonnen, nämlich in jenem Sommer, als Dill zu uns kam und uns auf den Gedanken brachte, Boo Radley herauszulocken.
Wenn er der Sache auf den Grund gehen wolle, sagte ich, müsse er eigentlich bei Andrew Jackson anfangen. Denn hätte General Jackson nicht die Creek-Indianer stromaufwärts getrieben, so wäre Simon Finch nie den Alabama-Fluss hinaufgepaddelt, und wo wären wir dann? Wir waren schon zu alt, einen solchen Streit mit Fäusten auszutragen, und zogen daher Atticus zurate. Vater entschied, wir hätten beide recht.
Als Südstaatler fanden es einige in unserer Familie beschämend, dass keiner unserer Vorfahren auf der einen oder auf der anderen Seite an der Schlacht von Hastings teilgenommen hatte. Alles, was wir bieten konnten, war der Trapper Simon Finch, ein Apotheker aus Cornwall, dessen Frömmigkeit nur noch durch seinen Geiz übertroffen wurde. In England wurden damals die Methodisten von ihren liberaler gesinnten Brüdern verfolgt, und da Simon zu den Methodisten gehörte, machte er sich auf den Weg über den Atlantik nach Philadelphia, von da aus nach Jamaika, dann weiter nach Mobile und den Saint-Stephens-Fluss hinauf. Eingedenk der Weisungen John Wesleys, bei Kauf und Verkauf nicht viele Worte zu machen, scheffelte Simon als Heilkundiger ansehnliche Summen. Bei dieser Tätigkeit quälte ihn jedoch unaufhörlich die Furcht, er könne sich zu Dingen verleiten lassen, von denen er wusste, dass sie Gott nicht zum Ruhm gereichten, wie etwa das Prunken mit Gold und kostbaren Gewändern. Da er seines Meisters Worte über den Besitz von Gütern in Menschengestalt vergessen hatte, kaufte er sich drei Sklaven und errichtete mit ihrer Hilfe eine Behausung am Ufer des Alabama, etwa vierzig Meilen flussabwärts von Saint Stephens. Er kehrte nur noch einmal nach Saint Stephens zurück, um sich eine Frau zu suchen; mit ihr zeugte er ein Geschlecht, in dem die Töchter überwogen. Simon erreichte ein hohes Alter und starb als wohlhabender Mann.
Es wurde Brauch, dass die Männer der Familie auf Simons Besitz, Finch’s Landing, blieben und von der Baumwolle lebten. Das Anwesen trug sich selbst. Wenn auch die Landing im Vergleich zu den benachbarten Gütern nur klein war, so brachte sie doch alles hervor, was man zum Lebensunterhalt benötigte, Eis, Weizenmehl und Kleidung ausgenommen. Diese Dinge kamen auf Flussbooten aus Mobile.
Die Wirren zwischen den Staaten des Nordens und denen des Südens hätten Simon in ohnmächtige Wut versetzt, denn seine Nachkommen verloren in ihnen alles, außer den Ländereien. Trotzdem hielten die Finchs bis ins 20. Jahrhundert hinein an der Tradition fest und nährten sich von den Erzeugnissen des Landes. Erst mein Vater, Atticus Finch, entschloss sich, in Montgomery Jura zu studieren, und sein jüngerer Bruder ging zum Studium der Medizin nach Boston. Auf Finch’s Landing blieb nur Alexandra zurück, die Schwester der beiden. Sie heiratete einen wortkargen Mann, der den größten Teil des Tages in einer Hängematte am Flussufer lag und darüber nachsann, wie viele Fische wohl schon an seinen Legangeln zappelten.
Als mein Vater bei Gericht zugelassen wurde, zog er nach Maycomb, das etwa zwanzig Meilen von Finch’s Landing entfernt war, und eröffnete dort seine Kanzlei. Atticus Finchs Büro im Rathaus enthielt kaum mehr als einen Kleiderständer, einen Spucknapf, ein Schachbrett und ein jungfräuliches Gesetzbuch von Alabama. Seine ersten Mandanten waren die beiden letzten Leute, die im Gefängnis von Maycomb County gehängt wurden. Atticus hatte dringend geraten, sie sollten von der Großmut des Staates Gebrauch machen und auf Totschlag im Affekt plädieren, um mit dem Leben davonzukommen. Aber sie waren Haverfords, ein Name, der in Maycomb County als Synonym für Maulesel galt. Bei einem Streit um eine Stute – angeblich wurde ihnen das Tier widerrechtlich vorenthalten – hatten die Haverfords den ersten Schmied von Maycomb ins Jenseits befördert. Sie waren unvorsichtig genug gewesen, das in Gegenwart von drei Zeugen zu tun, und bestanden darauf, dass dieser Hundesohn nichts Besseres verdient habe, eine Rechtfertigung, die sie für völlig ausreichend hielten. Da sie sich beharrlich weigerten, mildernde Umstände geltend zu machen, konnte Atticus nicht viel mehr für seine Mandanten tun, als ihrem Hinscheiden beizuwohnen – ein Anlass, dem vermutlich der heftige Abscheu meines Vaters vor Strafrechtsverfahren entsprang.
Während der ersten fünf Jahre in Maycomb lebte Atticus so sparsam wie möglich. Alles, was er erübrigen konnte, kam der Ausbildung seines Bruders zugute. John Hale Finch war zehn Jahre jünger als mein Vater und hatte sein Medizinstudium in einer Zeit begonnen, als der Anbau von Baumwolle nicht mehr lohnte. Sobald Onkel Jack aber auf eigenen Füßen stand, hatte Atticus durch seine Anwaltstätigkeit ein ganz ordentliches Einkommen. Ihm gefiel es in Maycomb. Er war in Maycomb County geboren und aufgewachsen, er kannte die Menschen hier, sie kannten ihn, und dank Simon Finchs Regsamkeit war Atticus entweder in gerader Linie oder durch Heirat mit nahezu jeder Familie der Stadt verwandt.
Maycomb war eine alte Stadt, und in meiner Kindheit war es eine müde alte Stadt. Bei Regenwetter verwandelten sich die Straßen in rötliche Schmutzlachen; auf den Gehsteigen wuchs Gras, und das Rathaus sackte in den Boden des Marktplatzes ein. Irgendwie war es damals heißer als heutzutage, und ein schwarzer Hund hatte an einem Sommertag viel auszustehen. Im schwülen Schatten der Eichen auf dem Marktplatz verscheuchten abgemagerte, vor Karren gespannte Maulesel die Fliegen. Die steifen Kragen der Männer waren schon um neun Uhr morgens durchgeweicht. Die Damen badeten am Vormittag und noch einmal nach ihrem Drei-Uhr-Schläfchen, aber gegen Abend sahen sie aus wie weiche Teekuchen mit einem Zuckerguss aus Schweiß und Puder.
Die Menschen bewegten sich damals langsam. Sie schritten gemächlich über den Platz, schlenderten durch die umliegenden Läden und ließen sich bei allem Zeit. Ihr Tag hatte zwar auch nur vierundzwanzig Stunden, schien aber länger zu sein. Niemand beeilte sich, denn man konnte nirgends hingehen, es gab nichts zu kaufen, zumal man kein Geld hatte, und außerhalb von Maycomb war ebenso wenig los. Einige Leute huldigten jedoch einem vagen Optimismus: Kürzlich war den Bewohnern von Maycomb County mitgeteilt worden, dass sie nichts zu fürchten brauchten als die Furcht selbst.
Atticus, Jem und ich sowie Calpurnia, unsere Köchin, lebten in der Hauptstraße des Wohnviertels. Jem und ich waren mit unserem Vater zufrieden: Er spielte mit uns, las uns vor und behandelte uns im Übrigen mit höflicher Zurückhaltung.
Bei Calpurnia lagen die Dinge anders. Sie war eckig und knorrig, sie war kurzsichtig, und sie schielte. Ihre Hand war so breit wie eine Bettlatte und doppelt so hart. Sie scheuchte mich immer aus der Küche und fragte, warum ich mich nicht so gut benehmen könnte wie Jem, obwohl sie doch genau wusste, dass er älter war. Und sie rief mich unweigerlich gerade dann ins Haus, wenn ich keine Lust hatte, hereinzukommen. Die Schlachten, die wir uns lieferten, waren gewaltig und einseitig. Calpurnia triumphierte jedes Mal – hauptsächlich deshalb, weil Atticus ihre Partei ergriff. Sie war seit Jems Geburt bei uns, und so weit ich zurückdenken konnte, hatte ich ihre tyrannische Gegenwart erdulden müssen.
Unsere Mutter war bald nach meinem zweiten Geburtstag gestorben, sodass ich mir ihrer Abwesenheit nie bewusst wurde. Atticus hatte sie, eine geborene Graham aus Montgomery, kennengelernt, als man ihn zum ersten Mal in die Volksvertretung wählte. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, der sich damals den Vierzigern näherte. Jem war das Produkt ihres ersten Ehejahres. Vier Jahre später kam ich auf die Welt, und zwei Jahre danach starb unsere Mutter plötzlich an einem Herzanfall. Es handelte sich um ein Leiden, das in ihrer Familie erblich gewesen sein soll. Mir fehlte sie nicht, aber ich glaube, dass Jem sie vermisste. Er erinnerte sich deutlich an sie, und manchmal stieß er mitten im Spiel einen tiefen Seufzer aus, ging weg und verkroch sich hinter dem Schuppen. Wenn er in dieser Stimmung war, hütete ich mich, ihn zu stören.
Als ich fast sechs Jahre und Jem fast zehn Jahre alt war, lag unser Sommerrevier – in Rufweite von Calpurnia – zwischen dem Haus von Mrs. Henry Lafayette Dubose, zwei Türen nördlich von uns, und dem Radley-Grundstück, drei Türen südlich. Wir kamen nie in Versuchung, diese Grenzen zu überschreiten. Das Haus der Radleys wurde von einem unbekannten Wesen bewohnt, dessen bloße Beschreibung genügte, uns für viele Tage im Zaum zu halten. Und Mrs. Dubose war schlichtweg die Hölle.
In jenem Sommer kam Dill zu uns.
Eines frühen Morgens, als Jem und ich auf dem Hof spielten, hörten wir, dass nebenan in Miss Rachel Haverfords Grünkohlbeet etwas raschelte. Wir liefen an den Drahtzaun, um zu sehen, ob es ein Hündchen sei, denn Miss Rachels Terrier war trächtig. Aber nein, da hockte jemand auf der Erde und schaute zu uns herüber. Im Sitzen war er kaum höher als die Grünkohlstauden. Wir starrten ihn an, bis er zu sprechen anfing.
«Hallo!»
«Selber hallo», antwortete Jem freundlich.
«Ich bin Charles Baker Harris», sagte er. «Ich kann lesen.»
«Na und?», sagte ich.
«Ich dachte nur, ihr würdet vielleicht gern wissen, dass ich lesen kann. Wenn ihr was habt, was gelesen werden muss, kann ich’s machen.»
«Wie alt bist du denn?», fragte Jem. «Viereinhalb?»
«Bald sieben!»
«Dann brauchst du dir nichts drauf einzubilden», meinte Jem und zeigte mit dem Daumen auf mich. «Scout hier liest schon, seit sie geboren ist, und dabei geht sie noch nicht mal zur Schule. Dafür, dass du bald sieben wirst, siehst du aber ziemlich knirpsig aus.»
«Ich bin klein, aber alt», sagte er.
Jem strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um ihn genauer betrachten zu können. «Warum kommst du nicht rüber zu uns, Charles Baker Harris? Meine Güte, was für ein Name!»
«Auch nicht komischer als deiner. Tante Rachel sagt, du heißt Jeremy Atticus Finch.»
Jem runzelte die Stirn. «Bei mir ist das was anderes, weil ich groß genug für so einen Namen bin, aber deiner ist ja länger als du selber. Sogar ein ganzes Ende länger.»
«Alle Leute nennen mich Dill», erklärte Dill und zwängte sich unter dem Zaun durch.
«Drüberweg geht’s besser als drunterdurch», sagte ich. «Wo bist du denn her?»
Dill war aus Meridian, Mississippi, und verbrachte die Ferien bei seiner Tante, Miss Rachel. Von nun an sollte er jeden Sommer in unsere Stadt kommen. Seine Mutter stammte aus Maycomb County und arbeitete in einem Fotoatelier in Meridian. Bei einem Kinderbild-Wettbewerb hatte sie sein Foto eingesandt und fünf Dollar gewonnen. Dill berichtete, sie habe ihm das Geld geschenkt und er sei dafür zwanzigmal ins Kino gegangen.
«Hier gibt’s keine Filme, nur im Rathaus spielen sie manchmal welche mit Jesus», sagte Jem. «Hast du schon mal ’nen interessanten gesehen?»
Dill hatte Dracula gesehen, eine Offenbarung, die Jem bewog, ihn mit einigem Respekt zu betrachten. «Erzähl mal davon», forderte er.
Ein merkwürdiger Bursche, dieser Dill. Er trug blaue Leinenshorts, die ans Hemd geknöpft waren, und er hatte schneeweißes Haar, das wie Entenflaum an seinem Kopf klebte. Er war ein Jahr älter, aber sehr viel kleiner als ich. Während er uns die alte Geschichte erzählte, erhellten und verdunkelten sich seine Augen, er lachte laut und fröhlich und zupfte unentwegt an einem Haarbüschel, das ihm in die Stirn hing.
Nachdem Dill Dracula in Staub verwandelt und mein Bruder erklärt hatte, der Film scheine besser zu sein als das Buch, fragte ich Dill nach seinem Vater. «Von dem hast du noch gar nichts gesagt.»
«Weil ich keinen habe.»
«Ist er tot?»
«Nein …»
«Wenn er nicht tot ist, dann hast du doch einen, oder?»
Dill wurde rot, und Jem befahl mir, den Mund zu halten – ein sicheres Zeichen dafür, dass er Dill geprüft und für würdig befunden hatte. Von nun an verlief der Sommer nach unserem bewährten Schema. Bewährtes Schema hieß: unser Baumhaus zwischen den beiden riesigen zusammengewachsenen Chinabäumen auf dem Hof verschönern, sich zanken oder unser Theaterrepertoire durchspielen – frei nach den Werken von Oliver Optic, Victor Appleton und Edgar Rice Burroughs. In dieser Hinsicht war es ein Glück, dass wir Dill hatten. Er übernahm nun die Charakterrollen, die vorher mir zugefallen waren, zum Beispiel den Affen in Tarzan, Mr. Crabtree in den Rover Boys und Mr. Damon in Tom Swift. Wir lernten ihn dabei als einen Merlin im Taschenformat kennen, dessen Kopf von exzentrischen Plänen, seltsamen Gelüsten und wunderlichen Ideen überquoll.
Gegen Ende August aber hatten wir das Theaterspielen nach unzähligen Reprisen satt, und Dill setzte uns den Gedanken in den Kopf, Boo Radley herauszulocken.
Das Haus der Radleys hatte es Dill angetan. Trotz unserer Warnungen und Erklärungen zog es ihn an wie der Mond das Wasser. Allerdings wagte er sich nur bis zur Laterne an der Ecke. Dort stand er oft in sicherer Entfernung vom Tor, den Arm um den dicken Pfahl geschlungen, und starrte neugierig hinüber.
Das Radley-Grundstück lag südlich von unserem, dort, wo die Straße einen scharfen Knick machte. Man ging geradeaus, auf die Veranda zu; dann bog der Weg ab und führte an dem Grundstück entlang. Das niedrige, ehemals weiße Haus mit der breiten Vorderveranda und den grünen Fensterläden war im Laufe der Zeit ebenso schiefergrau geworden wie der Hof, der es umgab. Morsche Schindeln hingen über das vorspringende Dach; dicke Eichenbäume hielten die Sonne fern. Die Überreste eines betrunken schwankenden Lattenzauns schützten den verwahrlosten Vorplatz, der nie gefegt wurde und auf dem Mohrenhirse und Ruhrkraut üppig wucherten.
In diesem Haus lebte ein bösartiges Gespenst. Man sagte, es existiere wirklich, aber Jem und ich hatten es noch nie gesehen. Angeblich kam es nur in mondlosen Nächten zum Vorschein und spähte durch die Fenster in fremde Häuser. Wenn bei einem Kälteeinbruch die Azaleen im Garten erfroren, dann hatte «er» sie behaucht. Jedes heimliche Vergehen in Maycomb wurde ihm zugeschrieben. Einmal versetzten eine Reihe makabrer nächtlicher Vorkommnisse die Stadt in Schrecken: Ein unbekannter Täter verstümmelte Hühner und Haustiere. Obgleich Crazy Addie der Schuldige war, ein Verrückter, der sich schließlich in Barkers Teich ertränkte, wollten die Leute ihren ursprünglichen Verdacht nicht aufgeben und beobachteten misstrauisch das Radley-Haus. Kein Neger wagte nachts daran vorbeizugehen, jeder wechselte auf die andere Straßenseite und pfiff beim Gehen laut vor sich hin. Die Kinder rührten die Nüsse nicht an, die von den hohen Pecanbäumen der Radleys in den angrenzenden Schulhof fielen: Radley-Nüsse brachten den Tod. Flog ein Ball in den Radley-Hof, so galt er als unwiederbringlich verloren.
Der Unstern über diesem Haus war lange vor Jems und meiner Geburt aufgegangen. Die Radleys, überall in der Stadt wohlangesehen, lebten sehr zurückgezogen – ein Verhalten, das man in Maycomb nicht verzieh. Auch am Gottesdienst, der zu den wenigen Vergnügungen von Maycomb gehörte, nahmen sie nicht teil, sondern verrichteten ihre Andacht daheim. Mrs. Radley fand sich selten – wenn überhaupt jemals – zu einem morgendlichen Kaffeeschwätzchen bei ihren Nachbarinnen ein, und sie war nie einem Missionsverein beigetreten. Mr. Radley ging täglich um elf Uhr dreißig in die Stadt und kam Punkt zwölf Uhr zurück. Bisweilen trug er dann eine braune Tüte, von der die Nachbarschaft vermutete, dass sie Lebensmittel enthielt. Ich habe nie erfahren, womit Mr. Radley seinen Unterhalt verdiente. Jem meinte, er «kaufe Baumwolle» – ein höflicher Ausdruck für Müßiggang. Jedenfalls lebten Mr. und Mrs. Radley mit ihren beiden Söhnen seit Menschengedenken in unserer Stadt.
Die Fensterläden und Türen des Radley-Hauses blieben sonntags geschlossen – ein weiterer Verstoß gegen die Gepflogenheiten von Maycomb; verschlossene Türen gab es sonst nur bei Krankheit oder bei kalter Witterung. Der Sonntag war der Tag für formelle Nachmittagsbesuche: Die Damen trugen Korsetts, die Herren Jacketts, die Kinder Schuhe. Niemals aber wäre es den Nachbarn eingefallen, sonntagnachmittags die Vordertreppe der Radleys hinaufzusteigen und «Hallo» zu rufen. Das Haus hatte auch keine Fliegengitter. Ich fragte Atticus einmal, ob es wohl früher welche gehabt habe. Ja, sagte er, lange vor meiner Geburt.
Gerüchten zufolge hatte sich der jüngere Radley-Sohn als Halbwüchsiger mit den Cunninghams angefreundet, einer weitverzweigten Sippschaft aus Old Sarum im Norden von Maycomb County. Sie bildeten eine Art Bande und waren das Äußerste, was Maycomb in dieser Beziehung je erlebt hatte. Wenn sie auch nicht allzu viel anstellten, so reichte das Wenige doch aus, dass die ganze Stadt über sie sprach und man sie von drei Kanzeln herab öffentlich ermahnte. Sie lungerten beim Friseur herum; sie fuhren sonntags mit dem Autobus nach Abbottsville und gingen dort ins Kino; sie besuchten die Tanzveranstaltungen in der Spielhölle am Fluss, der Dew-Drop Inn & Fishing Camp; sie experimentierten mit selbstgebranntem Whisky. Niemand in Maycomb hatte den Mut, Mr. Radley mitzuteilen, dass sein Sohn in schlechte Gesellschaft geraten war.
Eines Nachts kurvten die stark angeheiterten Burschen in einem geliehenen Wagen im Rückwärtsgang über den Marktplatz, widersetzten sich der Festnahme durch den alten Gerichtsdiener, Mr. Conner, und sperrten ihn schließlich in die Toilette des Rathauses ein. Die Stadt beschloss, dass etwas getan werden müsse. Mr. Conner erklärte, er kenne jeden Einzelnen von ihnen genau und sei fest entschlossen, sie nicht ungestraft davonkommen zu lassen. Die Burschen wurden also vor den Jugendrichter gebracht. Die Anklage lautete auf unziemliches Betragen, ruhestörenden Lärm, schwere tätliche Beleidigung sowie Gebrauch unflätiger, lästerlicher Worte in Gegenwart weiblicher Personen. Auf die Frage des Richters, worauf sich die letzte Beschuldigung beziehe, antwortete Mr. Conner, die Angeklagten hätten so laut geflucht, dass jede Dame in Maycomb sie gehört haben müsse. Der Richter entschied, dass die Burschen in die staatliche Besserungsanstalt geschickt werden sollten, wohin man Jungen mitunter nur deshalb verfrachtete, um ihnen Nahrung und anständige Unterkunft zu sichern: Es war kein Gefängnis und der Aufenthalt dort keine Schmach. Aber Mr. Radley fand es entehrend. Er bat den Richter, seinen Sohn freizulassen, und versprach, dass Arthur nie wieder Anstoß erregen würde. Da der Richter wusste, dass man auf Mr. Radleys Wort vertrauen konnte, erfüllte er ihm die Bitte.
Die anderen Jungen kamen in die Anstalt und erhielten dort die beste Mittelschulerziehung, die der Staat zu bieten hatte. Einer von ihnen absolvierte sogar die Ingenieurschule in Auburn. Die Türen des Radley-Hauses blieben nun sowohl wochentags als auch sonntags geschlossen, und der jüngere Sohn wurde fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesehen.
Eines Tages aber – Jem konnte sich noch dunkel daran erinnern – machte Boo Radley von sich reden, und mehrere Leute hatten Gelegenheit, ihn zu sehen. Jem selbst war allerdings nicht dabei gewesen. Er sagte, Atticus habe nie viel über die Radleys geredet. Wenn Jem nach ihnen fragte, antwortete Atticus unweigerlich, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, die Radleys hätten ein Recht darauf, zu tun, was sie wollten. In diesem besonderen Fall aber hatte Atticus den Kopf geschüttelt und «Hm, hm, hm» gemurmelt.
Den größten Teil seines Wissens verdankte Jem einer Klatschbase aus der Nachbarschaft, Miss Stephanie Crawford, die angeblich genauestens im Bilde war. Ihr zufolge hatte Boo im Wohnzimmer gesessen und aus der Maycomb Tribune Artikel ausgeschnitten, um sie in ein Album zu kleben. Dann war sein Vater hereingekommen, und als er an Boo vorbeiging, hatte dieser ihm die Schere ins Bein gestoßen, sie herausgezogen, an seiner Hose abgewischt und seine Beschäftigung wiederaufgenommen. Mrs. Radley war auf die Straße gestürzt und hatte geschrien, Arthur wolle sie alle ermorden. Doch als der Sheriff kam, saß Boo noch immer im Wohnzimmer und schnippelte an der Tribune herum. Damals war er dreiunddreißig Jahre alt.
Laut Miss Stephanie hatte der alte Radley erklärt, kein Radley ginge in eine Irrenanstalt, als man ihm nahelegte, seinen Sohn für einige Zeit nach Tuscaloosa zu schicken. Er sagte, Boo sei nicht verrückt, er sei nur hin und wieder reizbar. Gewiss, man müsse ihn einsperren, aber man dürfe ihn nicht vor Gericht stellen, denn er sei kein Verbrecher. Der Sheriff brachte es nicht über sich, Boo zu Negern ins Gefängnis zu stecken, und so wurde er im Keller des Rathauses eingeschlossen.
Boos Rückkehr aus diesem Keller in sein Vaterhaus war in Jems Gedächtnis verblasst. Miss Stephanie wusste zu berichten, dass einige Stadträte Mr. Radley mitgeteilt hatten, wenn er seinen Sohn nicht zurückhole, werde Boo in dem feuchten Keller vermodern. Außerdem könne er nicht ewig den Steuerzahlern zur Last fallen.
Niemand wusste, welche Einschüchterungsmittel Mr. Radley anwandte, um Boo verborgen zu halten. Jem meinte, Mr. Radley habe ihn sicherlich mit Ketten ans Bett gefesselt. Atticus widersprach: So sei es wohl doch nicht, es gebe auch andere Möglichkeiten, einen Menschen in ein Gespenst zu verwandeln.
Von Mrs. Radley bewahre ich in meiner Erinnerung nur das Bild, wie sie manchmal die Vordertür öffnete, auf die Veranda heraustrat und ihre Cannastauden begoss. Mr. Radley dagegen sahen wir täglich in die Stadt gehen und zurückkommen. Er war ein dünner, lederhäutiger Mann mit farblosen Augen – so farblos, dass sich nicht einmal das Licht in ihnen spiegelte. Seine Backenknochen sprangen scharf vor, und sein Mund war breit, mit schmaler Oberlippe und wulstiger Unterlippe. Miss Stephanie sagte, er sei ein so aufrechter Mann, dass er nur das Wort Gottes als Gesetz anerkenne. Das glaubten wir ihr gern, denn Mr. Radley hielt sich stets gerade, als hätte er einen Ladestock verschluckt.
Er sprach nie mit uns. Wir blickten zu Boden, wenn er an uns vorbeiging, und auf unser «Guten Morgen, Sir» hüstelte er nur. Sein ältester Sohn lebte in Pensacola und kam alljährlich zu Weihnachten nach Hause; er war einer der wenigen Menschen, die wir bei den Radleys ein und aus gehen sahen. An dem Tag, an dem Arthur von seinem Vater zurückgeholt wurde, sei das Haus gestorben, hieß es in der Stadt.
Doch dann kam ein Tag, an dem Atticus drohte, er würde uns die Hölle heißmachen, wenn wir auch nur den geringsten Krach im Hof machten, und er beauftragte Calpurnia, in seiner Abwesenheit ein Gleiches zu tun, falls sie auch nur einen Mucks von uns hörte. Mr. Radley lag im Sterben.
Er ließ sich Zeit dabei. Hölzerne Sägeböcke sperrten die Straße zu beiden Seiten des Radley-Grundstückes ab, der Bürgersteig wurde mit Stroh belegt und der Verkehr umgeleitet. Dr. Reynolds parkte bei seinen Besuchen den Wagen vor unserem Haus und ging dann zu Fuß weiter. Jem und ich schlichen tagelang im Hof herum. Endlich wurden die Sägeböcke weggenommen, und von der Veranda aus beobachteten wir, wie Mr. Radley seinen letzten Weg antrat.
«Da geht der mieseste Kerl, dem Gott je seinen Atem eingehaucht hat», knurrte Calpurnia und spuckte nachdenklich in den Hof. Wir sahen sie erstaunt an, denn Bemerkungen über Weiße waren bei ihr selten.
Die Nachbarschaft erwartete, dass auf Mr. Radleys Verschwinden Boos Erscheinen folgen werde, doch es kam anders: Boos Bruder kehrte aus Pensacola zurück und nahm Mr. Radleys Platz ein. Der einzige Unterschied zwischen ihm und seinem Vater lag im Alter. Jem sagte, auch Mr. Nathan Radley «kaufe Baumwolle». Immerhin erwiderte Mr. Nathan unseren Gruß, und manchmal sahen wir ihn mit einer Zeitschrift unter dem Arm aus der Stadt kommen.
Je mehr wir Dill von den Radleys erzählten, desto mehr wollte er hören, desto länger stand er sinnend an der Ecke, den Arm um den Laternenpfahl geschlungen. «Möchte bloß wissen, was er da drin tut», murmelte er immer wieder. «Könnte doch wenigstens mal den Kopf aus der Tür stecken.»
«Der kommt schon raus», sagte Jem, «aber nur, wenn’s stockdunkel ist. Miss Stephanie hat mir erzählt, dass sie mal mitten in der Nacht aufgewacht ist, und da hat er sie durchs Fenster angestarrt. Als wenn einen ein Totenschädel anglotzt, sagt sie. Bist du denn noch nie nachts aufgewacht und hast ihn gehört, Dill? Er geht so …» Jem schlurfte mit den Füßen durch den Kies. «Was meinst du wohl, warum Miss Rachel abends alle Türen so fest verschließt? Ich hab morgens oft seine Fußstapfen bei uns auf dem Hof gesehen, und einmal hat er nachts sogar an unserem Fliegengitter gekratzt, aber als Atticus kam, war er schon wieder weg.»
«Wie er wohl aussieht?», fragte Dill.
Jem gab eine einleuchtende Beschreibung von Boo. Nach den Fußspuren zu urteilen, sei er mindestens zwei Meter groß; er ernähre sich von rohen Eichhörnchen und Katzen, wenn er welche erwischte. Deshalb seien seine Hände immer mit Blut beschmiert, denn wer Tiere roh esse, könne das Blut nie mehr wegwaschen. Über sein Gesicht laufe eine lange Zickzacknarbe, und die paar Zähne, die er noch hätte, seien gelb und faul. Er habe Glotzaugen, und meist tropfe ihm Speichel aus dem Mund.
«Lass uns doch mal versuchen, ihn rauszulocken», schlug Dill vor. «Ich möchte so gern wissen, wie er aussieht.»
Wenn Dill umgebracht werden wolle, erwiderte Jem, dann brauche er nichts weiter zu tun, als an Radleys Haustür zu klopfen.
Unser erster Streifzug kam nur zustande, weil Dill gesagt hatte, er wette um zwei Bände Tom Swift gegen Das graue Gespenst, dass Jem sich nicht über das Gartentor der Radleys hinauswage.
Jem hatte in seinem ganzen Leben noch keine Wette abgelehnt, aber diesmal überlegte er sich die Sache drei Tage lang. Ich glaube, seine Ehre war ihm lieber als sein Kopf, denn Dill wurde zuletzt doch mit ihm fertig. «Du hast Angst», sagte er am ersten Tag. «Angst nicht, bloß Respekt», antwortete Jem. Am nächsten Tag sagte Dill: «Du hast sogar Angst, deinen großen Zeh auf den Vorplatz zu setzen.» Jem bestritt das und meinte, er gehe ja schließlich jeden Tag am Radley-Grundstück vorbei zur Schule.
«Aber immer im Galopp», warf ich ein.
Am dritten Tag schaffte es Dill mit der Behauptung, in Meridian gebe es keine solchen Angsthasen wie in Maycomb. So ängstliche Leute wie hier hätte er noch nie gesehen.
Daraufhin marschierte Jem bis zur Ecke, wo er stehen blieb, sich an den Laternenpfahl lehnte und das Tor beobachtete, das schief in den selbstgefertigten Angeln hing.
«Hoffentlich ist dir klar, dass er uns allesamt umbringen wird, Dill Harris», sagte er, als wir ihm nachkamen. «Gib bloß mir nicht die Schuld, wenn er dir die Augen auskratzt. Du hast damit angefangen, vergiss das nicht.»
«Du hast immer noch Angst», stellte Dill gelassen fest.
Jem wollte ihm ein für alle Mal klarmachen, dass er vor nichts Angst hatte. «Ich würd’s ja tun, wenn ich nur wüsste, wie wir ihn herauslocken können, ohne dass er uns erwischt. Außerdem muss ich auf meine kleine Schwester Rücksicht nehmen.»
Als er das sagte, wusste ich, dass er Angst hatte. Damals, als ich ihn aufforderte, vom Dach unseres Hauses herunterzuspringen, hatte er auch auf seine kleine Schwester Rücksicht nehmen müssen. «Und was wird aus dir, wenn ich dabei draufgehe?», hatte er gefragt. Dann war er gesprungen und unverletzt gelandet, und von da an war sein Verantwortungsgefühl nicht mehr in Erscheinung getreten – bis er sich jetzt dem Radley-Grundstück gegenübersah.
«Du willst dich wohl vor der Wette drücken?», fragte Dill.
«Dill, so was muss man sich überlegen», sagte Jem. «Lass mich doch mal ’n Augenblick nachdenken … Das ist so ähnlich, als wenn man eine Schildkröte rauslocken will …»
«Wie macht man denn das?», erkundigte sich Dill.
«Man zündet ein Streichholz drunter an.»
«Wenn du Radleys Haus in Brand steckst, sag ich’s Atticus», drohte ich.
Dill fand es gemein, unter einer Schildkröte ein Streichholz anzuzünden.
«Gar nicht gemein. Soll sie nur rauslocken – ist ja nicht so, als wenn man sie ins Feuer schmeißt», brummte Jem.
«Und woher weißt du, dass ihr ein Streichholz nicht wehtut?»
«Schildkröten fühlen doch nichts, Blödmann», sagte Jem.
«Du bist wohl schon mal ’ne Schildkröte gewesen, was?»
«Quatsch! Lass mich doch nachdenken, Dill … Wir kriegen die Sache schon hin …»
Jem blieb so lange in Gedanken versunken, dass Dill ein kleines Zugeständnis machte. «Ich werde nicht sagen, dass du dich vor der Wette gedrückt hast, und du kriegst Das graue Gespenst auch dann, wenn du nur bis zum Haus gehst und die Wand berührst.»
Jems Gesicht leuchtete auf. «Bloß die Hauswand berühren, das ist alles?»
Dill nickte.
«Ist das auch wirklich alles? Nicht dass du mir nachher mit was anderem kommst, wenn ich wieder da bin.»
«Ja, das ist alles», versicherte Dill. «Wahrscheinlich rennt er dir nach, wenn er dich im Hof sieht. Dann gehen Scout und ich auf ihn los, halten ihn fest und sagen ihm, dass wir ihm nichts tun wollen.»
Wir überquerten die Straße und machten vor Radleys Gartentor halt.
«Na los», drängte Dill. «Scout und ich bleiben dicht hinter dir.»
«Ich geh ja schon», sagte Jem. «Hetz mich bloß nicht.»
Er ging bis zur Ecke des Grundstücks, kam zurück, prüfte stirnrunzelnd das Gelände, als überlegte er, wie es am besten zu stürmen wäre, und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
Da lachte ich ihn aus.
Jem stieß die Pforte auf, rannte zur Hausmauer, schlug mit der flachen Hand an und sauste zurück, an uns vorbei, ohne sich darum zu kümmern, ob sein Überfall erfolgreich war. Dill und ich gaben ebenfalls Fersengeld. Erst als wir auf unserer Veranda in Sicherheit waren, sahen wir uns keuchend und atemlos um.
Das alte Haus stand unverändert da, brüchig und hinfällig. Plötzlich aber, während wir hinüberstarrten, war uns, als hätte sich drinnen ein Fensterladen bewegt. Eine winzige, fast unsichtbare Bewegung, und dann rührte sich nichts mehr.
Dill verließ uns Anfang September. Er fuhr nach Meridian zurück, und wir brachten ihn an den Fünf-Uhr-Bus. Ich war traurig, dass er fortging, bis mir einfiel, dass ich in einer Woche zur Schule käme. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr auf etwas gefreut. Im Winter hatte ich oft stundenlang im Baumhaus gehockt und mit einem primitiven Fernglas – einem Geschenk von Jem – zu den vielen Kindern auf dem Schulhof hinübergespäht. Ich lernte ihre Spiele, teilte insgeheim ihre Niederlagen und kleinen Siege, bemühte mich, im Hin und Her des Blindekuhspiels Jems rote Jacke im Auge zu behalten, und wünschte mir sehnlichst, dabei zu sein.
Jem ließ sich herab, mich auf dem ersten Schulgang zu begleiten, eine Aufgabe, die für gewöhnlich Sache der Eltern ist. Atticus hatte gesagt, Jem lege Wert darauf, mir mein Klassenzimmer zu zeigen. Ich glaube, dass dem eine finanzielle Transaktion zwischen Vater und Sohn vorausgegangen war, denn als wir bei Radleys Haus um die Ecke rannten, hörte ich in Jems Tasche ein ungewohntes Klimpern. Kurz vor dem Schulhof verlangsamten wir unseren Schritt, und Jem setzte mir vorsorglich auseinander, dass ich ihn in der Schule nicht belästigen dürfe, etwa mit der Aufforderung, ein Kapitel aus Tarzan und die Ameisenmenschen nachzuspielen. Er verbot mir auch, ihn mit Anspielungen auf sein Privatleben in Verlegenheit zu bringen oder ihm in den Pausen auf Schritt und Tritt nachzulaufen. Mein Platz sei bei der ersten Klasse und seiner bei der fünften. Mit einem Wort, ich solle ihn in Ruhe lassen.
«Dann können wir also nie mehr spielen?», fragte ich.
«Zu Hause bleibt alles beim Alten», sagte er. «Aber du wirst schon sehen – die Schule ist was anderes.»
Das stimmte zweifellos. Gleich am ersten Morgen zerrte mich unsere Lehrerin, Miss Caroline Fisher, nach vorn, schlug mir mit einem Lineal auf die ausgestreckte Handfläche und ließ mich dann bis Mittag in der Ecke stehen.
Miss Caroline war nicht älter als einundzwanzig. Sie hatte leuchtend rotbraunes Haar, rosige Wangen und knallrot lackierte Fingernägel, trug Schuhe mit hohen Absätzen und ein rot-weiß gestreiftes Kleid. Sie roch und sah aus wie ein Pfefferminzbonbon. Sie wohnte schräg gegenüber von uns bei Miss Maudie Atkinson. Als sie das Vorderzimmer im ersten Stock bezog, hatte Miss Maudie uns vorgestellt, und Jem war noch Tage danach ganz benommen gewesen.
Miss Caroline malte ihren Namen in Blockschrift an die Wandtafel und erklärte: «Das bedeutet, dass ich Miss Caroline Fisher heiße. Ich bin aus Nordalabama, Winston County.» Ein Raunen lief durch die Klasse: Ob sie wohl auch die Eigenheiten hatte, die man ihren Landsleuten nachsagte? (Als sich nämlich Alabama am 11. Januar 1861 von der Union lossagte, sagte sich Winston County von Alabama los, und das wusste jedes Kind in Maycomb County.) Nordalabama war voll von Schnapsbrennereien, Großfarmern und Stahlwerken, von Republikanern, Professoren und anderen Leuten ohne jegliche Tradition.
Als Erstes las uns Miss Caroline eine Katzengeschichte vor. Die Katzen führten darin lange Gespräche miteinander, trugen hübsche Kleidchen und wohnten in einem warmen Haus unter dem Küchenherd. An der Stelle, wo Frau Katze beim Kaufmann anrief und nach Schokoladenmäusen fragte, wurden die Kinder zapplig wie Würmer in einem Eimer.
Miss Caroline schien nicht zu ahnen, dass die zerlumpten Erstklässler in Drillichhemden und Kleidern aus Mehlsäcken, die, seit sie laufen konnten, Baumwolle gepflückt und Schweine gefüttert hatten, gegen phantasievolle Literatur immun waren. «Ach, ist das nicht reizend?», sagte sie, als sie die Geschichte beendet hatte.
Dann ging sie zur Tafel und schrieb in riesigen Blockbuchstaben das Alphabet an.
«Weiß jemand, was das bedeutet?», fragte sie, zur Klasse gewandt.
Natürlich wusste das jeder, denn die meisten waren im vorigen Schuljahr sitzengeblieben.
Sie rief mich auf, vermutlich weil sie meinen Namen kannte. Während ich das Alphabet ablas, bildete sich zwischen ihren Augenbrauen eine leichte Falte. Nachdem ich auch noch den größten Teil der Fibel und die Börsenkurse aus dem Mobile Register zum Besten gegeben hatte, entdeckte sie, dass ich schon lesen konnte. Sie sah mich mit unverhohlener Missbilligung an und sagte, ich solle meinen Vater bitten, mich künftig nicht mehr zu unterrichten, denn das behindere mich nur.
«Unterrichten?», rief ich überrascht. «Aber er hat mich nie unterrichtet, Miss Caroline. Dazu hatte Atticus gar keine Zeit.» Und als sie lächelnd den Kopf schüttelte, fügte ich hinzu: «Er ist doch abends so müde, dass er bloß im Wohnzimmer sitzt und liest.»
«Wer hat’s dir denn sonst beigebracht?», fragte Miss Caroline freundlich. «Jemand muss es doch getan haben. Oder bist du etwa zeitunglesend zur Welt gekommen?»
«Jem sagt, ja. Er hat ein Buch gelesen, in dem ich eine Bullfinch war und keine Finch. Jem sagt, mein richtiger Name ist Jean Louise Bullfinch, und ich bin vertauscht worden, als ich geboren wurde. In Wirklichkeit bin ich ein …»
Miss Caroline glaubte offenbar, dass ich ihr etwas vorschwindelte. «Wir wollen unserer Phantasie nicht gar zu freien Lauf lassen, mein Kind. Sage nur deinem Vater, er soll dir keinen Unterricht mehr geben: Das Lesen lernt man am besten mit unbelastetem Verstand. Sag ihm, das wäre jetzt meine Sache und ich würde versuchen, den Schaden wiedergutzumachen.»
«Wie bitte?»
«Dein Vater weiß nicht, wie man unterrichtet. So, du kannst dich setzen.»
Ich murmelte eine Entschuldigung, setzte mich hin und grübelte über mein Verbrechen nach. Ich hatte nie die Absicht gehabt, lesen zu lernen, aber irgendwie war es eben passiert. Vielleicht beim Durchstöbern der Tageszeitungen? Oder während der langen Stunden in der Kirche? Soweit mein Gedächtnis zurückreichte, konnte ich Kirchenlieder lesen. Wenn ich’s mir recht überlegte, war mir das Lesen einfach zugeflogen, genauso wie die Fähigkeit, die Klappe meiner Hemdhose zuzuknöpfen, ohne den Kopf zu wenden, oder die Schnürsenkel zur Schleife zu binden. Ich wusste nicht mehr, wann sich die Zeilen über Atticus’ wanderndem Zeigefinger in Wörter getrennt hatten, aber ich erinnerte mich an keinen Abend, an dem ich nicht darauf gestarrt und zugehört hatte: Tagesnachrichten, Gesetze, die in Kraft traten, die Memoiren von Lorenzo Dow – alles, was Atticus gerade las, wenn ich abends auf seinen Schoß geklettert war. Bis mich die Angst befiel, darauf verzichten zu müssen, hatte ich nie gern gelesen. Man atmet ja auch nicht gern.
Da mir klar war, dass ich Miss Caroline geärgert hatte, hüllte ich mich für den Rest der Stunde in Schweigen und starrte zum Fenster hinaus. In der Pause kam Jem und fragte, wie es mir ergangen sei. Ich erzählte ihm alles.
«Wenn ich nicht hierbleiben müsste, würde ich weglaufen, Jem. Die verdammte Lady sagt, Atticus hat mir das Lesen beigebracht und er soll damit aufhören und …»
«Reg dich nicht auf, Scout», tröstete er mich. «Unser Lehrer sagt, Miss Caroline führt ’ne neue Lehrmethode ein. Die hat sie im College gelernt, und sie wird bald in allen Klassen angewendet. Dann braucht man nicht mehr so viel aus Büchern zu lernen. Wenn du zum Beispiel etwas über Kühe lernen willst, gehst du einfach eine melken, verstehst du?»
«Ja, Jem, aber ich will doch gar nichts über Kühe lernen, ich will …»
«Aber klar, du musst unbedingt über Kühe Bescheid wissen, weil die für Maycomb County sehr wichtig sind.»
Ich begnügte mich damit, Jem zu fragen, ob er verrückt geworden sei.
«Ich versuche dir doch bloß die neue Methode zu erklären, nach der sie die Anfänger unterrichtet, du Dummkopf. Sie heißt ‹Dewey-Dezimalsystem›.»
Da ich Jems Erläuterungen nie bezweifelte, sah ich keinen Grund, nun damit anzufangen. Das «Dewey-Dezimalsystem» bestand zum Teil darin, dass Miss Caroline vor unseren Augen Karten schwenkte, auf denen «die», «Katze», «Ratte», «Mann» und «du» zu lesen war. Sie schien keinen Kommentar von uns zu erwarten, und die Klasse nahm diese impressionistischen Offenbarungen mit Schweigen auf. Ich langweilte mich und begann, einen Brief an Dill zu schreiben. Dabei ertappte mich Miss Caroline, und sie befahl mir, meinem Vater zu sagen, er solle endlich aufhören, mich zu unterrichten. «Außerdem», fügte sie hinzu, «schreiben wir in der ersten Klasse keine Schreibschrift, sondern Druckschrift. Schreibschrift lernst du erst in der dritten Klasse.»
Diesmal lag die Schuld bei Calpurnia. Vermutlich hatte sie mich davon abhalten wollen, ihr an Regentagen auf die Nerven zu fallen. Sie kratzte als Schreibaufgabe mit fester Hand das Alphabet auf ein Blatt Papier, und darunter schrieb sie einen Bibelvers. Reproduzierte ich ihre Schreibkunst zur Zufriedenheit, erhielt ich als Belohnung ein mit Zucker bestreutes Butterbrot. Calpurnias Unterricht war frei von Sentimentalitäten: Selten genügte ich ihren Ansprüchen, und selten belohnte sie mich.
Aus meinem neuen Groll gegen Calpurnia rissen mich Miss Carolines Worte: «Hand hoch, wer zum Essen nach Hause geht.»
Die Kinder aus der Stadt meldeten sich, und sie musterte uns der Reihe nach.
«Wer sein Essen mitgebracht hat, legt es auf sein Pult.»
Sirupdosen tauchten aus dem Nichts auf, und an der Decke tanzten metallische Lichter. Miss Caroline ging die Reihen entlang, steckte ihre Nase prüfend in die Essensbehälter, nickte, wenn der Inhalt ihr zusagte, runzelte bei einigen leicht die Stirn. Vor Walter Cunningham blieb sie stehen. «Wo ist deins?», fragte sie.
Alle in der ersten Klasse sahen Walter Cunningham an, dass er Hakenwürmer hatte, und die fehlenden Schuhe verrieten uns auch, wie er dazu gekommen war. Hakenwürmer kriegte man, wenn man barfuß im Scheunenhof und in der Schweinesuhle herumlief. Hätte Walter Schuhe besessen, hätte er sie bestimmt am ersten Schultag angezogen und sie dann bis in den Winter hinein geschont. Immerhin trug er ein reines Hemd und eine sorgsam geflickte Latzhose.
«Hast du dein Mittagessen vergessen?», fragte Miss Caroline.
Walter starrte geradeaus. Ich sah, wie ein Muskel an seinem mageren Kinn zuckte.
«Hast du es vergessen?», wiederholte Miss Caroline.
Walters Kinn zuckte wieder. «Ja», murmelte er schließlich.
Miss Caroline ging zum Katheder und öffnete ihr Portemonnaie. «Hier hast du fünfundzwanzig Cent», sagte sie zu Walter. «Geh heute zum Essen in die Stadt. Du kannst es mir morgen zurückgeben.»
Walter schüttelte den Kopf. «Nein, danke, Ma’am», flüsterte er.
Aus ihrer Stimme klang Ungeduld. «Hier, Walter, nimm das Geld!»
Wieder schüttelte Walter den Kopf.
Als er ihn zum dritten Mal geschüttelt hatte, zischelte jemand: «Los, Scout, sag’s ihr doch!»
Ich wandte mich um und sah, dass die Augen der meisten Stadtkinder und sämtlicher Buskinder erwartungsvoll auf mich gerichtet waren. Miss Caroline und ich hatten ja schon zweimal miteinander verhandelt, und aus den Blicken der anderen sprach die arglose Zuversicht, dass persönlicher Kontakt gleichbedeutend mit Verständnis sei.
Ich erhob mich zu Walters Verteidigung. «Ach bitte, Miss Caroline …»
«Was gibt’s, Jean Louise?»
«Miss Caroline, er ist ein Cunningham», sagte ich und setzte mich wieder hin.
«Was soll das heißen, Jean Louise?»
Ich hatte gedacht, dass die Sache damit ausreichend geklärt wäre. Jedenfalls war es allen anderen in der Klasse klar: Walter Cunningham log das Blaue vom Himmel herunter. Er hatte sein Mittagessen nicht vergessen, sondern er hatte keines und würde auch morgen und übermorgen keines haben. Wahrscheinlich hatte er noch nie in seinem Leben drei Fünfundzwanzigcentstücke beisammen gesehen.
Ich versuchte es noch einmal. «Walter ist doch ein Cunningham, Miss Caroline.»
«Wie bitte, Jean Louise?»
«Sie können’s ja nicht wissen, aber mit der Zeit werden Sie schon alle Leute hier kennenlernen. Die Cunninghams nehmen nichts an, was sie nicht zurückzahlen können, keine Wohltätigkeitskörbe von der Kirche und auch keine Gutscheine. Sie haben noch nie was von anderen angenommen. Sie kommen mit dem aus, was sie haben. Sie haben zwar nicht viel, aber sie kommen damit aus.»
Diese genaue Kenntnis der Cunninghams – oder zumindest eines Zweiges der großen Familie – hatte ich mir im letzten Winter erworben. Walters Vater war ein Mandant von Atticus. Eines Abends hatten die beiden in unserem Wohnzimmer ein trübsinniges Gespräch über Erbpacht geführt, und beim Abschied sagte Mr. Cunningham: «Ich weiß wirklich nicht, wann ich Sie bezahlen kann, Mr. Finch.»
«Das soll Ihre geringste Sorge sein, Walter», hatte Atticus geantwortet.
Ich erkundigte mich bei Jem, was das Wort Erbpacht bedeute, und wurde mit der Bemerkung abgespeist, das sei eine ganz verwickelte Angelegenheit.
Daraufhin fragte ich Atticus, ob Mr. Cunningham uns je bezahlen würde.
«In Bargeld nicht», erwiderte Atticus. «Aber pass nur auf, noch vor Jahresende hat er mich bezahlt.»
Wir passten auf. Eines Morgens entdeckten Jem und ich eine Ladung Brennholz vor unserer Tür. Bald darauf lag ein Sack Hickorynüsse auf der Hintertreppe. Weihnachten kam ein Korb mit Smilax und Stechpalmenzweigen. Als wir im Frühling noch einen Sack Rübstiel fanden, sagte Atticus, nun habe ihn Mr. Cunningham aber überreichlich bezahlt.
«Warum bezahlt er dich denn so?», fragte ich.
«Weil er’s nur auf diese Art tun kann. Geld hat er ja nicht.»
«Sind wir arm, Atticus?»
Er nickte. «Ja, das sind wir.»
Jem zog die Nase kraus. «So arm wie die Cunninghams?»
«Nicht ganz. Die Cunninghams sind Landleute, Bauern, und die Krise hat sie am härtesten getroffen.»
Atticus erklärte, dass Leute wie er arm seien, weil die Bauern arm seien. In Maycomb County gebe es viel Landwirtschaft, deshalb hätten die Ärzte, Zahnärzte und Juristen es schwer, zu ihren Fünf- und Zehncentstücken zu kommen. Die Erbpacht sei nur eine von Mr. Cunninghams Plagen. Seine anderen Felder seien über und über mit Hypotheken belastet, und das bisschen Geld, das er verdiene, gehe für Zinsen drauf. Wenn er seinen Mantel nach dem Wind hängte, könnte er natürlich über die W.P.A. in Lohn und Brot kommen. Aber dann würden seine Äcker brachliegen und zugrunde gehen. Folglich hungere er lieber, um sein Land zu behalten, und fülle den Wahlzettel nach eigenem Gutdünken aus. Mr. Cunningham, fügte Atticus hinzu, stamme aus einem eigenwilligen Geschlecht.
Da die Cunninghams also kein Geld für einen Anwalt hatten, bezahlten sie uns einfach mit dem, was sie ernteten. «Wisst ihr, dass es bei Dr. Reynolds genauso ist?», sagte Atticus. «Er berechnet manchen Leuten für seine Geburtshilfe einen Scheffel Kartoffeln. Miss Scout, wenn Sie mir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit schenken wollen, erkläre ich Ihnen, was eine Erbpacht ist. Jems Definitionen sind manchmal nicht hundertprozentig genau.»
Wäre ich imstande gewesen, Miss Caroline diese Zusammenhänge klarzumachen, hätte ich mir einige Unannehmlichkeiten und ihr eine Demütigung erspart, doch ich wusste mich nicht so gut wie Atticus auszudrücken, und so sagte ich nur: «Sie beschämen ihn, Miss Caroline. Walter hat zu Hause keine fünfundzwanzig Cent, die er Ihnen zurückzahlen könnte, und für Brennholz haben Sie ja wohl keine Verwendung.»
Miss Caroline erstarrte. Dann packte sie mich am Kragen und schleppte mich wieder zum Katheder. «Jean Louise, für heute habe ich genug von dir», sagte sie. «Du bist in jeder Beziehung mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden, mein Kind. Streck die Hand aus!»
Ich glaubte, sie wolle hineinspucken – das war der einzige Grund, aus dem man in Maycomb die Hand ausstreckte. Nach altehrwürdigem Brauch wurden so mündliche Vereinbarungen besiegelt. Allerdings begriff ich nicht, was für einen Handel wir abgeschlossen haben sollten. Ich wandte mich hilfesuchend der Klasse zu, aber die anderen sahen mich ebenso verdutzt an. Miss Caroline ergriff ihr Lineal, versetzte mir damit ein halbes Dutzend kurzer kleiner Schläge und schickte mich in die Ecke. Als den Kindern aufging, dass Miss Caroline mich gezüchtigt hatte, brachen sie in stürmisches Gelächter aus.
Miss Caroline drohte ihnen mit dem gleichen Schicksal. Die Klasse johlte von neuem los und wurde erst stocknüchtern, als der Schatten von Miss Blount auf sie fiel. Miss Blount, eine in Maycomb geborene Lehrerin, die noch nicht in die Mysterien des «Dezimalsystems» eingeweiht war, riss die Tür auf, stemmte die Hände in die Hüften und verkündete: «Wenn ich noch einen einzigen Laut aus diesem Zimmer höre, verbrenne ich euch alle miteinander. Miss Caroline, die sechste Klasse kann sich bei diesem Radau unmöglich auf die Pyramiden konzentrieren!»
Mein Aufenthalt in der Ecke war nur von kurzer Dauer. Vom Klingelzeichen errettet, sah Miss Caroline zu, wie die Kinder im Gänsemarsch zur Mittagspause hinausgingen. Da ich das Klassenzimmer als Letzte verließ, konnte ich sehen, wie sie auf ihren Stuhl sank und den Kopf in den Armen barg. Wäre sie mir gegenüber freundlicher gewesen, hätte sie mir leidgetan. Sie war ein hübsches kleines Ding.
Walter Cunningham auf dem Schulhof abzupassen war mir eine Genugtuung, doch als ich ihn gerade mit der Nase in den Dreck stieß, kam Jem angelaufen und befahl mir aufzuhören. «Du bist größer als er», sagte er.
«Aber er ist beinahe so alt wie du», knurrte ich. «Wegen dem bin ich mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden.»
«Lass ihn los, Scout. Was ist denn passiert?»
«Er hatte kein Mittagessen dabei», sagte ich und erklärte, wie ich in Walters Nahrungssorgen verwickelt worden war.
Walter hatte sich aufgerappelt, stand da und hörte schweigend zu. Er hielt die Fäuste noch in Bereitschaft, als rechne er mit einem plötzlichen Angriff von uns beiden. Ich stampfte mit dem Fuß auf, um ihn zu verjagen, aber Jem hielt mich zurück. Er schaute Walter forschend an. «Dein Daddy ist doch Mr. Walter Cunningham aus Old Sarum?», fragte er, und Walter nickte.
Walter sah aus, als hätte man ihn mit Fischfutter großgezogen: Seine Augen, blau wie die von Dill Harris, waren rot umrandet und wässerig. Der einzige Farbfleck in seinem Gesicht war die blassrosa Nasenspitze. Er fingerte nervös an den Trägern seiner Latzhose, zupfte an den Metallhaken.
Plötzlich griente Jem ihn an. «Komm mit zum Essen, Walter», sagte er. «Wir würden uns alle sehr freuen.»
Walters Gesicht leuchtete auf, verdunkelte sich aber sofort wieder.
Jem sagte: «Unser Vater und deiner sind gute Freunde. Scout hier, die ist verrückt – aber sie tut dir bestimmt nichts mehr.»
«Sei da mal nicht so todsicher», sagte ich, weil es mich ärgerte, dass Jem so frei über mich verfügte. Andererseits aber verloren wir hier kostbare Minuten der Mittagspause. «Na gut, Walter, ich werde nicht mehr auf dich losgehen. Isst du gern Wachsbohnen? Unsere Cal ist ’ne prima Köchin.»
Walter nagte an seiner Unterlippe und rührte sich nicht von der Stelle. Jem und ich gaben es auf. Wir waren schon fast am Radley-Grundstück angelangt, als Walter uns nachrief: «He, ich komme mit.»
Er holte uns ein, und Jem unterhielt sich ganz ungezwungen mit ihm. «Da drin wohnt ein Gespenst», sagte er vertraulich und deutete auf Radleys Haus. «Schon mal was davon gehört?»
«Klar», erwiderte Walter. «Bin fast gestorben das erste Jahr, als ich in die Schule kam, weil ich von den Pecannüssen gegessen habe. Die Leute sagen, er vergiftet sie und wirft sie dann auf den Schulhof.»
In Walters und meiner Gesellschaft schien Jem keine Angst vor Boo Radley zu haben. Er fing sogar an zu prahlen. «Einmal bin ich bis ans Haus rangegangen», erzählte er voller Stolz.
«Jemand, der schon mal bis ans Haus rangegangen ist, sollte aber nicht jedes Mal rennen, wenn er dran vorbeigeht», sagte ich zu den Wolken über mir.
«Wer rennt denn, Miss Oberschlau?»
«Na du, wenn keiner dabei ist.»
Als wir zu Hause ankamen, hatte Walter ganz vergessen, dass er ein Cunningham war. Jem lief in die Küche und bat Calpurnia, noch ein Gedeck aufzulegen, wir hätten einen Gast. Atticus begrüßte Walter und begann mit ihm ein Gespräch über die Ernte, dem weder Jem noch ich folgen konnten.
«Mit meinem Sitzenbleiben ist es nämlich so, Mr. Finch, dass ich jedes Frühjahr meinem Papa beim Hacken helfen muss. Aber jetzt ist zu Hause ein anderer, der groß genug für die Feldarbeit ist.»
«Habt ihr für den einen Scheffel Kartoffeln bezahlt?», fragte ich, doch Atticus sah mich streng an und schüttelte den Kopf.
Während Walter seinen Teller mit Essen belud, sprachen er und Atticus zu unserer größten Verwunderung wie zwei Männer. Atticus verbreitete sich gerade über landwirtschaftliche Probleme, als Walter ihn unterbrach und fragte, ob wir Sirup im Hause hätten. Atticus rief nach Calpurnia, die mit dem Siruptopf kam und neben Walter stehen blieb, bis er sich bedient hatte. Er ließ großzügig Sirup über Gemüse und Fleisch fließen und hätte wohl auch noch eine Portion in sein Glas Milch gegeben, wenn ich nicht gefragt hätte, was er um Himmels willen da mache.
Der silberne Untersatz klapperte. Walter hatte den Topf hastig abgestellt, legte die Hände in den Schoß und beugte sich tief über seinen Teller.
Wieder sah mich Atticus kopfschüttelnd an.
«Aber er hat ja sein ganzes Essen in Sirup ertränkt», protestierte ich. «Er hat ihn auf alles …»
Hier forderte Calpurnia mich auf, in die Küche zu kommen.
Sie war wütend, und wenn sie wütend war, geriet ihre Grammatik durcheinander. In ruhiger Verfassung sprach sie so korrekt wie nur irgendeiner in Maycomb. Atticus sagte oft, Calpurnia hätte mehr Bildung als die meisten Farbigen.
Während sie auf mich herabschielte, vertieften sich die Fältchen um ihre Augen. «Es gibt Leute, die essen anders wie wir», zischte sie. «Aber es ist nicht deine Sache, sie bei Tisch zu piesacken, bloß wegen dem, dass sie anders essen. Der Junge ist Gast, und wenn er das Tischtuch aufessen will, lass ihn! Verstanden?»
«Er ist doch kein Gast, Cal, er ist bloß ’n Cunningham …»
«Halt den Mund! Jeder, der hier ins Haus kommt, ist Gast von euch, ganz egal, wer’s ist. Und dass ich dich nicht noch mal erwische bei Bemerkungen über Manieren, als wärst du was Besseres! Vielleicht seid ihr was Besseres wie die Cunninghams, aber das ist noch lang kein Grund, den Jungen zu kränken. Wenn du dich nicht benehmen kannst, musst du eben hier essen!»
Calpurnia stieß mich mit einem schmerzhaften Klaps durch die Schwingtür ins Esszimmer. Ich holte mir meinen Teller und aß in der Küche weiter. Immerhin war ich dankbar, dass mir die Demütigung erspart blieb, den anderen gegenübersitzen zu müssen. Ich sagte zu Calpurnia, ich würde es ihr zeigen. Eines schönen Tages, wenn sie es nicht sähe, würde ich weglaufen und mich in Barkers Teich ertränken. Und das geschähe ihr ganz recht. Außerdem wäre sie schuld daran, dass ich schreiben könnte, und deswegen hätte ich heute furchtbaren Ärger gehabt.
«Mach nicht so ein Theater», sagte sie.
Jem und Walter gingen vor mir fort. Ich hatte nämlich beschlossen, Atticus über Calpurnias Bosheiten aufzuklären, und das war es mir wert, allein am Radley-Haus vorbeizuflitzen. «Sie mag Jem sowieso lieber als mich», sagte ich abschließend und riet Atticus, sie unverzüglich davonzujagen.
«Hast du mal daran gedacht, dass Jem sie nicht halb so viel ärgert?» Atticus’ Stimme klang hart. «Ich beabsichtige keineswegs, sie fortzuschicken, weder jetzt noch in Zukunft. Wir könnten nicht einen einzigen Tag ohne Cal zurechtkommen. Hast du dir das schon mal überlegt? Bedenke gefälligst, was sie alles für dich tut, und gehorch ihr! Verstanden?»
Ich kehrte in die Schule zurück und gab mich ganz dem Hass auf Calpurnia hin, bis mich plötzlich ein Kreischen aus meinem finsteren Brüten riss.
Miss Caroline stand mitten im Klassenzimmer, kaltes Entsetzen im Gesicht. Offenbar hatte sie sich so weit erholt, dass sie ihrem Beruf wieder nachgehen konnte.
«Sie ist lebendig!», schrie sie.
Die männliche Belegschaft der Klasse eilte ihr geschlossen zu Hilfe. Guter Gott, dachte ich, die hat ja Angst vor ’ner Maus!
«Wo ist sie denn hingelaufen?», fragte der kleine Chuck Little, dessen Geduld mit allen Lebewesen grenzenlos war. «Sagen Sie doch, Miss Caroline, wo sie geblieben ist! Los, D.C.», wandte er sich an einen Jungen hinter ihm, «mach die Tür zu, dann kriegen wir sie schon. Schnell, Miss Caroline, wo ist sie hingelaufen?»
Miss Caroline deutete mit zitterndem Finger nicht etwa auf den Fußboden oder auf ein Pult, sondern auf einen ungeschlachten Burschen, den ich nicht kannte. Der kleine Chuck runzelte die Stirn. «Meinen Sie den, Miss Caroline?», fragte er treuherzig. «Der lebt allerdings. Hat er sie irgendwie erschreckt?»
«Ich bin an ihm vorbeigegangen», sagte Miss Caroline verzweifelt, «und da ist sie ihm aus dem Haar gekrochen … einfach aus seinem Haar gekrochen …»
Der kleine Chuck grinste breit. «Vor ’ner Laus braucht man doch keine Angst zu haben, Miss Caroline. Haben Sie noch nie eine gesehen? Die tut Ihnen nichts. Gehen Sie ruhig wieder nach vorn und unterrichten Sie uns weiter.»
Der kleine Chuck Little war auch so ein Mitglied der Bevölkerung, das nie wusste, wo die nächste Mahlzeit herkommen sollte, aber er war der geborene Gentleman. Er schob seine Hand unter Miss Carolines Arm und geleitete sie zum Katheder. «Regen Sie sich nur nicht auf», sagte er. «Vor ’ner Laus brauchen Sie nicht bang zu sein. Ich hole Ihnen gleich ’n Schluck frisches Wasser.»
Der Gastgeber der Laus bekundete nicht das geringste Interesse an dem Aufruhr, den er verursacht hatte. Er tastete die Kopfhaut über seiner Stirn ab, erwischte den ungebetenen Gast und zerknackte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.
Miss Caroline beobachtete diesen Vorgang mit entsetztem Interesse. Der kleine Chuck brachte ihr Wasser in einem Pappbecher, das sie dankbar trank. Endlich fand sie die Sprache wieder. «Wie heißt du, mein Junge?», fragte sie leise.
Der Bursche blinzelte. «Wer? Ich?»
Miss Caroline nickte.
«Burris Ewell.»
Sie überflog ihr Namenverzeichnis. «Hier steht ein Ewell, aber der Vorname fehlt … Würdest du mir deinen Vornamen buchstabieren?»
«Kann ich nicht. Daheim nennen sie mich Burris.»
«Schön, Burris», sagte Miss Caroline. «Ich denke, wir geben dir heute Nachmittag frei. Ich möchte, dass du nach Hause gehst und dir die Haare wäschst.»
Sie nahm ein dickes Buch aus dem Katheder und blätterte darin, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
«Ein gutes Hausmittel gegen … Hör zu, Burris, du gehst jetzt und wäschst dir die Haare mit Schmierseife. Und hinterher reibst du deine Kopfhaut mit Petroleum ein.»
«Wozu, Miss?»
«Damit du die – äh, Läuse loswirst. Weißt du, Burris, die anderen Kinder könnten sie sonst auch bekommen, und das willst du doch nicht, oder?»
Der Junge erhob sich. Er war das schmutzigste Geschöpf, das ich je gesehen hatte. Sein Hals war dunkelgrau, die Handrücken schienen mit Rost bedeckt zu sein, und die Fingernägel hatten breite schwarze Ränder. Aus einem faustgroßen sauberen Fleck in seinem Gesicht glotzte er Miss Caroline an.
Er war bisher niemandem aufgefallen, vermutlich weil Miss Caroline und ich die Klasse fast den ganzen Vormittag unterhalten hatten.
«Und bitte, Burris», sagte Miss Caroline, «nimm ein Bad, bevor du morgen hierherkommst.»
Der Junge lachte grob. «Ist gar nicht nötig, dass Sie mich nach Hause schicken. Ich wollte nämlich sowieso gehen. Für dies Jahr habe ich meine Zeit abgesessen.»
Miss Caroline sah ihn verdutzt an. «Was meinst du damit?»
Burris schwieg. Er schnaubte nur kurz und verächtlich.
Einer der älteren Schüler antwortete an seiner Stelle. «Das ist doch ein Ewell, Miss.» Ich fragte mich, ob er mit dieser Erklärung ebenso Schiffbruch erleiden würde wie ich bei meinem Versuch. Aber Miss Caroline hörte bereitwillig zu. «Die ganze Schule ist von denen voll. Sie kommen jedes Jahr am ersten Schultag. Das hat die Fürsorgerin durchgesetzt, weil sie ihnen mit dem Sheriff droht. Aber sie hat es aufgegeben, sie länger als einen Tag hier zu halten. Sie meint, nach dem Gesetz genügt es, wenn ihre Namen im Schülerverzeichnis stehen und sie am ersten Tag da sind. Für den Rest des Jahres werden sie dann als fehlend eingetragen …»
«Aber was sagen denn ihre Eltern dazu?», fragte Miss Caroline ehrlich besorgt.
«Sie haben keine Mutter», war die Antwort, «und ihr Alter ist ein richtiger Streithammel.»
Burris Ewell fühlte sich durch diesen Bericht geschmeichelt. «Drei Jahre komm ich jetzt schon zum ersten Schultag in die erste Klasse», sagte er wichtigtuerisch. «Und wenn ich’s richtig anstelle, darf ich das nächste Mal bestimmt in die zweite …»
«Burris, setz dich bitte hin», unterbrach ihn Miss Caroline, und im gleichen Augenblick wusste ich, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatte. Die Herablassung des Burschen schlug in Wut um.
«Versuchen Sie mal, mich zu zwingen!»
Der kleine Chuck Little war aufgesprungen. «Lassen Sie ihn gehen, Miss!», rief er. «Das ist ein gemeiner, ein richtig gemeiner Kerl. Der ist imstande und fängt hier was an, und es sind doch ein paar Kleine hier.»
Er selbst war einer der Allerkleinsten, doch als Burris sich nach ihm umdrehte, fuhr Chucks rechte Hand in die Hosentasche. «Nimm dich in Acht, Burris», sagte er. «Sonst mach ich dich ruck, zuck kalt. Los, verschwinde!»
Burris schien sich vor diesem Kind zu fürchten, das halb so groß war wie er, und Miss Caroline nutzte seine Unentschlossenheit. «Geh nach Hause, Burris», befahl sie. «Wenn du es nicht tust, rufe ich den Direktor. Ich muss den Vorfall ohnehin melden.»
Der Bursche schnaubte und schlurfte langsam zur Tür.
In sicherer Entfernung wandte er sich um. «Melde, soviel du willst, und rutsch mir den Buckel runter!», schrie er. «Die rotznäsige Schlampe von Lehrerin ist noch nicht geboren, die mich rumkommandiert! Von Ihnen lasse ich mir gar nichts sagen, Miss, von Ihnen nicht! Mich können Sie nicht rumkommandieren!»