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Während die Unternehmerin Rita Wegener auch mit 73 Jahren das Zepter noch nicht an die nächste Generation weitergeben will, leidet Anton unter seiner autoritären Mutter. Gleichzeitig bangt er um seine Ehe, in der es mächtig kriselt. Jule hofft, dass ihr Herzenswunsch endlich in Erfüllung geht. Und ein katholischer Priester entdeckt pädophile Züge an sich, die es zu bekämpfen gilt. Was haben diese Personen gemeinsam? Und warum mischt sich eine Unbekannte in deren Leben ein?
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Alle Personen, Ereignisse und Orte
dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen,
Orten oder Geschehnissen wären zufällig.
Frauke Mann, ist Diplom-Verwaltungswirtin (FH) und staatlich geprüfte Heilpraktikerin. Sie ist Jahrgang 1967 und lebt mit ihrer Familie sowie einer reinrassigen Bauernhofkatze und einem quirligen Jack-Russel-Mix am Fuße der Schwäbischen Alb. Aus den vielseitigen Berührungspunkten mit Menschen unterschiedlicher Façon und den Erfahrungen mit Patienten in ihrer eigenen Praxis sowie als jahrelange Dozentin im Gesundheitswesen sind die Romanfiguren geboren. Und ehrlicherweise muss gesagt werden, dass sich – obwohl der Roman frei erfunden ist – die ein oder andere skurrile Situation der Protagonistin Jule Seltmann im Klinikalltag genauso abgespielt hat.
Frauke Mann
Wer ist Lucy?
Roman
Lindemanns
Cover
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Epilog
Impressum
Cover
Titelblatt
1
Urheberrechte
Inhaltsverzeichnis
Lucy
Licht, Helligkeit (lat. lux)
die Leuchtende, die Strahlende
englischer Frauenname
Kurzform von Lucia
Namenstag am 13. Dezember
Namenspatronin Lucia von Syrakus
der Beginn von etwas Neuem
Die letzten Sonnenstrahlen brachen durch die bunten Glasfenster der barocken Pfarrkirche, hüpften mit fröhlich tanzenden Staubteilchen um die Wette, bahnten sich ihren Weg zum Altarbereich und warfen ein düster unwirkliches Licht auf das Ungeheuerliche, das sich dort abspielte.
Regungslos stand er da, den klobigen Vorschlaghammer in der erhobenen rechten Hand, die linke mit der Handfläche nach unten flach auf den Altar gelegt. Nur eine einzelne Schweißperle verriet seine Anspannung. Jetzt sah man ein leichtes Zittern des rechten Armes, das sich über die Schulter fortsetzte und den Rücken hinablief. Ein kurzes Schaudern. Ein flüchtiges Blinzeln. Sofort die Augen wieder starr auf die flache Hand gerichtet.
Die Angst vor dem unausweichlichen Schmerz ließ ihn erneut erschaudern.
Aber es musste sein! Es musste getan werden. Wenn deine Hand dich zum Bösen verführt, dann haue sie ab, steht in Markus 9, Vers 43. Und diese Hand hatte ihn zu Bösem verführt. Sie hatte sich wie zufällig auf einen nackten Oberschenkel gelegt. Heute Nachmittag. Am Dorfweiher. Als sie nebeneinandergesessen waren, und der kleine Ansgar mit großen Augen den Geschichten von Jesus gelauscht hatte. Auch die anderen Kinder waren, nur mit Badehose und Bikini bekleidet, mucksmäuschenstill mit gespitzten Ohren und offenen Mündern ganz nahe bei ihm gesessen und hatten gestaunt, wie der blinde Bartimäus wieder sehend wurde.
Er kannte sie alle beim Namen, die kleinen Jungs sowie die Mädels. Und so hatte er die andächtig lauschenden Kinder namentlich in die Geschichte miteinbezogen: Ansgar als Freund von Bartimäus, Friedhelm als Hirten, den kleinen Timmy als Schäfchen, die anderen als Steuereintreiber, Zöllner oder Gastwirte und die Mädchen als Marktfrauen. Und alle waren wie gebannt an seinen Lippen gehangen. Ja, er war ein guter Erzähler. Auch die Erwachsenen waren ganz Ohr, wenn er sonntags in der Kirche predigte.
Und dennoch. Durch und durch verdorben war er. Diese zarten Jungenkörper, wie sie reizten und lockten, ein loderndes Feuer in ihm zündeten!
Das Böse war bereits tief in ihn gedrungen, zu tief. Es zog und zerrte an ihm mit einer Vehemenz, die ihn auseinanderreißen würde, wenn er dem Ganzen kein Ende setzte. Jetzt. Hier und sofort!
Nein! Niemals hatte er das Unaussprechliche getan. Bewahre! Doch heute, seine linke Hand auf dem nackten Oberschenkel des kleinen Ansgar, das war ein weiterer Schritt hinab ins Böse. Ins teuflische Verderben. Es musste Schluss sein, ein für alle Mal. Dann schlug er zu.
17:59 Uhr. Rita Wegener, eine 73-jährige gertenschlanke Seniorin, zupfte einen lästigen Wollfussel von ihrer Kostümjacke, überprüfte Frisur und Schminke und war bereit für die tägliche Berichterstattung der betrieblichen Vorgänge bei Holz Wegener.
18:00 Uhr. Die pompöse Standuhr im Wohnbereich schlug sechs Mal. Liebevoll betrachtete sie das Prunkstück, das ihr Schwiegervater und Gründer der Firma Holz Wegener eigenhändig geschnitzt hatte und seit Jahrzehnten auf einem Ehrenplatz im großzügigen Eingangsbereich der 227-m2-Wohnung stand. Im Gegensatz zum warmen Schwarzwaldholz der Standuhr war der Fußboden aus kühlem italienischem Marmor. Rita liebte das leise Klackern ihrer Pumps auf dem edlen Bodenbelag. Das restliche Ambiente der über den Büroräumen der Firma Holz Wegener liegenden Wohnung bestach durch kühle Eleganz. Nirgends sah man überflüssigen Schnickschnack. Einzig neben dem Wohnzimmersofa stand aus schwarzem Alabaster die lebensgroße Skulptur einer weiblichen Schönheit und eine kleinere Ausführung davon auf dem Fenstersims. Vorhänge oder andere Staubfänger gab es keine. Stattdessen freie Sicht und einen herrlichen Natur-pur-Blick auf den umliegenden Schwarzwald.
Die Möbel waren durchweg aus weißem Schleiflack. Und obwohl sie aus den 70er-Jahren stammten, strahlten sie wie am ersten Tag in ihrem samtigen Weiß. Gute Pflege und achtsame Behandlung. Neben absoluter Pünktlichkeit, Dinge, auf die Rita großen Wert legte.
18:01 Uhr. Schon wieder zu spät …! Auf ihren Sohn war kein Verlass. Und das, obwohl sie ihm jahrelang eingetrichtert hatte, wie wichtig Pünktlichkeit im Leben ist. Ob er es mit seinen einundvierzig Jahren noch lernen würde? Rita seufzte.
18:03 Uhr. Endlich öffnete sich die Wohnungstür. Herein trat Anton Wegener mit einem Bündel Akten unter dem Arm.
„Du kommst zu spät. Es ist 18:03 Uhr. Beginn ist 18:00 Uhr. Achtzehn Punkt null null!“
„Entschuldige, Mutter.“
„In deinem Kalender steht Tagesabschlussbesprechung 18:00–18:45 Uhr. Nicht später und nicht früher. Exakt fünfundvierzig Minuten. Nicht länger und nicht kürzer.“ Sie schaute ihn eindringlich an. „Täglich!“ Ihr Blick schien ihn förmlich zu durchbohren. „Wann merkst du dir das endlich?“
„Ich war noch schnell auf der Toilette, Mutter.“
„Das ist kein Grund, zu spät zu kommen. Und nenn mich nicht immer Mutter.“
„Ja, Mami.“
„Na, geht doch!“
„Ja, Mami“, seufzte er.
„Und wie du wieder aussiehst. Wo ist dein Jackett? Deine Krawatte?“
„Mami, es hat dreißig Grad draußen.“
„Papperlapapp. Du bist der Chef hier. Bei Regen und bei Schnee und erst recht bei dreißig Grad. Chef ist Chef. Und als dieser gehört sich Jackett und Krawatte.“
„Aber heutzutage …“
„Kein Aber! Ein Chef ohne Jackett und Krawatte ist kein richtiger Chef. Dein Vater – Gott hab ihn selig – hatte auch im Hochsommer ein seriöses Langarmhemd an.“
Anton unterdrückte den Impuls, frustriert zu schnaufen.
Stattdessen nickte er ergeben.
„Nun steh nicht rum. Gib mir endlich den Quartalsbericht. Ich hoffe, der ist besser als der letzte. Und komm mir nicht wieder mit der blöden Idee, hier ein Wellnesshotel mit Kinderpark aufziehen zu wollen! Wood und Wellness Wegener. Was Blöderes ist dir nicht eingefallen?“
„Aber ich glaube, dass das gut ist. Und ich denke, das würde unseren Umsatz enorm –“
„Das Denken überlass den Pferden, die haben den größeren Kopf.“
„Ach, Mami.“
„Davon abgesehen ist Holz Wegener eine traditionelle Kunstschnitzerei! Und kein Erholungstingeltangel mit Entspannungstrallala.“
„Aber es wäre ein Traum von Gabi.“
„Von Gabi? Wenn ich das schon wieder höre. Deine Frau hat von Tuten und Blasen keine Ahnung. Sie ist Kindergärtnerin! Und mit ihren Walle-Walle-Ökokleidern sieht sie aus wie … na, egal.“ Rita winkte ab. „Lass dir von so jemandem nichts einreden, mein Sohn.“
„Ja, Mami. Aber ganz ehrlich, wir haben das intensiv überlegt und durchgerechnet, und ich fände es wirklich gut, beides miteinander zu verbinden. Gabi würde die Kinderbetreuung –“
„Schluss mit dem Mist. Warum musstest du auch eine Kindergärtnerin heiraten.“
„Erzieherin, Mami, Erzieherin heißt das.“
Rita überhörte diesen Einwand geflissentlich. Stattdessen monierte sie: „Kinder hüten! Das ist doch kein ernst zu nehmender Beruf.“ Jetzt durchbohrte sie ihren Sohn mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. „Hättest du die Franzi Förster geheiratet, hättest du keine solchen Flausen im Kopf. Und das Holz wäre im Einkauf billiger. Ihrem Vater gehört der halbe Marrenwald. Aber nein, mein lieber Herr Sohn musste eine Kindergartentante schwängern.“
Anton ballte die Fäuste, presste die Lippen aufeinander und zählte in Gedanken bis zehn.
Dann reichte er ihr die Unterlagen mit den Worten: „Mami, hier sind die Quartalszahlen.“
„Anton, jetzt versuchst du, vom Thema abzulenken. Ich durchschaue das.“
„Aber ich wollte …“
„Wenn deine Gabi im Büro ihren Einsatz täte, anstatt die Rotzlöffel anderer Leute zu bespaßen, sähen die Quartalszahlen besser aus.“
„Aber Mami, das kann sie nicht.“
„Eben. Sag ich doch. Stattdessen hast du diese Christina Schmid eingestellt, die du teuer entlohnen musst.“
„Frau Schmid ist Bürokauffrau und macht einen guten Job.“
„Aber was die kostet!“ Rita beugte sich vor. „Als dein Vater – Gott hab ihn selig – hier die Dinge geleitet hat, habe ich alles alleine gemacht. Kostenlos sozusagen.“ Man hörte den Stolz in ihrer Stimme.
„Das ist bald vierzig Jahre her.“
„Deshalb ist es nicht weniger wichtig, mein Sohn“, erklärte sie mit erhobenem Zeigefinger.
Wieder nickte Anton ergeben.
Und Rita fuhr in versöhnlicherem Ton fort: „Ach ja, damit du es nicht vergisst: Am Sonntag ist der Seniorenausflug nach Degna. Ich werde also nicht zum Kaffee zu euch kommen, was mich freut, denn ich werde echten Kuchen bekommen, nicht dieses neumodische Ökozeugs, das deine Frau immer backt.“
„Das ist veganer Kuchen aus Dinkelmehl.“
„Sag ich doch, neumodisches Ökozeugs.“
„Mami, das ist gesund.“
„Papperlapapp. Ein Kuchen muss schmecken. Nach frischen Eiern und guter Butter!“, erklärte Rita mit strenger Miene und unterstrich das Gesagte erneut mit erhobenem Zeigefinger.
Dann fuhr sie selbstzufrieden fort: „Jedenfalls habe ich alles organisiert. Wir machen einen Tagesausflug. Abfahrt 09:00 Uhr am Rathaus. 09:53 Uhr Ankunft Raststätte Sindelfinger Wald. 13 Minuten Toilettenpause. 10:06 Uhr Weiterfahrt. 10:38 Uhr Ankunft in Degna. Um 10:45 Uhr Kirchenführung in der barocken ,Ave Maria‘, von Pfarrer Fischer höchstpersönlich. Anschließend …“
Anton schaltete gedanklich ab – heilfroh, heute so glimpflich davongekommen zu sein.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht überquerte Jakob Fischer den nunmehr spärlich beleuchteten Marktplatz von Degna. Seine linke Hand war notdürftig in ein Stofftaschentuch gewickelt. Die Blutung hatte aufgehört, aber die Schmerzen waren unerträglich: Bei jedem Schritt, bei der kleinsten Erschütterung durchpeitschte ihn ein höllisch scharfer Stich. Gut, dass es bereits auf Mitternacht zuging, so würde er niemandem mehr begegnen und ohne großes Aufsehen am Nachtschalter der Apotheke ein Schmerzmittel gegen diese entsetzlichen Qualen in seiner übel zugerichteten Hand holen können.
Eben hatte er den historischen Dorfbrunnen hinter sich gelassen und wollte in die schmale Apothekergasse einbiegen, als sich die Tür vom Gasthof Schwanen öffnete, eine Gestalt heraustrat, kurz innehielt und dann torkelnd auf ihn zukam.
„Ach, da ist er ja, der Herr Pfarrer. Unser Anwärter auf den Heiligen Stuhl. Was machst du denn so spät noch? Musst du nicht deine nächste Predigt vorbereiten oder … weiß der Geier, was der Herr Hochwürden sonst noch so macht?“
Thorsten, Thorsten Bratsch – der hatte ihm gerade noch gefehlt. Schon nüchtern konnte der sein mieses Mundwerk nur schwer im Zaum halten, betrunken war er unausstehlich. Kaum zu glauben, dass sie früher beste Freunde gewesen waren. Damals, zu Schulzeiten, als die ganze Clique sich jeden Abend im alten Steinbruch getroffen hatte …
„He – du sagst ja gar nichts. Sprichst du nicht mehr mit mir? Bist dir wohl zu … fein.“
Bedenklich schwankend kam Thorsten näher. Jakob wich zur Seite aus. Doch Thorsten war auf Krawall gebürstet: „He, bleib stehen, ich will mit dir reden!“
Aber ich nicht.
„Bleib stehen, du Drecksack!“ Thorsten versperrte ihm den Weg.
Der Geistliche stoppte, versteckte die lädierte Hand so gut es ging hinter seinem Rücken, trat vorsichtshalber einen Schritt zurück – sicher ist sicher – und ließ Thorsten nicht aus den Augen.
„Nur weil du studiert hast, bist du noch lange nichts Besseres!“, krakeelte der.
Der Priester trat einen weiteren Schritt zurück. Und noch einen. Doch mit jedem Schritt, den er zurückwich, kam Thorsten zwei Schritte näher. Schon roch Jakob den von Bier und Schnaps durchsetzten Atem und sah in die blutunterlaufenen Augen seines Widersachers, aus denen der blanke Hass schrie.
„Tagsüber den großen Macker mimen, aber wenn es dunkel ist – bist du ein Schisser vor dem Herrn!“
Winzige Spucketröpfchen trafen das Gesicht des Geistlichen. Und mit einer Geschwindigkeit, die er dem Besoffenen nicht zugetraut hätte, fuhr urplötzlich Thorstens rechte Faust auf ihn zu und traf ihn an der Schläfe. Jakob taumelte, schrie auf vor Schmerz, hoffte, sich mit einem weiteren Rückwärtsschritt aus der Gefahrenzone bringen zu können, und rief: „Sag mal, spinnst du? Thorsten, was soll der Scheiß?!“
Doch der starrte ihn mit hasserfüllten Augen an und brüllte: „Du warst es! Gib es zu – du allein bist an allem Schuld. Du hast sie umgebracht!“ Gab ihm einen wütenden Schubs, so dass er erneut taumelte, beinahe das Gleichgewicht verlor und rückwärts stolpernd gegen den Dorfbrunnen stieß. Reflexartig versuchte Jakob, sich mit den Händen abzustützen. Keine gute Idee. In seiner verletzten Hand explodierte ein bestialischer Schmerz. Er schrie auf!
Der scharfe Schmerz raubte ihm die Sinne, ließ ihn erneut straucheln und endgültig das Gleichgewicht verlieren. Im Fallen drehte er sich um die eigene Achse, schlug mit dem Kopf auf den steinernen Brunnenrand, sackte bewusstlos zusammen und blieb regungslos liegen.
„Und du warst wirklich nicht auf der Geburtstagsfeier deiner Enkeltochter?“
„Nein.“
„Und warum nicht?“
„Weil ich nicht eingeladen war.“
„Du warst nicht eingeladen? Oha!“
„Genau. Oha!“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist ja …“
„War aber so.“
„Ach herrjemine! Ich meine, ich weiß ja, dass du und deine Schwiegertochter, also, dass ihr beide euch nicht grün seid, aber zum Geburtstag der Kleinen hätten sie dich schon einladen können.“
„Ja –, dass man als Oma nicht zum Geburtstag der Enkeltochter eingeladen wird, ist eine Frechheit.“
„Eine bodenlose Frechheit. Da muss ich dir zustimmen.“
„Das Allerletzte!“
„Und was hat dein Sohn gesagt?“
„Der? Der hat nichts gesagt. Hat seine Gabi vorgeschickt, um mit mir zu telefonieren.“
„Und was hat die gesagt?“
„Dass es Kaffee und Abendbrot geben würde, und ich kommen könne, wie ich Lust habe.“
„Also doch eine Einladung.“
„Aber nein! Das ist doch keine Einladung! Ganz ohne Uhrzeit. Wo gibt’s denn so was?“
„Herrjemine!“
„Wie ich Lust habe!, sagte sie. Frechheit!“
„Ja.“
„Und dann solle ich eine Schüssel Kartoffelsalat mitbringen.“
„Was?“
„Ja, du hast richtig gehört: Eigenes Essen mitbringen.“
„Als Gast?“
„Ja!“
„Das ist dreist.“
„Sag ich doch.“
„Unglaublich!“
„Jedenfalls keine Einladung!“
„Stimmt, das ist wirklich keine Einladung.“
„Das ist eine Zumutung!“
„Eine Frechheit!“
Jakob öffnete die Augen. Er lag in einem blütenweißen Bett in einem unbekannten Raum. Links ein Fenster, rechts ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und vor ihm eine kahle Wand. Noch während er versuchte, das Ganze zu analysieren, öffnete sich schwungvoll die Tür und herein trat ein Mann in weißem Kittel mit einem Aktenbündel unter dem Arm.
„Aha, nun ist er wach. Wie geht’s denn unserem Patienten?“, fragte Franz Messerle, seines Zeichens Chefarzt der unfallchirurgischen Abteilung.
„Franz? Franz Messerle?“ Freudig erkannte Jakob seinen alten Schulkameraden. „Ich dachte, du bist inzwischen an der Uniklinik in Ulm?“
„Nein, noch bin ich hier. Das hat sich verzögert. Um einen Monat.“ Der Chefarzt zuckte mit den Schultern. „Aber schön, dass du mich erkennst. So, wie du dir den Schädel angeschlagen hattest, ist das ein gutes Zeichen.“ Er machte eine Pause und sah seinen Patienten aufmerksam an. „Willst du mir vielleicht erzählen, woran du dich noch erinnern kannst?“
Jakob befühlte mit der Rechten vorsichtig den Verband am Kopf und das Pflaster über dem Auge. Dann betrachtete er schweigend seine fachgerecht bandagierte linke Hand. Wie sollte er das erklären?
„Die Gerüchteküche sagt, eine Schlägerei mit Thorsten Bratsch. Die Polizei war übrigens auch schon hier. Aber du hast noch die Narkose ausgeschlafen, deshalb kommen sie morgen wieder.“
Franz Messerle setzte sich an den Tisch und schlug die mitgebrachte Krankenakte auf.
„So, was haben wir denn? Großflächige Schwellungen und Schürfwunden im Gesicht“, las er vor, „Platzwunde über dem linken Auge, Gehirnerschütterung, Rippenprellung links, zahllose Hämatome am ganzen Körper und einen feinen Trümmerbruch der linken Hand.“
Der Chefarzt blickte auf. „Offizielle Visite ist übrigens erst um siebzehn Uhr, da kommt das ganze Team, aber ich wollte vorher schon sehen, wie’s dir geht. Und außerdem bin ich neugierig, was an dem Gerücht dran ist.“
Er schlug die Beine übereinander und wartete auf eine Antwort. Aber es kam nichts. „Ach ja, als Chefarzt habe ich dafür gesorgt, dass du im Einzelzimmer liegst. Ist dir hoffentlich recht. Dachte mir, dass du lieber alleine sein willst.“ Franz Messerle machte eine kurze Pause, als warte er auf eine Erwiderung. Und weil Jakob immer noch nichts sagte, fuhr er schließlich fort: „Ich selbst habe dich übrigens operiert und glaub mir, das war ein ziemliches Durcheinander in deiner linken Hand.“
Mit einem leichten Kopfschütteln erklärte er: „Kahnbein, Mondbein, Kopfbein – eine Menge … Brei und ganz viel Gesplitter. Ob das wieder wird, kann ich nicht versprechen. Ich habe mein Bestes gegeben. Jetzt heißt es abwarten.“
Er klopfte kurz auf die Krankenakte und legte sie dann beiseite.
Noch immer nichts von Jakob.
„So weit die Fakten. Aber jetzt mal unter uns: Ich verstehe nicht, warum der Thorsten dir die Hölle so heiß gemacht hat. Dass er ein Stänkerer ist und mit Vorsicht zu genießen, wenn er betrunken ist, weiß jeder. Dass er auch nüchtern kein gutes Haar an dir lässt und egal, was du in den Sitzungen vom Kirchengemeinderat vorbringst, immer dagegen schießt, ist eine unschöne Sache.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber diese brutale Attacke, holla, das ist ein ganz anderes Kaliber. Verstehe ich nicht.“
Franz Messerle lehnte sich im Stuhl zurück und beobachtete Jakob, der die Bettdecke intensiv betrachtete, und ergänzte nachdenklich: „Wobei ich auch nicht verstehe, wieso du ausgerechnet hier Pfarrer geworden bist. Ich dachte, so was geht in der Heimatgemeinde nicht.“
„Geht eigentlich auch nicht“, brach Jakob endlich sein Schweigen, „aber die wunderschöne, barocke Pfarrkirche von Degna hatte es mir schon immer angetan. Regelrecht verliebt war ich in sie und bin es heute noch. Und irgendwie …“, fügte er mit leichtem Räuspern an, „hat es mein großer Chef im Himmel so eingerichtet, dass es klappte. Er hat quasi das Unmögliche wahr gemacht.“ Jakob lächelte versonnen. „Und es war perfekt. Bis zu dem Moment als Degna, Hausweiler und Waldkirch zu einer Seelsorgeeinheit zusammengefasst wurden. Da fing der … Ärger an. Vielleicht ist es an der Zeit zu wechseln.“ Jakob zuckte mit den Schultern und fixierte wieder die Bettdecke. Das Lächeln war erloschen. „Und Priester werden, ja, das wollte ich schon immer.“
„Haben wir beide unseren Namen alle Ehre gemacht: Ich bin Chirurg geworden und du Fischer“, schmunzelte Franz Messerle.
„Menschenfischer, Markus 1, Vers 17“, warf Jakob Fischer ein.
„Im Gegensatz zu Thorsten Bratsch, das wäre nichts geworden mit einer Musikerlaufbahn. An ihm wäre jeder Bratschenlehrer verzweifelt.“ Franz Messerle lachte.
„Ja, der Thorsten, der alte Säufer.“ Jakob schüttelte den Kopf.
Jetzt schaute der Chefarzt seinen Patienten wieder ernst an, tippte mit dem Finger auf die Krankenakte und meinte: „Der Schwanenwirt sagt, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann Thorsten sich mit seiner Sauferei in echte Schwierigkeiten bringt. Aber schwere Körperverletzung, puh, damit hätte wohl keiner gerechnet. Und dann ausgerechnet bei dir!“
Er machte eine Pause. „Mensch Jakob, das verstehe ich nicht. Ihr wart doch die besten Freunde. Damals, zu Schulzeiten. Oder hatte das was mit der Lisa zu tun?“
„Elisabeth Köhler?“
„Ja, in die war er doch verknallt.“
„Richtig. Arme Lisa. Tragisch!“
„Was ist damals eigentlich passiert?“
„Es war ein Unfall.“
„Ja, das weiß ich. Aber wie?“
„Das ist über dreißig Jahre her, Franz.“ Jakob drehte seinen Kopf vorsichtig auf dem Kissen. „Das war der Sommer, als wir alle mit der Schule fertig waren und jeden Abend im alten Steinbruch saßen. Mit Lagerfeuer, Gitarre und Bier.“
„Stimmt, war eine tolle Zeit“, antwortete Franz Messerle und nickte verträumt. „Aber an dem Tag saß ich schon mit meinem Rucksack und Interrailticket im unbequemen Zug nach Frankreich. Damals hatten wir ja noch kein Handy. Hab‘s also nicht wirklich mitgekriegt.“
Jakob schloss für einen langen Moment die Augen und kramte den Unglückstag aus seinem Gedächtnis hervor.
Franz Messerle sah, dass er mit sich kämpfte und ließ ihm die Zeit, bis Jakob endlich zu erzählen anfing.
„Also, die Lisa wollte mir ganz dringend was Wichtiges sagen. Sie brauchte meine Hilfe – wie so oft. Und da sind wir den schmalen Pfad hoch, an der alten Eiche vorbei, bis wir oben an der Abbruchkante standen. Ich erinnere mich genau, es war eine sternenklare Nacht. Man hatte von dort oben einen fantastischen Ausblick auf Degna mit der beleuchteten Pfarrkirche. Unten der Schein des Lagerfeuers und leise Gitarrenklänge. Geradezu romantisch … im Gegensatz zu Lisas Problem.“
Jakob hielt inne.
„Nun … die Lisa fing unter Tränen an zu erzählen. Nämlich, dass sie schwanger sei. Von Thorsten. Dem sie bisher nichts gesagt hätte. Und nicht mal wisse, ob sie es tun solle und vor allem, was sie überhaupt tun solle. Ich sei der Erste, der davon erführe. Sie war völlig verzweifelt und hatte eine Heidenangst vor ihrem Vater. Meinte, wenn der von ihrer Schwangerschaft erführe, würde er sie totschlagen. Dann flehte sie mich an, ihr zu helfen. Fragte, ob ich wisse, wie das mit einer Abtreibung sei, wo man das machen könne und ob das anonym ginge. Sie sah keinen anderen Ausweg, heulte Rotz und Wasser und war total am Boden zerstört. Da habe ich sie halt in den Arm genommen, gesagt, dass wir irgendeine Lösung finden würden. Habe ihr über die Haare gestreichelt und sanft auf sie eingesprochen, bis sie sich halt beruhigt hatte. Und das war dann der Moment, als Thorsten wutentbrannt auf uns zustürmte. Eifersüchtig wie er war, hat er wohl nach uns gesucht. Und so wie das aussah, Lisa und ich eng umschlungen an der Abbruchkante, müssen wir für ihn wie ein Liebespaar gewirkt haben. Jedenfalls kam er wutschnaubend mit einem Stein in der erhobenen Hand auf uns zugerannt. Wir gerieten beide in Panik. Lisa schrie auf und stieß sich von mir ab, machte dabei einen Schritt in die falsche Richtung … stolperte … rutschte … und fiel über die Abbruchkante die Steilwand hinunter …“ Jakob stockte. „Das ging alles so schnell. Ich war wie gelähmt, konnte überhaupt nicht reagieren.“
Franz Messerle fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Jedenfalls muss Thorsten einen mordsmäßigen Hass auf dich haben, so wie er dich zugerichtet hat. Ich bin ja kein Staatsanwalt, aber für mich klingt das nach schwerer Körperverletzung. Das schreit geradezu nach einer saftigen Strafe, eventuell sogar Gefängnis.“
Erneut schüttelte er den Kopf. „Das mit deiner Hand“, jetzt schaute er dem Einbandagierten direkt in die Augen, „ist mir dennoch ein Rätsel. Da müsste der Thorsten wie ein Idiot mit seinen Stahlkappenschuhen drauf herumgetrampelt sein. Aber das passt irgendwie nicht.“
Wieder schüttelte er den Kopf. „Der Schwanenwirt, der auch den Krankenwagen gerufen hat, sagte, dass der Thorsten sich kaum hatte beruhigen lassen, sondern lauthals herumgeschrien, dass er gar nix gemacht hätte. Tatsache ist, dass er versucht hatte, Erste Hilfe zu leisten. Laut Notarzt wäre sein Stofftaschentuch um deine kaputte Hand gewickelt gewesen. Wie gesagt, die Gerüchteküche brodelt.“
Jakob hatte schweigend den Ausführungen gelauscht.
„Der Thorsten war das nicht mit meiner Hand“, begann er schließlich.
„Wie meinst du das: Der Thorsten war das nicht?“
„Er war es eben nicht.“ Jakob drehte seinen Kopf vorsichtig zur Seite und starrte aus dem Fenster.
„Das musst du mir jetzt näher erklären.“
Doch Jakob blieb stumm. Er schluckte ein paar Mal und rang mit seinem Gewissen, ob er seine Abgründe hier vor seinem ehemaligen Schulkameraden offenbaren durfte. Hatte Gott ihn nicht schon genug bestraft?
Franz Messerle deutete auf die einbandagierte Hand. „Thorsten war hackedicht, wie jeden Abend. Und wenn der besoffen ist, dann steigert er sich in alles rein. Das ist allgemein bekannt. Die Sache mit Lisa hat er wohl immer noch nicht überwunden.“
„Mit meiner Hand, das war er trotzdem nicht.“
„Bist du gerade auf dem Liebet-eure-Feinde-Trip?“
„Er ist unschuldig.“
Jakob starrte weiterhin aus dem Fenster.
„Das musst du mir jetzt aber erklären.“ Franz Messerle ließ nicht locker.
„Ich kann nicht.“
Aufmerksam betrachtete der Chefarzt seinen Patienten.
„Hilft es, wenn ich dir sage, dass dieses Gespräch der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt?“
„Ärztliche Schweigepflicht. Pah“, kam es tonlos.
„Na, hör mal. Die ärztliche Schweigepflicht ist das Gleiche wie dein Beichtgeheimnis. Und ja, ich nehme das sehr ernst. Also, raus jetzt mit der Sprache“, forderte er ihn auf.
Und nach mehreren Momenten absoluter Stille erzählte Jakob stockend, dass er schon immer Priester hatte werden wollen und ihm recht früh klar gewesen war, dass er kein Interesse an Mädchen hatte und dies als gutes Zeichen gewertet. Als er allerdings seine Neigung zu kleinen Jungs realisiert und das Ausmaß der Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche bekannt geworden war, hatte er entsetzt erkennen müssen, dass auch er auf dem besten Wege dorthin war. Er habe versucht, den Dämon auszutreiben und mit seiner Selbsttherapie begonnen, indem er sich mit einem Hammer auf Beine und Arme geschlagen habe. Immer so, dass alles unter der Kleidung verborgen geblieben war.
Franz Messerle sah ihn nachdenklich an, schien sich dann zu sammeln und sagte: „Das erklärt natürlich die vielen Hämatome in unterschiedlichen Stadien. Jetzt verstehe ich.“
„Und gestern …“, fuhr Jakob stockend fort und erzählte mit zitternder Stimme die Vorkommnisse am Dorfweiher.
„Ansgar? Mein Ansgar?“, erwiderte Franz Messerle empört.
Jakob nickte beschämt. „ … und deshalb musste ich es tun!“
Er hob die lädierte linke Hand. „Das Böse muss ein für alle Mal ausgetrieben werden.“
Franz Messerle war aschfahl. „Dabei ist der Kleine so stolz gewesen, neben dir sitzen zu dürfen. Und dass er ein Freund von Bartimäus gewesen ist und nicht wie sein Bruder Friedhelm nur ein Hirte oder gar ein Schäfchen wie der Timmy.“
Mit fassungslosem Blick fuhr er fort: „Scheiße, Jakob, du brauchst einen Therapeuten, und zwar einen verdammt guten.“
Dann erhob er sich und wankte zur Tür. „Ich schau, was ich machen kann, und schicke dir jemanden vorbei. Aber jetzt, entschuldige … Ich muss das Ganze erst mal verdauen.“ Und verließ fluchtartig das Patientenzimmer.
Zwei Patientinnen waren noch vor ihr. Dann wäre sie an der Reihe: Jule Seltmann, siebenunddreißig, glücklich verheiratet und – schwanger. Endlich schwanger!
Ein seliges Lächeln umspielte ihre schön geschwungenen Lippen und strahlte um die Wette mit dem Zahnpastalächeln der Promis auf den Klatschseiten der Wartezimmerliteratur. Ihre gepflegten kastanienbraunen Haare glänzten seidig und die widerspenstigen Locken hüpften bei jeder Bewegung fröhlich auf und ab. Jule schwebte auf Wolke sieben. Endlich hatte sich der langersehnte Nachwuchs angekündigt!
Vor etwas mehr als elf Jahren hatte sie den attraktiven Edgar Seltmann, genannt Eddie, geheiratet, anschließend waren sie in ein großzügiges Reiheneckhaus gezogen, das seither auf lärmendes Kindergeschrei und tapsende Kinderfüße wartete. Und nun war es soweit! Schwanger! Endlich! Nach so vielen Jahren des enttäuschenden Wartens. Liebevoll streichelte sie mit der Hand über das noch nicht vorhandene Bäuchlein. Ihr aufgeregtes Herz vollführte einen ausgelassenen Luftsprung. Und, hoppla, der Winzling in ihr antwortete mit einem vergnüglichen Purzelbaum. Sie fühlte es genau, ein leichtes Flattern, wie ein Schmetterling auf einer Sommerblüte.
Angeblich waren die Bewegungen des Kindes erst ab der achtzehnten Schwangerschaftswoche wahrnehmbar. Aber Jule spürte es schon jetzt, dieses sanfte Ziehen und zarte Stupsen des neuen Lebens.
Im Gegensatz zu den jährlichen Routine- und Krebsvorsorgeuntersuchungen, die für Jule ein regelmäßiger Graus waren und die sie nur widerwillig über sich ergehen ließ, konnte sie es heute kaum erwarten, sich mit freiem Unterkörper auf den gynäkologischen Behandlungsstuhl zu legen.
Jetzt war nur noch eine Patientin vor ihr.
Jule freute sich wie eine Schneekönigin. Der heißersehnte neue Lebensabschnitt rückte in greifbare Nähe. Sie konnte es kaum erwarten, in ihrem Beruf als Grundschullehrerin eine Pause einzulegen, um sich als Vollzeitmama um das Kleine zu kümmern, lange Spaziergänge mit dem Kinderwagen zu machen und sich mit anderen Muttis auf dem Spielplatz zum Sandkuchenbacken, Rutschen und Schaukeln zu treffen.
Natürlich, bis das Würmchen auf die Welt kommen würde, gab es einiges zu erledigen. Aber auch darauf freute sie sich. Gestern hatte sie die Anmeldeformulare für Babyschwimmen, musikalische Früherziehung und sanfte Massage bei akuten Blähungen heruntergeladen und ausgefüllt. Heute saß sie glücklich im Wartezimmer ihres Frauenarztes und freute sich auf das erste Ultraschallbild ihres winzigen Wunders.
Eddie wusste noch nichts von dieser Neuigkeit. Heute Abend würde sie ihn überraschen und beim Abendessen die Schwarz-weiß-Aufnahme neben seinen Teller legen. Ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde? Egal. Hauptsache, das heißersehnte Baby war unterwegs.
Keine Patientin mehr vor ihr. Jeden Augenblick würde sie zum Ultraschall aufgerufen werden. Urin hatte sie bereits abgegeben. Der wurde im Moment auf alles Mögliche und überflüssigerweise auch auf Schwangerschaft getestet. Überflüssig deshalb, weil ihre Periode seit mehr als zwei Wochen im Verzug war und der Sachverhalt somit eindeutig. Versonnen strich Jule eine besonders vorlaute Haarlocke hinter das Ohr. Okay, der Schwangerschaftstest, den sie zuhause gemacht hatte, war negativ ausgefallen, aber das lag daran, dass sie einen Billigtest aus dem Drogeriemarkt verwendet hatte. Das Geld hätte sie sich sparen können.
„Frau Seltmann, bitte in Raum zwei.“
11:59 Uhr. Hoch oben am wolkenlosen Himmel zog ein Roter Milan seine Kreise. Unten, in einer sonnigen Kuhle des Friedhofsweges, genoss eine fröhlich tschilpende Spatzenschar ein Bad im warmen Sand.
12:00 Uhr. Auf den Glockenschlag genau öffnete sich das schmiedeeiserne Friedhofstor und Rita trat ein. Schimpfend stoben die Spatzen auseinander, um sich sofort wieder niederzulassen und unter lautem Gezeter um den besten Platz im Sandbad zu streiten.
Währenddessen ging die in elegantes Grau gekleidete Rita gemessenen Schrittes und verbissenen Blickes zum Familiengrab der Wegeners, um ihrem Mann von ihren Sorgen zu berichten. So, wie sie es jeden Tag machte seit seinem Tod.
„Ach, Martin, es ist ein Graus mit unserem Sohn! Ich habe in der Erziehung versagt. Warum musstest du nur so früh von uns gehen? Ein paar väterliche Ohrfeigen zur rechten Zeit hätten nicht geschadet. Im Gegenteil. Ganz sicher wäre Anton dann ein pünktlicher Mensch geworden. Und bei strenger Zucht und Ordnung wäre er jetzt mit der Franzi verheiratet und nicht mit dieser Kindergartentante.“
Rita seufzte.
„Ach, Martin, es ist so schwer mit ihm. Und du verstehst doch bestimmt, dass ich mich deshalb auch weiterhin um die Firma kümmern muss. Gestern hat er zum Beispiel wieder mit diesem Wood-und-Wellness-Wegener-Schwachsinn angefangen. Wood und Wellness Wegener! Ach, Martin, wenn du nur ein Machtwort …“
Rita hielt inne. Ihr Blick fiel auf ein paar welke Blätter, des ansonsten ordentlichen Grabes. „Und wie es hier wieder aussieht. Alles muss man selber machen.“ Verärgert zupfte sie die Blätter ab. „Wozu bezahle ich denn seit x Jahren die Gärtnerei für die Grabpflege.“
Wieder hielt sie inne, rupfte hier und da. Dann zeterte sie weiter: „Und jetzt soll ich auch noch einen Euro mehr im Monat zahlen! Das kann er sich aus dem Kopf schlagen. Das werde ich der Gisela und dem Eugen auch sagen. Eine Unverschämtheit von ihrem Sohn. Das sind ganze zwölf Euro mehr pro Jahr … dafür, dass es hier so verwahrlost aussieht. Da muss man sich ja schämen!“
Dann wurden ihre Gesichtszüge überraschend weich und sie sprach sanft weiter: „Morgen kann ich nicht kommen, mein lieber Martin. Bitte verzeih. Aber da werde ich einen Ausflug machen … mit dem Seniorenkreis. Weißt du, das ist so eine neue Idee des Bürgermeisters, um Senioren vor der Vereinsamung zu schützen und neben dem Kinderfest für die Kleinen auch den Älteren etwas zu bieten.“
Eben hatte die Krankenschwester das Frühstücksgeschirr abgeräumt, als sich die Tür erneut öffnete.
„Guten Tag, Herr Pfarrer Fischer. Ich bin Lucy, und ich habe erfahren, dass Ihnen ein psychotherapeutisches Gespräch guttun würde“, wurde er von einer zierlichen, weiß gekleideten Frau begrüßt.
Donnerwetter, das ging aber schnell. Da hatte der Franz ganze Arbeit geleistet und ratzfatz sein Wort eingelöst, freute sich Jakob.
„Selbstverständlich unterliegt dieses Gespräch der Schweigepflicht“, sprach Lucy weiter, während sie auf einem der beiden Stühle Platz nahm, ihrer Handtasche Block und Stift entnahm und vor sich auf dem Tisch platzierte. „Dann legen Sie mal los. Wo drückt denn der Schuh?“
Jakob sah in zwei freundliche, braune Augen, die ihn aufmerksam anblickten. Lucy war dezent geschminkt, hatte leicht gebräunte Haut und ihre langen blonden Haare fielen in sanften Wellen über die schmalen Schultern. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Eigentlich sah sie ziemlich jung aus. Konnte er dieser bildhübschen Frau von seinen perversen Bildern erzählen? Von diesem sündhaften Zerren und Zucken? Von diesem teuflischen Spuk? Wie aus dem Nichts überrollte ihn eine dampfend heiße Welle, schäumte und wirbelte, tobte und stürmte, um schließlich grauenvoll dumpf über ihm zusammenzubrechen.
Jakob schämte sich. Er schämte sich für seine Gedanken, die er nicht im Zaum halten konnte, und er schämte sich, dass er war, wie er war. Unzulänglich, unvollkommen und verabscheuenswert. Womöglich hatte Lucy einen kleinen Sohn. Womöglich hatte dieser selbst Schlimmes durchmachen müssen, womöglich … Andererseits hatte Franz ihm mit Sicherheit eine kompetente Therapeutin geschickt.
Jakob holte tief Luft, räusperte sich, nahm seinen Mut zusammen und begann mit leiser Stimme zu erzählen. Erst langsam. Zögerlich. Silben zäh aneinanderreihend, mit sich ringend, mühsam nach Worten suchend, dann schneller und flüssiger, erleichtert, sich alles von der Seele reden zu dürfen. Zwischendurch innehaltend und stockend. Schluchzend.
Sich erneut fassend, erzählte er weiter: von seiner skandalösen Neigung und diesen schlimmen Bildern in seinem Kopf, von der Selbsttherapie durch Selbstbestrafung. Aber auch von seiner Kindheit, den schrecklichen Albträumen, in denen er nach seiner Mutter geschrien hatte, die ihn im dichten Schneegestöber nie gehört, ohne ihn weitergegangen und ihn verängstigt zurückgelassen hatte.
Dass er ein Bettnässer gewesen war und bis in die Grundschulzeit jede Nacht ins Bett gemacht hatte und sein Vater ihn deshalb jeden Morgen mit der Nase hineingedrückt hatte, so wie er es mit den Hundewelpen auch gemacht hatte, damit diese stubenrein werden sollten; hineingedrückt in dieses stinkende Etwas, das er nicht kontrollieren konnte, das ihn selbst ekelte und ihm Angst machte, Angst vor jedem neuen Morgen.
Letztendlich berichtete er auch von Lisa und den Geschehnissen am Steinbruch, von Thorsten und der Sache am Marktplatz. Er offenbarte, dass es schon immer sein Wunsch gewesen war, katholischer Priester zu werden, und dass er glücklich sei in seinem Beruf. Er erzählte alles, während Lucy ihn mit einfühlsamen Augen aufmerksam ansah. Behutsam die ein oder andere Frage stellte, ihn nicht verurteilte, nur mitfühlend zuhörte.
Viel zu lange hatte er das Schlimme für sich behalten. Erst versucht zu ignorieren, dann zu unterdrücken und schließlich zu bekämpfen, um sich im Endeffekt noch mehr zu quälen. Aber: Wem hätte er es sagen können? Im Gebet mit Gott bekam er keine Antwort. Und wäre er zum Dechant in seinem Dekanat gegangen … nein, das hätte ihn womöglich seine Stellung, seine ganze Existenz gekostet.
Am Ende seiner Beichte – so konnte man es durchaus bezeichnen – war Jakob nassgeschwitzt. Zitternd und mit ängstlichem Blick sah er Lucy an, gefasst auf Verurteilung und Verachtung. Doch die schaute ihn weiterhin wohlwollend an, mit der gleichen Güte wie damals Pater Gerold, seinem großen Vorbild, dem er so viel zu verdanken hatte.
„Gut, dass Sie mir das alles erzählt haben. Danke“, nahm Lucy nach einem Moment der Stille das Gespräch wieder auf.
„Danke? Sie bedanken sich?“, fragte Jakob sichtlich irritiert und mit sarkastischem Unterton.
„Aber natürlich bedanke ich mich“, erklärte Lucy freundlich. „Es ist nicht einfach, jemand anderem solche Einblicke zu gewähren.“
„Aber das sind doch widerliche … abscheuliche … Abgründe!“, empörte Jakob sich und fügte kopfschüttelnd hinzu: „Dass Sie da nicht schreiend aus dem Zimmer gerannt sind …“
„Hätte es Ihnen weitergeholfen, Herr Pfarrer?“ Lucy sah ihn eindringlich an.
„Nein. Ja. Ich weiß es nicht …“
„Und deshalb wollen wir doch lieber nach der Ursache forschen, damit wir gemeinsam eine gute Lösung finden und Sie das Vergangene hinter sich lassen können.“
„Ja, das wäre schön.“ Jakob nickte. „Zu schön.“
„Es gibt zwei Wege, einer davon ist der des psychotherapeutischen Ansatzes. Aber bevor wir loslegen und richtig einsteigen: Haben Sie noch Fragen? Und: Was wünschen Sie sich, was erhoffen Sie sich?“
„Was ich mir wünsche? Erhoffe? Na, dass ich diese widerlichen Gedanken, perversen Gefühle und vor allem diesen schlimmen Drang nicht mehr verspüre – dass ich einfach meinen Beruf als Priester ausüben kann. Ich will ein guter Priester sein für meine Gemeinde. Aber ich bin es nicht. Als Priester hat man doch eine gewisse Verantwortung und Vorbildfunktion. Und wenn das jemand erfährt, in der heutigen Zeit, wo an jeder Ecke Missbrauchsskandale und …“ Angewidert und traurig schüttelte er den Kopf. „Warum erlöst Gott mich nicht davon? Warum bin ich so erbärmlich? Wie kann ich das Böse, das Teuflische in mir austreiben? Was soll ich der Polizei sagen? Wie soll ich das mit meiner Hand erklären? Und wie soll es weitergehen mit mir?“
„Das sind ziemlich viele Fragen. Fangen wir mit dem Naheliegendsten an: Was sagen Sie der Polizei?“
Jakob drehte den Kopf zum Fenster, starrte eine Weile hinaus und meinte dann mit kaum vernehmbarer Stimme: „Denen sollte ich wohl die Wahrheit sagen: 2. Buch Mose, Kapitel 20, Vers 16: Du sollst nicht lügen. – Aber ich habe Angst, dass ich damit alles schlimmer mache.“
Hilflos schaute er Lucy an. „Wenn das rauskommt … Das wäre eine Katastrophe! Ich könnte keine Kinder- und Jugendarbeit mehr machen.“ Und mit einem resignierten Seufzer fügte er hinzu: „Vielleicht ganz gut so. Wahrscheinlich sollte ich die Gemeinde wechseln und ganz weit weg gehen, wo mich keiner kennt. Vielleicht nach Afrika? In die Mission?“
Jakob hielt inne. „Vielleicht war das alles ein Zeichen, dass ich hier in meiner Heimatgemeinde nicht hätte sein sollen?“
Jetzt schaute er Lucy direkt an: „Aber eigentlich wollte ich hierbleiben, wissen Sie, es gefällt mir in Degna, und Fremdsprachen waren noch nie mein Ding. Außerdem –“
„Stopp, stopp, stopp! Die Frage lautete einfach nur: Was sagen Sie der Polizei?“
Als er nicht antwortete, fuhr Lucy fort: „Da Sie nicht lügen, werden Sie denen die Wahrheit erzählen.“
„Die Wahrheit?“, stieß er entsetzt hervor.
„ … dass Sie sich selbst verletzt haben und auf dem Weg zur Apotheke waren.“
„Dann kommt alles ans Licht mit den Kindern und …“, entgegnete Jakob alarmiert.
„Den Teil würde ich weglassen.“ Lucy zuckte mit den Schultern. „Und auch, dass es Absicht war. Das brauchen Sie ja keinem zu erzählen.“ Herausfordernd sah Lucy den Geistlichen an. „Ich meine: Müssen Sie alles haarklein schildern?“
„Aber …“
„Am besten erwähnen Sie so wenig wie möglich und geben nur so viel preis wie nötig.“
Jakob war noch nicht überzeugt.
„Und Sie meinen, die glauben dann, dass ich mich versehentlich verletzt habe?“
„So was soll vorkommen beim Heimwerkeln“, gab Lucy zurück und zuckte noch einmal mit den Schultern, „da wären Sie nicht der Erste.“
Jakobs Gesichtszüge erhellten sich, um sich sofort wieder zu verdunkeln. „Aber langfristig hilft das nicht. Diese schändlichen Gefühle werden wiederkommen und –“
„Um dauerhaft etwas zu ändern“, unterbrach Lucy ihn, „müssen wir tiefer einsteigen in die Welt der Gefühle und deren Gesetzmäßigkeiten, wenn Sie es so nennen wollen. Beginnen wir damit: Es gibt weder gute noch schlechte Gefühle. Alle Gefühle sind gleichwertig. Das bedeutet, dass Angst, Freude oder Trauer gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Zweitens: Gefühle kann man nicht kontrollieren oder wegdrücken, auch wenn wir das manchmal meinen. Sie sind, wie sie sind und einfach da. Man kann Gefühle lediglich kanalisieren.“
„Kanalisieren? Was meinen Sie damit?“
„Kanalisierung bezeichnet die bewusste Lenkung in eine vorherbestimmte Bahn. Im Falle der Gefühle bedeutet es, diese zielgerichtet in die gewünschte Richtung zu leiten.“
Jakob bemühte sich trotz seiner Gehirnerschütterung, den Ausführungen zu folgen.
„Ich mache mal ein Beispiel: Ein wohlgeformter Körper, und dabei spielt es keine Rolle, ob Männer-, Frauen- oder Kinderkörper, ist zuerst einmal etwas Wunderbares und Schönes. Und auch erotische Gefühle sind per se nicht schlecht. Denn wenn ein Ehemann beim Anblick seiner Ehefrau sexuelle Phantasien entwickelt und die beiden sich miteinander vergnügen und ihre Wünsche ausleben, so ist das etwas ganz Großartiges. Bekommt derselbe Ehemann diese heißen, sinnlich-erotischen Gefühle aber, wenn er seine Nachbarin sieht, dann darf er diese Gefühle zwar