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Verwirrt und verloren in den Fängen einer kalten Stadt. Der knapp 22-jährige Michail wird von einem ehemaligen Schulfreund namens Nikolai aus der Obdachlosigkeit befreit. Er zieht in dessen karge Wohnung ein und wird zeitgleich für eine geheime Organisation rekrutiert, deren Ausmaß er gar nicht wirklich begreift. Geleitet von anonymen Briefen, Notizen und Telefonanrufen wird er auf nächtliche Botengänge jenseits des öffentlichen Auges geführt, die ihn immer stärker zum Rätseln darüber bringen, wer denn wirklich seine Auftraggeber sind. Eine Frage nach der nächsten treibt ihn durch die Nacht, bis sich plötzlich der wahre Schrecken entpuppt: Tief unter dem Blick der Allgemeinheit versteckt sich ein Netz aus unvorstellbaren Monstrositäten und paranormalen Phänomenen. Dabei sind Michails Auftraggeber nicht einmal die einzigen Leute, die sich diese Anomalien zunutze machen. Während ein Geheimnis nach dem nächsten zum Vorschein kommt, zweifelt Michail an sich selber und den Gegebenheiten, die ihn damals überhaupt in die Obdachlosigkeit geführt haben, sodass am Ende nichts sicher ist bis auf den Frostwind und Regen dieser fürchterlichen Stadt…
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Zweite Auflage, 2022 (Erstveröff. 2021).
Text: © Copyright Max Galetskiy Umschlaggestaltung: © Copyright Max Galetskiy Lektorat: Lasse Hagen Meyer
Verlag: Max Galetskiy Thurgauweg 1 88690, Uhldingen-Mühlhofen
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
An meine Freunde.
Vielen Dank an N.B.
Und was Magnum Opus heißt, weiß keiner…
Du läufst über einen breiten Kiesweg, fernab von der lauten Hauptstraße, die selbst an so einem kargen, öden Tag keine Ruhe geben will. Mit jedem Schritt merkst du, wie sich die körnigen Steinchen stets weiter durch deine Sohlen bohren, wie sie tückisch über deine Fersen rollen, nur um dann vom hinteren Sohlenrand weggestoßen zu werden. Mit großen Augen starrst du auf das ferne Kloster. Auch im Angesicht eines trüben Regenschleiers kann dich sein schlichter, steinerner Anblick begeistern. Da beginnen die Tropfen auch über dich herzufallen. Nach und nach prasselt die Nässe des seichten Regens auf dich und deine Kleidung ein. Schweiß und Wasser, getrennt von Wolle – Das unangenehme Gefühl überwältigt dich vollkommen und schon bald wandeln sich die aufgerissenen Augen um zu einer mürrischen Visage. Du willst dich gerade von dieser kratzenden Nervigkeit ergreifen lassen, als dich plötzlich ein grelles Blinken aus deiner kleinen Welt reißt:
Am Fuß eines Hügels, unmittelbar neben einem Bahnübergang, leuchten die Blaulichter eines stillstehenden Krankenwagens. Nebendran sammeln sich einige Figuren um einen demolierten grauen Kleinwagen. Du bewegst dich mit schnellen Schritten auf den Unfallort zu und fragst dich, warum du ihn nicht früher gesehen hast. War es bloße Verlorenheit? Das müde Ausklinken eines langen Tages? Während die Sirenen allmählich verstummen, werfen die blauen Leuchten des Krankenwagens ein Loch durch den Schleier aus Regentropfen.
Nach und nach rückt die Unfallszene näher. Der Fahrer des grauen Wagens liegt auf dem Boden, direkt neben der eingequetschten Front seines Fahrzeugs. Ihm geht es alles andere als gut. Währenddessen liegt sein Nebenmann noch im Auto, regungslos an das zerkratzte Fenster gepresst. Ein Sanitäter versucht verzweifelt, ihn aus dem Wagen zu zerren. Blut sammelt sich langsam um den Nacken. Sein Partner kniet vor dem Fahrer nieder und fühlt seinen Puls. Panik sammelt sich in seinen Augen. Sofort reißt er sich auf beide Beine und flieht zum hinteren Ende des klotzartigen Krankenwagens. Auf halbem Weg bremst er ab. Er hat Blickkontakt mit dir. Seine Pupillen springen förmlich erleichtert auf, während deine gänzlich in jener Wortlosigkeit versinken, die deinen Geist gepackt hat.
„Sie da!“, schreit er und reißt dabei so ein großes Loch in deine Brust, dass dein gesamter Körper für einen kurzen Moment komplett stillsteht, „Kommen Sie, ich brauch Ihre Hilfe!“
Nickend stolperst du auf den Krankenwagen zu und versuchst dabei, dich nicht von den ruckartigen Bewegungen deiner Augen, die zwischen dem Unfallopfer und dem Sanitäter hin- und herschwenken, ablenken zu lassen. Als du schließlich die beiden Hintertüren erreichst, stößt der Rettungsassistent einen weiteren Ruf aus:
„Wir brauchen den Defibrillator, schnell!“
Eure Hände bewegen sich blitzschnell auf die rostigen Türklinken zu. Ein markantes Quietschen reißt die Luft auseinander. Da ebnet sich die Pforte…Du zuckst zurück. Für einen Moment verschwindet das Kloster, für einen Moment verschwindet der Unfall, der Sanitäter…und du starrst hinab in einen Abgrund, der so tief und so dunkel ist, dass du dir sicher bist, ein Mensch könnte sollte so etwas nicht sehen können. Du siehst deine blassen Erinnerungen, dein eigenes Gesicht vor dir…so sehr ergreift dich die Angst. Einige Sekunden lang sammelt sich dein Leben vor dir, bis dein Geist plötzlich zu überhitzen scheint. Als der dünne Nebel zersplittert und das Adrenalin durch deinen Schädel strömt, kehrt der Krankenwagen zurück und lässt dich sein tatsächliches Inneres wahrnehmen:
Hinter den Stahltüren warten keine Krankenliege, keine Beatmungsmaschinen und vor allem kein Defibrillator. Tatsächlich blickt dir eine pulsierende Masse entgegen. Schichten aus einem pinken Fleischgewebe. Ein monströser Haufen, der Luft durch seine Poren ausstößt, Blut durch seine Venen pumpt und ein kaltes Flimmern durch seine Hautfetzen schickt. Es lebt, alles daran lebt…für einen Augenblick scheinst du einen Mund darin zu erkennen, dann einen Augenschlitz, schließlich ein ganzes Gesicht! Und während du so lange entsetzt auf das Fleisch starrst, dass sich kratziger Staub auf deiner Netzhaut sammelt, starrt es zurück…Es streckt langsam seine feinsten Auswüchse in die Höhe, schlabbert mit seinen Gliedern die Wassertropfen von deiner Kleidung. Als sich dein Schädel gänzlich gegen dein Gehirn drückt, schaffst du es deinen Körper zu einer einzigen, plötzlichen Bewegung zu zwingen. Du zuckst zurück und fällst dabei direkt in die Arme des Sanitäters, der dich daraufhin prompt ergreift. Er schubst dich nach vorne, sodass du über den Kies rollst und stolpernd durch den Türrahmen des Krankenwagens fällst. Ehe du auch nur einen Schrei aus deinen entleerten Lungenflügeln herauspressen kannst, fühlst du die raue Umarmung des Fleisches. Das rosa Gewebe nimmt sich deiner an und saugt sich mit seinen Poren so fest an deine Haut, dass jeder Widerstand, den du leistest, nur zu Schrammen und Narben führt. Deine Augen erblinden durch den sauren Schleim, mit dem das Fleisch an dir nagt. Deine Ohren werden Taub, während sich die winzigen Auswüchse in ihnen einnisten. Ein letztes dumpfes Kichern bleibt das letzte Zeichen, welches dein Versinken endgültig macht.
Doch dein Körper hört nicht auf. So viel Schmerz, so viele verstummte Schreie und trotzdem hört er nicht auf. Alles, was du hattest, wurde absorbiert und auf grausamste Weise in das Fleischgewebe eingefädelt…trotzdem…trotzdem hört er nicht auf. Während der Unfall im grauen Nebel verschwindet und die Sanitäter auf ein nächstes Opfer warten, wirst du vom Schmerz eingesogen. Ein Stechen im Gehirn, ein Rasen in deinem Herz, ein umgeknickter Nacken. Obwohl all diese Körperteile nicht mehr da sind, nimmst du sie immer noch wahr. Du spürst, wie sie versagen, dich in den Tod reißen, du aber nicht stirbst. Abermillionen Tode, die sich doch auch wie ein einziger anfühlen. Schmerz, dem die Erlösung fehlt, gestreckt auf die Unendlichkeit. Und obgleich sich die Zeit deinem Geist entzieht, nimmst du doch wahr, wie Stunden, Tage und schließlich Jahre vergehen. Das Gefühl des Sterbens wird nicht normaler, der Tod nicht angenehmer…ganz im Gegenteil: Jedes Mal pocht mehr Adrenalin durch deine aufgelösten Venen, mehr Angst durch deine toten Synapsen. Während du wieder und wieder aufgibst, spürst du, wie die Sanitäter dir zuschauen, wie sich diese Wesen an dir und den anderen unglücklichen Samaritern, die jetzt in diesem Fleisch hausen, laben.
Lähmend ist der Schmerz, der niemals stoppt…
Max Galetskiy
Wer zur Lichte flieht…
Erzählt durch die Augen von Michail Aslanov
Seine Hände klammerten sich um den grünen Hörer, seine Fingerkuppen fuhren dabei sanft über die abblätternde Farbe. Die Stimme am anderen Ende war so rau und kratzig wie immer.
„Hallo, hier ist Sasha von der Rezeption.“, kaum etwas bemühte sich darum, die Lüge zu verstecken, „Dein Kollege meinte vorhin, dass du deinen Ordner im Büro vergessen hast. Du kannst ihn jetzt schnell abholen, aber bitte stör die anderen nicht bei der Arbeit, ein paar haben noch ihre Nachtschicht.“
Während Michail die leeren Worte ausklinken ließ, warf er einen Blick auf das dreckige Wohnzimmer. Jedes Mal, wenn er mit den Botschaftern sprach, schien die Umgebung um ihn herum zu verblassen. Die verstaubten Laminate, die zerkratzten Holzplanken an den Wänden…selbst das Rauschen des kleinen Röhrenfernsehers verschwand aus seinem Sichtfeld. So blieb ihm letztlich eine Leere, in die er der Kargheit seiner Gedanken freien Lauf lassen konnte.
„Okay, ich kümmere mich drum.“, entgegnete er der lügenden Stimme. Kühle Worte, die ein Loch in sein verwirrtes Antlitz rissen. Was wollten sie diesmal von ihm? Wieder ein Paket? Oder noch ein Gaunerzinken? Das Wohnzimmer verblasste erneut und Michails Gedanken schweiften wieder auf die Botschafter über, die ihn durch die erfrorene Stadt schickten. Er dachte an die lose Reihe aus Vorschriften, die man ihm damals als strikte Regeln präsentiert hatte.
1.Von nun an haben die Botschafter vollsten Zugriff auf deine Bleibe
2.Du hast dafür zu sorgen, dass den Botschaftern weder materiell noch anderweitig etwas im Wege steht, wenn es Zeit für ihren Ruf ist
3.Die Botschafter sprechen, du lauschst. Höre ihnen zu und du wirst wissen, was zu tun ist.
4.Nichtbefolgen ihrer Anweisungen mündet in einer Warnung
5.Nichtbefolgen ihrer Warnung mündet in einer Strafe. Augen und Ohren, Augen und Ohren.
PASA SARX.
Kopfschüttelnd legte Michail den Hörer zur Seite und machte sich auf den Weg zum besagten „Büro“. Seine Maske klemmte er sich vorsichtig unter den Arm.
17 Tage zuvor…
Wasser. Dumpf herunterprasselnd, energisch den Dreck vom Straßenrand aufreibend. Seien es die wenigen gläsernen Türme, die der Stadt noch geblieben waren oder die flachen, tief gebauten Supermärkte mit ihren müden, apathischen Fassaden. Seien es die Betonfesten, in denen die kargen Korridore mehr Platz boten als die Wohnungen, die sie bewachten oder die prächtig verzierten Metrostationen, denen das letzte Leid erspart blieb. Seien es die rostfarbenen Regierungsgebäude oder die verlassenen Urbanbauten, in denen mittlerweile nur noch Blaulicht und Terror einen Platz fanden – alles wurde vom Regen erwischt und graugefärbt.
Die letzte Bastion, die Michail noch vom kalten Ertrinken bewahren konnte, war eine der vielen Brücken, welche die lieblosen Stadtteile miteinander verbanden. Mit dem Schlafsack auf einem Kieshaufen zwischen den kantigen Betonpfeilern, dutzende Meter unterhalb der dicht befahrenen Autobahn. Eine zu enge Daunenjacke kratzte an Michails zerrissenem Pullover und Michails zerrissener Pullover an seiner Haut. Dreckklumpen rutschten unter seine Hose, eine hauchdünne Schicht aus Frost machte sich auf seinem Gesicht breit. Seine Hände waren bereits gelähmt, sein Geist bereinigt. Alleine kauerte er zwischen den wenigen Essenstüten, die ihm von der alten Frau, die ihm vor einigen Tagen helfen wollte, geblieben waren. Zitternd hauchte er immer wieder dieselben zwei Worte in die Kälte, damit seinen Erinnerungen noch irgendetwas blieb: Michail Aslanov, Michail Aslanov.
Plötzlich Stress. Ende der Ruhe. Durch die wasserbedeckte Straße fahrende Reifen, aufgerissene Augen. Ein rot glänzender Wagen begab sich unter die Brücke. Mit zwei eckigen Scheinwerfern hauchte er ein erblindendes Leuchten direkt in Michails Gesicht. Als dieser die Augen, die er eben zuvor schließen musste, wieder aufriss, wirkte es so, als könnte er plötzlich, von einem Moment auf den anderen, alle Lichter der Stadt wahrnehmen. Während die grell leuchtenden, gelben Zimmer der Bürotürme den Regen förmlich wegpusteten, saugten ihn die trüben Straßenlampen fast ein. Unterdessen brachten die wenigen Schilder des kümmerlichen Gewerbegebiets einen Glanz in die Stadt, der all ihre Narben und Schrammen bloßstellte.
Zwischen den Lichterspielen, die um Michails Kopf herum pulsierten, stand nun das Auto. Es war ein roter Aleko, der mit seinen fast kalkweißen Felgen von den Macken und Grobheiten seines Äußeren abzulenken versuchte. Die Motorhaube war beinahe länger als die zwei Sitzreihen hinter ihr und auffallen konnte sie nur durch Schlichtheit. Alles von den Spiegeln über die Scheibenwischer bis hin zur Radioantenne zeugte von einer markanten Plattheit, die man schon von den immer gleichen Häuserreihen der Stadt gewohnt war.
Ein lautes Knallen hallte unter der Brücke hinweg. Das Auto war angehalten und der Fahrer hatte die Tür prompt zugeschlagen. Er war, genauso wie Michail, ein junger Mann. Sein zu großer Kapuzenpullover war bereits nach einigen Sekunden völlig durchnässt. Die dicken Arbeiterhosen, die er trug, schienen bei jedem Schritt an seinen dürren Schenkeln zu rütteln. Michail drehte betroffen den Kopf zur Seite, aber der einsame Fahrer lief gradlinig auf ihn zu, musterte ihn dabei verwirrt. Für einen kurzen Augenblick schien die Stille das Geräusch des prasselnden Regens zu zerreißen. Dann, wie ein Hammer der Gräue entgegen, folgte ein Schrei.
„Micha! Micha, bist du’s?“
Der Mann im Schlafsack richtete sich auf und schwenkte den Kopf auf den Fremden zu. Hochgerissene Augenbrauen, gekräuselte Lippen – ohne, dass Michail irgendetwas antworten musste, sah der Mann seinen Verdacht bestätigt. So reagierte er kaum auf das verwirrte Gestammel, dass dieser nun von sich gab.
„Du bist es wirklich…Michail...“, er blickte entsetzt auf die beschmierten Brückenpfeiler an seinen Seiten, „Scheiße, Mann…du bist obdachlos?“ Ein fragender Blick, kalte Stille. „Lass uns ins Auto…du erfrierst ja noch!“
Die rauen Ledersitze waren eine gigantische Befreiung für Michails abgemagerte, nasse Schenkel. Während sich der Fremde an seinem bekümmerten Auftreten den Kopf zerbrach, warf er selbst einen Blick auf das Innere des Autos. Auch hier wurde alles von den Ecken und Kanten der hiesigen Plattheit beherrscht. Von den gitterartigen Kopflehnen der Sitze, dem dünnen Rand des Lenkrads bis hin zu dem merkwürdigen, pyramidenähnlichen Ansatz des Schaltknüppels.
„Du armer, armer Junge…“, murmelte der Fremde, „Dass du gerade hier gelandet bist…“ „…“ „Du erkennst mich nicht wieder, oder? Ich bin Nikolai…“ „Mhh.“ „Nikolai Mandughai? Dein alter Klassenkamerad?“, jede seiner eigenen Fragen machte ihn nur noch verdutzter, „Du erinnerst dich an gar nichts?“
Stille. Stille, auf die hin Nikolai seinen Kopf schüttelte und das Auto startete. Ein dumpfes Klopfen, dann das Geräusch des prasselnden Regens und auf einmal hatte Michail die letzte Bleibe, die ihm noch geblieben war, verlassen. Der eine triste Beton wurde schnell vom anderen ersetzt. Schon bald flimmerten die Lichter der Supermärkte und die Scheinwerfer der mit Graffiti beschmutzten Omnibusse. Der vehemente Regen ging schon fast unter zwischen diesem letzten Aufschrei einer schlafenden Stadt. Michail interessierte sich dafür aber nicht. Für ihn verblassten diese Kleinigkeiten in seinem Sichtfeld. Sie verschwanden, während er den Blick auf sein Inneres richtete. Wieder einmal begann er, Worte zu wiederholen. Nikolai, Nikolai…Es war ein Loch. Er hatte nichts. Keine Gesichter, die er auf den Fremden zuordnen konnte…auch kein Name, aber dafür ein kleines, unscheinbares Kitzeln, das sein ganzes Unterbewusstsein zum Schmoren brachte.
„Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst.“, gab der vermeintliche Klassenkamerad von sich. „Ich komm nicht drauf…“, Michail hatte es geschafft, einige Worte aus sich hinauszupressen, „Ich komm einfach nicht drauf.“ „Haben dich deine Alten so im Stich gelassen?“ „Mh…scheint so.“ „Vergiss es…“, er seufzte, „Du kannst gottfroh sein, dass ich dich hier gefunden hab!“
Nikolai drehte ruckartig das Lenkrad. Der kleine Aleko wendete und bog auf eine Landstraße ab, die frei war von den gigantischen Betonmassen der Stadt. Sofort wurde das Auto hin und her gerüttelt. Michail dachte, das Pulsieren in seinem Schädel könnte gar nicht schlimmer werden. Diesen Gedanken bereute er schnell.
„Hör zu…“, Nikolai hatte das Auto angehalten und nahm nun direkten Blickkontakt mit Michail auf, „Ich kann dir einen Platz in meiner Wohnung anbieten…aber wir sollten nicht hier drüber sprechen.“, auf seinen Lippen bildeten sich langsam die Züge eines Lächelns, „Man weiß ja nie, wer alles zuhört!“
Mit diesen Worten verließ er das Auto und begab sich auf die vom Schatten verdeckte Wiese, neben der er gehalten war.
„D-du…“, stammelte Michail. „Noch musst du dich nicht bedanken!“, ein weiteres Grinsen.
Jeder Schritt, den die beiden dunklen Gestalten unternahmen, hallte laut in der Peripherie wider. Jeder Schritt schien von den blinkenden Blaulichtern der Stadt beantwortet zu werden.
„Also…“, Nikolai atmete tief ein, „Wenn wir ehrlich miteinander sind: Noch so eine Nacht überlebst du nicht. Scheißegal, wie du da reingekommen bist…“, er räusperte sich, „Ich lass dich sehr gerne bei mir wohnen, aber ich bin keine Wohlfahrt. Wenn du bei mir bleiben willst, brauchst du Arbeit. Aber hey…sollte ja kein großes Ding sein, oder?“
Keine Reaktion.
„Ja du merkst es schon selbst…“, er warf der fernen Stadt einen verächtlichen Blick zu, „Die da hinten halten dich für Dreck…elendigen, widerwärtigen Dreck…und egal, ob du mir das jetzt übelnimmst oder nicht, das ist exakt was du bist. Die werden dir nie in deinem Leben irgendeinen Arbeitsplatz abdrücken. Das hast du dir auf ewig versaut…“
Noch ein Lächeln.
„Du erkennst das Problem, Micha? Du brauchst Arbeit, aber du wirst nie Arbeit bekommen können…“, er richtete sich und setzte eine ernstere, einfühlsamere Miene auf, „Ich kann dir helfen. Dort draußen, zwischen Dickicht und Tumult, wartet ein Netzwerk aus dutzenden…eine Arbeit abseits von dem Rahmen, den sie uns vorschreiben wollen.“
„Ich bin dabei.“
Diesem Stille durchbrechenden Ausruf Michails begegnete Nikolai mit einem lautstarken Lachen.
„Ich hab dir doch noch gar nicht erklärt, was du machst!“, rief dieser amüsiert. „Es ist egal. Ich bin dabei…“
Die beiden setzten sich ins Auto und fuhren, mit dem Blick erneut auf die blinkenden Lichter der Großstadt gerichtet, los.
„Also…“, Nikolai ließ seine Worte in der Leere ausharren, „Dieser Job ist bindend…fürs Leben. Wenn du einmal drin bist, steckst du auf einer Einbahnstraße fest.“ „Verstehe.“ „Die Leute, die dich reinbringen…sie sitzen in Glastürmen, aber lass dich davon auf keinen Fall täuschen.“ Als keine Reaktion kam, setzte Nikolai selbst erneut zum Sprechen an: „Wir fahren zuerst zu mir, so kannst du dich beim Büro auf keinen Fall blicken lassen.“
Regen. Rollende Reifen. Knarzende Straßenübergänge, schreiende Stadt. Alles, was kein grässliches Geräusch von sich gab, verfiel in unangenehmste Stille. Gerade, als der Wagen die dichtesten Betonansammlungen der Stadt durchquert hatte, brach Michail sein Schweigen.
„Scheiße…“, kopfschüttelnd murmelte er es vor sich hin. Wieder und wieder als wäre es sein Mantra, „Was zur Hölle, was zur Hölle…“ Da mischte sich Nikolai ein: „Wenn du einen ernstgemeinten Ratschlag von mir hören willst: Lass es liegen. Denk einfach nicht mehr dran, schau nach vorne…“ „Du hast gut reden mit deinem Auto, deiner Wohnung…deinem tollen Job!“, Michail seufzte, „Zwei Monate…mit dem Gesicht im Dreck und dem Körper auf der Straße…und ich hab keine Ahnung wieso!“ „Es passiert den besten von uns!“, Nikolais Grinsen wurde nur mit einem dumpfen Grunzen begegnet, „Was ist denn das letzte, woran du dich erinnerst?“ „I-
Eine halbe Stunde verging.
Zu zweit im vierten Stock eines Glasturms. Michail musste einen tiefen Atemzug nehmen um durch die Fahrstuhltür zu schreiten. In nur einem einzigen Bußgang wurde der ganze Dreck, mit dem die Straßen ihn beschmutzt hatten, abgewaschen. Abgewaschen und verdrängt von den dröhnenden Lichtern der wenigen Deckenlampen. Abgewaschen von den widerlich schimmernden schwarz-weißen Bodenfliesen, verdrängt von den dumpfen Piepstönen der Kopiermaschinen.
Er fuhr über die enge Kleidung, die ihm Nikolai gegeben hatte. Ein Hemd voller Falten, eine lose Krawatte, Hosen, die er nicht einmal richtig zuknöpfen konnte, Schuhe, die mit jedem Schritt einen kleinen Abdruck aus Matsch zurückließen – und doch wirkte er nicht fehl am Platz. Die Büros waren fast leer und die wenigen Gestalten, die noch an diesem Ort patrouillierten, konnte man nur als kümmerlich beschreiben. Wer nicht an der Schlange vorm Kopierraum wartete, der tippte wahllos am Computer seiner Wabe herum. Wer nicht am Computer tippte, der schüttete sich mit tränenunterlaufenen Augen den letzten Kaffee der Nacht ein und wer sich nicht den letzten Kaffee der Nacht einschüttete, der stand am offenen Fenster und prustete dem Regen Rauch entgegen.
Nikolai lief prompt voraus und führte Michail an den letzten arbeitenden Seelen vorbei. Hinter einer Reihe aus dunklen Bürozimmern und Abstellkammern wartete ein einzelner Raum, in dem grelles Licht leuchtete. Beige Jalousien verdeckten das Innere, aber das Gröbste konnte man immer noch erkennen: Ein Schreibtisch mit zwei Stühlen zu jeder Seite. Ein funkelndes Messingschild deutete auf den scheinbaren Inhaber des Büros hin: Schaeffer. Michail warf Nikolai einen fragenden Blick zu, aber dieser schien ihn gar nicht zu beachten. Stattdessen ließ er seine Finger über die Türklinge gleiten, um daraufhin langsam den Raum zu betreten. Seine zugekniffenen Augen begrüßte man mit einem breiten Lächeln: Am hinteren Ende des Schreibtisches warteten zwei kleine Figuren. Der linke Mann hatte sich mit einem anthrazitgrauen Anzug umhüllt, während der rechte eine blaue Jacke über seinem gestreiften Hemd trug. Beide hatten dieselbe zerzauste Haarpracht – auf dem Kopf und auf dem Gesicht. Das gedämmte Licht der Schreibtischlampe ließ ihre kantigen Visagen förmlich zu Schemen werden.
„Setzt euch doch ruhig!“, sagte der linkssitzende. „Wir sind nicht so gefährlich wie wir aussehen!“, fügte sein Nebenmann grinsend hinzu.
Nikolai folgte der Anweisung als erster, Michail tat es ihm nach. Was nun begann, war eine minutenlange Pause, in welcher sich alle vier Parteien gegenseitig musterten.
„Du hast uns also noch einen gebracht, Nikolai!“, rief der Anzugträger, „Du machst deine Arbeit mittlerweile echt gut!“ „Der Mann hier ist alleine.“, er ging nicht auf den Kommentar ein. „Sind wir das nicht alle?“
Die zwei vermeintlichen Rekrutierer versuchten sich gegenseitig mit der Breite ihres Grinsens zu überschatten. Für den Augenblick, in dem das Gespräch stehengeblieben war, beäugte Michail die beiden Männer. Dafür, dass es so ein kurzer Moment war, hätten sie sich kaum besser entblößen können. Die Finger des rechten Mannes zuckten. Es waren kleine, ruckartige Bewegungen. Als Michail die Augen weg von den Fingern bewegte, fielen ihm plötzlich die ganzen Kratzer und blutunterlaufenen Krustenteile ein, die der Fremde mit seiner Haarmähne zu verstecken versuchte. Der andere trug zugenähte Narben längst über seinen Arm und für den Bruchteil einer Sekunde schien Michail einen blutigen Verband zwischen den Schlitzen seines Hemdes erkennen zu können.
„Also…“, der Mann in der Jacke setzte da an, wo sein Genosse aufgehört hatte, „Mit uns hast du die perfekte Lösung für dein…Problem.“, er klopfte Michail auf die Schulter, „Raus aus alldem, was sie dir antun und hinein in die Welt, die dir dein Geist zu bieten hat.“ Selbst als der andere erneut das Wort erhob, hörte das wilde Gestikulieren des ersten Mannes nicht auf. „Die Sache läuft folgendermaßen ab: Du wirst ein…äh…Auftragnehmer für uns. Offiziell arbeitest du genau hier im Glasturm.“, er streckte präsentierend die Arme zur Seite, „Wir geben dir eine…“, der Mann kniff die Augen zu, „Eine Technikerstelle oder einen kleinen Beratungsjob…in Wirklichkeit kannst du in den vier schönen Wänden deines Hauses warten.“ Sein Nebenmann reite sich wieder ins Gespräch ein: „Ab morgen wirst du dir im Wochentakt freinehmen müssen…einer von unseren Leuten wird dir eine Botschaft senden. Du hast dafür zu sorgen, dass die Nachricht bei dir ankommt.“ „Dein Freund wird dir da sicherlich noch mehr erzählen!“, ein kurzlebiges Lächeln. „Mach deine Arbeit sauber und diskret und du wirst keine Probleme haben.“, er atmete tief ein, „En chronos…“
Michail warf seinen künftigen „Vorgesetzten“ einen verwirrten Blick zu, doch sie antworteten ihm nur, indem sie ihm einen kleinen, eierschalenfarbigen Papierschnipsel in die Hand drückten.
„Unsere Visitenkarte.“
Ein letztes Grinsen beendete das mutmaßliche Vorstellungsgespräch. Noch während er durch die gläsernen Türen hinausschritt, lugte Michail auf das weiße Papier. Ihm blickten lediglich zwei einfache Wörter in großen Druckbuchstaben entgegen: PASA SARX. Nannten sie sich so? Als er und Nikolai in den Fahrstuhl stiegen und die kauernden Bürogestalten letztendlich hinter sich gelassen hatten, suchte Michail das Gespräch mit seinem neugewonnen Genossen.
„Dieser Typ mit der blauen Regenjacke…er hat etwas gesagt auf einer anderen Sprache…“ „En chronos...“, Nikolai trug die Phrase fast schon gelangweilt vor, „…hot en ataktos anthropon bios.“ „Latein?“ „Griechisch. ‚Es gab eine Zeit, als das Leben der Menschen ohne Ordnung war.‘“ „Und was genau soll das bedeuten?“ „Dass du den Kopf bei dir behalten sollst!“, er hatte versucht das Seufzen zu unterdrücken, „Du bist so, wie du bist, schon verrückt genug…kein Grund, dir noch den Schädel von deiner Arbeit verdrehen zu lassen!“ „W…“, Michail stockte, „Wovon redest du?“ „Du verstehst es schon früh genug, Micha.“
Zwanzig Minuten vergingen.
Schwindende Farbe. Oben ein plattes Orange, unten ein dunkles Rostrot. Nikolais Wohnung befand sich in einem vergleichsweise kleinen Appartementgebäude am Rande des Industriegebiets. Blockbauten um Blockbauten, stets unterbrochen von den winzigen Grasflächen eines Spielplatzes. Es war fast erschreckend, wie transparent sie die kaltblütige Architektur der Stadt gestaltet hatten. Selbst in den einzelnen Häusern spiegelte es sich wieder. Drei Reihen der immer gleichen Fenster, in denen man Ausschnitte der immer gleichen Wohnungen sah. Erbärmliche, verkohlte Möbel – direkt aus der Fabrik in die Wohnung. Aber immerhin gab es diesen Spielplatz…das kleine bisschen Grün, das die Fenster nachts zu und die Menschen von ihnen zurückhielt.
Nikolais Bleibe unterschied sich von den anderen durch die Müllberge, die er dort hinterlassen hatte. Ohne die verstaubten Zeitungsfetzen und leeren Glasflaschen hätte die Wohnung fast schon schlicht gewirkt: Zwei Regale, eine beige Küchentheke, ein Esstisch mit einem einzelnen Stuhl, zwei Sofas, ein Nachttisch mit einem antiken Festnetztelefon, ein kantiger Röhrenfernseher auf einem Tisch und eine lose Matratze.
„Herein, herein!“, rief der Hausherr, während er sich seinen nassen Pullover vom Leib warf, „Du darfst dir ein Sofa aussuchen!“
Eine nasse Nacht zog vorbei, ein kalter Tag verging. Und viele weitere folgten…
Regenschauer und Nebelschwaden blubberten an ihm vorbei. Schmerz und Befreiung krochen gleichermaßen über seine dicke Haut. Jedes Piepsen der winzigen Digitaluhr festigte seine Augenringe, jedes Geschrei von draußen seine Schrammen. Für all die grauen Stadtfacetten gab es keine Worte. Nur Abneigung und Hass. Hass für den Bottich aus fehlgeleiteter Ordnung und Abneigung für den Hass. Erst inmitten der düsteren Warnblinklampen und Straßenlaternen sah Michail, dass er sich selbst verloren hatte. Zwei bleiche Augen starrten in den Spiegel und dutzende zurück. Michail Aslanov, Michail Aslanov. Kleidung, Futter und Wärme war, was er hatte und Halt, was ihm fehlte. Michail Aslanov, Michail Aslanov. Früher hatte er jedes Gespräch mit alten, zurückgelassenen Erinnerungen verdorben. Nun fiel ihm nicht mal mehr ein, was er sagen sollte.
Um seinen Verlust herum entwickelte sich das Netz einer rußfarbenen Jagdspinne, die sein Opfer mit düsteren Worten am Ende eines grünen Telefonapparats in die Nacht lockte. Hallo! Du hast gestern deine Jacke bei mir in der Friedensstraße vergessen. Du kannst sie heute abholen, aber bitte sei leise! Meine Mutter arbeitet noch. Metallische Klänge begleitet vom trüben Rauschen. Guten Abend! Ich wollte Sie nur noch einmal daran erinnern, dass Sie heute einen Termin bei uns an der Kosakenstraße haben. Seien Sie bitte pünktlich da! Alles Lügen, alles hohl.
Zuerst waren es Pakete, die er von dem einen grauen Betonhaus zu einem anderen grauen Betonhaus bringen musste. Briefe an leeren Orten, Notizen an vergessenen Straßen. Während er den kalten Hauch der Stimme, die ihn am Ende des Hörers heimsuchte, immer noch auf seinem Nacken spürte, schlich Nikolai alleine durch die einsame Stadt, ließ sich dabei berieseln durch die Pfützen von morgen oder taumelte über die Schlaglöcher von gestern. Nur ab und zu begegnete er dabei einem trunkenen Körper oder einer ausgeschlossenen Seele. Mit Nikolai sprach er nur, wenn es darum ging, sich in der Stadt zurechtzufinden oder wenn er, trotz dessen, dass er sich jedes Mal bei dieser Bitte schämte, einen Chauffeur brauchte.
Am ersten Mittag änderte sich alles. Den ersten Mittag – nicht nur die Wohnung, in der zum ersten Mal seit Monaten die Rollläden hochgezogen wurden, spiegelte sich diese Bezeichnung wieder. Tatsächlich war es, sowohl für Michail als auch für Nikolai, der erste Mittag, den sie seit ihrem scheinbaren Wiedersehen im wachen Zustand erlebten. Dieses Mal hatten sich die Vorgesetzten bei Tageslicht gemeldet und während Nikolai, dessen Kehle mittlerweile in billigem Filterkaffee und Süßgetränk versank, mit Michail an der Hand durch die Zeitungsblätter und Flaschenhälse des Fußbodens taumelte, hatte sich dieser nicht einmal die Tränen, geschweige denn die Kruste, aus den Augen wischen können. Seine Blicke zog es auf die Mauerfassaden hinter den Fenstern, während Nikolai an die lose Türklinke gefesselt war. Gerade, wenn die glühende Sonnenkugel ihr Licht in weißgelben Reflexionen von den Wänden abprallen lässt, bemerkt man erst, dass sich hinter dem Braun und Rot und Grün und Weiß der Häuserblöcke nur dasselbe Grau versteckt.
Klick. Ein Hauch. Dumpfes Aufprallen. Ritschratsch. Weggeworfenes Messer, liegengelassene Klebefetzen. Nikolai hatte das für Michail gedachte Paket von seinen Verschlüssen befreit und war nun im Begriff, es zu öffnen. Unter dem Karton versteckte sich Schwarz. Kleine Schrammen, weiche Konturen. Ein Riss, etwa drei Zentimeter breit. Ein roter Fleck, nur wenige Millimeter im Durchmesser. Das Objekt, worauf die beiden halbnackten, müden Männer nun blickten, war eine Maske. Detaillos, fast zu simpel in ihrer Gestaltung. Zwei Augenschlitze, kein Mundschlitz. Winzige Löcher, die Luft durch das Gesicht ließen und angedeutete Krallen dort, wo die Kinnlinie war. Keinerlei Markierungen, keine Worte – weder vom Hersteller noch von denjenigen, die Michail angeheuert hatten. Genauso wie auf dem Paket, ein abdruckloses Mysterium. Doch als Nikolai die Maske langsam aus der Kiste zog, offenbarten sich wenige Worte: Für den Kleinen. Hoffe, er hat das Malen nicht verlernt. Auf der Rückseite eine Adresse, zusammen mit einer krakeligen Zeichnung, die sich sofort in Michails Knochenmark zu schneiden schien. Es war ein Symbol, das aus drei wellenförmigen Ringen bestand, in deren Mittelpunkt die Zeichnung eines Insekts befand. Vier Beinpaare, die aus einem runden Körper herausragen, der nach untenrum immer dicker wurde und zwischen den vorderen zwei Beinen ein Paar aus krallenförmigen Auswüchsen. Es war eine Zecke. Eine grob gezeichnete, garstige Zecke.
Nikolai erhob sich vom Boden und offenbarte den letzten Gegenstand, den das Päckchen zu bieten hatte: Eine unbeschriftete Spraydose mit grüner Farbe. Genauso subtil wie Michails vor Verwirrung leicht geöffnete Augen war auch das Lächeln, das sich auf den Lippen seines Nebenmanns formte.
„Glückwunsch.“, er lugte auf die Maske, „Du bist jetzt drin.“
Nacht.
Herabprasselndes Wasser. Während Michail nervös durch die Straßen, die bis auf die Schlaglöcher leer waren, schlich, verstummten die dumpfen Bassgeräusche der winzigen Diskotheken des Stadtrands. Die letzten Orte, die irgendwem in der Nacht noch Trost brachten – entweder in Form von Ablenkung oder melancholischer Rückbesinnung – verschwanden, so als wären sie zusammen mit ihren grellen Lichtern in den Abgrund gesogen worden. Als er sich dieser Leere sicher wurde, griff Michail mit seinen Fingern in ein Paar schwarze Wollhandschuhe und mit den Wollhandschuhen zu seiner Maske. Regentropfen streichelten seine entblößten Handgelenke. Schweiß sammelte sich binnen Sekunden unter der Maske, die Michails schwarzes Antlitz, welches aus einer alten Sportjacke von Nikolai und seinen eigenen aufgerissenen Hosen bestand, vollends abrundete. Schon bald näherte sich der einsame Mann einem einsamen Haus. Mit seiner brüchigen Holzfassade und den zugeschlagenen Fenstern konnte man es eigentlich nur als Hütte bezeichnen.
Michail achtete gar nicht auf das Gebäude. Er stieg mit großen Schritten über den Bordstein und bückte sich unmittelbar vor einem Sicherungskasten neben dem Einfamilienhaus. Sofort peinigten ihn seine Knie für das, was er getan hatte. Während er hastig zur Spraydose in seiner Jackentasche griff, verfluchte Michail seine Hosen, von denen er den dünnen Stoff an den Beinen, durch den nun reihenweise Wasser kam, beinahe noch nerviger fand als den kratzigen Stoff an der Taille. So brauchte es dutzende, schmerzhafte Bewegungen, um den ersten äußeren Ring des Symbols zu vollenden, das er nun an die weißen Verdecke zeichnete. Sein Herz raste bereits bevor er zum zweiten Ring ansetzte. Als er beim dritten war, benetzte Schweiß jeden Teil seines Unterhemds und als schließlich der letzte Sprüher das letzte Beinchen der Zecke fertigstellte, stoppte sein Herz.
Hinter ihm. Zwischen dem fallenden Regen…ein Schritt.
Es war ein einzelner Schritt. Nichts davor, nichts danach. Nicht genug, um über die Straße zu kommen. Nicht genug, um das hölzerne Haus zu verlassen. Und trotzdem…trotzdem spürte Michail einen Schatten auf der Haut, fremde Luft auf der Kleidung. Sein Rücken wich hoch, seine Knie rasteten wieder ein. Der kalte Schauer packte die zitternden Finger, schnürte sich um die weichenden Handgelenke, hakte sich letztendlich an dem steifen Nacken fest. Sein eigener Puls dröhnte Michail so stark in den Ohren, dass er nicht einmal mehr den Regen wahrnahm. Da drehte er sich um und entgegen alledem, was der Maskierte sich im stillen Flüstern an die Hoffnung klammernd durch den Kopf schießen ließ, stand dort ein Mann.
Es war eine skurrile Erscheinung. Mitten im Regen, um Mitternacht, gekleidet in einem grünlichen Anzug. Die Ärmel reichten weit über seine Handgelenke, die Hosenbeine nicht einmal bis zu den Sockenansätzen. Das fallende Wasser, welches die Gestalt zu verfolgen schien, ließ die Kleidung noch enger wirken als sie es so schon tat. Zu stark angezogene Krawatte, beinahe aufreißende Hemd- und Manschettenknöpfe. Darunter diese bleiche Haut und ein winziger Hut, lose über den blonden, zerzausten Haaren. All diese kleinen und doch so offensichtlichen Nuancen führten Michails Blick fast schon automatisch zu dem schmalen Augenpaar, welches nie damit aufgehört hatte, ihn zu mustern. Es waren grell leuchtende Augen, in dessen Iris man die Dämmerung erblickte, auch wenn es draußen immer noch Mitternacht war. Keine Person hatte solche Augen, nicht einmal Kontaktlinsen könnten annährend so etwas erreichen wie das, was Michail vor sich sah.
„Hallöchen!“, was auch immer es war, es grinste und spuckte beim Reden, „Ich hab dir keinen zu großen Schrecken eingejagt, nicht wahr, Bursche?“
Er hatte nie, auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, daran gedacht, dass so etwas passierte. Michail dachte ans Weglaufen, dachte ans Kämpfen, wägte ab und entschied sich für letzteres. Was waren schon ein paar Schrammen gegen die Wut von Arbeitgebern, die er selbst gar nicht kannte? Und trotzdem blieben seine Glieder taub. Er konnte nicht handeln. Aber das Wesen vor ihm schien sich gar nicht auf diese sichtliche Schwäche einzulassen.
„Ich mag das Symbol.“, es neigte verspielt den Kopf, „Ein witziges Zeichen habe ich mir ausgedacht, stimmt’s?“
Der Mann, nein vielmehr dieses etwas, war aus dem Nichts aufgetaucht. Ein Schemen, das aus Nebel kam, wieder in den Nebel stieg und doch leibhaftig und aus Fleisch vor Michail wartete. Etwas, das aus Staub kam, zu Staub wurde und dennoch niemals Staub zu bleiben schien.
„Nun krieg dich doch mal ein!“, beim Sprechen lugte es immer wieder zu dem Haus mit den erloschenen Lichtern, so als wolle es Michail klarmachen, dass es sich nicht für ihn interessierte. „D…“, seine Stimme brach sofort ab. Binnen Sekunden ward sie stumm und er konnte nichts dagegen tun, sich nicht gegen den Widerstand in seinem Kehlkopf wehren. „Ich wollte doch nur ein bisschen plaudern, ein bisschen…rumwitzeln! Du brauchst mir gar nicht so anzukommen!“ „…“, diesmal war es nicht ein einziger Laut, den er herausbrachte. „Warum sind es nur noch solche Leute, die mein Zeichen kennen?“, das Ding seufzte, „Immer irgendwelche elendigen, maskierten Vollidioten, die gleich die erste Gelegenheit suchen, um sich einzuscheißen!“ Michail spürte frostiges Eis über sein Gesicht kriechen. „Also…du bist nicht mein Klientel, kleiner! Dafür hast du zu wenig Geld und, ganz unter uns gesagt, zu wenig Charme. Deswegen…“, es winkte abwertend mit seinen langen Fingern, „Husch, husch!“
Keine weitere Sekunde hielt Michail noch an diesem heillosen Stadtviertel, kein Moment noch an diesem heillosen Monster. Während er zum Rennen ansetzte und dabei erneut den Stoff an seinen Schenkeln kratzen spürte, hatte sich die Gestalt im Anzug auf das einsame Haus zubewegt und obwohl er sich geschworen hatte, sich nicht mit einem letzten Blick in Bedrängnis zu begeben, sah er doch noch einmal zurück. Selbst in der Nacht erblickte er die Umrisse einer alten Frau, die auf das vehemente Klopfen des anzugtragenden Monstrums an ihrer Haustür reagierte. Übriggebliebene Wortfetzen verblieben schwebend in der Luft…
„W…wer sind…?“ „Na? Sie wollen doch sicher einen Einkauf bei der Carrington Limited Partnership tätigen, nicht wahr, reizende Dame?“ „W-“ „Ach, aber wo sind denn meine Manieren? Lassen Sie mich doch erstmal in ihr Haus einbrechen, dann erkläre ich ihnen alles ohne diesen lästigen Regen!“
Nun war Michail gänzlich geflohen, ohne sich das Ende des Schauers mitanzusehen. Aber das dumpfe Krachen, das knisternde Blitzen und letztlich der kurze Hauch eines verstummten Schreies machten ihm sehr klar, was im Haus vorgefallen war.
Die Tür blieb offen. Licht leuchtete die ganze Nacht nach draußen…
Der Anblick ausgeleierter Nähte. Das Geräusch entzweigerissener Zeitungsblätter. Neben klirrenden Flaschenhälsen und knirschenden Bodenbelägen türmte ein Mann. Nikolai lehnte sich an den Türrahmen seines winzigen Schlafzimmers – die eine Hand an der oberen Kante, die andere an der zarten Haut seines frisch rasierten Kinns. Mit jeder Bewegung brachte er sich wieder in eine gestelzte Pose und mit jeder Bewegung versuchte er noch verzweifelter den Anschein zu machen, als wäre es nicht so. Während er so mit entblößter Brust durch die Schlitze zwischen seinen Jalousien starrte, hockte Michail im Unterhemd auf dem Sofa, das sein Schlafplatz geworden war. Dort presste er ein dünnes, in braunem Kunstleder eingebundenes Notizbuch, gegen den dünnen Stoff seiner Boxershorts.
„Wo zur Hölle hast du das denn gefunden?“, fragte Nikolai verblüfft. „Auf dem Boden. Wo sonst sollte hier denn irgendwas liegen?“, er lächelte, „Ich habe das zufällig Mal aufgehoben und dachte mir, wenn du es eh nicht benutzt, kann ich das Ding ja mal an mich nehmen.“ „Darfst du auch gerne machen.“, der Halbnackte zuckte unbekümmert mit der Lippe, „Was hast du denn damit vor?“ „Ich will ein Tagebuch führen…genauer gesagt habe ich damit schon angefangen…ich dachte, dass mir das vielleicht dabei hilft, rauszufinden, was mit mir passiert ist…“, Michails Stimme wurde etwas leiser, „Du weißt ja…wegen dem Erinnerungsverlust und so…“ „Mhh…“