Wer Korn klaut muss gehen - Heinrich Maurer - E-Book

Wer Korn klaut muss gehen E-Book

Heinrich Maurer

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Beschreibung

Dieser eindrucksvolle Roman erzählt vom Lieben und Leben der Familie um Bauer Michel Dachser. Folgen Sie seinem wechselvollen Leben von der Geburt kurz vor der Jahrhundertwende bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Eindringlich schildert Heinrich Maurer das Schicksal des Bauern in den Weltkriegen, das neben Trauerfällen und Verlusten auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Die Umstellung von Handarbeit mit Knechten und Mägden zu einem modernen Hof mit technischen Gärten wird zum Rahmen für die spannende Familiensaga – eine faszinierende Zeitreise.

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Heinrich Maurer

Wer Korn klautmuss gehen

Haupttitel

Haupttitel

Prolog

Der Vater

Sorgen um den Sohn

Bauern und Mägde

Eine schwierige Jugend

Babette und Walter

Streit der Geschwister

Der Krieg

Eine neue Zeit

Luises Liebe

Der Vater stirbt

Babette

Die goldenen Zwanziger und ihr Ende

Der Profiteur

Die Brautwerbung

Der Onkelhof

Die Sorgen von Luise

Der Hof verliert sein Herz

Die Heirat

Die Flucht

Der zweite Krieg

Nach dem Krieg

Babette kehrt heim

Hermann

Marianne

Albert und Marie

Hermanns Abschied

Marianne und Holger

Gertrud und Willi

Mariannes Abschied

Der neue Hofbauer

Das Ende

Epilog

Impressum

Prolog

Als Michael Dachser, den alle nur Michel nannten, am 18. Januar des Jahres 1890 in dem kleinen Dorf Gerbhausen mit 21 Höfen, zwei Handwerkern, einigen Tagelöhnern und zusammen 165 Bewohnern auf dem Martinshof zur Welt kam, gab ihm die Hebamme nur eine geringe Überlebenschance.

Draußen türmte sich der Schnee. Die drei Knechte des Hofes hatten jeden Tag zu tun, die zugewehten Wege freizuschaufeln. Auch in der geräumigen Schlafstube des Bauern, in der die Wöchnerin seit Stunden mit den Wehen kämpfte, war es dem von der Küche aus geheizten Ofen nicht gelungen, die Eisblumen am Fenster ganz zum Schmelzen zu bringen.

Als der jungen Bäuerin das schwache, schreiende Bündel mit dem runzeligen Greisengesicht an die Brust gelegt wurde und die Hebamme bedenklich den Kopf wiegte, vergoss die Mutter nicht nur vor Erschöpfung bittere Tränen. Hatte sie sich doch einen kräftigen Stammhalter gewünscht.

»Mit dem werdet ihr viel Mühe haben«, sagte die erfahrene Geburtshelferin ungerührt, »und das bei der Kälte. Ihr müsst schon ordentlich schüren, Holz habt ihr doch genug.«

Damit spielte die Frau auf den großen Waldbesitz des Bauern an. Aber dessen Wahlspruch lautete: »Nur was man spart, hat man.« Holz, das im eigenen Haus verschürt wurde, konnte nicht verkauft werden, deshalb ging man sparsam damit um. Unter der Woche war die Küche mit dem großen Herd der einzig warme Platz im Haus.

Der Vater

Der Bauer Wilhelm Dachser, ein untersetzter, aber nicht gerade kräftiger Mann mit dunklem, in die Stirn hängendem Haar, dunklen, etwas stechenden Augen und einem dichten Schnurrbart im runden Gesicht, war bei der Geburt Michels schon über vierzig. Er hatte spät geheiratet, weil zuerst die vier jüngeren Geschwister versorgt, das heißt verheiratet, sein sollten. Außerdem war er bei der Suche nach einer Bäuerin recht wählerisch gewesen. Dabei kam es ihm weniger auf die Schönheit an. Kräftig sollte sie sein und auch ein ordentliches Heiratsgut mitbringen. Denn die Verheiratung der drei Schwestern und des Bruders hatte durch die Aussteuer und das Heiratsgut viel Geld gekostet.

Die Töchter der Nachbarhöfe wollten ihn nicht. Er war ihnen nicht ansehnlich genug. Außerdem misstrauten sie seiner ungeselligen, etwas finsteren und, wie die Knechte berichteten, jähzornigen Art. Nur wenn er getrunken hatte, taute er auf, wurde dann aber gleich lärmend, großspurig und den Mädchen gegenüber anzüglich.

Als die jüngste Schwester auf einem Hof in der gleichen Gegend untergebracht war, hatte er die Dreißig schon weit überschritten und deshalb keinen Umgang mehr mit der heiratsfähigen Jugend. Eigentlich hatte er sich inzwischen auch an die Einschichtigkeit gewöhnt. Aber die alte Tante Sophie, die mit den Mägden das Haus versorgte, und die übrige Verwandtschaft drängten immer wieder zur Heirat.

Schließlich entschloss Wilhelm sich doch zur Brautschau. Nicht nur um eine Haus- und Bettgenossin zu haben, sondern vor allem, um den Fortbestand des Hofes zu sichern. Aber in seinem Alter war die Suche nicht mehr einfach. Ein Vermittler, ein sogenannter Schmuser, musste dabei helfen. Über eine solche Heiratsvermittlung wurde nicht offen geredet, aber sie war in vielen Fällen üblich und keineswegs ehrenrührig.

Der Schmuser, dessen Dienste Wilhelm in Anspruch nahm, war ein lustiger, erfahrener und bei den Leuten beliebter Viehhändler, der täglich mit seinem Einspänner-Wägelchen unterwegs war und die Bauern und ihre Töchter im weiten Umkreis kannte. Er hatte Wilhelm immer wieder Angebote gemacht. Manchmal fuhr er mit ihm unter dem Deckmantel des Viehkaufes auf die Höfe, um die Kandidatinnen, aber auch das Anwesen anzuschauen. Der Zustand von Haus, Hof und Vieh zeigte die Tüchtigkeit der Familie und ließ auf die Höhe des Heiratsgutes schließen. Man betrachtete das Vieh, redete von diesem und jenem und blieb im Allgemeinen.

Oft wussten die Aufgesuchten gar nicht, worum es in Wirklichkeit ging. Erst wenn der Schmuser beiderseitiges Interesse erkannte, wurden bei einem zweiten Besuch klare Worte gesprochen. Einige Male war es schon zu einem Gegenbesuch auf dem Martinshof gekommen. Aber dann hatte sich das Heiratsgeschäft doch wieder zerschlagen, weil sich die Kandidatin trotz drängendem Zureden der Eltern gesträubt hatte.

Einigen dieser hochmütigen Bauerntöchter, denen keiner gut genug war, blieb schließlich nur übrig, daheim zu bleiben und dem Bruder eine bessere Magd und seinen Kindern eine so genannte »Dachtante« zu machen. Das gleiche Los zogen oft genug die Brüder des Hoferben. Konnten sie kein ordentliches Heiratsgut aufbringen und hatten sie auch keine besonderen körperlichen Vorzüge, dann gelang es ihnen meist nicht, auf einen Hof einzuheiraten. Sie blieben ledig, machten dem Bruder den Großknecht oder gingen auf einen der Gutshöfe, wo sie es, wenn sie tüchtig waren, zum Aufseher oder gar zum Verwalter bringen konnten. Manche gingen auch zum Militär. Dort konnten sie bis zum Unteroffizier aufsteigen, der dann den Frust über sein unerfülltes Bauernleben an den Rekruten ausließ und die eingezogenen Bauernsöhne stolzer Höfe gnadenlos schikanierte.

Auf einem etwas heruntergekommenen Hof jenseits des tief eingeschnittenen Tales fand Wilhelm Dachser schließlich seine Frau. Dort war der Bauer Georg Wieland früh an der Schwindsucht gestorben. Auch der älteste Sohn war, kaum siebzehnjährig, dieser Krankheit erlegen. Die Witwe hatte Mühe, den Hof mit den anderen drei Kindern durchzubringen.

Manche gaben dem Tabak die Schuld am frühen Tod Wielands. Das ewige Rauchen habe seine Lunge ruiniert, hieß es. Tatsächlich war ihm die Pfeife den ganzen Tag nicht ausgegangen. Hatte er beim Pflügen den letzten Krümel Tabak verbraucht, hielt es ihn nicht mehr auf dem Feld. Mitten am Nachmittag musste er heim, um den Lederbeutel zu füllen. Als ihm bei der späten Rückfahrt von einem Verwandtenbesuch einmal die Streichhölzer ausgegangen waren, musste seine Frau an einem einsamen Hof die Bewohner herausklopfen, damit er seine Pfeife anzünden konnte. Erst viel später stellte sich heraus, dass er wie auch andere schwindsuchtkranke Bauern von seinem Vieh angesteckt worden war.

Der erste Besuch fand an einem Werktag im Frühsommer statt. Als der Einspänner des Schmusers auf den Hof einbog, war die älteste Tochter, um die es ging, gerade dabei, die Pferde vor den Mistwagen zu spannen. Mit kräftigen Armen dirigierte sie die beiden Rösser rückwärts an den Wagen, kettete die Deichsel mit geübten Griffen an die Geschirre und knebelte die Zugstränge am Waagscheit an. Als sie sich bückte, zeigte der weit über die Knie reichende Rock kräftige Waden und als sie sich aufrichtete, um den Besuch zu begrüßen, spannte die Schürze über der Brust. Sie hatte ein herbes, wenig schönes Gesicht, das überdies durch eine breite Narbe auf der linken Wange verunstaltet war. Dort hatte ihr das Horn eines ungebärdigen jungen Ochsen eine tiefe Fleischwunde gerissen. Das braune, hinten zum Knoten gebundene Haar war fast ganz vom Kopftuch bedeckt. Eine Strähne hatte sich beim Hantieren gelöst und fiel gekräuselt über die hohe, gewölbte Stirn. Die sichere, ruhige Art, wie sie mit den Pferden umging, gefiel Wilhelm. Unbefangen erwiderte sie den Gruß und rief dann die Mutter, in der Annahme, Bauer und Händler seien zum Viehkauf gekommen. Beide ließen sie in dem Glauben. Der Bauer war als Käufer von Anstellvieh, jungen männlichen Rindern, für deren Mast den kleineren Höfen das Futter fehlte, bekannt.

Im niedrigen Stall mit einer altersschwachen, schon durchgebogenen Holzdecke stellte Wilhelm schnell fest, dass die sechs Kühe und zehn Jungrinder gut geputzt und ordentlich ernährt waren. Während die hinzugekommene Bäuerin mit ihm über das Vieh sprach, lockerte die Tochter mit der Gabel die Streu, zog die Kuhfladen heraus und warf das nach hinten getretene Stroh wieder auf die Liegefläche. Auch das gefiel dem Heiratskandidaten.

Zu einem Viehhandel kam es an diesem Tag nicht. Dafür bahnte sich ein anderer Handel an.

Als der Schmuser wenige Tage später allein wiederkam und die Mutter unverblümt fragte, was sie vom jungen Dachser als Schwiegersohn halte, war sie nicht wenig überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ein so großer Bauer an einer Verbindung mit ihren kleinen Verhältnissen Gefallen finden könnte. Um der befürchteten Forderung nach einer großen Aussteuer und zusätzlichem Heiratsgut entgegenzutreten, zeigte sie ihre Freude nicht. Vielmehr entgegnete sie, der junge Martinshöfer habe nicht gerade den besten Ruf. Man höre, er trinke gerne und neige zur Gewalttätigkeit. Nicht umsonst habe er in dem Alter immer noch keine Frau. Außerdem sei er als geizig verschrien und da habe es eine junge Bäuerin nicht leicht, ein angemessenes Hauswesen zu führen. Schließlich sei sie auch selbst noch auf die Hilfe der Tochter angewiesen. Sie könne sich keinen Großknecht leisten und der zweite Sohn könne mit seinen fünfzehn Jahren noch nicht so schwer schaffen wie die Tochter.

Der Schmuser ging auf die Kritik an seinem Kandidaten nicht ein. Er wusste zu gut, was dahinter stand. Dachser brauche kein großes Heiratsgut, entgegnete er. Es genüge auch eine kleine Aussteuer. Ihm sei eine tüchtige Bäuerin wichtiger, die verträglich mit der alten Tante umgehe, ein gutes Haus führe und ihm auf dem Hof eine Hilfe sei. Als Arbeitsersatz werde er, der Schmuser, einen tüchtigen Jungknecht besorgen, der sich mit wenig Lohn zufrieden gebe.

Natürlich wisse sie, lenkte die Mutter ein, dass sie ihre Tochter nicht ewig auf dem Hof halten könne, aber nach dem Tod des Mannes und des Sohnes sei es bitter, für alles allein sorgen zu müssen. Es falle ihr schwer, aber sie werde mit der Tochter reden. Schon bald könne der Viehhändler eine Antwort abholen.

Karoline, so hieß die Tochter, die im Dialekt Karline gerufen wurde, war noch mehr überrascht als ihre Mutter. Ihre Reaktion war weder heimliche noch offene Freude, sondern tiefes Erschrecken. Sie sollte die Heimat verlieren und zu diesem Mann gehen, der ihr so finster und so fremd vorgekommen war? Bitterlich fing sie an zu weinen und darauf rannen auch der Mutter Tränen übers verhärmte Gesicht. Weniger, weil sie die Tochter hergeben sollte, sondern mehr, weil ihr die Sorge um die Erhaltung des Hofes seit Tagen fast das Herz abdrückte. Aber schließlich war die Vernunft stärker, ohne die es nie möglich gewesen wäre, im harten Bauernleben die Existenz zu sichern. Ähnlich wie der Schmuser begann die Bäuerin von den Vorzügen des Martinshofes, vor allem von seiner Größe zu reden. Wilhelm Dachser sei zwar kein besonderes Mannsbild und es werde ihm auch manch Ungutes nachgesagt, aber da sei oft Neid dabei und eine gescheite Frau könne manche Untugend austreiben. »Was meinst du«, fragte sie Karoline, die sich immer noch schluchzend die Tränen mit dem Schürzenzipfel trocknete, »wir gucken uns den Hof einfach an, entschieden ist noch gar nichts.«

Zwei Sonntage später wurde das altersschwache Bernerwägelchen aus dem Schuppen geschoben und eines der Pferde angespannt. Die Mutter hatte ihr gutes, den Witwenstand anzeigendes schwarzes Kleid angezogen. Statt dem Hut, der damals bei den wohlhabenden Bäuerinnen in Mode war, trug sie auf dem grau gewordenen, zum Knoten gebundenen Haar ein dunkel gemustertes Kopftuch. Karoline hatte einen dunkelblauen Rock an. Dem Trauerjahr entsprechend, in dem sich die Familie nach dem erst acht Monate zurückliegenden Tod des Sohnes befand, trug sie eine schwarz gemusterte Bluse und darüber eine schlicht bestickte, kurze Weste, den Spenzer. Sie war barhäuptig.

Auf dem Martinshof hatte der Bauer seiner alten Tante den Besuch zwar angekündigt, aber den Zweck verschwiegen. Die Bäuerin vom anderen Hof wolle sehen, wo ihr Vieh hinkomme, und interessiere sich für eine Kalbin. Außerdem sei er kürzlich von der Bäuerin zusammen mit dem Viehhändler bewirtet worden und nun müsse man sich revanchieren.

Sophie wunderte sich zwar, dass der Besuch gleich zu zweit kam, dachte sich aber nichts weiter dabei. Heller war Hans, der zweite Knecht, ein vorwitziger, kaum zwanzigjähriger Bursche. Er hatte sich nach dem Mittagessen aufs Bett geworfen, um vor dem sonntäglichen Kegelspiel im Wirtshaus noch etwas Schlaf zu bekommen. Als das Bernerwägelchen in den Hof rumpelte, wachte er auf, spähte neugierig aus dem Dachfenster und sah den doppelten Frauenbesuch. »Was meinst du«, fragte er später Emma, die erste Magd, die mit Eimer und Melkzeug genau in dem Augenblick über den Hof kam, als sich der Besuch verabschiedete, »vielleicht haben wir gerade unsere neue Bäuerin gesehen.«

Bei einem weiteren Treffen wurden die Modalitäten der Heirat besprochen. Karoline hatte sich nach eifrigem Zuspruch der Mutter in ihr Schicksal gefügt. Sie hatte Wilhelm beim Besuch auf seinem Hof nicht mehr so abweisend empfunden. Auch die alte Tante schien umgänglich zu sein. Zudem hatten das große Haus, der reiche Viehbestand und der allgemein gute Zustand des Hofes ihren Eindruck hinterlassen. Bäuerin auf einem neunzig Morgen großen Hof mit über vierzig Stück Vieh, einer Brennerei und fünf Dienstboten zu werden, das war doch was.

Auf eine Verlobung wurde angesichts der Trauerzeit verzichtet. Die Hochzeit sollte Ende November stattfinden. Auch hier spielten praktische Erwägungen eine Rolle. Dann war eingeschafft, wie es hieß. Dann waren die späten Früchte, Kartoffeln, Rüben und Obst geerntet, die Wintersaaten Dinkel, Weizen und Roggen im Boden und der große Hausgarten umgegraben.

Die Vorbereitungen kosteten Mutter und Tochter viel Kraft und das letzte Geld. Die Aussteuer, Bett-, Tisch- und Leibwäsche, die schon seit Karolines Konfirmation angesammelt wurde, musste ergänzt und gerichtet werden. Manche Nacht saß die zukünftige Bäuerin mit der Mutter am Tisch, um Bettbezüge zu nähen, Betttücher zu säumen, Knöpfe anzubringen und mit unzähligen Stichen die Tischdecken zu verzieren. Trotzdem musste noch für einige Tage die Näherin bestellt und bezahlt werden. Um alle Rechnungen begleichen und für das Heiratsgut die vereinbarten tausend Mark aufbringen zu können, musste die Mutter bei ihrem Bruder Geld leihen. Als der Hochzeitstag endlich da war, hatte die Braut nach den durchgearbeiteten Nächten dunkle Ringe unter den Augen und die Sorgenfalten der Mutter waren tiefer und zahlreicher geworden.

Am Hochzeitsmorgen holte der Bräutigam seine Braut mit der prächtig herausgeputzten Chaise, einer viersitzigen Kutsche mit Ledersitzen und Faltdach, die sich nur große Höfe leisten konnten, ab. Das Wetter war wie die Stimmung der Braut. Grauer Nebel zog über die abgeernteten Felder. Kalter Regen tropfte von den Dächern und den kahlen Bäumen. Es schien, als wolle die Natur in Karolines Abschiedsschmerz einstimmen. Im langen, schwarzen Kleid und in ein dunkles, noch von der Großmutter stammendes Tuch gehüllt, trat sie vor die Haustüre, um ihren künftigen Mann zu begrüßen. Dabei war ihr bleiches, schmal gewordenes Gesicht wie versteinert.

Als sie wenig später an seinem Arm wieder aus dem Haus kam und die Chaise bestieg, rannen die Tränen. Dass die neugierigen Nachbarn Beifall klatschten und aufmunternde Worte riefen, gewahrte sie wie durch einen Schleier. Das Schluchzen, das ihr schon den ganzen Morgen im Halse steckte, brach erst aus ihr heraus, als die Kutsche den Hof und das Dorf verlassen hatte.

Der Bräutigam wusste mit dem Abschiedsschmerz nichts anzufangen. Jemanden zu trösten, das hatte er in seiner Familie nicht gelernt. Und seine Braut dazu in den Arm zu nehmen, das kam schon gegenüber dem Knecht auf dem Kutschbock nicht infrage. Karolines Tränen passten auch nicht in seine Vorstellungswelt. Musste es für ein Mädchen von einem so kümmerlichen Anwesen nicht eine Genugtuung sein, zur Bäuerin auf dem großen Martinshof aufzusteigen? In seiner Unbeholfenheit wusste er nichts anderes zu tun, als die Hand seiner Braut unter der über die Knie gebreiteten Decke zu nehmen und schweigend neben ihr zu sitzen.

Die Hochzeit wurde ein zwiespältiges Fest. Als das Brautpaar in einer vom Nachbarn gelenkten Kutsche, gefolgt von den Gästen die etwa einen Kilometer entfernte Kirche erreichte, war wegen der Kälte und Nässe die erste Festtagsstimmung verflogen. Die auf dem Kirchplatz ausharrende Dorfbevölkerung fror ebenfalls. Weil der Bräutigam beim Aussteigen aus der Kutsche eine recht linkische Figur abgab, wurden spöttische Worte laut. Auch Karoline selbst wurde nicht verschont. Auf ihre Narbe im Gesicht anspielend sagten die Lästermäuler, für eine solche Schönheit hätte der Martinsbauer nicht so weit fahren brauchen. Eine gute Arbeiterin, auf die es ihm wohl ankomme, hätte er auch in der Nachbarschaft gefunden.

In der Kirche war es fast so kalt wie draußen. Die Gäste waren froh, dass der Pfarrer nur eine kurze Predigt hielt, deren Inhalt niemandem im Gedächtnis blieb. Geredet wurde später über den ungeschickten Bräutigam, der den Ring, den er seiner Braut an den Finger stecken sollte, fallen ließ und deshalb die Hilfe eines Trauzeugen brauchte.

Besser wurde die Stimmung später beim Hochzeitsmahl in der großen Stube des Martinshofes. Dort standen bereits die am Vortag mit einem geschmückten Leiterwagen abgeholten neuen Möbel, bestehend aus einem großen, zweitürigen Eichenschrank und einer aus Eschenholz gefertigten Kommode. Der dazu gehörende Tisch mit den sechs Stühlen war beiseite geräumt, um der langen Tafel für die Bewirtung der Hochzeitsgäste Platz zu machen.

Für das Essen hatte man eine auswärtige Köchin geholt. Der Rinderbrühe mit Eierstich und Markklößchen, den beiden Hauptgerichten, Schweinebraten mit Spätzle und Rindfleisch mit Meerrettichsoße, sowie dem Nachtisch aus süßen Klößen wurde kräftig zugesprochen. Nach der Suppe versuchte ein Onkel eine mit harmlosen Anzüglichkeiten gespickte Festtagsrede, die fleißig beklatscht wurde. Ansonsten drehte sich die Unterhaltung um den Ablauf des Bauernjahres, den Ärger mit dem Gesinde und um die schlechten Viehpreise. Die Verwandten der Braut blieben einsilbig. Sie konnten, was Hofgrößen, Viehbestände und Gesindezahlen anlangte, nicht mithalten und glaubten, die andere Seite lasse das absichtlich spüren.

Zu dem bei einer Hochzeit üblichen Spaziergang kam es angesichts des schlechten Wetters nicht. Karoline war darüber traurig, hätte sie sich doch dabei ein wenig zu ihrer Familie und den Verwandten gesellen können. So musste sie neben dem ihr immer noch fremden Mann sitzen bleiben, der mehr mit den Gästen sprach als mit ihr und mit zunehmendem Weingenuss wieder in seine unangenehme laute Art verfiel. Ihr graute es vor der Nacht.

Als gegen Morgen die letzten Gäste aufbrachen, nutzte der Bauer den Abschiedstrubel und zog seine junge Frau mit schwankendem Schritt in die Schlafstube. Dort warteten bereits die neuen Betten mit den hoch aufgebauten, bestickten Kopfkissen und den weiß überzogenen dicken Federbetten.

Der reichlich genossene Alkohol nahm Wilhelm die Möglichkeit, den großen Verführer zu spielen. Als er sich mühsam entkleidet hatte, war Karoline längst in ihr neues, besticktes Nachthemd geschlüpft und hatte die Decke bis unters Kinn gezogen. Der Bräutigam musste es bei einigen ungeschickten Liebkosungen belassen und Karoline war froh, als sie an dem schwer gewordenen Atem seinen Schlaf bemerkte. Sie selbst lag noch lange wach.

In der Früh wurde sie vom Muhen der Kühe geweckt und wäre gerne aufgestanden, um wie daheim in den Stall zu gehen. Aber das war auf diesem Hof die Arbeit der Mägde und Knechte. Außerdem geziemte es sich sicher nicht, am Morgen nach der Hochzeit das Bett so früh zu verlassen. Erst als die Tante in der angrenzenden Küche mit dem Geschirr klapperte und mit der vom Melken kommenden Magd sprach, verließ Karoline vorsichtig die hohe Bettlade, um sich anzuziehen.

Auch ihr Mann war, der Gewohnheit folgend, längst wach, ohne sich bemerkbar zu machen. Er schämte sich wegen der misslungenen Hochzeitsnacht und war froh, als Karoline ihm unbefangen einen guten Morgen wünschte und davon sprach, dass der Regen in der Nacht wohl aufgehört habe.

Schnell stellte sich der Alltag ein. Karoline vertrug sich gut mit der Tante und dem Gesinde. Aber sie musste von ihrem Mann immer wieder auf ihre Rolle als Hofbäuerin verwiesen werden. Als sie der kleinen Magd half, die ungestümen Kälber an das Euter der Kühe und anschließend in den Verschlag zurückzubringen, verbot er es ihr. Das sei nicht ihre Arbeit. Die Magd werde nur faul dabei. Dabei wurde das schmächtige Mädchen, selbst noch ein Kind, mit den größeren Kälbern nicht mehr fertig und Karoline wäre so gerne mit den Tieren umgegangen. Das war zu Hause ihre liebste Tätigkeit gewesen. Der Bauer sah es auch nicht gerne, wenn seine Frau mit den Mägden und Knechten scherzte. Er selbst tat das nur, wenn der Most an heißen Sommerabenden seine Zunge gelöst hatte, was ihm immer wieder den heimlichen Spott des Gesindes eintrug. Karoline machte sich dagegen durch ihre unbefangene, einfache Art und durch die Fähigkeit, ohne Umschweife mitanzupacken, schnell beliebt. Der Tante, die um ihre Stellung gefürchtet hatte, ließ sie die Vorherrschaft in der Küche, dafür kümmerte sie sich um die Wäsche und das Haus, das die Hand einer tüchtigen Bäuerin lange vermisst hatte. Und mit Sehnsucht erwartete sie das Frühjahr, um auf dem Feld und im großen Hausgarten arbeiten zu können.

Was Wilhelm in der Hochzeitsnacht misslungen war, holte er nach, ohne jemals ein besonderer Liebhaber zu werden. Seine vorehelichen Erfahrungen hatten sich auf kurze, schnell im Stroh oder hinter einer Hecke vollzogene Abenteuer mit Mägden und Tagelöhnerinnen beschränkt. Ebenso rasch, wort- und lieblos vollzog er den Liebesakt mit seiner Frau. Karoline nahm es in der gleichen Weise hin, wie sie seine kurz angebundene, oft herrische Art, seinen immer wieder aufflammenden Jähzorn und seinen Geiz ertrug. Über den dunklen, kalten Winter hinweg, wenn sie sich in Haus und Hof wie eingesperrt vorkam, weinte sie oft vor Heimweh, aber sie tat es immer still und im Verborgenen.

Doch als es Frühling wurde, als die Märzsonne den Schnee von den Feldern leckte, hinter der Scheune die Weidenkätzchen blühten, die zurückgekehrten Stare am Hausgiebel um die Vogelkästen stritten, und als sie mit den beiden Mägden den im Winter auf die Wiesen ausgefahrenen Mist verrieb, verging ihr Kummer rasch. Karoline schwatzte mit den beiden Mädchen und lachte über den Tratsch, der sich mit Vorkommnissen in der Nachbarschaft und auf dem Tanzboden beschäftigte. Endlich waren auch die Gartenbeete abgetrocknet und sie konnte mit dem Säen von Rettich, Salat und anderem Frühgemüse beginnen. Ihr leiser Gesang drang dabei durch das offene Küchenfenster bis zu Tante Sophie, die sich darüber ehrlich freute.

Als Karoline im April ihre Schwangerschaft bemerkte, war sie endlich ganz auf dem Hof angekommen. Mit der von früher Kindheit an gewohnten Bescheidenheit und Selbstbeherrschung ertrug sie die Last, die das in ihr wachsende Leben mit sich brachte. Kinderkriegen war schließlich etwas Alltägliches. Niemand nahm auf die werdende Mutter Rücksicht und Karoline wollte auch keine.

Nach einem heißen Sommer und einem verregneten Herbst brach der Winter früh herein. Schon lange vor Weihnachten erstarrte die Natur im Frost und die Menschen litten unter der beißenden Kälte. Besonders hart traf es die Dienstboten, die sich in ihren ungeheizten Kammern mit der kupfernen Bettflasche auf dem Strohsack zufriedengeben mussten. Wenn es stürmte, wurde überdies feiner Schnee in die Dachstuben geweht. In den eisigen Nächten bildete der Atem der Schläfer auf den Bettdecken einen glitzernden Reif. Besonders die Jüngsten, die kleine Magd und der kleine Knecht, gerade erst schulentlassene, dreizehn- und vierzehnjährige Kinder, litten entsetzlich unter dem Winter. Für sie war die Arbeit in dem von Rindern und Schweinen gewärmten Stall die angenehmste Zeit des Tages. Sie versuchten die Morgenarbeit dort so weit wie nur möglich auszudehnen. Aber es nützte wenig. Gleich nach dem Morgenessen aus Milchsuppe, Weißbrot mit Gsälz, wie dort die Marmelade hieß, und Malzkaffee mussten sie zum Holz machen in den Wald, um Brennholz zu sägen oder Reisig zu bündeln. Wenn die beiden Knechte mit dem Schlitten Mist auf die Wiesen gefahren hatten, mussten sie den verstreuen, breiten, wie man sagte. Im Wald war der Winter noch einigermaßen erträglich, doch beim Mistbreiten pfiff der Wind gnadenlos durch die dünnen Jacken und ärmlichen Pullover. In den Lederschuhen wurden die Füße nass und eisig. Frostbeulen an den Zehen waren alltäglich. Am Abend, in der Wärme der Küche oder im Bett begannen sie erbärmlich zu jucken.

Sorgen um den Sohn

Schon drei Tage nach der Geburt war Karoline kräftig genug, um ihre Arbeit im Haus wiederaufnehmen zu können. Ihr Kind blieb schwach und kränklich. Es wollte an Karolines Brust nicht recht trinken und schrie viel. Als eine Nachbarin die junge Mutter besuchte und sich über das schreiende Bündel in der Wiege beugte, hatte sie nur den Trost: »Du bist noch jung und kannst noch viele Kinder haben.«

Karoline aber wollte das Erste, das ihr auf diesem Hof ganz gehörte, nicht hergeben. Sie brachte manche Nacht damit zu, den kleinen Michel immer wieder an die Brust zu nehmen, und ihm, wie ihr die Mutter bei dem einzigen Besuch, der ihr in dem grimmigen Winter möglich war, geraten hatte, Bauchwickel aus einem Kamillensud anzulegen und ihm Tee einzuflößen.

Der Bauer kümmerte sich wenig um seinen Stammhalter. Er hatte sich einen starken Sohn gewünscht und keinen, der sich wochenlang nicht zwischen Tod und Leben entscheiden konnte. Schließlich murrte er sogar über den großen Verbrauch an Brennholz, den das Heizen der Schlafstube mit sich brachte. Da Karoline keinen Streit wollte, richtete sie zusammen mit der Tante in der großen Küche nah beim Herd einen Platz für das Kinderbettchen her, der durch eine Kommode vom übrigen Raum abgetrennt war.

Es dauerte weitere drei Wochen, bis sich das Kind für das Leben entschieden hatte. Sein Zustand besserte sich. Es trank nun kräftig an der Mutterbrust und nahm endlich an Gewicht zu. Jetzt konnte der Bauer ins Kirchdorf fahren, um seinen Sohn zur Taufe anzumelden. Die fand, wie es sich auf einem großen Hof gehörte, im Haus statt. Darüber murrte allerdings der Pfarrer, der in der harten Winterzeit den Weg zu den Höfen scheute. Wilhelm musste einen Knecht mit dem leichten, bequemen Sonntagsschlitten schicken, auf dem der Geistliche, zusammen mit dem Taufgeschirr, warm und bequem zu seinem Amtsgeschäft gefahren wurde.

Der Täufling wurde auf den Namen Michael Wilhelm Albrecht Karl getauft. Michael wie der Großvater vom Martinshof, Wilhelm wie der Vater, Albrecht wie der Pate des Bauern und Georg wie Karolines Vater. Taufpaten waren die älteste Schwester des Bauern und Karolines fünfzehnjähriger Bruder Matthias, der sich ob dieses Amtes ungeheuer wichtig vorkam.

Mitte März nahm der Winter endlich Abschied. Ein warmer Wind strich um die Häuser. Die schneebeladenen Dächer fingen zu tropfen an und in den Höfen bildeten sich große Pfützen. Statt Schnee fiel Regen, der in Sturzbächen die Schlittenspuren der Dorfstraße entlangschoss und sich in den tiefer liegenden Obstgärten zu kleinen Teichen sammelte.

Als die Sonne an der Südseite des Hauses den Schnee weggetaut hatte und der aus groben Sandsteinplatten gefertigte Platz vor dem Garten trocken war, stellte Karoline den Kinderwagen mit dem kleinen Michel zum ersten Mal ins Freie. Ihr war, als habe der Frühling auch sie und ihr Kind von einer Schneelast befreit. Immer wieder unterbrach sie ihre Geschäftigkeit vor dem Haus oder im Stall, um in den Kinderwagen zu schauen und leise mit ihrem schlafenden Kind zu sprechen. Die Tante verlegte das Kartoffelschälen und Strümpfestopfen aus der Küche neben den Kinderwagen. Sie war ebenso glücklich wie die Mutter. Auch der Bauer war versöhnt. Die Knechte und Mägde sahen ihn immer wieder mit seiner Frau am Kinderwagen stehen. Es war ein Bild vollkommener Harmonie. Und wenn der kleine Michel, entweder zum Gähnen oder aus einer ersten Gefühlsregung heraus, das Gesicht verzog, sah sein Vater darin ein erstes Lächeln, das allein ihm gelte. Er, der im Winter oft unbeherrscht und gegenüber dem Gesinde und seiner Frau ungerecht, aufbrausend und jähzornig gewesen war, zeigte plötzlich eine weiche Seite, die niemand an ihm kannte.

Mit dem Erwachen der Natur begann der neue Kreislauf des Bauernjahres. Früh um fünf musste das Gesinde aus den Betten, um gleich nach Sonnenaufgang auf die Felder zu kommen. Wilhelm schlang sich das Sätuch um die Schultern, um mit weit ausholenden, wie segnenden Armbewegungen Hafer, Gerste und eine Gemenge aus beiden Getreidearten auf die abgetrockneten Ackerfurchen zu streuen. Die Knechte spannten die Pferde und Ochsen vor die Eggen, um die Felder einzuebnen und den Samen in den Boden zu bringen. Karoline und die Mägde harkten auf den Wiesen das vom Mistfahren übrig gebliebene Stroh zusammen, säuberten die ringförmig um das Dorf angeordneten Baumwiesen von den im Wintersturm abgerissenen Ästen, sammelten auf den Äckern die Steine ein und hackten hinter der Scheune das von den Knechten angefahrene Reisig zu kleinen Bündeln.

Von nun an konnte Karoline nicht mehr ständig bei ihrem Kind sein. Nur zum Stillen kam sie kurz ins Haus. Wilhelm holte aus dem Nachbardorf ein Kindermädchen, eine Zwölfjährige, die am Mittag aus der Schule angehastet kam und oft fast verzweifelte, weil der kleine Michel halbe Nachmittage schrie und sich nicht beruhigen ließ. Ruhig wurde er erst auf dem Arm seiner Mutter. Nach zwei Wochen gab das Kindermädchen auf. Karoline musste sich wieder selbst um ihr Kind kümmern. Sie hastete zwischen Stall, Garten und Küche hin und her und Wilhelm ärgerte sich über seinen anspruchsvollen, und, wie er seiner Frau vorwarf, verwöhnten Sohn.

Nach den ersten warmen, sonnenbeschienenen Tagen kehrte der Winter noch einmal zurück. Tagelang peitschte kalter Regen das Land. In den Feldern stand das Wasser. Damit die Wintersaaten und der Frühjahrssamen nicht in der Nässe erstickten, mussten die Knechte mit Hacken und Schaufeln Gräben ziehen. Immer wieder löste Schnee den Regen ab, die Dächer und Felder wurden wieder weiß und der Boden gefror. Die alten Leute sagten kein gutes Jahr voraus.

Die Zeiten waren schon lange vorher schlechter geworden. Nach dem deutsch-französischen Krieg, an dem Wilhelm wie viele Bauernbuben, die den Umgang mit Pferden gewöhnt waren, bei der Kavallerie teilgenommen hatte, waren die Preise für Getreide und Vieh gefallen. Vorbei waren die goldenen Zeiten, von denen die alten Leute erzählten. Damals, etwa hundert Jahre zuvor, hatten sich die Bauern auf das Mästen von Ochsen verlegt. Das notwendige Futter gewannen sie auf den Brachfeldern, die nicht mehr beweidet, sondern mit Klee bestellt wurden. Die Rinder blieben im Stall. Sie wurden dort nach dem Rat eines auf den Fortschritt bedachten Pfarrers mit dem eingeholten Grünfutter gemästet und lieferten als Gegengabe den Mist, der als Dünger den Acker reich und die Wiesen fett machte. Jede Woche wurden damals bis zu 200 Ochsen nach Straßburg und bis nach Paris getrieben. Bauern und Viehhändler wurden reich. Das Wohlleben, an das sich die Bauern gewöhnt hatten, schlug ins Gegenteil um, als ab 1812 eine Missernte der andern folgte und sich die Landwirtschaft überall in Süddeutschland nur noch mit Mühe selbst ernähren konnte. Erst die bessere, Mitte der fünfziger Jahre folgende Zeit verschaffte den Bauern wieder Luft. Sie wurde genutzt, um die Erträge im Stall und auf dem Acker zu verbessern und die Arbeit zu erleichtern. Die Bauern kauften neue, ganz aus Eisen gebaute und mit Rädern versehene Pflüge, mit denen der Boden tiefer und schneller bearbeitet werden konnte. Sie ersetzten die hölzernen durch eiserne Eggen und sie düngten ihre Felder nicht mehr nur mit dem Mist der Tiere, sondern mit dem aus dem fernen Chile herangeschafften Salpeter und mit Gips. Auf den herrschaftlichen Gütern liefen die ersten Dreschmaschinen, die von pferdebespannten Göpeln und manchmal sogar schon von Dampfmaschinen angetrieben wurden.

Als der kleine Michel Dachser den zweiten Sommer gerade hinter sich hatte, wollte sein Vater zu den Fortschrittlichen gehören. Auch er kaufte eine Dreschmaschine. Der große Kasten mit dem runden Aufbau der Dreschtrommel und den seitlichen Latten, an denen die beweglichen Schüttler hingen, wurde mit dem Pferdegespann an der vor wenigen Jahren gebauten Bahnstation abgeholt. Für die Dörfler, die nur den Dreschflegel kannten, war das eine Attraktion. Sie schauten neugierig beim Verladen zu, gaben ihre Meinung über das neumodische Zeug zum Besten und fragten schon, was denn die Taglöhner tun sollten, wenn es beim Dachser nichts mehr zu dreschen gebe.

Daheim in der Scheune hatten Zimmerleute ein halbhohes Podest für die Dreschmaschine gebaut. Und außerhalb der Scheunentenne entstand ein niedriges, quadratisches Gebäude, das Göpelhaus. Der Göpel war ein großer Getriebekasten, aus dem eine kräftige Stange ragte. Dort wurde ein Pferd oder ein Ochse angespannt, der, vom kleinen Knecht im Kreis geführt, seine Kraft über das Getriebe und einen Treibriemen an die Dreschmaschine weitergab. Unter dem Dachtrauf wurde eine lange Welle, die Transmission, eingebaut. Auf ihr waren verschiedene Riemenscheiben befestigt, über die vom Göpel aus mehrere Maschinen angetrieben werden konnten. Der Göpel und die Transmission waren zur damaligen Zeit der Inbegriff der Technisierung und Wilhelm war stolz auf seine Errungenschaft.

Mit der Dreschmaschine kam ein neues Geräusch ins Dorf. Hatte man bisher zur Dreschzeit vor Weihnachten aus dem Martinshof das gleichmäßige Klopfen der Dreschflegel gehört, so brummte dort jetzt die Maschine. Nun konnte der Bauer allein mit seinem Gesinde dreschen. Die Ausgaben für die neue Technik hatte er durch die eingesparten Tagelöhner schon bald wieder hereingeholt. Darüber freute sich Wilhelm ebenso wie über seine Vorreiterrolle im Dorf. Nur Karoline war traurig, ohne es zu zeigen. Sie hatte die Tagelöhner gern gehabt. Die brachten Neuigkeiten mit, machten beim Essen ihre Späße und die Frauen scherzten mit dem kleinen Michel, der in der Küche herumtapste oder von seinem Ställchen aus dem Getriebe zusah.

Die Alten, die das Neue als Teufelszeug verfluchten, behielten schließlich doch noch recht, als der kleine Knecht Jakob beim Dreschen zu Tode kam. Er wollte eine auf die Transmission gefallene Korngarbe zurückholen und näherte sich dabei zu unvorsichtig der surrenden Welle. Sein loser Kittel wurde erfasst und aufgewickelt. Bevor der Göpel nach seinem gurgelnden Schrei zum Stillstand kam, hatte ihn die Maschinerie erwürgt. Aber auch dieser schlimme Unfall, über den viel geredet wurde, konnte die Technik nicht aufhalten.

Bei aller Freude, die Karoline an ihrem Kind hatte, blieb der Kleine auch ein Quell mancher Kümmernis. Er war kränklich, weinte nachts oft und blieb in Größe und Gewicht hinter gleichaltrigen Kindern zurück. Mit zwei Jahren war sein Gang immer noch unsicher. Er fiel oft hin und bekam aus kleinsten Anlässen schlimme Wutanfälle. Mit Wehmut wurde Karoline klar, dass ihr Erstgeborener wohl nie ihrem Wunschbild eines kräftigen, hochgewachsenen jungen Mannes entsprechen würde. Er ähnelte auch weder ihr noch ihren Verwandten, die alle groß, hager und braunhaarig waren. Michel hatte den runden Kopf der Dachsersippe und sein Haar war wie das des Vaters eher schwarz. Obwohl sie ihren Buben abgöttisch liebte, tröstete sich Karoline insgeheim mit dem Gedanken, dass ein weiteres Kind sicher mehr ihrem Bild entspräche, denn sie war wieder schwanger.

Dieses nächste Kind war eine Tochter. Anders als der Erstgeborene kam das auf den Namen Babette getaufte Mädchen leicht auf die Welt, entwickelte sich gut und machte der Mutter das Aufziehen leicht. Die kleine Babette ähnelte mehr der Mutter als dem Vater. Sie zeigte ein gutmütiges Wesen, weinte wenig und war leicht zu beruhigen.

Die erste Liebe von Karoline galt aber weiterhin ihrem Sohn, so als müsse sie ihm durchs ganze Leben helfen, während die Tochter alleine zurechtkam. Umgekehrt hatte der Vater keine rechte Freude an seinem Sohn. Nahm er ihn auf den Arm, wollte Michel wieder zur Mutter. Im Stall hatte er Angst vor den Tieren, und als Wilhelm ihn mit drei Jahren zum ersten Mal auf ein angeschirrtes Pferd setzen wollte, schrie der Kleine wie am Spieß und war lange nicht zu beruhigen. Am liebsten hielt sich Michel bei der Mutter und der alten Tante auf. Er blätterte gerne in den wenigen Bilderbüchern, die es auf dem Hof gab, während seine Schwester den Katzen hinterher tappte und bald mehr im Stall als in der Küche zu finden war.

Bauern und Mägde

Die Ehe von Wilhelm und Karoline Dachser verlief wie viele, nicht aus gegenseitiger Zuneigung und eigenem Willen geschlossene, sondern von außen arrangierte Partnerschaften. Karoline achtete ihren Mann als Herrn des Hofes, aber sie liebte ihn nicht.

Liebe, wie sie jungen Menschen dem anderen Geschlecht gegenüber empfinden, kannte sie nicht. Dazu war ihre Jugend viel zu sehr von Arbeit und Sorge, von Not und Verzicht bestimmt gewesen. Die wenigen Male, die sie mit gleichaltrigen jungen Männern zusammengekommen war, ließen aus Angst vor einem Verstoß gegen die strengen Sitten kein Aufkommen solcher Gefühle zu. Zwar hatte sie sich in stillen Stunden hin und wieder ausgemalt, wie schön es wäre, die Frau dieses oder jenes Jungbauern zu werden, aber an eine Verwirklichung hatte sie aus nüchterner Erkenntnis ihrer Herkunft und ihrer im Spiegel ersichtlichen äußeren Nachteile schon damals nicht zu denken gewagt.

Nun war sie dennoch Bäuerin auf einem großen Hof geworden. Aber der Mann, mit dem sie das Bett teilte, war weder ein strahlender Held noch ein vertrauter Partner, mit dem alle Kümmernisse und Probleme ebenso beredet und beseitigt werden konnten wie vorher mit der Mutter.

Umgekehrt kannte auch Wilhelm nichts, was als echte Liebe zwischen Frau und Mann bezeichnet werden konnte. Er kannte nur das Begehren, das nach seiner Einstellung ohne viel Aufhebens zu befriedigen war. Im tiefsten Innern wusste er um die guten Eigenschaften seiner Frau. Er wusste im Stillen, dass sie ihm an Herzlichkeit, unbefangenem Umgang mit anderen und an Selbstbeherrschung überlegen war. Eher fürchtete er sie, als dass er sie liebte. Deshalb stellte er stets seine Herrschaft über Haus und Hof heraus, traf die Entscheidungen allein, besprach sich vorher vielleicht mit seinen Knechten, aber nicht mit seiner Frau. Er ließ Karoline im Haus bestimmen, behandelte sie aber außerhalb nicht anders als seine Mägde. Es ergrimmte ihn, dass Karoline ihm im Bett zu Willen war, seine Begierde aber nie erwiderte. Ihr Gleichmut, mit dem sie alles über sich ergehen ließ, war für ihn Missachtung seiner Männlichkeit. Von seinen vorehelichen Abenteuern mit Mägden und Tagelöhnerinnen war er anderes gewohnt. In manchen Nächten, wenn ihn Karolines Gleichmut ohne Hingabe innerlich in Wut gebracht hatte, dachte er an diese Abenteuer.

Ohne gezielte Absicht suchte er deshalb wieder die Nähe anderer Frauen. Er half mehr als sonst bei der Stallarbeit, machte seine derben Späße. Emma, die erste Magd, eine untersetzte, kräftige Frau, hatte die Mitte zwanzig bereits überschritten und war schon auf mehreren Höfen gewesen. Sie kannte sich aus mit den Männern und ihren Absichten. Die nach manchen Zornesausbrüchen plötzlich in ungewohnte Freundlichkeit umschlagende Stimmung ihres Dienstherrn war ihr nicht geheuer. Im Winter, als beide die Garben aus dem hintersten Scheunenwinkel zur Dreschmaschine beförderten, schlang er plötzlich die Arme um sie, so als wolle er sie vor einem Sturz bewahren. Jetzt war ihr seine Absicht klar. Schon am nächsten Sonntag erkundigte sie sich nach der Kirche bei ihren Freundinnen auf den anderen Höfen nach einer freien Stelle. Den Grund ihres Weggangs verriet sie nicht. Emma war als gute Arbeiterin bekannt und hatte deshalb keine Mühe unterzukommen.

Von ihrem neuen Bauern in einem etwa 15 Kilometer entfernten Weiler nach dem Grund des Wechsels befragt, nannte sie den Wunsch nach neuen Gesichtern. Gleiches hatte sie zuvor Wilhelm erklärt, als sie ihren Dienst zu Lichtmess aufkündigte. Karoline war dabei und erschrak zutiefst, sie bezog die Kündigung auf sich. Als beide in der Küche allein waren und sie Emma voll Angst fragte, ob sie etwas falsch gemacht habe, legte ihr die Magd beruhigend die Hand auf den Arm und sagte: »Das hat nichts mit Euch zu tun, Bäuerin, ich war gerne hier und es fällt mir auch schwer wegzugehen, aber es muss halt sein.« Sie sah Karoline ins Gesicht. Beide Frauen hatten Tränen in den Augen.

Der Martinsbauer brauchte eine neue Magd. Er wandte sich wieder an den Schmuser. Der vermittelte ihm ein Mädchen aus einer ärmlichen Gegend nahe der bayerischen Grenze, aus der viele Dienstboten kamen. Am Lichtmesstag, dem zweiten Februar, an dem in allen Städten und Städtchen ein großer Dienstbotenmarkt stattfand, machte er den Handel perfekt.

Hilde, so hieß die Neue, war ein dunkelhaariges, dralles Mädchen von 21 Jahren mit einem flinken Mundwerk und, wie der Schmuser versicherte, ebenso flinken Händen. Ihre Art und die Empfehlungen gefielen dem Bauern. Auch das Dienstbüchlein, das Hilde vorwies, sagte nichts Nachteiliges. Die Anstellung als große Magd, ein Lohn von 120 Mark im Jahr, Stoff für ein Kleid und zwei Schürzen, jeweils ein Paar Schuhe für Sonn- und Werktag, das war für sie ein Aufstieg. Bisher war sie zweite Magd gewesen und hatte einen schlechteren Lohn bekommen.

Hilde war anders als Emma. Sie war in ihrer Arbeitsweise lärmend, gegenüber den anderen auf dem Hof vorlaut und gegenüber der Tante frech. Als sie mit der kleinen Magd und dem kleinen Knecht hinter der Scheune das Reisig bündelte und die ausgehackten Äste zerkleinerte, hörte man ihre Stimme und ihr Lachen bis zum Haus. Bei allem Reden und Lachen ging ihr die Arbeit schnell von der Hand. Im Dorf, wo sie beim Abstellen der Milchkannen am Sammelplatz mit anderen zusammenkam, war sie schnell mit allen jungen Leuten bekannt.

Schon am dritten Sonntag, beim Frühlingsfest des Kriegervereins, war Hilde auf dem Tanzboden und bald von den Burschen umlagert. Sie wurde nach ihrem Herkommen und ihren bisherigen Dienstplätzen gefragt und erzählte bereitwillig, was dort gut und was schlecht war. Einige Bauernsöhne, die dabei standen, merkten auf, als Hilde damit groß tat, wie viele Verehrer sie schon gehabt habe und dass nicht nur Dienstboten dazu gehört hätten.

Auf dem Martinshof ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Ganz anders sah es auf Karolines elterlichem Hof aus. Dort standen die Dinge nicht gut. Der bei ihrem Weggang vierzehnjährige Bruder war kein Ersatz. Als Karoline mit ihrem Mann und den zwei Kindern zu Besuch kam, erschrak sie zutiefst. Der Verfall war augenfällig und wurde von Wilhelm übel kommentiert. Im Stall war das zu Karolines Zeiten glänzende Fell der Kühe struppig geworden und auf manchem Feld wuchs Unkraut über Getreide, Rüben und Kartoffeln.

Nach dem Nachmittagskaffee, als sie in der Küche endlich allein waren, fragte sie die Mutter vorsichtig nach den Gründen. Ganz gegen ihre willensstarke Art brach die alte Frau in Tränen aus und klagte über den Sohn. Anstatt sich wie Karoline mit aller Kraft und Hingabe um Vieh und Felder zu kümmern, träumte er in den Tag hinein, spielte sich dem Knecht gegenüber als Dienstherr auf und wollte am Sonntag mit den reichen Jungbauern anderer Höfe mithalten.

Als der Bruder heimkam, machte ihm die Schwester heftige Vorwürfe. Der aber zeigte sich uneinsichtig. Er könne auch nicht mehr als arbeiten. Andere hätten mehrere Knechte und Mägde. Karoline habe leicht reden.

Auf der Heimfahrt versuchte Karoline über Abhilfe zu sprechen. Vielleicht könne der zweite Knecht vom Martinshof bei der Ernte und der Herbstsaat aushelfen. Dem Bruder täte das Vorbild eines Älteren von einem größeren Hof bestimmt gut, meinte sie zu ihrem Mann gewandt. Der aber schaute nur geradeaus und trieb das Pferd mit dem klatschenden Zügel an. »Dein Bruder ist ein fauler Kerl«, sagte er endlich. »Wenn noch ein Knecht kommt, tut der noch weniger.«

Karoline schwieg. Mit diesem Schweigen, das er längst kannte, kam der Bauer auch diesmal nicht zurecht. Mit unterdrücktem Grimm lenkte er ein. Für zwei Wochen könne man ja einmal aushelfen. Dankbar legte Karoline ihre Hand auf den Arm des Gatten. Auf ihrem Schoß plapperte die kleine Babette unentwegt über Muh, Mäh und Hü Hott, während der vierjährige Michel, zwischen Vater und Mutter sitzend, an Karoline gelehnt eingeschlafen war.

Mitte Februar des folgenden Winters brachte der Schmuser eine schlechte Nachricht. Karolines Mutter war krank. Nachdem sie sich seit Weihnachten mit einem schlimmen Husten durch die Tage gequält und beim Dreschen geholfen hatte, brach sie eines Morgens in der Küche zusammen und musste mit fiebrigem Gesicht und Schüttelfrost ins Bett. Am nächsten Tag konnte sie nicht aufstehen. Am dritten Tag, als die Brustwickel und der mit Schnaps versetzte Tee nichts geholfen hatten und die dreizehnjährigen Tochter vor Überarbeitung und Sorge um die Mutter hemmungslos zu weinen anfing, wachte Matthias aus seiner Lethargie auf und holte den Doktor. Der stellte eine schwere Lungenentzündung fest, verschrieb teure Medikamente und verordnete absolute Bettruhe.

Karoline wusste nach der schlimmen Nachricht sofort, was zu tun war. In hastiger Eile, ohne ihren Mann, der mit den Knechten im Wald war, lange zu fragen, packte sie die nötigsten Dinge zusammen, um mit ihren Kindern das Wägelchen des Viehhändlers zu besteigen und zur Mutter zu fahren.

Als der Bauer am Abend heimkam, traf er das Hauswesen wieder so an wie vor seiner Hochzeit. Die Tante kochte und die Mägde versorgten Haus und Stall. Er murrte zwar über die Eigenmächtigkeit seiner Frau, fühlte sich aber in seiner plötzlichen Junggesellenrolle nicht unwohl.

Karoline wurde von der fieberkranken Mutter zunächst gar nicht erkannt. Erst als das Fieber nach zwei weiteren Tagen etwas zurückging, wusste die Kranke, dass ihre Älteste da war. Ein dankbares Lächeln der Erleichterung huschte über ihr Gesicht. Beruhigt legte sie sich ins Kissen zurück und schlief die ganze Nacht und den folgenden Tag. Langsam besserte sich ihr Zustand. Karoline kochte kräftige Suppen, besorgte der Kranken vom eigenen, aus dem Eierverkauf angesparten Geld frisches Kalbfleisch und bezahlte die verordnete Medizin. Im Stall sorgte sie zusammen mit der kleinen Schwester für etwas Ordnung. Solange die Mutter noch nicht völlig wiederhergestellt war, wollte Karoline bei ihr bleiben. Über den Viehhändler ließ sie das bei ihrem Mann ausrichten und wartete voll Bangen auf eine Antwort. Sie kam schon nach zwei Tagen und brachte Erleichterung. Sie könne ruhig für ihre Mutter sorgen, ließ Wilhelm ausrichten. Sie kämen auf dem Hof schon ein, zwei Wochen allein zurecht.

Das plötzliche Junggesellendasein gefiel dem Bauern. Er fühlte sich wieder als Alleinherrscher auf dem Hof, scherzte mit Hilde und ließ, wenn im Stall nicht alles in voller Ordnung war, seinen schnell aufflammenden Zorn an der kleinen Magd Martha aus. Hilde ging auf die groben Scherze und unzweideutigen Annäherungsversuche ihres Dienstherrn anders ein als ihre Vorgängerin. Sie ließ es bewusst darauf ankommen, dass er ihr, wenn er nach dem Melken beim Aufladen der schweren Milchkannen auf den Handkarren half, wie unabsichtlich mit der Hand über die Brust strich. »Aber Bauer«, sagte sie nur, als die Geste einmal zu eindeutig wurde. Das aber mit einem Lachen, welches mehr Einladung als Empörung war.

Wilhelm ging darauf ein. Zwei Tage später gab er gegenüber den Knechten, die zum Holzmachen in den Wald aufbrachen, an, er werde mit einem der Pferde, dessen Hufeisen locker sei, zum Schmied ins Kirchdorf fahren. Nachdem die Knechte vom Hof waren, stieg er auf den Scheunenboden, wo Hilde das Futter für die Rinder aus einem Gemisch von Heu und Stroh herrichtete. Als die Magd verwundert aufsah, sagte er nur: »Ich will dir ein wenig helfen«. Mehr brachte er in seiner Erregung nicht mehr heraus. Er umfasste das Mädchen und drückte es an die Bretterwand des Heulagers. »Komm«, stieß er hervor und fasste mit einer Hand nach ihrer Brust »jetzt gehörst du mir.«

»Aber Bauer«, sagte Hilde in gespielter Empörung, »wenn uns jemand sieht.«

»Niemand ist da«, erwiderte er und zog schon mit der anderen Hand ihren Rock über das Knie.

Hilde atmete heftig und ließ es geschehen.

Wenig später zog der Bauer das leicht lahmende Pferd aus dem Stall. Nur an seinen hastigen Bewegungen beim Einspannen und seinem erhitzten Gesicht war das Erlebte zu deuten.

Als Hilde mit dem Futter Richten fertig war, ging sie in die Küche, wo die kleine Magd der Tante beim Kartoffelschälen half, und fragte, als sei nichts gewesen, ob sie helfen müsse oder am Reisighaufen hinter der Scheune arbeiten könne.

»Geh nur«, sagte die Tante, »wir werden hier allein fertig.« Sie konnte die vorlaute Magd nicht leiden.

Wilhelm hatte nur noch eine heißblütige Begegnung mit seiner Magd. Seine Begierde wurde durch die Angst gezügelt, die Knechte oder gar die Tante könnten dahinterkommen. Wenn er nachts allein im Ehebett seiner Schlafkammer lag, war er einige Male versucht, sich über die Stiege zur Mägdekammer zu schleichen. Dann aber war die Furcht vor dem Entdecktwerden wieder stärker. Hätte er sich getraut, dann wäre es womöglich zu einer Begegnung zwischen Herr und Knecht gekommen.

Der Bauer wusste nicht, dass Hans, der zweite Knecht, schon geraume Zeit und manche Nacht das Bett mit Hilde teilte. Hans wiederum erfuhr zunächst nichts von dem Abenteuer seines Dienstherrn auf dem Heuboden.

Schließlich kehrte auch Karoline zurück. Nach zwei Wochen, inzwischen zeigten sich die ersten Frühlingsboten, war ihre Mutter wieder so gesund, dass sie ohne ihre Älteste zurechtkam. Mit dem Viehhändler fuhr die junge Bäuerin zurück in ihre angeheiratete neue Heimat. Voll dankbarer Freude genoss sie den hellen Märztag und freute sich am neuen Grün der Weizenfelder und am frischen Wind, der Wolkenschatten über die Felder jagte. Dem kleinen, wissbegierigen Michel erklärte sie, zu welchem Dorf oder Weiler die aus den noch kahlen Obstgärten auftauchenden Dächer gehörten. Auf dem Martinshof angekommen wurde Karoline von ihrem Mann recht einsilbig, von der Tante und der kleinen Magd mit ehrlicher Freude, von der großen Magd aber mit hochmütigem Gesicht empfangen.

Die Tage verliefen schnell wieder im alten Gleichklang des Bauernlebens. Mit dem Erwachen der Natur nahm die Arbeit auf dem Hof zu. Schon um fünf Uhr am Morgen flackerte im Haus das Laternenlicht, mit dem Paul, der große Knecht, in den Rossstall ging, um die Pferde zu füttern, zu tränken und mit Striegel und Bürste zu putzen. In dem von einer anderen Laterne nur dürftig erhellten Kuhstall warf Hans den Kühen das Futter vor, scharrte den Mist zurück, lud ihn auf den hölzernen Karren und entleerte den mit Schwung auf der zur Hofseite liegenden und mit hölzernen Stangen eingefassten Miststatt. Hilde klapperte mit der Milchkanne, dem dazu gehörenden großen Trichter und dem Melkeimer über den Hof, um mit dem Melken zu beginnen. Martha ließ die kleineren Kälber an die Mutterkühe und tränkte die größeren, der Milch entwöhnten mit einem Sud aus Kleie und Leinsamen. Dann holte sie in der Futterküche das von der Bäuerin aus warmem Wasser, gekochten Kartoffeln und gequetschtem  Getreide zubereitete Schweinefutter, auf das die drei Muttersauen und die fünf Mastschweine mit heiserem Geschrei warteten. Der Bauer selbst kümmerte sich um seine Lieblinge, die Mastochsen. Ihnen warf er Heu mit etwas Stroh in den Trog und gab später schaufelweise gequetschtes Getreide dazu. Das Gedeihen der Ochsen lag ihm besonders am Herzen. Er hatte die Tiere als Anstellvieh gekauft und machte mit dem Ausmästen ein gutes Geschäft.

Wie andere Bauern setzte Wilhelm Dachser in dieser Zeit immer mehr auf die Viehzucht. Als guter Rechner hatte er die Zeichen der Zeit erkannt. Die Arbeiter, die beim Bau der Eisenbahnen und der Arbeit in den neuen Fabriken gut verdienten, wollten öfter als ein Mal in der Woche Fleisch auf dem Teller und Butter auf dem Brot. Während deshalb für Schlachtvieh und Milch die Preise stiegen, gingen sie bei Getreide immer weiter zurück. Ihren Tiefpunkt erreichten sie 1894, als die Regierung in Berlin für russisches Getreide die Grenzen öffnete. In den Wirtschaften und auf den Märkten schimpften die Bauern und die Handwerker auf die Lumpen in Berlin, während sich unter den Arbeitern und den Bauernknechten sozialistische Tendenzen breit machten. So wie die Bauern immer häufiger darüber klagten, wie schwer gutes Gesinde zu bekommen sei, stieg bei Knechten und Mägden das Selbstbewusstsein. Sie forderten mehr Lohn und manche Bäuerin wurde vom großen Knecht tyrannisiert, dem bald kein Essen mehr gut genug war.

Auf dem Martinshof ließ sich Hans von dem aufrührerischen Gerede in den Wirtshäusern anstecken. Er stimmte in die Schimpfereien über die geizigen Bauern ein, lachte laut über die Witze, die über sie im Umlauf waren, und ließ auch an seinem eigenen Dienstherrn kein gutes Haar. Auf dem Hof duckte er sich nicht mehr, wenn Wilhelm seine Wutanfälle bekam.

Als Bauer und Knecht Gerste und Hafer für die Frühjahrssaat in Säcke füllten und auf den Wagen luden, fiel Hans ein Zweizentnersack auf das Seitenbrett des Wagens. Ein vorstehender Nagel riss einen Schlitz in die Jute, sodass sich der Inhalt auf den schlammigen Boden des Hofes ergoss.

»Du bist doch ein Allmachtsrindvieh«, schrie der Bauer, »zu dumm zum Sacktragen. Mit so einem Hammel kann man doch nichts anfangen.«

Hans richtete sich auf. »So könnt Ihr mit Euren Ochsen reden, aber nicht mit mir«, gab er zurück.

Als der Bauer weitertobte, ging er ins Haus, holte die Sonntagsjacke aus seiner Stube und verließ den Hof. Spät in der Nacht kam er zurück, stand aber am Morgen, als der große Knecht ihn weckte, nicht auf. »Der kann mich«, murrte er, »soll doch seinen Dreck allein schaffen.«

Wilhelm hätte seinen zweiten Knecht am liebsten vom Hof gejagt. Aber wo sollte er jetzt, da die Hauptarbeit bevorstand, einen Ersatz hernehmen? Dem Knecht entgegenkommen, dafür war er zu stolz. Jetzt brauchte er die Hilfe seiner Frau, die sich mit dem Gesinde wesentlich besser verstand. Karoline, der jede Unstimmigkeit sehr zuwider war, stieg in die Knechtskammer hinauf. »Du weißt doch, wie der Bauer ist« sagte sie zu Hans. »Er meint es doch gar nicht so, wie er es sagt. Komm, es ist alles wieder gut.«

Hans ließ sich umstimmen. Der Bäuerin, von der er nie ein böses Wort weder gegen Mensch noch Tier gehört hatte, wollte er nicht widersprechen. Als er in den Stall kam, ging ihm der Bauer aus dem Weg. Und so verhielt es sich noch viele Tage. Was zu sagen war, ließ Wilhelm den großen Knecht oder seine Frau ausrichten.

Nicht so einfach wie mit Hans hatte es Karoline mit Hilde. Die wurde nicht nur immer frecher gegenüber der Tante, sondern auch ihr gegenüber aufsässig. Ging es beim Essen, wenn über die anstehenden Arbeiten gesprochen wurde, darum, was im Haus und um den Hof herum zu tun sei, dann wandte sich Hilde nicht an Karoline, die hier eigentlich das Sagen hatte, sondern an den Bauern. Und wenn die Bäuerin ihrer Magd eine Arbeit auftrug, dann sagte Hilde, der Bauer habe ihr schon eine andere gegeben. Karoline wusste nicht mehr, woran sie war. Sie war es nicht gewohnt, gegenüber anderen herrisch aufzutreten und konnte sich diese Aufsässigkeit nicht erklären.

Paul mochten dagegen alle. Anders als die jüngeren Dienstboten war der große Knecht ein ruhiger Mann, der die dreißig bereits überschritten hatte. Er war zu sehr mit dem Hof verwachsen, um sich von dem neuen Geist und von den »Fabriklern« samt ihrem Großtun beirren zu lassen. Wilhelm wusste, dass Paul um das Gedeihen des Hofes so besorgt war, als sei es sein eigener. Diese Fürsorge wurde mit einem anständigen Lohn vergolten, und wenn ihm ein guter Viehverkauf gelungen war, steckte der Bauer seinem großen Knecht entgegen seinem sonstigen Geiz heimlich ein paar Geldscheine zu.

Wenige Wochen später brachte das kurze Abenteuer mit seiner Magd den Bauern Wilhelm Dachser doch noch in große Schwierigkeiten. Hilde war schwanger. Als ihr Dienstherr nach dem Morgenessen noch mal in den Stall ging, um nach seinen Ochsen zu sehen, kam die Magd, die eigentlich im Schweinestall zu tun hatte, hinterher. »Bauer«, sagte sie mit großen Augen, »ich muss mit dir reden.«

Wilhelm erschrak. »Was ist denn«? fragte er und starrte dem Mädchen ins Gesicht.

Hilde kam dicht heran. »Ich krieg ein Kind«, flüsterte sie, »es ist von dir.«

Der Bauer wurde bleich. »Das kann doch gar nicht sein«, sagte er tonlos.

»Doch«, erwiderte die Magd, »seit dem letzten Mal mit dir hab ich meine Tage nimmer.«

Wilhelm ging schnell zur Stalltür und schaute in den Hof, wo zum Glück niemand war. Schnell schloss er die Tür und drehte sich zu Hilde um. »Und«, stieß er fast drohend hervor, »warst du nicht auch mit andern beinander? So leicht lass ich mir von dir kein Kind anhängen.«

»Nein, Bauer«, sagte Hilde und brach in Tränen aus, »ganz bestimmt nicht. Was soll ich denn machen?«

»Mach, was du willst«, gab der Bauer grob zurück. »Ich mach dir den Vater nicht.«

Hilde, die ihre Schürze vors Gesicht gezogen hatte, richtete sich auf. »So«, sagte sie mit Zorn in den Augen, »dann muss ich halt zur Bäuerin, die hilft mir bestimmt.« Sie drehte sich um und wollte zur Stalltür.

Wilhelm riss sie am Arm zurück. »Hör zu«, presste er hervor, »kein Mensch hat mich mit dir gesehen und kein Mensch wird dir glauben. Ich jag dich vom Hof, wenn du keine Ruhe gibst«. Er ließ die Magd los, drehte sich um und ging zur rückwärtigen Stalltür hinaus in den Obstgarten. Dort setzte er sich wie erschlagen auf einen Holzstoß und nahm den Kopf zwischen die Hände.

Auch Hilde war ganz benommen, als sie in den Schweinestall zurückging. So hatte sie sich die Aussprache nicht vorgestellt. Im Stillen wusste sie schon, dass als Vater ihres Kindes viel eher der Knecht Hans infrage kam, aber vom Bauern hatte sie ein Angebot für ihr Stillschweigen erwartet.

Zunächst machte sie ihre Drohung, mit Karoline zu reden, nicht wahr. Vielmehr offenbarte sie sich einige Tage später in der Nacht ihrem Schatz, dem Hans, und sprach vom Heiraten. Der erschrak nicht wenig. So schnell wollte er sich eigentlich nicht binden. »Wie sollen wir heiraten«? protestierte er, »wir haben doch nichts«.