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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Und wo ist denn nun der König?« Leichte Ungeduld schwang in Heidis Stimme mit. »Was für ein König?«, fragte Dominik von Wellentin-Schoenecker verblüfft. »Na, der König, der in dem Schloss wohnt«, erklärte die kleine Heidi. »Warum lachst du, Nick?« »Du kleines Dummchen, hier wohnt doch kein König mehr.« »Ach!« Heidi Holsten war offensichtlich enttäuscht. Sie überlegte eine Weile und meinte dann: »Von außen hat das Schloss so hübsch ausgesehen. Beinahe so wie in meinem Märchenbuch. Du weißt schon, das Schloss, in das der Königssohn das Schneewittchen führte. Bist du sicher, dass es hier wirklich keinen König gibt?« »Ganz sicher.« »Gibt es wenigstens eine Prinzessin? Vielleicht ist sie verzaubert oder in einem Turm versteckt.« Nick musste Heidi neuerlich enttäuschen. Er gab zu, dass die Hohenzollernburg Hechingen zwar über etliche Türme verfüge, aber in keinem davon sei eine verwunschene Prinzessin verborgen. Es war der Wunsch der Huber-Mutter gewesen, einmal das Schloss der früheren Kaiser zu besichtigen. Der jugendlichen Bewohner des Kinderheims Sophienlust, in dem die Greisin ihren Lebensabend verbrachte, hatten diesen Einfall begeistert aufgegriffen, und da Denise von Schoenecker nichts dagegen einzuwenden gehabt hatte, war der Ausflug an diesem sonnigen Tag durchgeführt worden. Nun aber zeigten sich bei den Teilnehmern bereits die ersten Ermüdungserscheinungen. »Ich hätte nicht gedacht, dass Schauen so anstrengend ist«, murmelte die Huber-Mutter. »Wenn ich im Wald bin und Kräuter sammle, dann spüre ich meine Füße nie, aber jetzt …« »Tun dir die Füße weh?«, fragte Heidi und fügte ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Vorhin habe ich in einem Saal einige Sessel gesehen. Es war zwar eine Schnur davor
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2017
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»Und wo ist denn nun der König?« Leichte Ungeduld schwang in Heidis Stimme mit.
»Was für ein König?«, fragte Dominik von Wellentin-Schoenecker verblüfft.
»Na, der König, der in dem Schloss wohnt«, erklärte die kleine Heidi. »Warum lachst du, Nick?«
»Du kleines Dummchen, hier wohnt doch kein König mehr.«
»Ach!« Heidi Holsten war offensichtlich enttäuscht. Sie überlegte eine Weile und meinte dann: »Von außen hat das Schloss so hübsch ausgesehen. Beinahe so wie in meinem Märchenbuch. Du weißt schon, das Schloss, in das der Königssohn das Schneewittchen führte. Bist du sicher, dass es hier wirklich keinen König gibt?«
»Ganz sicher.«
»Gibt es wenigstens eine Prinzessin? Vielleicht ist sie verzaubert oder in einem Turm versteckt.«
Nick musste Heidi neuerlich enttäuschen. Er gab zu, dass die Hohenzollernburg Hechingen zwar über etliche Türme verfüge, aber in keinem davon sei eine verwunschene Prinzessin verborgen.
Es war der Wunsch der Huber-Mutter gewesen, einmal das Schloss der früheren Kaiser zu besichtigen. Der jugendlichen Bewohner des Kinderheims Sophienlust, in dem die Greisin ihren Lebensabend verbrachte, hatten diesen Einfall begeistert aufgegriffen, und da Denise von Schoenecker nichts dagegen einzuwenden gehabt hatte, war der Ausflug an diesem sonnigen Tag durchgeführt worden. Nun aber zeigten sich bei den Teilnehmern bereits die ersten Ermüdungserscheinungen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Schauen so anstrengend ist«, murmelte die Huber-Mutter. »Wenn ich im Wald bin und Kräuter sammle, dann spüre ich meine Füße nie, aber jetzt …«
»Tun dir die Füße weh?«, fragte Heidi und fügte ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Vorhin habe ich in einem Saal einige Sessel gesehen. Es war zwar eine Schnur davor gespannt, aber wenn du dich bückst, kannst du unten durchkriechen und auf dem Sessel ausruhen.«
»Aber, Heidi!«, rügte Nick. »Die Sessel, von denen du sprichst, sind Ausstellungsstücke. Die darf man nicht benützen.«
»Wozu sind sie denn gut?«
»Zum Ansehen.«
Heidi schüttelte verwundert den Kopf. Das ging über ihre Begriffe. »Es ist langweilig hier«, klagte sie. »Komm schon weiter, Nick! Warum starrst du stundenlang diese komischen Papierblätter an? Wieso sind die hinter Glasscheiben?«
»Das sind alte Dokumente«, belehrte Nick die Kleine.
»Und die interessieren dich? Was meinst du dazu, Fabian?« Heidi suchte einen Verbündeten.
»Ich weiß nicht …« Fabian zögerte.
»Also, wenn du mich fragst, ich finde diese Dokumente stinkfad«, gab Nicks Halbbruder Henrik kund.
»Henrik!«, mahnte seine Mutter Denise automatisch, während sie mit besorgten Blicken die Huber-Mutter beobachtete. Die alte Frau wirkte müde. Heidi hatte recht, es war Zeit, dass die Huber-Mutter sich ausruhte.
»Ich glaube, wir sollten für heute Schluss machen und die Besichtigung abbrechen«, sagte Denise entschlossen.
»Aber, Mutti, wir haben kaum die Hälfte gesehen«, wandte Nick ein.
»Meinetwegen dürfen die Kinder nicht zu kurz kommen. Ich halte schon durch«, behauptete die Huber-Mutter tapfer.
Denise entgegnete jedoch trotzdem: »Es ist auch für die kleineren Kinder zu viel. Auf dem Weg hierher habe ich eine Wiese gesehen. Dorthin werden wir gehen. Heidi kann dort spielen, und die Huber-Mutter kann sich ein wenig hinlegen.«
»Ja, fein!«, rief Heidi. Seit sie erfahren hatte, dass es in dem Schloss weder einen König noch eine Prinzessin gab, war in ihr jegliches Interesse an dem Schloss erloschen.
»Zu Hause kannst du genauso gut auf einer Wiese spielen. Dazu sind wir nicht hierhergekommen«, murrte Nick.
»Ich habe nichts dagegen, wenn du mit Schwester Regine und den größeren Kindern noch hierbleibst. Seht euch alles in Ruhe an«, schlug Denise vor.
»Gut. Wenn wir fertig sind, kommen wir dann auch auf die Wiese«, erwiderte Nick.
So war das Problem zur Zufriedenheit aller gelöst. Der Chauffeur Hermann beschloss, ebenfalls noch im Schloss zu bleiben. Er reichte Denise seine Wagenschlüssel und meinte dabei: »In dem Schulbus, den ich hierhergefahren habe, liegt unten eine Wolldecke und ein kleines Polster. Wenn die Huber-Mutter ein kleines Nickerchen machen möchte, könnte sie sich drauflegen.«
Denise suchte also zusammen mit der Huber-Mutter und den kleineren Kindern die Wiese auf. An dessen Rand, im Schatten einer großen Buche, breitete sie fürsorglich die Decke für die alte Frau aus.
»Huber-Mutter, erzählst du uns eine schöne Geschichte?«, bettelte Fabian, nachdem sich die alte Frau auf die Decke niedergelassen hatte.
»Hm – ein anderes Mal. Ich merke erst jetzt, wie müde ich bin. Es ist so still hier. Ich werde gleich einschlafen.«
»Komm, Fabian, lass die Huber-Mutter ein Weilchen allein«, sagte Heidi und zog den Spielgefährten fort. »Wir wollen über die Wiese laufen. Siehst du die Autos dort drüben? Ich glaube, dort ist ein Wasser, ein Bach oder ein Teich. Den wollen wir uns anschauen.«
Die Kinder liefen weg, und Denise folgte ihnen, allerdings in einem gemächlicheren Tempo.
Nachdem sich alle entfernt hatten, drehte sich die Huber-Mutter zur Seite und schloss die Augen. Sie fand, es war angenehm, im weichen Gras zu liegen und die schmerzenden Beine ausstrecken zu dürfen. Sie vernahm die Stimme der Kinder nur leise und verschwommen. Und dann war sie auch schon eingeschlafen.
Das unbestimmte Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, weckte die Greisin. Blinzelnd öffnete sie die Augen. »Bist du es, Heidi?«, murmelte sie schlaftrunken. »Ist es schon spät? Müssen wir heimfahren?«
Da sie keine Antwort erhielt, setzte sich die Huber-Mutter auf, rieb sich die Augen und blickte sich um. Das, was sie sah, versetzte sie in Staunen. Neben ihr stand ein kleines Mädchen. Aber es war nicht Heidi, sondern ein völlig fremdes Kind. Es stand regungslos da und blickte sie stumm an.
Das Kind war hübsch. Es hatte lange blonde Haare und große braune Augen. Trotzdem konnte sich die Huber-Mutter eines leichten Unbehagens nicht erwehren. Das Mädchen war zart und blass – beinahe unnatürlich bleich. Die Regungslosigkeit, in der es noch immer verharrte, gab ihm den Anstrich einer unwirklichen Erscheinung.
»Träume ich denn?«, fragte die Huber-Mutter beklommen. »Sag doch etwas?«
Das Kind schwieg. Die Huber-Mutter streckte die Hand aus, um die Kleine anzufassen. Fast hatte sie Angst, dass die Gestalt dabei in nichts zerfließen würde, doch das erwies sich als Irrtum. Das Mädchen war zwar zerbrechlich dünn, aber immerhin ein Wesen aus Fleisch und Blut.
»Hast du mich aber erschreckt!«, seufzte die alte Frau. »Ich glaubte schon an eine Geistererscheinung. Aber nun erzähl mir, woher du so plötzlich gekommen bist.«
Das Kind rührte sich nicht und verzog keine Miene.
»Sag mir wenigstens deinen Namen«, bat die Huber-Mutter. »Wie heißt du?«
»Ich heiße Lucie«, stieß das Kind hervor.
»Lucie! Das ist ein schöner Name. Es gefällt mir. Und ich bin die Huber-Mutter. So nennen mich alle. So, und jetzt werde ich aufstehen und dich zu deinen Eltern bringen. Vielleicht machen sie sich bereits Sorgen um dich.«
Lucie zeigte bei diesen Worten keine Reaktion. Es schien, als sei sie taub. Aber das konnte nicht der Fall sein, denn auf die Frage nach ihrem Namen hatte sie ja geantwortet.
Die Huber-Mutter erhob sich ein wenig mühsam und nahm das Kind an die Hand. Willig ging Lucie mit der alten Frau mit, doch diese blieb nach ein paar Schritten unschlüssig stehen. »Erinnerst du dich, aus welcher Richtung du gekommen bist?«, wandte sie sich an Lucie. »Von dort – oder von dort?«
Lucie senkte den Kopf und presste fest die Lippen zusammen.
»Was fange ich nur mit dir an?«, fragte die alte Frau ratlos. »Am besten wird es sein, wir suchen Frau von Schoenecker.«
Die Huber-Mutter brauchte nicht lange zu suchen. Denise kam ihr schon entgegen. Auch Schwester Regine, Nick und die übrigen größeren Kinder hatten inzwischen die Schlossbesichtigung beendet und sich zu den Kleinen gesellt. Sie alle umgaben nun die Huber-Mutter und deren unbekannte Gefährtin.
»Wer ist das?«
»Wo hast du das Kind aufgelesen, Huber-Mutter?«
»Wie heißt es?«
Die Fragen schwirrten nur so durch die Luft.
Heidi trat auf Lucie zu und sagte: »Schade, dass wir dich nicht früher gesehen haben. Du hättest mit uns spielen können.«
Lucie wich zurück und klammerte sich ängstlich an die Hand der Huber-Mutter. Ihre Augen schienen immer größer zu werden, und ihr Blick irrte verständnislos zwischen den Kleinen umher.
»Lasst das Kind in Ruhe. Merkt ihr nicht, dass es sich vor euch fürchtet?«, wies Denise ihre Schützlinge zurecht.
»Ja. Lucie fürchtet sich«, stimmte die Huber-Mutter zu.
»Lucie heißt sie also!«
»Das ist das Einzige, was ich bis jetzt aus ihr herausbekommen habe. Sie will mir nicht sagen, woher sie kommt.«
»Sie ist noch so klein. Weit kann sie also nicht gelaufen sein«, meinte Schwester Regine.
»Vielleicht gehört sie zu einer der Familien, die ihre Autos neben dem Bach abgestellt haben. Wir wollen mit ihr hingehen und nachfragen«, beschloss Denise.
Dieses Vorhaben wurde sofort in die Tat umgesetzt, aber es führte zu keinem Ziel. Niemand kannte das Kind.
Denise und Schwester Regine blickten einander verwundert an. »Das ist rätselhaft«, sagte Schwester Regine. »Ich verstehe das nicht. Das Kind kann doch nicht vom Himmel gefallen sein.«
»Irgendwie sieht es aber so aus«, mischte sich Pünktchen, eines der größeren Mädels ein. »Ich meine so, als ob Lucie vom Himmel gefallen sei. So …, so überirdisch.«
»Ja, das war auch mein erster Eindruck«, sagte die Huber-Mutter. »Ich hatte das Gefühl, dass ich träume.«
»Dann müssten wir jetzt alle träumen«, stellte Nick trocken fest. »Aber ich weiß, dass ich munter bin, und das Kind hier ist gewiss kein Engel, sondern ein verängstigtes kleines Mädchen, das wir schleunigst zu seinen Angehörigen bringen sollten.«
»Und wie willst du das bewerkstelligen?«
»Lass mich nur machen«, meinte Nick zuversichtlich. Er kniete sich neben Lucie nieder, strich ihr über die seidigen blonden Haare und fragte mit so viel Sanftheit, wie er aufbringen konnte: »Wo wohnst du? Du hast der Huber-Mutter deinen Namen gesagt, sicher weißt du auch deine Adresse.«
Lucie starrte Nick an, als ob er ein Wesen aus einer anderen Welt sei, aber sie schwieg beharrlich.
»Nichts zu machen«, seufzte Nick und stand auf.
»Glaubt ihr … Nein, das ist unmöglich.«
»Nun rede schon! Woran denkst du, Pünktchen!«
»Vielleicht haben die Eltern das Kind hier vergessen und sind mit dem Auto nach Hause gefahren, ohne zu bemerken, dass es fehlt.«
»Das ist Unsinn!«
»Na ja, du wolltest es ja hören.«
»Wenn du keine bessere Idee hast, kannst du sie für dich behalten.«
»Streitet nicht«, ermahnte Denise die Kinder. »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als Lucie zum nächsten Polizeirevier zu bringen und dort den Vorfall zu melden.«
»Wartet! Einen Moment noch!«, rief Nick. »Vielleicht gibt es hier in der Gegend irgendwo ein Haus, in dem Lucie wohnt. Wir haben noch genügend Zeit. Ich werde mich ein wenig umschauen.«
Die größeren Kinder schwärmten sofort aus, um die Umgebung zu erforschen. Es war Pünktchen, die einen Erfolg zu vermelden hatte.
»Ich habe noch einmal mit den Leuten, die neben dem Bach ein Picknick abhalten, gesprochen«, teilte sie aufgeregt den anderen mit. »Eine Frau hat mir erzählt, dass es weiter unten neben der Straße ein Haus gibt. Man sieht es kaum, weil hohe Bäume davor stehen.«
»Wir wollen gleich hingehen», unterbrach Nick seine Freundin.
»Aber nicht alle«, widersprach Denise ihn.
Schließlich einigten sie sich, dass Denise, Nick, Pünktchen und die Huber-Mutter mit Lucie zu dem Haus im Wald gehen sollten.
Anfangs ging Lucie bereitwillig mit. Doch plötzlich blieb sie stehen und war nicht mehr von der Stelle zu bewegen.
»Komm, Lucie, es ist nicht mehr weit«, redete Pünktchen dem Kind zu. »Da vorn sehe ich eine Mauer. Das muss das Haus sein.«
»Vielleicht ist Lucie müde. Ich werde sie tragen.«
Nick hob das Mädchen hoch, ohne auf dessen Sträuben zu achten, und schritt geradewegs auf die von Pünktchen bezeichnete Mauer zu. Diese umgab allem Anschein nach ein größeres Anwesen. Sie war zwar niedrig, aber lange schwarze Eisenstäbe, die oben spitz zuliefen, ragten daraus hervor. Dahinter zog sich eine dichte Hecke hin, die jeglichen Einblick verwehrte.
»Irgendwo muss es einen Eingang zu dem Grundstück geben«, meinte Denise. »Wir wollen an der Mauer entlanggehen, bis wir den Eingang finden.«
»Wenn man nur hineinsehen könnte!« Pünktchen kletterte auf die Mauer und bemühte sich, durch die Büsche zu spähen. »Ich kann niemanden sehen und nichts hören«, meldete sie.
»Da vorn, neben der großen Kastanie, sind ein paar von den Eisenstäben ausgebrochen, und die Hecke ist beschädigt. Probiere, ob du von dort aus etwas entdecken kannst!«, sagte Nick.
Pünktchen gehorchte. »Ja, ich sehe ein Haus, zumindest ein Stück davon«, erklärte sie gleich darauf.
Denise und die Huber-Mutter waren inzwischen weitergegangen und zu einem schmiedeeisernen Gittertor gelangt. Nick und Pünktchen folgten den beiden Erwachsenen, wobei sich Lucie heftig wehrte und erfolglose Anstrengungen unternahm, sich Nicks Armen zu entwinden.
»Was hast du denn?«, fragte dieser erstaunt. »Wir tun dir nichts. Wir wollen uns nur erkundigen, ob du in diesem Haus wohnst oder ob dich hier jemand kennt.«
Lucie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und trommelte damit verzweifelt gegen Nicks Brust.
»Was ist nur mit dem Kind los?«, fragte Nick seine Mutter. »Ich fürchte, es mag mich nicht.«
Denise nahm Nick das strampelnde Mädchen ab, das sich aber nicht beruhigen ließ. »Mach schnell, Nick! Drück auf den Klingelknopf hier«, befahl Denise ihrem Sohn.
Als Nick seinen Daumen gegen den Knopf presste, schrie Lucie mit schriller Stimme, außer sich vor Aufregung: »Nein, ich will weg! Ich wohne hier nicht.«
Denise und die Huber-Mutter tauschten einen verständnisinnigen Blick.
»Ich bin überzeugt, dass Lucie in dieses Haus gehört«, sagte Denise. »Ihr Benehmen deutet darauf hin, dass sie Angst vor einer Strafe hat, weil sie vermutlich davongelaufen ist. Weine nicht, Lucie! Wir lassen nicht zu, dass deine Eltern dich bestrafen. Wir werden ihnen alles erklären. Sie werden sicher gar nicht daran denken, dich zu bestrafen, sondern froh sein, dass du wieder da bist.«
Diese beruhigenden Worte hatten jedoch keine Wirkung auf Lucie. Die Kleine hatte sich wieder hinter ihr Schweigen verbarrikadiert, aber die Tränen flossen unaufhaltsam über ihr bleiches Gesicht.
»Wenn nur endlich jemand kommen würde«, meinte Nick unbehaglich und läutete ein zweites Mal. Dann drückte er sein Gesicht gegen die Verschnörkelung des Tores.
»Ja, da hinten steht ein Haus«, sagte er. »Aber es wirkt unbewohnt. Und der Garten ist ziemlich verwildert.«
Pünktchen war Nicks Beispiel gefolgt und spähte gleichfalls in den fremden Garten hinein. »Der Kiesweg ist halb mit Unkraut überwuchert, und dort, in dem runden Beet, das sollen wohl Rosen sein. Aber sie sind ungepflegt. Niemand scheint sich darum zu kümmern. Ich bin der gleichen Meinung wie Nick. Hier wohnt niemand.«
Im gleichen Augenblick öffnete sich jedoch die Haustür, eine alte Frau trat aus dem Haus und schritt über den vernachlässigten Kiesweg auf das Gartentor zu.
Pünktchen und Nick wichen zurück. »Pst, es kommt jemand«, warnte Pünktchen.
Lucie schlang ihre Arme um Denises Hals und vergrub ihr Gesicht an deren Schultern. Der kleine Körper des Kindes wurde von einem krampfhaften Schluchzen erschüttert. Denise wünschte nun, nicht hierhergekommen zu sein, aber es war zu spät.
Die schmiedeeiserne Tür knarrte, und die alte Frau steckte ihren Kopf heraus. Ihr Blick blieb zuerst an Nick und Pünktchen hängen. Sofort fuhr sie die beiden Kinder an. »Was wollt ihr hier? Verschwindet und lasst mich in Frieden.«
Schon traf sie Anstalten, sich wieder zurückzuziehen und das Tor zu schließen, doch nun trat Denise vor und wies auf das Kind. Aber noch bevor sie ein Wort äußern konnte, trat die fremde Frau einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme aus, als wollte sie ihr das Kind abnehmen. Doch ebenso schnell ließ sie die Arme wieder sinken und blieb stocksteif stehen.
»Wir haben dieses Kind auf einer Wiese gefunden. Es scheint sich verlaufen zu haben. Kennen Sie es vielleicht?« Denise kostete diese Frage Überwindung. Eine plötzliche und unbegründete Abneigung gegen diese Frau hatte sie erfasst. Sie hoffte sehr, dass Lucie nicht hierhergehörte und dass sie selbst eine verneinende Antwort erhalten werde.
Die alte Frau zauderte und rang sichtlich nach Atem. »Ich … Nein, wie kommen Sie darauf?«, sagte sie schließlich mit rauer Stimme. »Woher sollte ich dieses Kind kennen? Ich wohne allein in meinem Haus. Wie sollte ich alte Frau zu einem so kleinen Kind kommen?«
»Ja …, wir dachten …« Es passierte Denise äußerst selten, dass sie ins Stottern geriet, aber jetzt war es soweit.
Nick sprang hilfreich in die Bresche. »Gehört das Kind vielleicht einem Ihrer Dienstboten?«, fragte er.
»Dienstboten? Ich beschäftige keine Dienstboten«, erwiderte die alte Frau barsch.
»Keine Dienstboten? In dem Riesenhaus?«
»Was geht das dich an? Lasst mich zufrieden.«
»Ja, aber …«
»Was schaust du so neugierig herum? Meine Angelegenheiten gehen dich nichts an.« Die alte Frau schlug die Tür vor Nicks Nase zu und verschwand.
Der Junge hatte in der Tat seine Blicke über das Haus und den Garten schweifen lassen. Nun wandte er sich aufatmend an die anderen. »So, das wäre erledigt«, meinte er. »Lucie hat mit der alten Frau nichts zu schaffen.«
»Darüber kann man nur froh sein«, sagte Pünktchen. »Sie hatte alle Attribute, die man bei einer Hexe erwartet. Das einsame Haus, die Hakennase, der stechende Blick ihrer schwarzen Augen, die faltige Haut … Puh, machen wir, dass wir von hier fortkommen.«
»Vergiss nicht die krächzende Stimme«, fügte Nick hinzu. Dann warf er einen Blick auf das Schild, das an dem Gittertor angebracht war. »Harlan lautet ihr Name. Nun, das ist ja eigentlich gleichgültig.«
