Wer die Ruhe sucht - Nadine Herberger - E-Book

Wer die Ruhe sucht E-Book

Nadine Herberger

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Beschreibung

Frau Bijou lebt ihren Traum: ein tolles Haus, eine wundervolle Ehe und einen liebevollen Sohn. Aber wie viel davon ist nur Schein? Immer öfter wird sie von ihren alten irrationalen Ängsten heimgesucht und stößt auf Geheimnisse. Oder sind sie gar nicht so unwirklich? Kann sie die Mysterien auflösen, bevor es zu spät ist?

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Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Kapitel 11 

Kapitel 12 

Kapitel 13 

Kapitel 14 

Kapitel 15 

Kapitel 16 

Kapitel 17 

Danksagung 

 

 

 

 

Vollständige e-Book Ausgabe 2021 

 

© 2021 STERNFUNKEN 

Lektorat: Hanë Bytyqi 

Umschlaggestaltung: coMedia 

Umschlagmotiv: © mskathrynne - pixabay.com 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. 

 

(e-Book) ISBN: 9783985945269 

 

 

 

 

STERNFUNKEN ist eine soziale Initiative. 

Alle Erlöse die mit Sternfunken-Books erzielt werden, kommen ausschließlich sozialen Projekten zugute. 

 

 

 

 

Nadine Herberger ist Lehrerin in den Fächern Technik und Bildende Kunst. Sie betreibt eine Schreibwerkstatt am Rande des Kraichtals und gewann 2015 das Wortgefecht bei AUTORIKA in Karlsruhe. Schon seit ihrer Kindheit schreibt Nadine Geschichten und Gedichte. Inspiration für all ihre Bücher findet sie beim Lesen oder Musikhören, aber hauptsächlich in Träumen. Sie beschreibt selbst:

»Schreiben ist für mich – eine Reise, in der ich meinem Selbst begegne.«

Kapitel 1 

»Und wir können uns das wirklich leisten?«, fragte ich leise, als der Makler in einen anderen Raum ging. Julien nickte und zwinkerte mir zu. Ich hatte mich bei ihm eingehakt und er drückte meinen Arm. Das beruhigte mich, denn offen gestanden hatte ich überhaupt keinen Plan von unserer finanziellen Lage. Ich wusste nur, dass wir sehr wohlhabend waren und Julien unsere Geldangelegenheiten regelte.

Das Haus, das wir uns ansahen, lag an einem See. Es war zweistöckig, unterkellert und hatte ein großzügig geschnittenes Badezimmer. In der Mitte der Küche befand sich eine Kochinsel, alle Arbeitsflächen waren in einem Terracottaton gefliest. Im gesamten Haus war hochwertiger Parkettboden verlegt. Die nächsten Nachbarn erreichte man zu Fuß in einer guten halben Stunde. Im Sommer konnte man den See zum Baden nutzen, da würde Milo sich freuen. Mein elfjähriger Sohn, der es super fand, von nun an mit dem Auto zur Schule gebracht zu werden. Ich sah uns drei schon hier einziehen. Mir wurde warm ums Herz. Dieses Gefühl bekam ich, wenn etwas richtig Gutes bevorstand.

»Wenn Sie möchten«, begann der Makler, »können Sie bereits in einem Monat einziehen. Es sind nur noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Das Dach wurde im letzten Sommer neu gedeckt. Der Vorbesitzer hat die Auffahrt vor drei Monaten neu teeren lassen.«

Er sah uns an und ich sah die Geldscheine in seinen Augen tanzen.

»Geben Sie uns ein paar Minuten. Meine Frau und ich besprechen uns kurz.«

Julien zog mich auf die Holzterrasse, von wo aus man zum See gehen konnte. Wir liefen durch das heruntergefallene Laub zum Steg. Julien sagte: »Wir sollten es kaufen. Milo täte es gut nicht mehr in der Stadt zu leben. Du hättest einen Raum nur für dich, den Schuppen lasse ich für dich herrichten.«

»Und du könntest dich von deinem anstrengenden Job erholen. Die Stille hier draußen tut uns allen gut. Und wir können uns das wirklich leisten?«, fragte ich und sah ihn mit großen Augen an.

Er grinste mich an und ich liebte es, wie sich dabei diese Grübchen in seinen Wangen bildeten. Er sagte: »Du sprichst mit dem diensthabenden Oberarzt der Orthopädie, also ja, mein Schatz, wir können uns das leisten.«

Wir umarmten und küssten uns. Noch immer bekam ich dabei weiche Knie. Julien war mein Traummann. Alles war perfekt. War.

Zurück im Haus erteilten wir dem Makler den Auftrag, fuhren wieder in unsere Stadtwohnung, die Julien behalten wollte, für die Zeiten, in denen er Bereitschaft hatte. Wir öffneten eine Flasche Champagner. Dabei war es mir völlig egal, dass gerade zehn Uhr vormittags war.

Als Milo um kurz nach zwei von der Schule kam, erzählten wir ihm die Neuigkeiten. Er freute sich wie sonst nur an Weihnachten. Sofort schmiedeten er und Julien Pläne. Im Sommer wollten sie um die Wette schwimmen, im Herbst angeln und Männersachen machen, die ich, wie sie meinten, ohnehin nicht verstand Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Mein Herz ging auf, als ich die beiden so sah. Sie wirkten wie Vater und Sohn, doch Milo war nicht Juliens leiblicher Sohn. Er kannte seinen Vater nicht, dieser starb, als ich mit Milo schwanger war. Als Milo zwei war, kam Julien in unser Leben. Sofort akzeptiere er meinen Sohn und die beiden hatten von Beginn an einen guten Draht zueinander. Manchmal fragte ich mich, was Julien in mir sah. Ich war eine einfache Frau, nicht überdurchschnittlich hübsch oder übermäßig intelligent.

Als wir uns kennenlernten, arbeitete ich stundenweise in einer Bücherei. Aber der Spagat zwischen alleinerziehend und Geld für meine kleine Familie zu verdienen, war enorm schwer. Milos Vater hatte mir nichts hinterlassen, wir waren nicht einmal verheiratet gewesen. Wir hatten große Pläne und er hatte sich so gefreut, Vater zu werden. Manchmal stellte ich mir vor, dass er ab und an über Milo wachte. Er würde immer Teil meines Lebens sein, auch wenn er nicht mehr lebte. Milo gab ich als Zweitnamen, den Namen seines Vaters: Ben. Ich sprach auch oft mit ihm über seinen Vater. Er wusste, dass Julien nicht sein leiblicher Vater war, aber er nannte ihn Papa, das ist okay, denn er ist für ihn wie ein Vater. Julien und ich hatten oft darüber gesprochen noch ein gemeinsames Kind zu bekommen. Aber es hatte irgendwie nie funktioniert. Und inzwischen war Milo so groß, da wollte ich nicht noch einmal anfangen müssen mit Windelnwechseln und mitten in der Nacht aufstehen, weil das Baby Hunger, Durst oder sonst ein Bedürfnis hatte.

Julien lieh sich in der Bücherei, in der ich arbeitete, immer öfter medizinische Fachbücher aus. Irgendwann bekam er raus, wann ich arbeitete und er wollte nur noch von mir bedient werden. Hin und wieder plauderten wir ein wenig über Bücher. Ich empfahl ihm so manchen Schmöker und er war ganz offen und interessiert. Eines Tages lud er mich zum Essen ein. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Da war er gerade kurz davor seinen Facharzt in Orthopädie zu machen. Inzwischen ist er Oberarzt und ich war schon immer extrem stolz auf ihn. Vielleicht himmelte ich ihn auch ein wenig an. Aber das durfte man, oder? Den eigenen Mann anhimmeln war okay. Nach unsrer Heirat bestand er darauf, dass ich nicht mehr in der Bücherei arbeitete, er meinte, ich solle mich dem Haushalt, meinem Sohn und meinen Hobbys widmen. Das war die offizielle Version, inoffiziell sah es so aus, dass ich, wie ich es nenne, ein Angsthase bin. Ich habe eine Angsterkrankung und mehrere Therapien haben nicht geholfen. Als Frau eines so renommierten Arztes musste ich etwas darstellen und nicht ein Häufchen Elend, das hin und wieder nervös schwitzend in der Bücherei saß. Julien hatte es natürlich mit anderen Worten ausgedrückt, aber das war die Kernbotschaft. Ich musste zugeben, dass es mir guttat, als ich aufhörte zu arbeiten. Der Druck war weg. Ich war völlig frei von der Zeiteinteilung. Milo tat es ebenfalls gut, denn je entspannter ich wurde, desto entspannter war auch er. Je mehr ich mich meinem Hobby, der Malerei, widmete, desto weniger Ängste und Panikattacken hatte ich. Gelegentlich suchte mich noch eine heim, meistens beim Einkaufen. Aber es gab die wunderbare Erfindung des Lieferservices und ich nutzte diese regelmäßig. Julien war minder begeistert, denn er war, wie all die Schulpsychologen der Meinung, dass man sich seinen Ängsten stellen musste, dann würden sie verschwinden. Haha, ich lache immer noch. Denn kaum war eine Angst besiegt, jagte mich die nächste. Von daher ging ich, was das anging, meinen eigenen Weg. Zum jetzigen Zeitpunkt wusste ich nicht, wie lächerlich meine Ängste, im Gegensatz zu dem waren, was mir bald das Blut in den Adern gefrieren lassen würde.

Kapitel 2 

Der Umzug verlief problemlos. Julien hatte eine Umzugsfirma beauftragt und bis zum Tag des Einzuges war auch mein Büro, so wie wir es nannten, fertig. Wir zogen in den Herbstferien ein. Julien hatte in dieser Woche frei und so konnten wir uns in aller Ruhe in das Haus einleben. Milos Zimmer war eine richtige Räuberhöhle, er hatte eines der größten Zimmer mit einem Stockbett. So konnten auch mal Freunde übernachten. Julien schenkte ihm zum Einzug ein Teleskop, denn Milo liebte es, in die Sterne zu sehen. Mir verriet er einmal, dass wenn er so in die Sterne sah, immer hoffte, seinen Vater zu sehen. Ich unterdrückte meine Tränen und nahm ihn liebevoll in die Arme. Dann sagte ich ihm, dass wenn er genau hinsah, er sicherlich seinen Vater eines Tages sehe.

Kapitel 3 

Es war Freitagabend, als mir das erste Mal etwas merkwürdig vorkam. Milo verbrachte viel Zeit am See.

Zuerst saß er da eine Zeitlang mit Julien und die beiden führten »Männergespräche«. Doch dann saß er allein da, auf dem alten Steg, der bis zur Mitte mit buntem Herbstlaub bedeckt war. Allem Anschein nach führte mein Sohn Selbstgespräche. Das war nicht weiter verwunderlich. Doch in mir meldete sich etwas. Ich tat dies auch in meiner Kindheit, hatte imaginäre Freunde, da auch ich ohne Geschwister aufwuchs. Ich befürchtete, dass Milo so werden würde wie ich, voller Angst und Unsicherheit. Die negativen Gedanken verdrängte ich schnell und beobachtete ihn, wie er ein lebhaftes Gespräch führte und dabei kicherte. Nach einer Weile stand er auf und hielt seine Hand so, als wolle er jemandem aufhelfen. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Er winkte und ging zurück Richtung Haus. Ich war weiter in der Küche mit dem Abendessen beschäftigt. Milo zog seine Schuhe aus, hängte die Jacke an die neue Garderobe und schlurfte zu mir in die Küche.

»Hi Mama, was gibt’s heut zu essen?«, fragte er und linste auf den Herd.

»Kürbissuppe und Apfelkuchen«, antwortete ich und ich musste meinen Sohn nicht ansehen, um zu wissen, dass er freudig grinste.

Das war eine seiner Leibspeisen.

»Deckst du bitte den Tisch? Julien muss ich noch aus seinem Arbeitszimmer zerren.«

Milo verdrehte die Augen und antwortete: »Lass mal, ich hole ihn.«

Er stapfte davon und ich grinste. Milo hatte da so seine Tricks Julien aus seinem Zimmer zu locken. Noch einmal sah ich aus dem Fenster, ehe ich die Teller aus dem Schrank daneben nahm. Auf dem Steg sah es aus, als würden einzelne Blätter zur Seite geschoben. Als ginge jemand darüber. Ich schüttelte den Kopf und machte weiter meine Arbeit. Vermutlich der Wind, der über dem See die Blätter ungewöhnlich aufwirbelte.

 

Nach dem Abendessen verabschiedete sich Milo in sein Zimmer, er wollte mit seinem Kumpel chatten. Julien und ich machten es uns auf der Couch gemütlich. Gekonnt dekantierte er den Wein und schenkte mir ein.

»Auf uns und unser neues Heim«, sagte er und prostete mir zu.

Ich schmiegte mich an ihn und Julien streichelte über meinen Arm. Das Pochen seines Herzens beruhigte mich. Ich schloss die Augen.

»Wusstest du eigentlich, dass Milo eine Freundin hat?«, fragte er.

Schlagartig öffnete ich meine Augen und setzte mich auf.

»Wie bitte?«, fragte ich und war nicht über die Tatsache, dass er eine hatte überrascht, sondern darüber, dass er davon zuerst Julien erzählte und nicht mir.

Julien grinste überheblich. Er antwortete: »Ja, sie wohnt wohl hier irgendwo in der Nähe. Er meinte, er hätte sie am See kennengelernt und sie hätten sich prima verstanden.«

»Aha, das ist ja interessant. Ich habe ihn heute am See gesehen, er saß da ganz allein.«

»Glaubst du wirklich, er trifft sich hier mit ihr, wo wir sie sehen können? Komm schon, das haben wir früher auch nicht gemacht.«

Das leuchtete mir ein. Aber ich war schon sehr neugierig. Julien sah mir das an und sagte: »Lass ihn, er wird schon zu dir kommen und es dir erzählen. Das ist sicher eine ganz harmlose Geschichte. Eine kleine Schwärmerei.«

»Du hast ja recht, ich hätte mich auch nicht vor der Haustür getroffen. Vorhin saß er da am See und es sah so aus, als rede er mit sich selbst. Das verwirrt mich etwas.«

»Vermutlich lag sein Handy auf dem Schoß und er hat mit der Angebeteten telefoniert. Und was glaubst du, mit wem er jetzt chattet?«

Julien hob seine Finger in die Höhe und machte Gänsefüßchen in der Luft. Ich wollte aufstehen und hoch gehen um zu lauschen, doch Julien durchschaute mich.

»Nein, lass das!«

Ich verdrehte die Augen und setzte mich wieder. Dann sagte ich: »Ja, du hast ja recht. Es ist nur so: Mein Baby wird erwachsen!«

Wir sahen uns an und lachten laut los.

»Das wird er in der Tat. Da wird noch einiges auf uns zukommen. Glaub mir. Komm, ich hole uns noch was zu knabbern.«

Mit diesen Worten ging er in die Küche und kam kurze Zeit später wieder. Milo kam nur noch mal vor neun und verabschiedete sich für die Nacht. Er war angeblich müde, dabei hatte ich das dumpfe Gefühl, dass er vielleicht mit diesem Mädchen chattete. Dabei fragte ich mich, ob er vielleicht doch etwas zu jung für ein eigenes Smartphone war. Klar, er war auf einer weiterführenden Schule und er war mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen. Bis jetzt. Ab Montag beginnt die Schule wieder und er nutzte das Mamataxi. Wozu benötigte er also ein Smartphone? Meine innere Stimme, die die ich immer hatte und die im Grunde wusste, was richtig und falsch war, sagte mir, dass es okay war ein eigenes Telefon zu haben. Dass es zwar nicht gut war, dass alle eins hatten, aber so war es nun mal heutzutage. Die Kinder hatten Telefone und kommunizierten so miteinander. Hausaufgaben wurde ausgetauscht. Bilder von Haustieren verschickt. Leider gab es auch eine Schattenseite. Aber er war nicht betroffen und soweit ich das beurteilen konnte, war auch niemand in seiner Klasse betroffen. Milo ging auf ein privates Gymnasium und dies ließ Julien sich viel Geld kosten. Er scheute wirklich keine Kosten und Mühen für Milo. Milo war jedoch nicht verzogen. Er wuchs privilegiert auf und wusste das in seinem jungen Leben zu schätzen. Manchmal dachte ich darüber nach, wie mein Leben ohne Julien verlaufen wäre. Milo wäre auf einer staatlichen Schule und ich würde noch in der Bücherei arbeiten. Er hätte kein Smartphone, vielleicht ein altertümliches Handy, aber kein Smartphone, mit dem man über einen Kurznachrichtendienst mit Mädchen kommunizieren konnte. Ich verdrehte die Augen, denn meine Gedanken kreisten nur um ein Thema. Tatsache war, dass Milo ein anständiges Kind war und wenn er allmählich Interesse an einem Mädchen fand, dann war das okay. Ich konnte den Lauf der Zeit nicht aufhalten.

Kapitel 4 

Am nächsten Morgen wurde ich vom frischen Brötchenduft geweckt. Ein paar herbstliche Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster herein, ich räkelte mich im Bett. Es war Samstag, wenn Julien frei hatte, nutzte er manchmal die Gelegenheit, Brötchen zu holen, damit wir drei gemeinsam frühstücken konnten. Rasch ging ich ins Badezimmer und war kurze Zeit später auf dem Weg nach unten. Doch, da ich sehr neugierig war, hielt ich in der Mitte der Treppe kurz an und lauschte, was die beiden zu bereden hatten, während sie das Frühstück vorbereiteten. Ich konnte nur Bruchteile verstehen, es ging um irgendein Videospiel. Gerade als ich weiterlaufen wollte, bekam ich einen kräftigen Stoß von hinten. Das kam unerwartet und hart. Mein großes Glück war, dass ich mit einer Hand am Geländer war, ansonsten wäre ich die komplette Treppe hinuntergesegelt. Ich hing ungeschickt am Geländer fest und fiel ein paar Stufen hinab. Julien und Milo rannten zu mir und sahen mich besorgt an. Julien rief Milo zu: »Hole bitte schnell meinen Koffer aus dem Arbeitszimmer!«

Milo nickte und all das geschah in Zeitlupe. Mir wurde schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Krankenhaus. Julien stand neben mir, in seinem weißen Kittel. Die Hände auf dem Rücken gefaltet.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Du bist die Treppe runtergefallen. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du Hausschuhe und nicht nur Strümpfe anziehen sollst? Herrgottnochmal! Wie so ein törichtes Kleinkind.«

Auch das war Julien. Lief es mal nicht nach seinem Kopf, packte ihn die Wut und seine Kommentare gingen unter die Gürtellinie.

»Wo ist Milo?«

»Bei Cedric. Du hast uns einen riesen Schreck eingejagt! Weißt du das?«

Meine Erinnerung kam wieder und mir fiel ein, dass ich nicht gefallen war, sondern gestoßen wurde.

»Julien, mich hat jemand gestoßen, ich bin nicht gefallen«, sagte ich und in dem Moment war mir klar, dass er mir nicht glaubte, dass ein dummer Kommentar kommen würde und das tat es auch: »Na klar, dich hat jemand gestoßen. Vielleicht solltest du abends einfach nicht mehr so viel saufen.«

Mit diesen Worten verschwand er. Mein Schädel brummte und mein Arm tat weh. Er leuchtete in allen Farben, aber gebrochen war er nicht, ich hatte keinen Gips. Julien kam noch einmal rein, sagte mir, dass ich über Nacht bleiben müsste, um eine Gehirnerschütterung auszuschließen. Er würde aber wieder nach Hause gehen, um sich um Milo zu kümmern. Sein Ärger war offensichtlich etwas verraucht, denn er gab mir zum Abschied einen Kuss auf die Stirn.

 

Es war ganz praktisch, die Frau des Oberarztes zu sein, wenn man im Krankenhaus war. Ich hatte ein schönes Einzelzimmer, einen Fernseher, WLAN und bekam richtig gute Kost. Am Abend zappte ich durch das Fernsehprogramm, doch es interessierte mich nicht wirklich etwas. Lesen wollte ich auch nicht, auch wenn mir die nette Krankenschwester eine Auswahl an Zeitschriften gebracht hatte. Ich dachte mir, wenn ich früher schlafe, war es gefühlt schneller morgen und umso schneller konnte ich wieder daheim sein. Kopfschmerzen hatte ich keine, auch kein Schwindelgefühl. Eine Schwester kontrollierte meine Temperatur und erkundigte sich nach meinem Befinden. Als ich gerade am Einschlummern war, öffnete sich die Tür zu meinem Krankenzimmer erneut. Mittlerweile war ich genervt von den vielen Erkundigungen nach meinem Befinden. Ich hatte das Gefühl, dass die Schwestern sich erhofften, ich lege ein gutes Wort bei Julien für sie ein. Doch als ich zur Tür sah stand da keine Krankenschwester, sondern ein Mädchen. Vielleicht so alt wie Milo oder ein, zwei Jahre jünger. Ich setzte mich im Bett auf und sah sie an. Ihr Blick war leer und irgendwie sah sie blass aus. Kein Wunder, offensichtlich war sie hier auch Patientin. Ich sprach sie an: »Hallo, hast du dich verlaufen? Die Gänge hier im Krankenhaus sind sehr verschachtelt. Auf welcher Station bist du denn?«

Ihre Hand war noch am Türgriff, sie sah mich weiter mit ihren leeren Augen an. Ich vermutete, dass sie starke Medikamente bekam, aber was machte sie dann hier auf den Beinen? Gerade als ich sie nochmal etwas fragen wollte, sagte sie: »Das war nur eine Warnung! Sag ihm das.«

Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss. Da ich überall solche Schmerzen hatte, konnte ich nicht schnell genug aufstehen. Als ich an der Tür ankam war von dem Mädchen weit und breit nichts zu sehen. Dafür sahen mich zwei Schwestern, die eilig zu mir kamen. Eine davon sagte:

»Frau Bijou, Sie sollten noch nicht aufstehen. Klingeln Sie doch nach uns, wenn Sie etwas benötigen.«

Die beiden halfen mir zurück ins Bett. Es ließ mir keine Ruhe und ich fragte: »Wohin ist das Mädchen gegangen?«

Als ich keine Antwort bekam, fragte ich weiter: »Gerade eben. Da war ein Mädchen in meinem Zimmer. Es muss auch eine Patientin sein, sie sah sehr ungesund aus. Wo ist sie hingegangen?«

Die beiden tauschten unsichere Blicke aus, ehe eine antwortete: »Da war kein Mädchen. Sie sind direkt gegenüber des Schwesternzimmers der Privatstation und wir standen seit zehn Minuten auf dem Gang, um den Dienstplan zu besprechen und auf die Nachtschwester zu warten. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

In der Tat fühlte ich mich jetzt nicht wohl. Vielleicht hatte ich mir den Kopf bei dem Sturz gestoßen und halluzinierte.

Das wollte ich allerdings nicht erwähnen, da ich keine Lust hatte, noch eine Nacht im Krankenhaus zu verbringen. Also sagte ich: »Da muss ich wohl geträumt haben. Tut mir leid, ich bin sehr erschöpft von dem Sturz.«

Die beiden nickten verständnisvoll und eine verabschiedete sich, da ein anderer Patient nach ihr klingelte.

»Es kann auch von den Medikamenten kommen, Sie bekommen starke Schmerzmittel. Versuchen Sie zu schlafen, dann kommt alles wieder gut.«

Ich stimmte zu und schloss die Augen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Zu groß war die Angst, dass ich nochmal ungebetenen Besuch bekam. Auch wenn ich keine Angst zu haben brauchte vor einem kleinen Mädchen, mit blonden Haaren und grauem Jogginganzug. Vermutlich hatten die Schwestern sie nicht gesehen, da sie zu sehr in ihren »Dienstplan« vertieft waren. Bestimmt rauchten sie heimlich auf dem Balkon. Ich wusste, dass sie das taten, denn Julien hatte mir davon berichtet. Manche Schwestern hatten keine Lust, nach unten in den Raucherbereich zu gehen, um dort zu rauchen und nutzten deswegen die Spätschicht, um auf dem Balkon für Besucher der Privatpatienten zu rauchen. Aber da man nie wirklich eine erwischte, wurde noch keine zur Rechenschaft gezogen. Ich ließ mir die Worte des Mädchens durch den Kopf gehen »Das war nur eine Warnung! Sag ihm das.«, was meinte sie damit? Ich besaß genügend Fantasie, um mir alles Mögliche zusammenzureimen, was ich auch die Nacht über tat. Vielleicht war sie auf der Kinderstation und es war ihr langweilig, so wie vielen anderen Kindern auch und sie hatten sich einen Scherz erlaubt. Ich würde das herausfinden. Doch sollte ich besser Julien nichts davon sagen, er hatte schon so merkwürdig reagiert, als ich ihm sagte, mich hätte jemand die Treppe hinuntergestoßen. Ich weiß genau wie es sich angefühlt hatte, ich war nicht gestolpert und ich hatte gestern Abend nicht zu viel Wein getrunken. Mich hatte jemand gestoßen. Doch wer? Wer konnte in unserem Haus sein? Wer hatte Interesse daran, mich zu verletzen? Hatte dieses Mädchen etwas damit zu tun? Das war Quatsch. Gedankenmüll! Vermutlich hatte Julien doch recht und ich hätte Schuhe anstatt Socken anziehen sollen. Wenn man stürzt, bringt man Dinge durcheinander. Letztendlich schlief ich ein und befahl meinem Gehirn, nicht so einen Schwachsinn zu erfinden.

Kapitel 5 

Der nächste Morgen kam schneller als gedacht, viel geschlafen hatte ich nicht. Besuch von dem merkwürdigen Mädchen bekam ich auch keinen mehr, auch wenn ich mich hin und wieder beobachtet fühlte. Das etwas Nervige an Krankenhäusern: Alle paar Stunden kommt jemand rein, um nach einem zu sehen. Das ist ja schon okay, denn sie machen ihren Job und müssen das tun, doch zu einer entspannten Genesung trägt es nicht wirklich bei. Julien kam gegen halb neun zusammen mit Milo. Ich durfte nach Hause und Milo freute sich so sehr darüber, als wäre ich drei Wochen ohne ihn im Urlaub gewesen. Wäre Julien nicht mein Mann gewesen, hätte ich nicht heim gedurft, dessen war ich mir sicher. Bei ihm war ich in besten Händen. Zuhause verabreichte er mir noch ein paar Schmerzmittel. Ich vermied es, die Treppe allein zu gehen, so wie der Teufel das Weihwasser mied. Das funktionierte ab morgen nicht, da ich die meiste Zeit allein war und irgendwie sorgte dieser Gedanke für Unbehagen in mir.

Im Badezimmer schaute ich mir meine blauen Flecke genau an, da hatte ich ganze Arbeit geleistet. Oder: Jemand hatte ganze Arbeit geleistet. Aber ich hatte den Vorteil, dass blaue Flecken bei mir schnell verschwanden, schneller als bei anderen. Mitte der Woche sollte nichts mehr zu sehen sein. Ich machte mich im Badezimmer frisch und ging dann zu Milo ins Zimmer. Er hing am Handy und sofort dachte ich wieder an dieses Mädchen, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte. Der Gedanke versetzte mir einen kleinen Stich ins Herz. Selbstverständlich würde ich diese Liebelei nicht im Kern ersticken können und mir war auch klar, je mehr ich dagegen angehen würde, desto mehr würde er sich vor mir verschließen. Also versuchte ich es ganz cool: »Na, schreibst du Cedric?«

Milo hob seine Augenbraue und antwortete: »Ja klar, wem denn sonst?«

»Keine Ahnung, wem du da sonst noch schreibst. Was macht die Buchpräsentation? Zeigst du sie mir mal?«

Milo seufzte genervt auf und ich wusste, dass er dem Teenageralter näher war, als ich dachte. Er verdrehte die Augen, holte ein großes grünes Plakat hervor. Darauf hatte er fein säuberlich den Autor, den Illustrator, Buchtitel und die Hauptfiguren vermerkt. Schön verziert und in das Buch hatte er eine Zusammenfassung gelegt, die er zuvor mit seiner für sein Alter ungewöhnlichen Handschrift geschrieben hatte. Er trug mir die Präsentation vor und ich merkte, wie stolz er war. Ich wusste, dass er dafür eine gute Note bekommen würde.

»Milo, das hast du echt sehr gut gemacht.«, sagte ich und umarmte ihn, dabei spürte ich wieder meine blauen Flecken und zuckte kurz zusammen.

»Mama? Hat dich wirklich jemand gestoßen auf der Treppe?«

Das machte mich stutzig. Ich weiß, dass Kinder wie ein Schwamm waren und alles aufsaugten, was sie hörten oder sahen. Meistens das, was sie nicht sollten. Wohingegen sie das, was sie hören sollten, meist nicht hörten. Er musste es mitbekommen haben, als ich es Julien gesagt hatte. Dabei war ich mir so sicher, dass Milo es nicht mitbekommen hatte. Ich grübelte und sagte: »Es hat sich so angefühlt, aber du weißt ja, ich habe immer diese dicken Wollsocken an und die Treppe ist ganz glatt. Hat dir das Julien erzählt?«

»Nein«, Milo sah mich ernst an und sprach dann weiter:

»Papa hat es mir erzählt.«

Mir fiel der Stift aus der Hand und sämtliche Gesichtszüge entglitten mir. Ich schluckte und sah ihn stirnrunzelnd an, dann sagte ich: »Papa? Du meinst dein leiblicher Vater? Wie?«

Milo und ich hatten schon immer ein offenes Verhältnis, bis auf das Mädchen, das seit Neustem in seinem Leben war. Deswegen erzählte er mir alles frei von der Leber weg:

»Im Traum. Ich träume in letzter Zeit oft von ihm. Er hat mir gesagt, ich soll auf dich aufpassen, weil Julien nicht ehrlich sei und da ein Mädchen ist, das sauer auf ihn ist und deswegen will, dass dir etwas passiert. Ich habe Angst um dich, Mama«, er drückte mich, zwar vorsichtig, aber ich spürte seine Angst, »ich will nicht, dass dir etwas passiert. Und Julien ist doch ein Guter oder?«

Ich küsste ihn auf seinen Kopf und antwortete: »Ach Schatz, mach dir keine Gedanken. Träume sind dazu da, damit wir Dinge verarbeiten können. Wir sind umgezogen und du bist noch nicht so lange in der neuen Schule. Viel Neues, das dein Unterbewusstsein da verarbeiten muss. Mach dir keine Sorgen. Ich träume manchmal auch von deinem Vater. Und ja: Julien ist ein Guter! Wenn nicht sogar der Beste.«

Ich spürte, wie er sich langsam in meinen Armen entspannte. Dann streichelte ich über seinen Kopf und sagte: »Komm in zehn Minuten runter, wir werden Pizza bestellen.«

Ich zwinkerte ihm zu und ging todesmutig die Treppe hinunter. Mit Schuhen, beide Hände am Handlauf und in Zeitlupe. Als ich unten ankam sah Julien mich belustigt an und fragte: »Alles okay?«

Ich nickte und beschloss ihm nichts von dem Vorfall zu erzählen. Langsam ging ich zum Kühlschrank, nahm den Flyer vom Pizzadienst, setzte mein fröhlichstes Lächeln auf und wedelte mit dem Flyer herum. Julien verdrehte die Augen und sagte: »Na schön, wir haben ja noch Urlaub heute. Aber ab morgen wird wieder frisch gekocht.«

Ich hörte ihm nicht mehr so ganz zu und überlegte, ob ich lieber Pizza Funghi oder Pizza Marinara wollte. Entschied mich für Letztere. Milo kam die Treppe hinuntergerannt und schrie: »Ich will eine Margaritha!«

Julien suchte sich auch eine raus und bestellte für uns. Eine halbe Stunde später saßen wir essend am Tisch. Nachdem ich alles aufgeräumt hatte, sagte ich zu den beiden, die es sich inzwischen auf der Couch gemütlich gemacht hatten: »Kommt, keine Videospiele jetzt. Wir laufen um den See. Es ist so schönes Wetter.«

Gemeinschaftliches Grummeln. Julien sagte: »Liebling, das geht noch nicht mit deiner Verletzung, du solltest dich noch etwas schonen. Ich, als dein Arzt, empfehle dir…«

Ich unterbrach ihn: »Och bitte! Keine Pizza essen wollen, weil sie dick macht aber zu faul, um um den See zu laufen. Mir geht es gut, ich habe mir nichts gebrochen. Eine Gehirnerschütterung habe ich auch nicht. Nur noch ein paar blaue Flecke und kaum Schmerzen. Mehr nicht. Also, entweder kommt ihr mit oder ich gehe allein und wenn ich allein gehen muss, dann werde ich mir demnächst einen Hund zulegen, damit ich jemanden habe, der mit mir spazieren geht. Also?«

Ich verschwieg, dass die Schmerzen doch stärker waren, als ich tat. Aber ich benötigte unbedingt etwas Bewegung. Die beiden taten so, als wäre ich nicht da und hatten schon ihre Controller der Spielekonsole in der Hand. Ich grummelte kurz, zog meine Stiefel und meinen Mantel an und ließ die Tür theatralisch laut hinter mir ins Schloss fallen. Dann wanderte ich los. Der See war nicht sonderlich groß, doch es war genügend an Strecke, um einen netten Sonntagsspaziergang zu unternehmen. Gedanklich spielte ich damit, wie es wäre, wenn wir einen Hund hätten. Julien war zwar stets dagegen gewesen, weil er angeblich eine Hundehaarallergie hatte, aber das kaufte ich ihm nicht ab. Er wollte einfach den Dreck nicht, den ein Hund so mit sich brachte.

Auf meinem langsamen Weg um den See sammelte ich ein paar Kastanien und besonders hübsche Blätter. Inzwischen stand ich gegenüber unserem Hause und konnte die Veranda sehen. Ein richtiges Schmuckstück, dieses Haus. Ich atmete mit voller Lunge aus und schloss die Augen. Ein herrliches Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.