3,99 €
Die atemberaubende Geschichte einer grenzenlosen Liebe Indien 1848: Die 22-jährige Amerikanerin Olivia trifft auf Einladung ihrer Tante in Kalkutta ein. Lady Bridget sucht für ihre Nichte einen Ehemann, doch Olivia sträubt sich verbissen gegen die Heirat mit einem dieser langweiligen englischen Kolonialherren. Sie sehnt sich schmerzlich nach der Freiheit ihrer Heimat. Da begegnet sie Jai Raventhorne, dem illegitimen Sohn eines Engländers und einer Inderin aus ärmlichen Verhältnissen. Jai ist ein Ausgestoßener in der von Vorurteilen bestimmten Welt der britischen Kolonie – und er erobert Olivia im Sturm. Doch Jai kann es nicht zulassen, dass Olivia ihm so nahe kommt, und verlässt sie …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1263
Veröffentlichungsjahr: 2010
Rebecca Ryman
Wer Liebe verspricht
Roman
Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius
Fischer e-books
Die Stadt dampfte.
Regenschwere Monsunwolken hingen drohend und grollend am bleigrauen Himmel. Die Nachmittagsluft lag wie eine nasse Decke über der Erde. Sie hielt die drückende Feuchtigkeit gefangen und lähmte selbst die Standhaftesten, denn sie nahm ihren Körpern jede Energie, ihrem Geist alle Willenskraft. Der Hooghly, der Fluß, der die Stadt teilte, kroch wie auf bleiernen Füßen dahin. Er wartete auf die Windböen, die ihn vorwärtstreiben und aus seiner Lethargie reißen würden. Kein Blatt, kein Staubwölkchen regte sich. Aber die Stille barg ein Versprechen: Wenn das Gewitter losbrach, würde es die ersehnte Kühlung bringen, und die Erde konnte wieder frei atmen.
Noch aber dampfte Kalkutta.
Lady Bridget Templewood stand im Küchenhaus und teilte die Zutaten für das Abendessen aus. Die Hitze schien sie nicht zu berühren. Sie hielt sich wie immer kerzengerade. Die Hand mit der langen Holzkelle schöpfte Erdnußöl aus dem Krug und bewegte sich dabei mit der Präzision eines Gerätes, das eigens für diesen Zweck entwickelt worden ist. Beim Zählen formten ihre Lippen stumme Beschwörungen, und das gab ihr den Anschein einer Vestalin, die ein geheimes Ritual durchführte, von dem das Schicksal des britischen Reichs abhing. Hätte man Lady Bridget das gesagt, wäre sie geschmeichelt gewesen. Selbst in diesem fernen Vorposten des prosperierenden Empire Ihrer Königlichen Majestät glaubte Lady Bridget voll Inbrunst an die Pflichten, die eine englische Dame von Adel gegenüber Königin und Heimat zu erfüllen hatte – und zu diesen Pflichten gehörte auch das Küchenhaus.
Reis, Linsen und grüne Bohnen waren bereits alle sorgsam abgewogen und ausgeteilt. Die Kartoffeln – zwei für jeden und für Estelle keine – wurden gerade vom Küchenjungen geschält. Zwei gerupfte und ausgenommene Hühner lagen neben dem Kohlenherd und warteten darauf, in mundgerechte Stücke zerlegt zu werden. Auf der weißen Marmortischplatte standen Curkumapaste und in Essig eingelegte zerstoßene Chilischoten, außerdem Koriander und Cumin. Die Gewürze sollten für das Vindaloo-Curry den bereits schmorenden Zwiebeln in den Topf folgen. Sir Joshuas Gaumen war durch die orientalischen Eßgewohnheiten mit der Zeit unempfindlich geworden, und deshalb verlangte er scharfe Gewürze, obwohl Lady Bridget mit Freuden darauf verzichtet hätte.
Babulal beobachtete schweigend und unbewegt, wie seine Lady Mem gewissenhaft das tägliche Ritual durchführte, aber innerlich kochte er. Er wartete nun schon zwei Tage geduldig auf eine Gelegenheit, die eigenen Familienvorräte aufzufüllen. Es gelang ihm nicht, und das empfand er als Schmach. Seine Frau lag ihm ständig in den Ohren, und überhaupt, fragte er sich empört: ›Ist es nicht eine Schande, wenn die Köche in den Häusern reicher Firanghis, bei denen die Vorratskammern überquellen, sich soweit erniedrigen müssen, Nahrungsmittel für den eigenen Bedarf auf dem Markt zu kaufen?‹ Babulal fragte sich nicht zum ersten Mal, ob das Wenige, das er täglich bei den Besorgungen im Basar beiseite brachte, den Einsatz lohnte. Seine Bitterkeit wuchs, wenn er daran dachte, wie gut andere Köche in weniger knausrigen Häusern für sich sorgten.
»Memsahib, Memsahib!«
Das laute Rufen der Aja riß Lady Bridget aus der tiefen Konzentration. Ihre Hand zuckte, und Öl lief auf die sauber geschrubbten Steinplatten des Fußbodens. »Was um alles in der Welt …?«
»Memsahib, schneell, schneelll!« Die Aja kam schreiend in die Küche gerannt. Sie verdrehte die Augen, und man sah beängstigend viel Weiß in dem schokoladenbraunen Gesicht. »Die amrikaaanische Miss ist vom Gaul in den Nulla gefallen …!« Sie redete hysterisch in Hindustani weiter und brach in Tränen aus.
Lady Bridget stand stocksteif vor dem Ölkrug. Ihre kornblumenblauen Augen wurden starr vor Schreck. Die Beschwörungen waren vergessen, und ihr Mund öffnete sich vor Entsetzen. Mein Gott, wenn das leichtsinnige Mädchen sich verletzt hatte. Wie sollte sie Sean jemals wieder unter die Augen treten? Nach einer Begegnung mit ihrem Schwager Sean hatte Lady Bridget zwar kein besonderes Verlangen, aber darum ging es im Augenblick nicht. Ohne an die öligen Finger zu denken, ließ sie die Kelle fallen, raffte ihr gestärktes weißes Musselinkleid und eilte, gefolgt von den Dienstboten, aus der Küche. Alle möglichen Befürchtungen schossen ihr durch den Kopf: Wenn Olivia sich den Hals gebrochen …, das Rückgrat verletzt hatte oder sogar das Gesicht verunstaltet war …? Zitternd vor Angst eilte Lady Bridget um den zweistöckigen Bungalow zum Vorgarten, ohne darauf zu achten, daß der Saum ihres Kleides durch Pfützen und feuchte Erde schleppte. Sie rechnete mit dem Schlimmsten, hastete um die letzte Ecke und blieb wie angewurzelt stehen.
Olivia hatte sich keineswegs das Rückgrat gebrochen. Sie war gerade dabei, aus dem Graben hinter der Casuarinahecke zu klettern, die den Rasen von der Auffahrt trennte. In diesem Graben sammelte sich das Regenwasser, das zu einer dicken, braunen Soße geworden war, die an Olivia klebte. Auf der anderen Seite der Hecke stand Jasmine, die weiße Stute. Der Sattel hing schief, und die Zügel waren wie Luftschlangen um ihren Hals geschlungen. Sie wieherte leise und entschuldigend. Olivias neuer Reithut (aus London und erst in der letzten Woche für eineinhalb Rupien bei Whiteaway Laidlaw gekauft) trieb im schlammigen Wasser langsam davon; es lohnte sich nicht, ihn zu retten. Aber noch schlimmer war, daß der Sohn des Stallburschen, dieser freche Kerl, Olivias Hand hielt und versuchte, ihr beim Herausklettern zu helfen. Die beiden schienen die Sache auch noch lustig zu finden!
Lady Bridgets Erleichterung verwandelte sich sehr schnell in Ärger, und ihre Lippen wurden schmal. Trotzdem blieb sie stumm stehen. Es war unvorstellbar, einen Familienangehörigen vor den Dienstboten auszuschimpfen, ganz gleich, wie groß das Vergehen und wie schwerwiegend der Grund auch sein mochte. Sie verscheuchte den unverschämten Bengel, indem sie in die Hände klatschte, und näherte sich grimmig dem Ort des Mißgeschicks. »Bist du verletzt, Olivia?«
Olivia kletterte über den Rand des Grabens und blieb auf dem aufgeweichten Rasen sitzen. »Ich nicht, nur mein Stolz, Tante Bridget.« Sie lächelte kläglich unter dem Schlamm, der auf ihrem Gesicht zu trocknen begann. »Mist! Ich war so verdammt sicher, daß ich es noch mal schaffen würde!«
Lady Bridget wurde bei diesen Kraftausdrücken bleich, beschloß jedoch, Olivias ungehöriges Fluchen zu überhören. Gerechterweise mußte man sagen, die fürchterliche Redeweise des Mädchens hatte sich beträchtlich gebessert. Und in acht Wochen konnte man kaum Wunder erwarten, wie es bei einem anständig erzogenen englischen Mädchen vielleicht möglich gewesen wäre. »Kannst du laufen?«
»Ich glaube schon. Vermutlich sind nur die Knie aufgeschürft. Ich habe schon Schlimmeres erlebt, das kannst du mir glauben.« Olivia stand unsicher auf und hob den nassen Rock hoch, um die Stelle zu begutachten, wo sie sich möglicherweise verletzt hatte. »Bucktooth sagt immer, es kommt nur darauf an, richtig zu fallen. Ich nehme an, als Rodeoreiter sollte er es wissen.« Sie lachte, warf ihrer Tante ein bezauberndes Lächeln zu und begann, den Rock auszuwringen.
Lady Bridget fand den Ausspruch dieses ›Bucktooth‹ weder amüsant noch beeindruckend. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie erkundigte sich bewußt nicht danach, was Bucktooth außer Rodeoreiter – was immer das sein mochte – noch war. Der erschreckende Anblick von Olivias nackten Beinen nahm ihre Aufmerksamkeit voll und ganz gefangen. Sie vermied es bewußt, auf die Beine zu blicken, doch sie sah, daß ihre Dienstboten diese Zurückhaltung keineswegs teilten. Sie hatten noch nie die Beine einer weißen Mem gesehen – waren nicht einmal sicher, ob sie welche hatte – und betrachteten Olivias deshalb mit unverhüllter Neugier. Den Sohn des Stallburschen überraschte die plötzliche Enthüllung so sehr, daß er beinahe rückwärts in den Graben gefallen wäre.
Lady Bridget handelte schnell. »Olivia, geh sofort nach oben und laß dir von Estelles Aja ein heißes Bad bereiten. Ich komme nach, sobald …« Sie drehte sich um und sah zu ihrem Schrecken, daß Babulal sich nicht mehr unter den Zuschauern befand, »… sobald ich mit den Vorräten fertig bin.« Dann stellte sie sich mit finsterer Miene zwischen Olivia, die unbedeckten Knie und die neugierige Gruppe.
»Mama, was ist denn geschehen …?« Estelle lief mit ihrem jungen King-Charles-Spaniel, der aufgeregt bellte, erschrocken die Stufen des Säulenportals herunter. Bei Olivias Anblick verstummte sie, starrte ihre Cousine ungläubig an und lachte dann laut. »Olivia, ich habe es dir ja gesagt. Ich habe dir gesagt, das erste Mal war es reines Glück. Ich habe dir gesagt, Jasmine würde die Hecke kein zweites Mal nehmen! Das sollte dir eine Lehre sein. Du bist aber auch leichtsinnig! Ach du meine Güte – du siehst vielleicht aus!« Sie bog sich vor Lachen.
»Es reicht, Estelle!« fuhr ihre Mutter sie an. »Ich kann an diesem bedauerlichen Schauspiel nichts Lustiges finden. Hilf deiner Cousine die Treppe hinauf und kümmere dich um ihr Bad, ja? Nimm die Jodtinktur, Verbandszeug und Watte aus dem Schrank und laß aus der Teeküche kochendes Wasser bringen. Ich bin in ein paar Minuten oben.« Sie klatschte in die Hände und erteilte den Dienstboten energisch Befehle. »Los, los, alle zurück an die Arbeit, juldee, juldee, marsch, marsch. Rehman, laß vom Wasserträger vier Eimer aus dem Hammam hinaufbringen. Du dort, halt keine Maulaffen feil und bring Jasmine zurück in den Stall. Wenn sie sich am Vorderbein verletzt hat, bekommst du es mit dem Sahib zu tun, das weißt du genau. Aja, bring die Kleider der Missy Mem auf der Stelle zum Dhobi. Sie müssen gekocht und gewaschen werden …«
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, eilte Lady Bridget in die Küche zurück. Babulal, das alte Schlitzohr, hatte sich für seine schrecklich große Sippe bestimmt schon den Turban mit allem vollgestopft, was ihm in die Hände gefallen war. Und Josh würde toben, wenn der Portwein wieder weniger geworden war. Es war die vorletzte Flasche, und mit der vor einem Jahr für Estelles Ball aufgegebenen Bestellung konnte man erst in zwei Wochen rechnen. Olivia hatte sich Gott sei Dank nur leicht verletzt. Alles andere konnte noch ein paar Minuten warten, entschied sie grimmig und eilte ins Küchenhaus.
Und das war wieder einmal ein Beweis dafür, hätte Sir Joshua vermutlich bemerkt, daß Lady Bridget an ihren Prioritäten im Leben kaum einen Zweifel ließ.
»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß es nicht ratsam ist, bei der Hitze tagsüber auszureiten, und erst recht nicht ohne Begleitung.«
Olivia lag sauber gewaschen und anständig gekleidet auf einer Chaiselongue im oberen Salon. Die Haut glänzte nach dem Bad rosig. Sie trug ein weiches, diesmal olivgrün und aprikosenfarbiges Kattunkleid, das die anstößigen Knie bedeckte, die gesäubert, behandelt und verbunden worden waren. Ihre schweren, kastanienroten Haare fielen wie eine Mähne auf das unter ihrem Kopf zusammengelegte Handtuch. Auch durch ihr Haar erinnerte sie an ein wildes Füllen. Die schmutzigen Reitkleider waren zum Dhobi-Haus in den Dienstbotenquartieren gebracht worden. Einer der Gärtner hatte sich hocherfreut den Hut aus dem Wasser geholt, und der Stallbursche meldete, Jasmines Vorderbein sei unverletzt. Aber damit war die Angelegenheit keinesfalls erledigt, denn Lady Bridget hatte noch lange nicht alles gesagt, was sie sagen wollte.
Olivia seufzte. »Ich versichere dir, die Hitze macht mir nichts aus, Tante Bridget. Und ich kenne die Stadt inzwischen so gut, daß ich keinen Begleiter brauche.«
»Du bist die Hitze in den Tropen nicht gewöhnt, Olivia. Die Hitze hier kann einer Frau den zarten weißen Teint ruinieren und zu schrecklichen Hautleiden führen.« Schon während dieser Worte wurde Lady Bridget unsicher. Olivias gesunder, rosiger Teint hatte für europäische Verhältnisse vielleicht nicht ganz den richtigen Farbton, aber auf jeden Fall wirkte er zart. »Und vergiß nicht«, fügte sie rasch hinzu, »das hätte dir auch anderswo zustoßen können, und dann wärst du den Eingeborenen ausgeliefert gewesen.«
Estelle saß am Fenster und beschäftigte sich mit ihrem Aquarell, einem Stilleben mit Früchten in einer Schale, die sie regelmäßig leer aß. Sie schnaubte: »Papa sagt, Olivia hat den besten Sitz, den er je bei einer Frau gesehen hat. Sie ist nur gestürzt, weil sie eigensinnig war.«
Ein Blick ihrer Mutter ließ sie verstummen. »Ich weiß, daß Olivia gut reitet, aber das tut nichts zur Sache. Keine anständige Europäerin hier riskiert Unannehmlichkeiten, indem sie sich allein aus dem Haus wagt!«
»Aber sie ist keine Europäerin und dort, wo Olivia herkommt, lernen die Frauen, auf sich selbst aufzupassen. Sie werden nicht am Schürzenzipfel ihrer Mutter festgebunden.«
Ehe der ewige Streit wieder aufflammen konnte, erklärte Olivia hastig: »Ich bin nur zum Ufer hinuntergeritten, Tante Bridget, und ich hatte nicht die Absicht, lange zu bleiben.«
»Ich habe nicht an deinen Absichten gezweifelt, liebes Kind«, seufzte ihre Tante, »sondern nur an deiner Vorgehensweise. Für eine Frau ist es in Indien zu unsicher, allein unterwegs zu sein. Eine weiße Frau ist für die Eingeborenen ein Gegenstand der Neugier. Sie starren uns an, machen ungehörige Bemerkungen und kommen auf Ideen, die weit über die ihnen zustehende Stellung hinausgehen.« Lady Bridget blieb betont geduldig und fragte sich dabei, wie oft sie dieses eigensinnige Mädchen wohl noch warnen mußte.
Olivia richtete sich mühsam auf und stützte sich auf den Ellbogen. »Die Eingeborenen haben weit weniger gestarrt, als ich es getan hätte, wenn plötzlich einer von ihnen mitten in Sacramento aufgetaucht wäre! Die Leute im Dorf waren sogar sehr freundlich. Ich habe dem Schlangenbeschwörer mit seinen Kobras zugesehen, und sie haben mir einen Hocker gebracht, damit ich sitzen konnte. Außerdem haben sie mir süßen Tee in einem Tonbecher zu trinken gegeben.« Sie erwiderte den Blick ihrer Tante, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er hat köstlich geschmeckt.«
Lady Bridget zuckte zusammen. Tee in Tonbechern bei dreckigen Bauern? Du lieber Himmel, was würde sich das Mädchen noch alles einfallen lassen. Sie konnte ihren Zorn nur mühsam unterdrücken. Was hatte Sean aus Sarahs liebenswertem Kind gemacht! Mit der richtigen Erziehung in England hätte Olivia die Welt zu Füßen liegen können. Ihr Zorn schwand, und Mitleid überkam sie. Sie stand auf, ging zu ihrer Nichte hinüber, setzte sich neben sie auf die Chaiselongue und nahm beide Hände in ihre.
»Unser Leben hier muß dir seltsam vorkommen, Liebes. Das verstehe ich, besonders angesichts deiner eigenen unkonventionellen Erziehung. Aber in den Kolonien müssen wir zurückhaltend sein und uns von der Menge etwas absondern. Eine überlegene Kultur kann nur in der Exklusivität überleben. Du verstehst doch, was ich damit meine, nicht wahr?«
Es war eine Variation des Themas, das Olivia seit ihrer Ankunft von morgens bis abends zu hören bekam. Wie immer blieb sie unbeeindruckt. »Nach dem Wenigen, was ich gelesen habe, kommt es mir vor, als sei Überlegenheit ein relativer Begriff. Sie …«
»Was in der Theorie stimmt, entspricht nicht immer der Wirklichkeit, Olivia.«
»Vielleicht. Aber Papa sagt, eine alte Kultur wie diese …«
»Dein Vater ist ein Idealist.« Lady Bridget preßte die Lippen zusammen, als habe sie ein Wort benutzt, das man vor Kindern nicht aussprechen durfte. »Und er war nie in Indien. Ganz gleich wie alt, das hier ist ein heidnisches Land. Indiens Kultur riecht nach Aberglauben, primitiven Glaubensvorstellungen, ein Greuel für alle wahren …« Sie brach ab. Wieder einmal ließ sie sich auf einen Disput ein, den sie als nutzlos und längst geklärt erachtete. Olivia hatte die ärgerliche Angewohnheit, logisches Denken als Waffe zu benutzen, und das schätzte Lady Bridget bei Frauen nicht. Es gab ein Richtig und ein Falsch. Daran konnte keine Wortspielerei etwas ändern. Sie stand auf, um das Ende des Gesprächs anzudeuten. »Jedenfalls, um noch einmal auf deinen Unfall zurückzukommen, – ich wäre dir dankbar, wenn du nicht wieder allein ausreiten würdest. Der Sohn des Stallburschen ist zwar ein respektloser Flegel, aber er kann mit einem Pferd Schritt halten und mit einer Nachricht zurückkommen, falls du mit den Eingeborenen Schwierigkeiten hast.«
Estelle kicherte. »Wenn Olivia Schwierigkeiten mit den Einheimischen hat, dann können die Eingeborenen sich auf etwas gefaßt machen. Sie zieht ihren Colt und schießt sie mausetot, nicht wahr, Oli?«
»Wie bitte?!« Lady Bridget rang nach Luft und suchte Halt am Türrahmen. Olivia stöhnte innerlich. Diese alberne Estelle war wirklich unmöglich. »Wenn deine Cousine eine Waffe trägt, Estelle, dann liegt es vielleicht daran, daß sie noch nicht begriffen hat, daß es in Indien nicht ganz wie im Wilden Westen zugeht – und, dank England, wahrscheinlich auch nie so zugehen wird. Aber im Augenblick wäre es mir lieber, du würdest dich nicht in Sachen einmischen, die dich nichts angehen.« Lady Bridget rauschte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Olivia starrte ihre Cousine an. »Wenn du doch nur aufhören würdest, dich ständig für mich einzusetzen, Estelle! Mit diesem unnötigen Eifer machst du mir nur noch mehr Schwierigkeiten – und dir ebenfalls. Jetzt weiß sie, daß ich einen Colt habe, und sie ist wütend.«
»Unsinn! Mama kommandiert dich genauso herum wie mich. Und ich finde einfach, wir sollten uns das nicht länger gefallen lassen!« Ihre blauen Augen, die so sehr denen ihrer Mutter glichen, verrieten keine Anzeichen von Reue.
»Sie kommandiert weder dich noch mich herum«, erwiderte Olivia scharf. »Sie hat ihre Prinzipien wie jeder andere auch. Das ist alles.« Olivia hatte nicht vor, Estelle zu verraten, daß sie manche Prinzipien ihrer Tante absurd fand.
»Prinzipien, pah!« Estelle zog einen Schmollmund und blickte nachdenklich auf eine Orange. »Für dich ist das ganz schön und gut, du wirst nur ein Jahr darunter leiden. Ich muß mich mein Leben lang damit abfinden!«
»Nur falls du dich dafür entscheidest, eine alte Jungfer zu werden, und das kann ich mir nicht vorstellen!« Olivia grinste.
Estelle schüttelte verächtlich die flachsblonden Locken und tauchte den Pinsel in die leuchtendrote Farbe. »Ich werde dafür sorgen, daß es nicht soweit kommt! Wenn ich achtzehn bin, tu ich, was mir paßt, darauf kannst du Gift nehmen!«
»Du tust heute schon so ziemlich alles, was dir paßt.«
»Nicht so wie Polly. Ihre Mutter erlaubt ihr zum Beispiel, Lippenpomade und Wimperntusche zu benutzen und mit ihren Verehrern zu Burra khanas zu gehen.« Estelle schob die Aquarellfarben von sich, griff nach der Orange und begann mißmutig, sie zu schälen. »Onkel Sean hat dich nie herumkommandiert, oder? Kannst du dir vorstellen, daß Papa mir erlauben würde, einen Colt zu tragen, oder daß er mich auf einen Treck im Planwagen mitnehmen würde?« »In Indien macht man keine Trecks mit dem Planwagen«, gab Olivia zu bedenken.
Estelle wischte diesen Umstand mit einer Handbewegung beiseite. »Onkel Sean hat dich immer als Erwachsene behandelt. Warum können sie mich nicht auch so behandeln? Mir wird nicht einmal erlaubt zu essen, was und wann ich will, ohne daß Mama ein Theater macht.« Sie starrte wütend auf die Orangenschnitze, verschlang sie alle auf einmal und spuckte die Kerne trotzig aus dem Fenster.
»Trotzdem tust du es«, bemerkte Olivia trocken. »Du bestichst Babulal, und was du bei Tisch nicht haben kannst, läßt du dir später von ihm in der Küche geben. Glaube ja nicht, ich hätte die Keksdosen unter deinem Bett nicht gesehen.«
»Ich werde doch nicht zulassen, daß Mama mich verhungern läßt, so wie sie versucht, mich zu unterdrücken. Ich wette, Onkel Sean hat nie …«
»Wir sind unter völlig verschiedenen Umständen aufgewachsen, Estelle«, unterbrach sie Olivia, der die hartnäckige und unangebrachte Bewunderung ihrer Cousine immer Unbehagen bereitete. Estelle war liebenswert, obwohl sie ihre Cousine auch zur Verzweiflung bringen konnte. Aber Olivia wollte sich nicht vorwerfen lassen, sie habe ihre Estelle gegen ihre Eltern aufgehetzt. Sie wechselte deshalb rasch das Thema. »Sag mal, ist Onkel Josh wirklich sicher, daß das Schiff planmäßig einläuft? Stell dir vor, dein neues Kleid kommt nicht rechtzeitig!?«
Schlagartig waren alle Probleme vergessen, und Estelles Miene hellte sich auf. »Papa hat es versprochen, und er wird nicht zulassen, daß mich jemand enttäuscht. Ach Olivia …«, überwältigt von dem plötzlichen Stimmungsumschwung jubelte sie, nahm Clementine, den kleinen Spaniel, in die Arme und drückte ihn an sich. Dann sagte sie mit einem Seufzer: »Ich würde es nicht überleben, ganz einfach nicht überleben, wenn jetzt noch etwas schiefgehen sollte. Ich könnte der blöden Charlotte Smithers nie mehr unter die Augen treten, nach allem, was sie zu Jane über mein Ensemble gesagt hat. Weißt du, was Jane gesagt hat? Sie hat doch tatsächlich die Frechheit besessen, Mrs.Cleghorne zu sagen, die es sofort Marie erzählt hat, die es wiederum Polly gesagt hat, daß …«
Olivia schloß die Augen und hörte nicht mehr zu. Sie war zufrieden, daß Estelle nun ihre ganze Energie auf den kommenden wichtigsten Tag ihres Lebens richten würde – auf den achtzehnten Geburtstag im nächsten Monat und den geplanten Ball, mit dem sie in die Gesellschaft eingeführt wurde. Olivia ließ den Schwall bekannter Klatschgeschichten, die ihre aufgeregte Cousine erzählte, über sich ergehen, ohne darauf zu achten. Estelle gab sich mit ihren einsilbigen Bemerkungen auch völlig zufrieden.
Ein Jahr. Zwölf Monate.
Dreihundertfünfundsechzig Tage – weniger (erst!) sechzig …
Unter dem beruhigenden Geplätscher von Estelles Klatsch überließ sich Olivia dem vertrauten Strom der eigenen Gedanken. Wie würde sie die dreihundertundfünf restlichen Tage ihres Exils überleben? Das Jahr lag freudlos wie eine Wüste vor ihr. Sie hätte nie nach Indien kommen, niemals dem wohlmeinenden Zureden ihres Vaters nachgeben sollen. Sie hätte darauf bestehen müssen, daß er sie mitnahm, wie er es so oft in der Vergangenheit getan hatte. Verdrießlich und wahrscheinlich zum hundertsten Mal gestand sich Olivia, es sei wohl doch ein Fehler gewesen, nach Indien zu kommen …
Ähnlichen Überlegungen hing auch Lady Bridget nach, während sie geistesabwesend das Schneiden der Bougainvillea an der vorderen Säulenveranda des Hauses beaufsichtigte. Wäre Olivia nicht so unverkennbar beiden Eltern nachgeschlagen, sagte sie sich stumm, hätte es keine Probleme gegeben. Der Eigensinn, die Halsstarrigkeit, das entschlossene Kinn, die entwaffnenden haselnußbraunen Augen mit dem unschuldigen Feuer, das strahlende Lächeln, bei dem ihr Gesicht von innen zu leuchten schien, die Verletzlichkeit hinter dem Trotz – all das hatte Olivia von Sarah. Wenn man Sarahs schrecklichen Geschmack bei der Wahl ihres Ehemanns einmal außer acht ließ, hatte sie viele Tugenden besessen; wenn auch ein scharfer Verstand und die Fähigkeit, kluge Gedanken zu artikulieren, nicht dazugehörten. Diese beiden Dinge hatte Olivia eindeutig von ihrem gräßlichen Vater. Ganz gleich, was Lady Bridget von ihm hielt, sie konnte nicht leugnen, daß Sean O’Rourke intelligent war. Daß er seine Intelligenz verschwendete, indem er Hirngespinsten nachjagte, hätte Lady Bridget vielleicht als seine Angelegenheit abgetan – wenn er nicht die arme Sarah damit ins Grab gebracht und seine Tochter durch und durch mit seinem Radikalismus verseucht hätte. Olivia hatte nicht einmal eine englische Erzieherin gehabt! Und welcher englische Herr aus guter Familie würde ein Mädchen heiraten wollen, das wie ein Politiker debattierte und Vorträge hielt, wo nur ein Kuß erwünscht war?
Lady Bridget schimpfte wütend mit dem Gärtner, weil er die Bougainvillea hatte wild wachsen lassen, und drohte, ihm vier Annas vom Lohn abzuziehen. Aber sie war nicht bei der Sache. Olivias wachsender Einfluß auf Estelle war sicher nicht Olivias Schuld. Trotz ihres erschreckend direkten Wesens war Olivia praktisch, einfallsreich und (wenn sie wollte!) überaus vernünftig. Man konnte, dem Mädchen keinen Vorwurf daraus machen, daß man ihr erlaubt hatte, in einem Land zu verwildern, das eine Wildnis war. Ebensowenig war Olivia schuld daran, daß Estelle ihre schlechteren Eigenschaften übernahm. Aber das wachsende Aufbegehren ihrer Tochter beunruhigte Lady Bridget. Die englische Gesellschaft sah den Amerikanern vieles nach, weil sie es nicht besser wußten. Bei einer jungen Engländerin, die inmitten der geheiligten Traditionen der Aristokratie geboren und aufgewachsen war, wurde radikales Verhalten weder leicht vergeben noch schnell vergessen.
Soweit es um Olivia ging, kannte Lady Bridget nicht nur ihre Pflichten, sondern sie war ebenfalls entschlossen, diese Pflichten so gut zu erfüllen, wie ihre beachtlichen Fähigkeiten es erlaubten. Sorgen machte ihr Estelles Zukunft. War es ein Fehler gewesen, fragte sich auch Lady Bridget zum hundertsten Mal, Olivia hierhier zu holen, ehe Estelle standesgemäß verheiratet war …?
»Vindaloo? Oh, wunderbar.« Estelle machte sich mit großem Appetit über das Curry her. »Kommt Papa wieder spät?«
»Dein Vater hat gesagt, wir sollen mit dem Abendessen nicht auf ihn warten. Er wird mit Arthur später im Arbeitszimmer essen.« Lady Bridget bedeutete Rehman, dem Diener, die Schüssel aus dem Blickfeld ihrer Tochter zu entfernen.
»Es ist wieder wegen der Sache mit der Sea Siren, nicht wahr?« Estelle überlistete geschickt den Diener und nahm sich noch einen letzten Löffel Reis. »Man sagt, das Schiff ist wegen der Opiumladung überfallen worden.«
»So? Frag deinen Vater. Ich habe keine Ahnung. Übrigens«, sie runzelte die Stirn, »Jane Watkins hat geschrieben, daß sie morgen früh beide Kleider bringt. Wenn du willst, daß sie dir noch passen, Estelle, rate ich dir zu etwas mehr Zurückhaltung bei den Mahlzeiten. Ich bin nicht damit einverstanden, daß du dir für die Burra Khana bei den Pennyworthys noch ein Kleid machen läßt.«
»Ach, das hatte ich völlig vergessen! Aber kann sie wenigstens für das grüne Georgettekleid meine Maße nehmen, Mama? Das heißt, wenn Olivia nichts gegen das beige einzuwenden hat.«
»Nein, ich habe nichts gegen das beige.« Olivia sank das Herz – schon wieder eine Abendgesellschaft? Kannten die Leute hier keine andere Art der Unterhaltung? Seit ihrer Ankunft war sie einmal, manchmal zweimal in der Woche und an den Wochenenden noch öfter eingeladen gewesen. »Außerdem brauche ich kein neues Kleid. Ich habe mehr, als ich tragen kann. Danke.«
»Estelle hat schon zwei grüne. Olivia, ich finde, du solltest das Georgettekleid haben«, sagte Lady Bridget entschieden. Sie war entschlossen, keinen Unterschied zwischen den Mädchen zu machen. »Weißt du, grün steht dir gut.«
»Oh, Estelle steht grün besser«, erwiderte Olivia augenzwinkernd, »wie der schneidige Hauptmann Sturges zweifellos bereits festgestellt hat.«
Estelle warf spielerisch mit der Serviette nach ihrer Cousine. »Wen interessiert das schon? Aber der arme Freddie Birkhurst verdreht wie ein Mondkalb die Augen nach dir. Hab ich recht, Mama?«
»Wenn Olivia Mr.Birkhursts Interesse geweckt hat«, sagte ihre Mutter zufrieden lächelnd, »finde ich nichts Falsches daran. Deine Cousine ist eine sehr gut aussehende, sehr akzeptable junge Dame aus sehr guter Familie …«, beinahe hätte sie ›mütterlicherseits‹ gesagt, überlegte es sich aber anders. »Ich hätte es dir schon früher sagen sollen, Olivia, aber ich habe es vergessen – Freddie Birkhurst hat geschrieben und gefragt, ob er dich nächste Woche zu den Pennyworthys begleiten darf. Natürlich habe ich sein Angebot dankend angenommen. Es ist dir doch recht?«
Olivia konnte es nur mit großer Mühe unterlassen, ihre Tante davon in Kenntnis zu setzen, daß es ihr keineswegs recht war! Freddies unübersehbare Vernarrtheit in sie war ihr peinlich und ärgerte sie ebenso wie die Annahme seiner blödsinnigen Einladung durch ihre Tante. »Muß ich überhaupt gehen?« fragte Olivia unverblümt und umging damit das eigentliche Thema.
»Ich dachte, junge Mädchen lieben Gesellschaften!« Innerlich schlug Lady Bridget die Hände über dem Kopf zusammen. Was war mit Olivia nur los? Hatte ihr unvernünftiger irischer Vater dem Kind überhaupt kein Gefühl für das gesellschaftliche Leben mitgegeben? »Man kann doch den armen Mr.Birkhurst jetzt nicht enttäuschen – oder?«
»Olivia möchte gerade wegen Freddie nicht gehen«, erklärte Estelle ungefragt. »Sie sagt, er starrt sie dauernd an, und seine Augen erinnern sie an eingemachte Stachelbeeren.« Sie kicherte und lutschte geräuschvoll an einem Hühnerschenkel. »Du mußt zugeben, Mama, das stimmt.«
Olivia murmelte leise einen streng verbotenen Fluch, und ihre Tante sagte aufgebracht: »Wenn Olivia Mr.Birkhursts freundliche und überaus höfliche Gefälligkeiten nicht passen, steht es ihr frei, mir das selbst zu sagen.« Sie wartete, aber von ihrer verschüchterten Nichte kam keine Reaktion. »Siehst du? Olivia hat keine solchen Vorbehalte. Und ich finde es ungezogen von dir, Estelle, grundlos über die tapferen jungen Männer zu spotten, die so opferbereit die Vorposten unseres Reiches sichern!«
Diese Rüge galt ihnen beiden, aber als Olivia den Blick ihrer Cousine auffing, hätte sie beinahe ebenfalls angefangen zu kichern. Jeder in Kalkutta wußte, Freddie Birkhurst besaß nur in einer Hinsicht ›Opferbereitschaft‹, und zwar in seiner Neigung zu Wein, Weib und Gesang. Das Reich, so fand Freddie, kam sehr gut ohne ihn als Vorposten aus – oder, wie manch anderer dachte, sogar sehr viel besser.
»Ach, Mama, hör auf, dir Sorgen zu machen! Du mußt keine gute Partie für Olivia finden«, sagte Estelle ungefragt. »Sie wird sich mühelos selbst einen Ehemann angeln. Freddie ist nicht der einzige in der Stadt, der bereit, willens und in der Lage wäre, sie zu erobern. Das sind sie alle.«
Olivia hüllte sich wütend in schockiertes Schweigen, und auch ihre Tante fand nicht sofort die Sprache wieder. Olivia juckte es in den Händen (die sie entschlossen unter dem Tisch hielt), ihrer Cousine eine runterzuhauen. »Ich werde mich sehr freuen, Mr.Birkhursts Angebot anzunehmen«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, und irgendwie gelang ihr ein Lächeln. »Es ist sehr nett von ihm.« Sie durchbohrte ihre Cousine mit einem Blick, stand mit einer Entschuldigung vom Tisch auf und floh zur rückwärtigen Veranda.
Endlich brach das Gewitter los.
Die Stille des Abends wich einem Toben von Donnern, Blitzen und peitschenden Windböen. Sie fegten über die Baumwipfel hinweg, die wie Derwische zu Rhythmen tanzten, die eine geheimnisvolle Musik diktierte. Zuckende weiße Lichtpfeile zerrissen den Himmel und verwandelten die Nacht in einen gespenstisch grünen Tag. Hinter den plötzlich um sich schlagenden Akazien am Ende des Gartens hüpfte und tanzte der Hooghly. Als er sich an dem improvisierten Monsunballett beteiligte, türmten sich seine übermütigen Wellen zu beweglichen Mauern. Wenn Olivia inzwischen etwas an Kalkutta liebte, dann waren es die nächtlichen Rituale dieser Jahreszeit. Sie kuschelte sich mit Clementine auf dem Schoß in einen Korbsessel auf der Veranda, sah dem Spiel von Himmel, Erde und Wasser zu und fühlte sich seltsam getröstet und sicher. Selbst auf der anderen Seite des Globus, eine Million Jahre und Meilen von ihren Wurzeln entfernt, war das ihr vertraut: das Donnergrollen, das rauschende Wasser in den Dachrinnen, die Regeninsekten, die um die Wandleuchter tanzten, der satte Geruch der nassen Erde, der Schlamm, der klatschende Regen, das intensive Leuchten des gesättigten Grüns – das alles war hier ganz wie zu Hause.
Zu Hause!
Plötzlich überwältigte sie die Sehnsucht. Ihre Augen begannen zu brennen, und ihre Kehle schmerzte. Aber Olivia biß sich fest auf die Unterlippe und unterdrückte das Heimweh. Ich werde nicht weinen, gelobte sie leise und drückte das Gesicht in Clementines warmes, staubiges Fell. Komme was wolle, ich werde nicht weinen!
Es war nach neun, als die Räder der Kutsche rumpelnd die Auffahrt heraufrollten, und Sir Joshuas lautes »Koi hai?« das ganze Haus in Bewegung brachte, während er in fließendem Hindustani Befehle herunterrasselte.
Das Gewitter war schon lange vorüber und hatte eine angenehme Kühle hinterlassen. Am klaren Himmel segelten, von einem sanften Wind getrieben, Wolkengaleonen über die Baumwipfel. Der unvermeidliche Chor der Zikaden und das kontrapunktische Quaken der Frösche mit ihren tiefen Stimmen sorgten für ein Konzert vor der Veranda, wo Olivia immer noch saß und nachdachte. Mit der Ankunft des Hausherrn hörte man auch wieder das geschäftige Treiben der Menschen. Barfüßige Diener eilten stumm wie Mäuse die Treppen hinauf und herunter; die Punkahs an den Decken quietschten, während sie Luft fächelten; unter Lady Bridgets strenger Aufsicht klirrten im Anrichtezimmer Gläser, klapperte Besteck und der würzige Duft von warmem Essen lag in der Luft. Von der vorderen Veranda drangen Sir Joshuas tiefes Lachen und Estelles Geplapper zu Olivia herüber, und kurze Zeit später näherten sich schwere Schritte zielstrebig ihrem Sessel.
»Jasmine hat dich heute abgeworfen?«
»Nun ja …« Mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihre Cousine hob Olivia die Wange für Sir Joshuas flüchtigen Kuß, »gewissermaßen«.
»Ich hoffe, du bist nicht schlimm verletzt.«
»Überhaupt nicht! Nur ein paar Kratzer. Jasmine hatte die Hecke gestern fehlerlos genommen. Ich hätte einen Silberdollar gewettet, daß sie es noch einmal schaffen würde.« Olivia zog ein schiefes Gesicht. »Glücklicherweise stand der Graben voll Wasser.«
»Glücklicherweise?« Sir Joshua zog eine Augenbraue hoch. »Nun ja, ich würde einen Silberdollar wetten, daß deine Tante anders darüber denkt! Es ist nicht deine Aufgabe, aus der armen, alten Jasmine ein Springpferd zu machen. Versuch es nicht wieder, ja?« Seine Augen blitzten, und er zwinkerte ihr zu. »Wir wollen den Pioniergeist doch etwas mehr zügeln, nicht wahr? Mehr will ich nicht sagen, weil Bridget zweifellos schon alles gesagt hat. Habt ihr gegessen?«
»Ja. Und es ist noch jede Menge Vindaloo-Curry für dich und Onkel Arthur übrig.« Estelle drückte liebevoll den Arm ihres Vaters.
»Wirklich? Was hast du denn gegessen, oder hast du gefastet?« Er lächelte, tätschelte den wohlgerundeten Hintern seiner Tochter und wandte sich wieder Olivia zu. »Heute morgen ging es in der Handelskammer wieder einmal drunter und drüber. Die neuen Teesteuern schaffen eine Reihe ganz verzwickter Probleme. Komm später zu uns, wenn du Lust hast. Ich werde dir dann erzählen, wie wir würdigen Boxwallahs zu keifenden Fischweibern werden, wenn es um Rupien, Annas und Pies geht.« Er drehte sich um und verschwand mit großen Schritten im Haus. Estelle wich nicht von seiner Seite.
Olivias Stimmung hob sich wie immer in Anwesenheit ihres Onkels, den sie sehr mochte. Als Seniorchef von Templewood und Ransome, dem größten Tee-Exportunternehmen in Kalkutta, war er der ungekrönte König unter den Kaufleuten und vor kurzem zum Direktor der hiesigen Handelskammer gewählt worden. Wenn Olivia in den engen Grenzen der Kolonialgesellschaft etwas geistig anregend fand, dann waren es die Kämpfe in der Geschäftswelt der Stadt. Hier herrschte wie in New York und Chicago (von dort hatte Vater ihr viel berichtet) eine mörderische Konkurrenz, besonders im Chinageschäft, wo eine Krähe der anderen bedenkenlos und ohne jedes Mitleid ein Auge aushackte. Es galt nur das uralte Gesetz des Dschungels: Fressen und gefressen werden!
Von ihrem Onkel hatte sie viel über die mächtige Ostindien-Kompanie gelernt, das größte Handelsunternehmen der Welt und die Bastion englischen Unternehmertums. Aus Büchern in Sir Joshuas umfangreicher Bibliothek kannte sie den spektakulären Aufstieg des Unternehmens, das hier allgemein als »die John-Kompanie« bekannt war. Die Ostindien-Kompanie herrschte mit Genehmigung der Krone praktisch über Indien, oder den Teil Indiens, der nicht von den Fürsten regiert wurde. Dank einer eigenen Armee besaß sie eine ungeheure Macht und das Recht, nötigenfalls Krieg zu führen. Die John-Kompanie war 1599 von achtzig geschickten, nüchtern denkenden Geschäftsleuten gegründet worden und machte riesige Gewinne mit den unermeßlichen Reichtümern des Ostens: Gewürze, Seide, chinesischem Tee, Indigo, Jute, Baumwolle für die Spinnereien in Lancashire, Opium, Kampfer, Schellack, Parfüm und zahllosen anderen kommerziell lukrativen Waren. Das Hauen und Stechen im Geschäftsleben erinnerte Olivia an ihre Heimat, wo gewaltige Industrien wie Eisenbahnen, Stahlwerke, Kohlegruben und Minen entstanden, und wo die Konkurrenz in ständig neu entstehenden Bereichen ebenso ungezügelt und hart war wie auf den Märkten des englischen Empire.
Olivias Interesse am Geschäftsleben Kalkuttas amüsierte Sir Joshua, bei ihrer Tante löste es nur noch größere Verärgerung aus. Nachdem die Männer im Arbeitszimmer gegessen hatten, stellte sie ihren Mann im Schlafzimmer zur Rede, als er heraufkam, um sich zu waschen. »Ich wünschte, du würdest das Mädchen in der törichten Beschäftigung mit solchen Dingen nicht noch ermutigen. Findest du nicht, daß ihre Ansichten auch so unmöglich genug sind?«
Sir Joshua stand vor dem Spiegel, bürstete seinen Backenbart und brummte: »Die Kleine hat viel Verstand in ihrem Kopf. Soll sie ihn doch benutzen, wenn sie das will.«
»Wenn sie so viel Verstand im Kopf hat, soll sie ihn benutzen, um einen anständigen englischen Ehemann zu finden!« erwiderte Lady Bridget. »Sie ist nur für ein Jahr hier, und sie wird nicht jünger. Was würdest du sagen, wenn deine Tochter mit beinahe dreiundzwanzig noch nicht verheiratet wäre?«
Sir Joshua hatte keine Meinung dazu und zuckte nur mit den Schultern. Er fuhr sich noch einmal über den Backenbart, verließ das Zimmer und hatte das Thema zweifellos bereits völlig vergessen. In der Kunst, seiner Frau ernsthaft zuzuhören, ohne auch nur ein Wort von dem aufzunehmen, was sie sagte, war Sir Joshua ein Meister.
Gegen zehn betrat Olivia, gefolgt von Rehman mit dem Kaffeetablett, Sir Joshuas Arbeitszimmer. Die beiden Männer hielten Cognacgläser in der Hand, und die Luft war schwer vom Rauch der Havannazigarren. »Ah, da bist du ja, Liebes.« Sir Joshua hob das Kinn und schnupperte. »Ich stimme Olivia allmählich zu, Arthur. Brasilianischer Kaffee hat sehr viel für sich.«
Arthur Ransome, Sir Joshuas Teilhaber, erhob sich mit einiger Mühe und verbeugte sich. »Das stimmt. Könnte es sein, daß wir uns all die Jahre dem falschen Getränk verschrieben haben?«
Die freundlichen Sticheleien gingen weiter, während sie genußvoll Kaffee tranken und Sir Joshua sie mit einem ausführlichen Bericht über die turbulenten Vorgänge am Morgen in der Handelskammer unterhielt. Dann machte Ransome eine Bemerkung, die Olivia entging, und Sir Joshua wurde ernst. »Ich habe keinen Spaß gemacht, Arthur. Ich finde, es ist ein Plan, der sich verwirklichen läßt, und harte Umstände verlangen hartes Durchgreifen. Dem wirst du doch wohl zustimmen?«
Es war deutlich, daß sie den Faden eines früheren Gesprächs wieder aufnahmen. Ransome schüttelte den Kopf. »Hart ja, aber nicht selbstmörderisch! Jetzt überstürzt handeln, würde bedeuten, die Wirklichkeit aus dem Blick zu verlieren, Josh.«
Olivia hörte aufmerksam zu, ohne die Hintergründe der Meinungsverschiedenheit zu kennen. Ransome war nicht nur der Geschäftspartner ihres Onkels, sondern auch sein engster und bester Freund. Und doch hätten die beiden Männer nicht verschiedener sein können. Sir Joshua war groß, schlaksig und übernahm mühelos die Führungsrolle, ganz gleich, wo er sich befand. Ransome dagegen war ruhig, ausgleichend, untersetzt, anspruchslos und damit zufrieden, im Hintergrund zu bleiben. Sir Joshua hatte gelegentlich etwas Großspuriges an sich und ließ eine gewisse Skrupellosigkeit erkennen. Ransome dagegen war die verkörperte Vorsicht – vielleicht weil er als Buchhalter Genauigkeit und Richtigkeit schätzte.
»Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und zulassen, daß man uns auf unserem eigenen Feld schlägt. Diese Herausforderung muß angenommen werden!« Sir Joshua erhob sich und stand in voller Größe vor seinem sitzenden Partner.
»Andere werden sie annehmen!« gab Ransome zu bedenken.
»Vielleicht. Aber was andere tun, interessiert mich einen Dreck. Da sind große Gewinne zu machen, größere als in London möglich wären. Ich finde, wir müssen jetzt versuchen, unseren Anteil an dem Geschäft zu sichern. Stimmt das nicht, Olivia?« Er drehte sich plötzlich um und durchbohrte sie mit seinem Blick.
»Stimmt was nicht?« Sie sammelte rasch ihre Gedanken.
»Würdest du nicht sagen, daß unsere Aussichten gut sind, auf euren amerikanischen Märkten Anteile zu erobern, nachdem die furchtbaren ›Tea Parties‹ ein dreiviertel Jahrhundert zurückliegen?«
Olivia dachte nach. Die Gewohnheit des Onkels, sie bei Dingen, von denen sie wenig wußte, nach ihrer Ansicht zu fragen, gefiel ihr, denn zu Hause hatte ihr Vater sie schon als gleichwertig betrachtet, als sie noch sehr viel jünger war. Diesmal wußte sie, wovon ihr Onkel sprach – von der Verordnung, die jedes aus England nach Amerika exportierte Pfund Tee mit drei Pennys Zoll belegt hatte. Es hatte erbitterten Widerstand gegen den Zoll gegeben, und die ersten Ladungen, die 1773 in Boston, Greenwich, Charleston, Philadelphia, New York, Annapolis und Edenton eintrafen, waren ohne weitere Umstände ins Meer geworden worden. Diese Vorfälle wurden unter dem scherzhaften Namen ›Tea Parties‹ bekannt. Die Empörung über diese Steuern war der Auftakt zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gewesen und hatte den Amerikanern verständlicherweise den Geschmack am Tee weitgehend verdorben.
Olivia rief sich diese Vorfälle ins Gedächtnis, ehe sie Sir Joshuas Frage beantwortete. »Nun, ich weiß, daß manche Leute zu Hause immer noch nichts kaufen, was aus England kommt. Außerdem trinken beinahe alle, die wir kennen, Kaaf …« Sie erinnerte sich an den erhobenen Zeigefinger ihrer Tante, die diese ›schlechte‹ amerikanische Aussprache getadelt hatte, und berichtigte hastig den langen Vokal. »Kaffee. Die geringe Nachfrage, die nach Tee besteht, wird doch sicher durch amerikanische Importeure gedeckt, die auch die chinesische Küste anlaufen.«
»Siehst du, Arthur?« Sir Joshua schlug sich auf die Schenkel und wirkte sehr zufrieden. »Olivia hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Weil Nachfrage besteht, machen Astor, Griswold, Howland und der ganze Haufen ein Vermögen. Ich würde weiß Gott liebend gerne einen neuen Vorstoß in Boston unternehmen!«
Ransome zog unbeeindruckt weiter an seiner Pfeife. »Nicht jetzt, Josh. Vielleicht später. Wir verdienen in Mincing Lane und am heimischen Markt sehr gut. Warum sollen wir nach dem Mond greifen, wenn wir es nicht nötig haben?«
»Weil er nur noch eine schmale Sichel sein wird, wenn wir es nötig haben!« Sir Joshua war gereizt und hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Hör zu, Arthur, die Amerikaner sind uns im Augenblick überlegen – und weißt du warum? Nicht weil sie besser sind, nein, ganz und gar nicht, sondern weil sie schneller sind.«
»Richtig. Aber wir können uns zur Zeit keinen dieser Baltimore-Klipper leisten. Wir müsen uns mit dem begnügen, was wir haben – mit unseren häßlichen kleinen Teepötten –, und das Beste daraus machen. Und das ist nicht schlecht.«
»Gut, alter Junge! Aber wenn wir die Teepötte modernisieren, können sie es leicht mit den Klippern aufnehmen.«
Ransomes rundes, pausbäckiges Gesicht nahm einen vorsichtigen Ausdruck an. »Wie das?«
»Indem wir Dampfmaschinen einbauen.«
Ransome lachte. »Dampfmaschinen! Mein lieber Freund, das sind Pfeifenträume, goldene Berge. Es wird Jahre dauern, ehe maschinengetriebene Schiffe allgemein im Einsatz sind und privaten Kaufleuten zur Verfügung stehen.«
»Da irrst du dich, Arthur.« Sir Joshua hatte die Arme auf dem Rükken verschränkt und trat vor die Glasvitrine, in der die Erinnerungsstücke an die Zeit lagen, als er noch selbst zur See gefahren war – geschnitztes Elfenbein, Jadefigürchen, gravierte Metallschalen, Krüge und Räuchergefäße, Messingbuddhas und Mingvasen. »Die John-Kompanie setzt im Küsten- und Flußverkehr bereits Dampfschiffe ein. In England und Amerika ziehen Dampfmaschinen Züge. Weshalb sollten wir nicht hier damit anfangen?«
»Erstens«, fragte Ransome trocken, »wo ist die Kohle? Die Königliche Marine unterhält ihre eigenen Bunkerstationen, die wir nicht benutzen können. Jeder Brocken, der in Raniganj gefördert wird – und neunzigtausend Tonnen im Jahr sind immer noch sehr wenig –, wird für die im Bau befindliche Bahnlinie von Bombay nach Thana gelagert. Wir wollen keinen Tagträumen nachhängen, Josh.« Sein Ton wurde schärfer: »Von der Kohle, die es im Augenblick gibt, steht nichts für private Unternehmungen zur Verfügung.«
Sir Joshua drehte sich um und kam zurück. Sein Gesicht war plötzlich ausdruckslos. »Raniganj wird wachsen. Es wird andere Kohlegruben geben. Wir wissen zum Beispiel, daß es Kohle in …« Er machte eine Pause, holte tief Luft und sein kurzes Auflachen hatte plötzlich etwas Durchtriebenes, »in Kirtinagar gibt«.
»Ah!« Ransome atmete hörbar ein. »Ich hatte schon seit geraumer Zeit den Verdacht, daß du darauf hinaus willst, Josh. Und jetzt weiß ich, daß du wirklich nach dem Mond greifst!« Er lachte, aber es klang gereizt.
»Wieso? Ich weiß, von welchem Kaliber die einheimischen Fürsten sind. Zeig ihnen hübschen Tand aus Europa, gib ihren Launen nach, schmeichle ihrem Geltungsbedürfnis, erweise ihnen Gefälligkeiten –, und sie verkaufen dir ihre Großmutter, wenn der Preis stimmt.« Sein Gesicht wirkte hart und entschlossen.
Ransome richtete sich langsam auf und sah seinen Partner überrascht an. »Aber Josh, wir kennen beide den Ruf von Arvind Singh. Er ist keiner der Maharadschas, die du im Sinn hast.«
»Pah!« Sir Joshua machte eine verächtliche Geste. »Im Innersten sind sie alle gleich – und es gibt mehr als eine Möglichkeit, einen Affen zu fangen. Arvind Singh braucht das große Geld für sein Bewässerungsprojekt. Wenn die Europäer ein Konsortium mit Kaufleuten wie Jardine, Gillanders, Barry und vielleicht einem Jutepflanzer bilden würden, wären wir in der Lage, Arvind Singh ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen kann. Es gibt keinen Kaufmann in Kalkutta, der nicht seine Seele für Dampfschiffe verkaufen würde. Wir brauchen nur eine starke Verhandlungsposition.«
Olivia kam es plötzlich vor, als habe sich der Ton des Gesprächs unmerklich gewandelt. Es ging jetzt offenbar nicht mehr nur um eine Meinungsverschiedenheit. Knisternde Spannung lag in der Luft und ein unausgesprochenes Gefühl von Besorgnis. Ransome schwieg lange, während er das rechte Bein bewegte, das stark von Gicht befallen war. Dann sagte er so leise, daß Olivia ihn kaum hörte: »Ich weiß nicht, Josh, ob du den Haken an der Geschichte vergißt oder bewußt nicht sehen willst. Wir wissen beide, daß es wohl kaum darum geht, den Launen des Maharadschas nachzugeben. Und genausowenig kann ich glauben, daß du, ausgerechnet du, die andere Möglichkeit erwägst.« Sir Joshua drehte seinem Partner wütend den breiten Rücken zu und ballte die Fäuste gegen die beiden Seiten seines Körpers, schwieg jedoch. Ransome sprach hartnäckig weiter. »Ich bin auch nicht glücklich darüber, Josh, daß dieser Mann seinen Klipper in Clydeside mit einer Dampfmaschine ausgerüstet hat, die das Schiff mindestens doppelt so schnell macht wie unsere Teepötte. Aber Kala Kanta ist eine Ausnahme. Gewiß, auch ich bin grün vor Neid auf seinen Erfolg, doch wir müssen uns damit abfinden, daß wir ihm auf dem amerikanischen Markt nicht gewachsen sind – zur Zeit nicht. Kala Kanta hat einen zu großen Vorsprung. Und nachdem er auch noch auf diesen geschickten Dreh gekommen ist, Tee in kleinen Einzelpackungen zu verkaufen …«
»Verdammt noch mal! Daran habe ich schon vor zwei Jahren gedacht!«
»Ja«, stimmte Ransome ruhig zu, »aber Kala Kanta hat es getan.«
»Du drückst dich wohl vor einer Herausforderung, Arthur?« Sir Joshuas Stimme klang hart, störrisch und wütend. »Er hat den Markt noch nicht ganz an sich gerissen. Von diesem Mond gibt es immer noch große Scheiben für uns!«
»Das mag sehr wohl sein. Aber um Kala Kanta im Westen gewachsen zu sein, müßten wir unsere Investitionen im Osten drosseln. Und dazu bin ich nicht bereit. Unser Fundament ist das Chinageschäft. Wir sind für waghalsige Abenteuer in einer anderen Hemisphäre weder gerüstet, noch sind wir darauf vorbereitet. Und diese Herausforderung …«, er ließ die Schultern sinken. »Vor zehn Jahren, als wir jünger, gesünder und auch noch leichtsinniger waren, ja, da hätte ich mich auf das Spiel eingelassen. Aber heute nicht. Vergessen wir die Kohle in Kirtinagar, Josh. Wir wissen beide, daß wir sie niemals bekommen werden.«
Sir Joshua, der ohnehin leicht zu Temperamentsausbrüchen neigte, gab sich größte Mühe, nicht zu explodieren. »Wir können sie bekommen, Arthur, wir müssen sie bekommen! Wenn wir unsere Karten richtig ausspielen, können wir an ihm vorbei!« Er ging mit großen Schritten zu seinem Schreibtisch und schlug mit der Faust auf die Platte.
»An Kala Kanta vorbei?« wiederholte Ransome. »In Kirtinagar?« Mein lieber Josh, bist du von allen guten Geistern verlassen? Es wäre Selbstmord, das auch nur zu versuchen!« Er hielt die Hand hoch und zählte an den Fingern ab: »Ein Lagerhaus durch einen mysteriösen Brand verloren. Unbekannte Seeräuber entern auf hoher See die Sea Siren und rauben wertvolles Frachtgut – keineswegs der erste Fall von Freibeuterei bei unseren Opiumsendungen. Mincing Lane erhält von unserer Niederlassung in Kanton immer wieder verdorbenen Tee. Und dabei verschickt Marshall besten Suchong und Peko, mysteriöserweise kommen jedoch Schlehen- und Eschenblätter an, die mit Molasse und Quitte gefärbt sind. Von unserem guten Ruf, den wir verlieren, einmal abgesehen, könnten wir nach den neuen Gesetzen schwer bestraft werden – sogar mit Gefängnis. Plötzlich erinnert sich niemand mehr an unsere wunderbare erste und zweite Pflückung der besten Tees der Welt – an die Tees, für die wir berühmt waren. Inzwischen fängt sogar unsere Versicherung an, verdammt peinliche Fragen zu stellen.« Für einen wortkargen Mann wie Ransome war das eine lange Rede. Er lehnte sich in den Sessel zurück und wischte mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Aber ich muß dich nicht an all diese unerquicklichen Vorfälle erinnern, Josh. Sie stehen klar und deutlich in unseren Geschäftsbüchern.«
Sir Joshua blickte aus dem Fenster und nickte geistesabwesend, als habe er nichts gehört. »Wir müssen die Besten bleiben, Arthur«, sagte er leise, »die Besten. Wir haben unser Leben lang danach gestrebt, das zu sein. Wenn wir nur in zweiter Reihe stehen, dann kann es nie hinter ihm sein …, niemals hinter ihm. Und ansonsten, Kala Kanta ist nicht unbesiegbar. Er kann und er wird geschlagen werden!«
»Aber ja, Josh, er ist nicht unbesiegbar«, sagte Ransome mit einem müden Seufzer, »er ist nur verrückt. Und er ist ein Hitzkopf, aber das macht ihn doppelt gefährlich. Gott weiß, wir haben zu unserer Zeit mit schmutzigen Tricks gekämpft. Auch unsere Hände sind nicht ganz sauber – aber ich habe heute weder die Kraft noch die Lust zurückzuschlagen. Wir können uns gegen diesen tollwütigen Hund nur verteidigen, indem wir ihm nicht in die Quere kommen.«
»Und was haben wir bisher damit erreicht?« fragte Sir Joshua lauernd und mit verächtlichem Blick. »Sollen sich die Vorfälle wiederholen, die du gerade aufgezählt hast?«
»Ich habe keine Lust, noch mehr Schwierigkeiten heraufzubeschwören.« Ransome schob hartnäckig den Unterkiefer vor. »Meinetwegen soll der Schweinehund das Schlimmste tun! Und wir müssen zugeben, es hätte schlimmer sein können, als es bisher war. Wenn man ihm lange genug freien Lauf läßt, tut er uns vielleicht eines Tages den Gefallen und bringt sich selbst an den Galgen. Aber im Augenblick laß die Finger davon, Josh. Laß die Finger davon, das rate ich dir als Freund.«
Sir Joshua unterließ die hitzige Erwiderung, die ihm sichtlich auf der Zunge lag. Statt dessen starrte er finster auf einen Nachtfalter, der gegen einen der maronenfarbigen Vorhänge aus Shantungseide flatterte, als wollte er ihn zerquetschen. Der Nachtfalter ahnte nicht, daß er mit seinem Leben spielte. Er fand einen Spalt und flog in den Garten hinaus. Olivia saß in einem Ohrensessel, der sie zum großen Teil vor den Männern verbarg, und rührte sich nicht. Die Stille schien so vollkommen und doch so aufgewühlt, daß sie sich schließlich nicht länger zurückhalten konnte. Sie rutschte zum Sesselrand und fragte erregt: »Wer ist dieser … dieser Kala Kanta, von dem ihr gesprochen habt?«
Beide Männer fuhren zusammen. Offenbar hatten sie Olivias Anwesenheit völlig vergessen. Keiner von ihnen antwortete. Sir Joshua faßte sich mit einiger Mühe als erster, und nach einem Augenblick sagte er knapp: »Ach, nur ein Mann, ein Konkurrent. Niemand von Bedeutung.«
Arthur Ransome glich höflich wie immer die Schroffheit seines Partners aus. »Kala Kanta ist, offen gesagt, ein Schurke, Miss O’Rourke. Es gibt viele gewissenlose Geschäftemacher in Kalkutta, die eine Schande für die moralische Geschäftswelt sind – vergeben Sie mir den scheinbaren Widerspruch.« Er verzog die Lippen zu einem flüchtigen Lächeln. »Aber was dieser Mann tut, geht weit über alle Grenzen hinaus. Wie auch immer, ich entschuldige mich für uns beide, daß wir Sie einer so beklagenswert langweiligen Erörterung ausgesetzt und unhöflicherweise von dem Gespräch ausgeschlossen haben. Ich hoffe, Sie haben sich nicht allzu gelangweilt.«
»O nein«, erwiderte Olivia wahrheitsgemäß. »Es war faszinierend. Diese Vorfälle, von denen Sie gesprochen haben – sind sie sehr ernst?«
Sie hatte sich angewöhnt, Sir Joshua viele, oft naive Fragen zu stellen, die er üblicherweise nachsichtig und gutmütig beantwortete. Aber jetzt lag ein verärgerter Ausdruck auf seinem Gesicht: »Nein, natürlich nicht. Auf und Ab gibt es immer im Geschäftsleben, und wir sind davon nicht ausgenommen. Im Chinageschäft werden Männer über Nacht Millionäre oder gehen bankrott. Glücklicherweise sind Leute von unserer Beweglichkeit wie Stehaufmännchen sofort wieder auf den Beinen. Stimmt doch, Arthur, nicht wahr?« Er hatte sich gefangen und war wieder guter Laune. Er rieb sich die Hände und lächelte.
»Richtig.« Der kleine gedrungene Ransome erhob sich aus dem Sessel und streckte abwechselnd beide Beine. Olivia fiel auf, daß er den Kopf gesenkt hielt, um dem Blick seines Partners auszuweichen.
Es war beinahe Mitternacht. Ransome war Junggeselle und lebte allein. Deshalb übernachtete er oft bei den Templewoods. Im Gästezimmer im Erdgeschoß hatte man bereits ein Bett für ihn zurechtgemacht. Olivia rief Rehman, der treu vor der Tür des Arbeitszimmers wartete (allerdings war er bereits eingeschlafen), bis sein Herr sich zurückzog, und befahl ihm, das Kaffeetablett und die Cognacgläser abzuräumen. Sie wünschte beiden Männern eine gute Nacht. Ihr Onkel drückte ihr liebenswürdig wie immer einen flüchtigen Kuß auf die Wange und brachte sie zur Tür. Olivia drehte sich noch einmal um, weil sie sich lächelnd für den Abend bedanken wollte, ehe sie die Tür hinter sich schloß. Aber ihr Lächeln gefror, und ihre Augen wurden groß.
Sir Joshuas Gesichtsausdruck war so feindselig, so unverhüllt böse, so haßerfüllt, daß Olivia wie angewurzelt stehenblieb. Es war nur ein kurzer Augenblick, und ebenso schnell war es vorüber, aber er hatte etwas so Abstoßendes an sich, daß es Olivia schauderte.
»Sagen Sie«, fragte Freddie Birkhurst, »mögen Sie Krocket?«
Vor zwei Monaten, als sie neu angekommen war, hätte Olivia ohne Zögern gefragt: »Was ist Krocket?« Acht Wochen von Lady Bridgets unermüdlichem Unterricht in der Kunst höflicher englischer Unterhaltung hatten Olivia jedoch Vorsicht gelehrt. Das Problem war, sie konnte sich um alles in der Welt nicht daran erinnern, ob Krocket ein Spiel oder eine Art Hammelkotelett war. Nach einem prüfenden Blick in das ernste Gesicht des ehrenwerten Frederick James Alistair Birkhurst, ihres Begleiters an diesem Abend, beschloß sie, auf Nummer Sicher zu gehen. »Krocket? Ach, ich bin nicht sicher, daß ich so etwas schon einmal versucht habe.«
Freddie sah sie an. Seine hervorquellenden Augen waren gefährlich nahe daran, aus den Höhlen zu fallen. Dann lachte er schallend. »O Miss O’Rourke, Sie haben einen himmlischen Sinn für Humor! Sagen Sie, sind alle Amerikaner so entzückend witzig?« Durch das breite Lächeln verschwand sein bißchen Kinn völlig.
»Es gibt siebzehn Millionen Amerikaner in Amerika, Mr.Birkhurst«, sagte sie kühl. »Da ich nicht alle kenne, kann ich Ihre Frage wohl kaum erschöpfend beantworten.«
Nach zweieinhalb Stunden in Freddies Gesellschaft war Olivia allmählich mit ihrer Geduld am Ende. Seit er sie in seinem eleganten Brougham mit den Wappen an den Türen abgeholt und zu den Pennyworths gebracht hatte, war er keinen Augenblick von ihrer Seite gewichen, es sei denn, um sich ein frisches Glas Whisky geben zu lassen. Als Lady Bridgets amerikanische Nichte zog Olivia bei Burra Khanas mühelos die Aufmerksamkeit auf sich, obwohl es das letzte war, das sie sich auf solchen öden Gesellschaften wünschte. An diesem Abend sehnte sie sich trotzdem nach der Aufmerksamkeit anderer, und sei es auch nur, um Freddies Anwesenheit erträglicher zu machen, denn dieser Gentleman himmelte sie an. Ihre Kiefer schmerzten vom obligatorischen Lächeln, und ihre Schläfen pochten aus Mangel an frischer Luft in den überfüllten Räumen. Aber es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Selbst Estelle war am Arm ihres schneidigen Hauptmann Sturges verschwunden, und Olivia hatte absolut kein Verlangen danach, in Gesellschaft von Lady Bridget und ihrer Freundinnen Erlebnisse mit Flöhen, Wanzen oder diebischen Köchen auszutauschen.
Olivia schlenderte mit ihrem Kavalier leicht verzweifelt durch einen Raum, in dem es von bekannten Gesichtern wimmelte, denen sie aber nur wenige Namen zuordnen konnte. Wie bei allen Burra Khanas sah man auch hier die obligatorischen Uniformen, die übliche Mischung aus Kaufleuten, Bankiers und Beamten der John-Kompanie. Die Herren in Zivil trugen Gehröcke und Hemden mit steif gestärkter Brust. Ein oder zwei junge Burschen waren in sportlichen Reithosen und mit gemusterten seidenen Halstüchern erschienen. Die Damen liebten besonders Krinolinen und Chintz über Reifröcken und üppigen Petticoats. Das eng anliegende Oberteil war mit Rüschenkrägen, Schleifen, Knöpfen, Bändern und Metern von Spitze verziert, die durch das ständige Waschen schlaff herunterhing. Olivia wußte, wenn sie dem Drängen ihrer Tante nachgegeben und das smaragdgrüne Kleid aus Tussahseide angezogen hätte, wäre sie vor Hitze umgekommen. Das lavendelfarbene Organdykleid mit den kurzen Puffärmeln und dem leicht gerundeten Ausschnitt, für das sie sich statt dessen entschieden hatte, war ungewöhnlich schlicht, aber wenigstens luftig.
Während Olivia sich an Freddies Seite plaudernd zwischen den Gästen bewegte, war sie vielen ›Gefahren‹ ausgesetzt, und das ›Plaudern‹ empfand sie als eine Strafe. Sie wurde immer wieder aufgefordert, das Gesagte zu wiederholen, und, was noch schlimmer war, auch sie mußte andere ständig darum bitten. Olivias Aussprache klang für die Engländer merkwürdig, aber deren Dialekte – die von Cornish bis Cockney reichten – verwirrten Olivia nicht weniger. Mit ständig wiederkehrenden umgangssprachlichen Ausdrücken wie Tiffin (Mittagessen), Mofussil (die Provinz), Gymkhana (Sportveranstaltung) und Chota Peg (der erste Whisky oder Brandy mit Soda) konnte sie ohne Erklärung überhaupt nichts anfangen. Besonders ärgerte sie die erschreckende Unwissenheit der Engländer über ihre Heimat. Einen gewissen Trost bot vielleicht der ebenso niedrige Wissensstand über Indien – das Land, in dem sie lebten – und sogar über England, von dem man sehnsüchtig als ›zu Hause‹ sprach, obwohl viele nie dort gewesen waren.
»Wie ertragen Sie dieses höllisch langweilige Leben hier, Miss O’Rourke? Finden Sie nicht auch, daß man verrückt werden kann?«
Olivia drehte sich um und stand vor Peter Barstow, einem Freund von Freddie. Noch ein Nichtstuer mit Vermögen. Sie hatte ihn schon einmal getroffen, fand ihn oberflächlich und langweilig. »Ich ertrage es sehr gut hier, Mr.Barstow«, erwiderte sie weniger wahrheitsgemäß als aus Loyalität gegenüber den Templewoods. »Weshalb bleiben Sie, wenn Sie das Leben hier nicht ertragen können?«
»Aus dem gleichen Grund wie Freddie. Auf Paters Befehl.«
»Pater?«
»Sein Vater«, erklärte Freddie. »Wir sind beide von Oxford geflogen. Unsere alten Knaben waren wütend, zu Recht, würde ich sagen. Die ganze Sache war eine schreckliche Schande, die Ehre der Familie befleckt und so weiter. Jeder fand, wir würden in den guten alten Kolonien die Familie vermutlich weniger in Mißkredit bringen, nicht wahr, Peter?« Er rülpste, entschuldigte sich und verschwand leicht schwankend in Richtung Bar.
Olivia sah ihm verständnislos nach. »Geflogen?«
»Gefeuert. Hinausgeworfen, verstehen Sie?« Barstow grinste. »Eigentlich ein Glück. Ich konnte das staubige alte Mausoleum ohnehin nicht länger ertragen.« Er trank einen Schluck und betrachtete Olivia nachdenklich über den Rand des Glases. »Bitte verraten Sie mir, Miss O’Rourke, da Sie dieses verfluchte Land so gut ertragen, was machen Sie in den langen öden Stunden des Tages? Glauben Sie mir, ich sehne mich wirklich danach, es zu erfahren.«
Olivia überging den kaum verhüllten Spott. »Ich reite jeden Morgen aus und erforsche die Stadt. Ich lese sehr viel, und ich genieße es, ganz gewöhnliche alltägliche Dinge zu entdecken. Ich finde, es gibt soviel über diesen exotischen Subkontinent zu lernen.«
»Lernen?« Er sah sie überrascht an. »Aber, aber, meine liebe Miss O’Rourke! Wir sind nicht hier, um zu lernen, wir sind hier, um zu lehren!«
Diesmal ärgerte sich Olivia über die Herablassung. »Ach wirklich? Dann sagen Sie mir doch, Mr.Barstow, welche Qualifikationen haben Sie, um die Inder etwas zu lehren, wo Sie doch von Oxford geflogen und in die Kolonien verbannt worden sind?«
Er errötete, überspielte den Affront jedoch mit einem gemurmelten »Touché!« Trotzdem war in seinen blaßblauen Augen Zorn. »Ich habe in der guten Gesellschaft Kalkuttas gehört, daß Sie, Miss O’Rourke, eine junge Dame mit eigenen Ansichten sind. Darf ich fragen, wie es kommt, daß Sie bereit waren, freiwillig ein Mitglied der Fischfangflotte zu werden? Ich bin sicher, Sie werden mir die Frage nicht verübeln, da Amerikanerinnen doch so bewundernswert direkt und geradeaus sind.«
»Die Fischfangflotte?« Olivia sah ihn verständnislos an.
»Sie kennen den Ausdruck nicht?« Er fuhr sich mit der Fingerspitze über den gewachsten Schnurrbart. »Dann gestatten Sie mir, Sie aufzuklären. Jahr für Jahr kommen Scharen junger Damen in der Absicht nach Indien, einen Ehemann zu finden. Im hiesigen Sprachgebrauch ist es die Fischfangflotte. Wenn ihre Suche erfolglos bleibt, und bei manchen ist das bedauerlicherweise so, sind sie gezwungen, wieder abzufahren, ohne sich einen Mann geangelt zu haben. Dann gehen sie als Leerfracht zurück nach Hause.« Er lachte leise, fügte aber rasch hinzu: »Natürlich könnte eine so hübsche junge Dame wie Sie, Miss O’Rourke, unmöglich zur Leerfracht gehören, und schon gar nicht, wenn Lady Bridgets Bemühungen erfolgreich sind.«
Dieser aufgeblasene Laffe! Olivia packte die kalte Wut, aber sie ließ sich nichts anmerken. Lieber würde sie sterben, als ihm die Genugtuung verschaffen, zu sehen, daß sie sich ärgerte! »Da wir Amerikanerinnen so direkt und geradeaus sind, Mr.Barstow«, sie lächelte reizend, »könnten manche junge Damen Ihre gütigen Worte als Heiratsantrag betrachten. Sind sie das?« Olivia hatte das große Vergnügen, zu beobachten, wie er dunkelrot anlief und ihm der Mund offenstand. »Nein? Nun, ich kann nicht leugnen, daß ich erleichtert bin. Es gibt bestimmt Schlimmeres, als zur zurückgeschickten Leerfracht zu gehören. Sie entschuldigen mich.« Mit einem glockenhellen Lachen ließ sie ihn stehen und stürzte sich in die Menge. Innerlich kochte sie vor Wut.
Lady Bridget saß am anderen Ende des Raums und strahlte. Wie gut Olivia mit den jungen Männern zurechtkam – um nur nach dem Lachen zu urteilen! Barstows Familie gehörte zwar trotz eines adligen zweiten Vetters nicht in denselben Rang wie Freddies Familie, aber auch die Barstows waren nicht zu verachten. Lady Olivia war für den Augenblick zufrieden. Sie wandte sich wieder der Gastgeberin zu und plauderte fröhlich mit ihr über die schreckliche Hitze.
Glücklicherweise schien Freddie aus Olivias unmittelbarer Umgebung verschwunden zu sein. Sie nutzte seine Abwesenheit und eilte rasch, ehe es zu spät war, durch den Raum zur Veranda an der Rückseite, die auf den Garten ging. Auf dem Weg dorthin beklagte sich eine Mrs.Babcock, die Frau eines Methodistenpredigers, bitter über die miserable, wirklich miserable finanzielle Unterstützung, die ihr Mann von der Kirche erhielt, wenn man an die Mittel dachte, die der Amerikanischen Missionsgesellschaft in Bombay zur Verfügung standen. Sie schien ausschließlich Olivia für diese Ungerechtigkeit verantwortlich zu machen. Estelle schwebte kurz vorüber und ließ sich versichern, daß ihr smaragdgrünes Georgettekleid wirklich sehr viel eleganter war als Charlotte Smithers geschmackloses Konfektionskleid aus London. Außerdem baten ein Leutnant Pringle in einer prächtigen Marineuniform und einige andere Männer darum, sich auf Olivias Karte für einen Tanz vormerken zu dürfen.
Der Garten hinter dem Haus lag verlassen. Nur zwei Diener mit Turban und in langen weißen Jacken warteten stumm auf Befehle. Man hatte sie gelehrt, den Sahibs und Memsahibs niemals ins Gesicht zu sehen. Deshalb senkten sie den Blick und verneigten sich tief, als Olivia an ihnen vorbei und auf den Rasen lief. Eine hohe Mauer trennte das Grundstück der Pennyworthys vom befestigten Ufer. Das schmiedeeiserne Tor war zwar verschlossen, stellte jedoch kein Hindernis dar. Mit einem raschen Blick über die Schulter raffte Olivia die Röcke und kletterte darüber.