Western Lane - Chetna Maroo - E-Book

Western Lane E-Book

Chetna Maroo

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Beschreibung

Shortlist Booker Prize. Chetna Maroo erzählt eine Geschichte voller Zärtlichkeit über den Zusammenhalt einer Familie nach dem Tod der Mutter.

»Western Lane« erzählt die Geschichte von Gopi, der jüngsten von drei Schwestern, die mit ihrem Vater am Stadtrand von London leben. Ihre Mutter ist vor Kurzem gestorben, niemand in der kleinen indischen Einwandererfamilie weiß so recht, wie es weitergehen soll. Die Trauer des Vaters ist spürbar, aber er spricht nicht darüber. Weit weg in Edinburgh machen sich Gopis Onkel und seine Frau Sorgen: Da die beiden keine Kinder bekommen können, wollen sie am liebsten Gopi zu sich holen und sie wie ihre eigene Tochter aufziehen.

In der Western Lane, dem örtlichen Freizeitzentrum, kämpft Vater der Mädchen indes auf seine Weise um den Zusammenhalt der Familie: Zwei, drei, vier Stunden spielt er abends, nach der Schule, mit ihnen Squash. Tag für Tag. Und Gopi ist talentiert. Das kleine, durch vier Wände begrenzte Feld wird für sie zu einem Fluchtpunkt. Hier kann sie sich mit ihrem Vater ohne Worte austauschen. Hier kann sie ihre Traurigkeit für kurze Zeit vergessen. Hier kämpft sie darum, dass alles wieder gut wird.

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MOBI

Seitenzahl: 220

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Zum Buch

Shortlist Booker Prize. Nominiert für den Women’s Prize for Fiction.

»Ein wunderschöner und bewegender Roman über Trauer, über das Erwachsenwerden, über Verlieren und Gewinnen. Die Menschen und Orte in diesem Buch werden mir noch lange in Erinnerung bleiben.« Sally Rooney

Western Lane erzählt die Geschichte von Gopi, der jüngsten von drei Schwestern, die mit ihrem Vater am Stadtrand von London leben. Ihre Mutter ist vor Kurzem gestorben, niemand in der kleinen indischen Einwandererfamilie weiß so recht, wie es weitergehen soll. Die Trauer des Vaters ist spürbar, aber er spricht nicht darüber. Weit weg in Edinburgh machen sich Gopis Onkel und seine Frau Sorgen: Da die beiden keine Kinder bekommen können, wollen sie am liebsten Gopi zu sich holen und sie wie ihre eigene Tochter aufziehen.

In der Western Lane, dem örtlichen Freizeitzentrum, kämpft der Vater der Mädchen indes auf seine Weise um den Zusammenhalt der Familie: Zwei, drei, vier Stunden spielt er abends, nach der Schule, mit ihnen Squash. Tag für Tag. Und Gopi ist talentiert. Das kleine, durch vier Wände begrenzte Feld wird für sie zu einem Fluchtpunkt. Hier kann sie sich mit ihrem Vater ohne Worte austauschen. Hier kann sie ihre Traurigkeit für kurze Zeit vergessen. Hier kämpft sie darum, dass alles wieder gut wird.

Zur Autorin

Chetna Maroo ist Britin mit indischen Wurzeln. Sie wurde in Kenia geboren und wuchs in Großbritannien auf. Ihre Geschichten erschienen in der Paris Review, der Dublin Review und in The Stinging Fly. Sie wurde mit dem Plimpton Prize for Fiction ausgezeichnet und stand mit ihrem Romandebüt Western Lane auf der Shortlist des renommierten Booker Prize. Chetna Maroo lebt in London.

Charlotte Breuer und Norbert Möllemann übersetzen Literatur aus dem Englischen, u. a. von Chloe Benjamin, Elizabeth George und Kate Morton.

CHETNA MAROO

WESTERN LANE

ROMAN

Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

Luchterhand

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Western Lane« bei Picador, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die Übersetzer danken Thilo Gebhardt für seine Unterstützung.

Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2023 Chetna Maroo

All rights reserved.

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

unter Verwendung eines Motivs von © Getty Images / PlanShooting2 / Imazins; shutterstock / George Dolgikh

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32069-0V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Für Jot

EINS

Ich weiß nicht, ob Sie schon mal in der Mitte eines Squash-Courts – auf dem T – gestanden und den Geräuschen aus dem Court nebenan gelauscht haben. Wie ein Ball schnell und hart geschlagen wird. Es ist ein kurzer, trockener Ton wie bei einem Pistolenschuss, mit einem unmittelbar folgenden Echo. Das Echo ist das Geräusch, wenn der Ball auf die Wand trifft, und es ist lauter als der Schlag. Diese Geräusche höre ich, wenn ich an das Jahr nach dem Tod unserer Mutter denke, als unser Vater uns zwei, drei, vier Stunden am Tag in der Western Lane trainieren ließ. Es muss während eines Abendtrainings nach der Schule gewesen sein, als es mir zum ersten Mal aufgefallen ist. Meine Beine waren schwer, ich konnte nicht mehr, ich stand auf dem T, ließ den Schläger hängen und starrte auf die Seitenwand und die verwaschenen Spuren der zahllosen Bälle, die von ihr abgeprallt waren. Ich war am Aufschlag, und mein Vater würde mit einem Longline zurückspielen, und ich würde mit einem Volley antworten, mein Vater wieder mit einem Longline und ich mit einem Volley, immer auf die rote Aufschlaglinie an der Stirnwand. Mein Vater stand ganz hinten und wartete. Sein Schweigen sagte mir, dass er sich nicht als Erster bewegen würde, und ich konnte entweder Serve und Volley spielen oder ihn enttäuschen. Die Flecken an der Wand verschwammen vor meinen Augen, und ich dachte, ich falle gleich hin. Da fing es an. Ein gleichförmiger, melancholischer Rhythmus im Court nebenan, der Schlag und sein Echo, immer und immer wieder, wie eine Art Erlösung. Nebenan trainierte jemand seine Schlagtechnik. Und ich wusste auch, wer das war. Ich stand da und lauschte, und das Geräusch drang in mich ein, in meine Nerven und Knochen, und mit dem Gefühl, erlöst worden zu sein, hob ich meinen Schläger und schlug auf.

Wir waren drei Schwestern. Als meine Ma starb, war ich elf, Khush war dreizehn, Mona fünfzehn. Seit wir einen Schläger in der Hand halten konnten, spielten wir zweimal pro Woche Squash und Badminton, aber das war nichts im Vergleich zu dem Drill, der später kam. Mona meinte, die Sprints, das Ghosting und das dreistündige Training hätten angefangen, nachdem unsere Tante Ranjan Pa erklärt hatte, wir Mädchen bräuchten Bewegung und Disziplin, während Pa still dasaß und sich von ihr sagen ließ, was er zu tun hatte.

Es war Herbstanfang. Nach einer für die Jahreszeit ungewöhnlichen Trockenheit war es jetzt warm und schwül. Drückende Luft, und in den Straßen hing der Geruch von verfaulendem Essen. In dieser Hitze, wenige Tage nach Mas Beerdigung, waren wir vierhundert Kilometer bis Edinburgh gefahren, um mit einem Abendessen im Haus unserer Tante unsere Trauerzeit zu beenden. Und da hat Tante Ranjan Pa gesagt, wir seien zu wild.

Wir standen mit Pa in ihrer Küche, als sie es sagte. Mona wusch in der Spüle Kartoffeln. Mit gesenktem Kopf stand sie da, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, denn sie hat nicht einfach nur die Erde von den Kartoffeln gespült, sie hat sie richtig geschrubbt. Ihr Pferdeschwanz schwang hin und her. Khush schälte langsam Kartoffeln und schaute dabei aus dem Fenster. Ich saß am Tisch und pulte Granatäpfel. Tante Ranjan hatte mit Khush geschimpft, weil sie in der Küche das Haar offen trug, und dann hatte sie sich zu mir umgedreht, die weiße Tischdecke zurückgeschlagen und Zeitungspapier ausgelegt, damit keine Saftspritzer auf ihren neuen, sehr schön dunkel gewachsten Tisch kamen.

Von da, wo ich saß, erspähte ich die Gulab Jamun, die Tante Ranjan am frühen Morgen zubereitet hatte. Die goldbraunen, saftigen Milchbällchen, die schon mit Zuckersirup vollgesogen waren, türmten sich in einer Glasschüssel am Ende der Anrichte.

Tante Ranjan bemerkte meinen Blick.

»Gopi«, sagte sie.

Ich erstarrte und errötete, als ich meinen Namen hörte.

Tante Ranjan stand auf. Sie stellte sich so hin, dass ich die süßen Bällchen nicht mehr sehen konnte. Ich weiß nicht, warum, aber es schien mir wichtig, meine Blickrichtung nicht zu ändern, so zu tun, als hätte ich schon die ganze Zeit nur ins Leere geschaut.

»Wild«, sagte Tante Ranjan zum zweiten Mal und fixierte mich. »Und es ist kein Geheimnis.«

Dann wandte sie sich Pa zu, und er saß tatsächlich einfach nur da, blickte ins Leere und schwieg.

Tante Ranjan wartete.

»Also, ich habe meine Meinung kundgetan«, erklärte sie schließlich. »Jetzt kommt es auf dich an.«

Pa hob den Blick und schaute Tante Ranjan einen Moment lang an, und in seinem Blick lag eine Kühle, die wir gewohnt waren, Tante Ranjan aber nicht. Ihre Wangen röteten sich. Der Dampfgarer auf dem Gasherd gab ein dünnes, hohes Pfeifen von sich, und plötzlich war es in der Küche ganz warm vom vielen Dampf, und es roch nach verkochten Linsen. Tante Ranjan nahm ein sauberes Küchentuch von einer Stuhllehne und betupfte sich damit die Stirn.

»Ich habe Charu darauf hingewiesen«, sagte sie. »Ich gebe ihr keine Schuld, Bruder, aber ich versichere dir, es ist noch nicht zu spät für die Mädchen.«

Es war ganz still in der Küche. Dann trat meine Schwester Mona an den Herd, nahm den Dampfgarer von der Flamme und knallte ihn auf die Granit-Arbeitsplatte. Die Schüssel mit den Gulab Jamun am Ende der Anrichte bebte, und Mona, die vom Kartoffelschrubben verdreckten Hände auf dem Dampfgarer, stand da und sah Pa herausfordernd an.

Tante Ranjan drehte den Wasserhahn zu und ging zu Mona.

»So nicht, Kind«, sagte sie.

Da kam unser Onkel herein, als betrete er die Küche anderer Leute. Vielleicht war er eigentlich auf dem Weg in seinen Garten, doch er schaute erst Mona, dann Pa an, blieb einen Moment lang mitten im Raum stehen und setzte sich dann zwischen Pa und mich. Wir mochten Onkel Pavan. Er war Pas jüngerer Bruder, er war dick und lieb und mochte es, draußen zu rauchen und über die Vergangenheit nachzudenken.

Onkel Pavan war vierzig. Pa war fast fünfundvierzig. Aber alle redeten davon, wie schön die Brüder geworden seien, so als wären sie gerade erst erwachsen geworden. Seit Mas Tod folgten die Blicke unserer Tanten Pa vom Esstisch zur Spüle und von dort in den Garten. Er tat ihnen leid, aber sie versuchten auch, sich einen Reim auf etwas zu machen, und wir wussten, dass dieses Etwas mit der Leere zu tun hatte, die sich vor ihm aufgetan hatte.

Es war noch nicht Mittag, und Onkel Pavan war es schon zu heiß. Sein Gesicht glühte, es hatte sich tiefrosa gefärbt. Er legte eine Hand auf den Tisch, klopfte mit allen vier Fingern gleichzeitig auf die Tischdecke, dann legte er die Hand auf den Oberschenkel. Er brauchte eine Zigarette. Er warf Pa einen Blick zu und verschränkte, bereit zu reden, die Hände auf dem Schoß. Khush hatte Onkel Pavan ein Glas Wasser eingeschenkt, und als sie sah, dass er so weit war, stellte sie es vor ihn auf den Tisch und setzte sich, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Onkel Pavan sah sie dankbar an und begann.

»Es war mitten in der Hitzewelle«, sagte er und beugte sich zu Pa hinüber. »Erinnerst du dich? Der Abend, als du Bapuji gesagt hast, dass du heiraten würdest. Du warst lange unterwegs, und Pa hatte darauf bestanden, dass wir alle aufblieben und auf dich warteten. Wir mussten mit Eis gefüllte Kisten vor die Ventilatoren stellen und konnten uns vor Hitze nicht rühren. Als du endlich nach Hause kamst, hat Bapuji dich reingerufen und dich vor allen gefragt, was dir einfiele. Du hast keine Sekunde gezögert. Du hast in der Tür gestanden und es gesagt, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Ich heirate. Einfach so. Das war großartig. Ich werde Bapujis Blick nie vergessen. Es war so … ich … Charu … sie war … sie …«

Onkel Pavan schien irgendwas im Hals stecken geblieben zu sein, und es war offensichtlich, dass Pa hoffte, er würde weiterreden, aber er konnte nicht.

»Es bringt nichts, auf etwas herumzureiten«, sagte Tante Ranjan. Sie legte Onkel Pavan eine Hand auf die Schulter. »Komm, Pavan. Hol noch zwei Stühle aus der Garage, damit wir alle sitzen können.«

Als wir uns endlich zum Essen niederließen, war es vier. Die Luft war dick und schwer, und jede Bewegung schien verlangsamt. Tante Ranjan, Onkel Pavan, Pa und ich warteten auf unseren Plätzen, während meine Schwestern das Essen auftrugen. Wir hatten alle einen großen silbernen Teller vor uns, auf den meine Schwestern jeweils eine kleine silberne Schale Dal, einen ganzen Laddu, Kartoffelcurry, Reis, ein Puri, Zwiebel-Tomaten-Salat und eine kleine silberne Schale mit drei Gulab Jamuns platzierten. Immer wieder schob Khush sich die Haare, die ihr an Stirn und Wangen klebten, aus dem Gesicht. Als ich sah, dass ihre Haare fast in dem Sirup hingen, von dem sie noch etwas mehr auf meine Jamuns löffelte, wandte ich mich ab.

Die Tür zum Garten stand offen. Es war vollkommen windstill. Tante Ranjan erzählte von ihren Geschwistern in Tansania, die zu viele Kinder hatten. Sie aß sehr bedächtig, nahm in großen Abständen immer nur kleine Bissen in den Mund, und wir versuchten es ihr nachzutun. Als ich alles bis auf die drei Gulab Jamuns aufgegessen hatte, betrachtete sie meine kleine Schale, in der die Jamuns im Sirup schwammen. Ich legte meinen Löffel weg.

»Bruder«, sagte sie und wandte sich an Pa. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, dass Pa nicht ihr Bruder war, dass er Onkel Pavans Bruder war. »Bruder«, sagte sie, »auf dich kommen schwere Zeiten zu.«

Onkel Pavan rückte seinen Stuhl näher an den Tisch. »Ranjan«, murmelte er.

»Nein«, sagte Tante Ranjan. »Er weiß, was ich meine.«

Sie schaute Pa an und begann, auf Gujarati zu sprechen, leise und konzentriert. Sie sagte, dass Onkel Pavan und sie keine Kinder hätten und dass sie Pa liebten und dass sie uns liebten wie ihr eigen Fleisch und Blut. Sie sagte, Pa würde es leichter haben, wenn er ihnen eine von uns überließe. Du kannst dich nicht um drei Kinder kümmern, sagte sie. Drei sind zu viel. Und als Pa schwieg, verstand sie das als Aufforderung, fortzufahren. Sie sagte, so etwas sei gang und gäbe. Niemand hätte etwas dabei gefunden, wenn du es getan hättest, als die Mutter der Mädchen noch lebte. Dann sagte sie, ihre eigene Schwester sei fast dreitausend Kilometer von Mombasa nach Bombay geflogen, um bei ihrer Tante zu leben, da sei sie sogar noch jünger gewesen als ich, und in unserem Fall gehe es nur um ein paar Autostunden.

Pa schaute auf seinen Teller. Ihm war klar, dass wir verstanden hatten, was Tante Ranjan gesagt hatte. Deswegen schaute er uns nicht an. Wir dachten, dass er ihre Worte einen Moment lang so stehen lassen wollte, damit sie selbst begriff, dass sie etwas falsch verstanden hatte, dass er dann aufstehen und in den Garten gehen und uns befehlen würde, unsere Sachen zu packen, weil wir aufbrechen würden. Aber er stand nicht auf, und er sagte nichts, und am Ende waren wir froh darüber, denn was auch immer Tante Ranjan in seinem Gesicht sah, machte ihr mehr Angst als alles, was er hätte sagen können. Ihr Gesicht wurde grau und verlor seine Strenge. Als sie ihr Glas nahm, um einen Schluck von ihrem Chaas zu trinken, zeigten ihre Mundwinkel nach unten.

In dem Moment brach Onkel Pavan das Schweigen. Er sprach langsam und mit fester Stimme. Der Frühling sei in diesem Jahr früh gekommen. Wir hätten mal die Blüten an der Kastanie sehen sollen. Wie Weihnachtslichter. Und dann die Kirschblüten: Eine Woche lang sei der ganze Rasen weiß gewesen. Wir aßen, und Onkel Pavan redete, und nach und nach fiel alles in einen Rhythmus, der sich normal anfühlte. Vom Garten her wehte eine sanfte Brise herein. Onkel Pavan wischte sich die Hände an einem Tuch ab, stand auf und holte die Schüssel mit den Gulab Jamuns, um uns einen Nachschlag zu geben.

»Ach«, seufzte Tante Ranjan, als wir unsere Löffel nahmen, und blickte auf ihren Teller. »Was für ein Tag.« Sie weinte. Mit einem Zipfel ihres Saris betupfte sie sich die Augen. Dann wandte sie sich Khush zu und lächelte sie mit tränennassen Augen an.

»Ich habe dich gesehen«, sagte sie ganz leise, wie um Khush ganz für sich zu haben. »Auf dem Parkplatz, hinterher.«

Sie redete von Mas Beerdigung, davon, wie Khush lautlos geweint hatte, als wir nebeneinanderstanden, um unsere Verwandten zu begrüßen, die nach und nach herauskamen. Tante Ranjan schaute Khush so traurig an, dass wir alles vergaßen. Khush legte eine Hand zwischen ihrem und Tante Ranjans Teller auf den Tisch. Neben mir scharrte Monas Stuhl so laut über den Boden, dass ich nach meinem Chaas-Glas griff, aber das Glas war hoch und kippte um, und die ganze Buttermilch verteilte sich auf der Tischdecke.

»Gopi«, murmelte Tante Ranjan. Wieder errötete ich, als mein Name fiel, aber Tante Ranjan schalt mich nicht. Ihre Miene war beherrscht, als sie aufstand, als sie hinter mich trat, als sie die Tischdecke zurückschlug, als sie sah, dass die Buttermilch auf ihren Tisch durchgesickert war. Ich blieb stumm sitzen, während sie den Tisch abwischte und alles wieder ordentlich hinstellte.

In Edinburgh hatten wir alle ein eigenes Zimmer, aber Khush und ich trugen immer unsere Decken in Monas Zimmer und schliefen dort auf dem Boden. Wir stellten unsere Turnschuhe in die Balkontür, damit sie nicht zuging, denn meistens war draußen etwas los. Wir lauschten, bis wir müde waren, und dann träumten wir. An jenem Abend war es zu heiß zum Schlafen. Wir waren unruhig und schwitzten in unseren Shorts und Hemdchen. Wir warfen die Decken von uns und waren nichts als verschwitzte Gliedmaßen, Arme und Beine, in alle Richtungen gestreckt auf der Suche nach etwas Abkühlung. Khush rappelte sich auf und ging auf den Balkon. Ich folgte ihr. Draußen legte Khush sich auf den Boden, lehnte Kopf und Schultern an den Türrahmen, streckte einen dünnen Arm auf dem gefliesten Boden aus, und ich legte mich genauso auf der anderen Seite hin. Nach einer Weile setzten wir uns auf, stützten das Kinn auf die Knie und lugten durch das weiße Balkongeländer in den Garten. Da es zu heiß war für Leggins oder lange Ärmel, stank ich nach Citronella und wurde trotzdem von Mücken gestochen. Wir wussten, dass Pa auch gestochen wurde. Er und Onkel Pavan unterhielten sich draußen. Sie saßen direkt unter dem Balkon, tranken Whisky und rauchten. Zu Hause trank und rauchte Pa nie, aber wenn er mit Onkel Pavan zusammen war, genoss er es. Wir sahen den blauen Rauch von Onkel Pavans Zigaretten und hörten die Stimmen der beiden und das Klimpern ihrer Gläser. Wir hörten alles, sogar das Quietschen von Pas Stuhl, wenn er sich vorbeugte, um sein Glas abzustellen oder sich am Knöchel zu kratzen. Und wenn wir hinunterschauten, sahen wir alles, was die beiden sahen: Onkel Pavans Rosenlaube und seine Bäume und die Steinbank und hier und da ein Stück Eisenbahnschiene, das im Dunkeln schimmerte.

Uns interessierte nicht, worüber sie redeten. Kindheitserinnerungen aus der Zeit, als ihr jüngerer Bruder noch gelebt hatte. Wie sie zu dritt Tennis und Squash gespielt hatten. Wie glücklich und abenteuerlustig sie gewesen waren. Wie Pa alle in Staunen versetzt hatte, wenn er, so ein lieber, stiller Junge, auf dem Court so hart ranging. Und wie Pa später, als Ma auf der Bildfläche erschien – siebzehn, strahlend, selbstbewusst –, nicht wusste, was er tun sollte, wie ihn etwas berührte, für das er keine Worte fand. Meistens redete Onkel Pavan, und Pa stimmte ihm in fast allem zu. Uns war das egal. Wir wollten nur oben auf dem Balkon sitzen und lauschen. Auch nachdem Pa und Onkel Pavan reingegangen waren, blieben wir noch sitzen. Es wurde schon hell, der Himmel färbte sich blassblau, die Luft hatte sich abgekühlt, und alles draußen schien in Reichweite zu rücken. Khushs Haar war offen und fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken und schimmerte selbst in dem fahlen Licht. Wir gingen erst hinein, als ich anfing zu zittern. Wir zogen die doppelflügelige Tür hinter uns zu und kletterten zu Mona ins Bett. Mona murrte, weil wir sie weckten, rückte jedoch zur Seite, sodass wir mit unter ihre Decke passten. Wir erzählten ihr alles, was wir gehört hatten. Also Khush erzählte es ihr. Immer wenn etwas passierte, selbst wenn alle dabei gewesen waren, war Khush diejenige, die hinterher darüber berichtete. Sie wartete, bis alle schwiegen, dann legte sie los. Sie war eine gute Erzählerin. Sie erinnerte sich an Sachen, die uns nicht mal aufgefallen waren.

Viel später sollte Khush behaupten, in jener Nacht hätte alles angefangen, an dem Abend, als Pa laut überlegte, was er mit uns anfangen sollte. Mit Tante Ranjan hatte es nichts zu tun. Es war wegen Onkel Pavans Erinnerungen an die Vergangenheit. Aber ich glaube, Pa hat uns selbst gesagt, was in ihm vorgegangen war. Eines Morgens saßen wir alle zusammen auf der Bank vor dem Squash-Court, und da hat er gesagt: »Ich möchte euch für etwas begeistern, das ihr euer Leben lang machen könnt.«

Am nächsten Morgen standen Apfelsinensaft und Pfannkuchen mit Zitrone und Zucker für uns bereit. Tante Ranjan sagte nichts dazu, dass Pa und Onkel Pavan die halbe Nacht draußen gesessen und getrunken und geraucht hatten. Sie servierte ihnen Kaffee und hielt sich in ihrer Nähe, damit sie ihnen nachschenken konnte. Pa war freundlich zu ihr. Als Onkel Pavan später in der Einfahrt den Kofferraum schloss, in dem sich unser Gepäck befand, bat Tante Ranjan Pa, über ihren Vorschlag nachzudenken, und er versprach, das zu tun. Sie sagte, Onkel Pavan und sie würden uns im nächsten Jahr besuchen. Bis dahin werden wir wissen, wie die Dinge stehen, sagte sie.

Kaum waren wir aus Edinburgh zurück, begann Pa mit dem Drill. Unter der Woche brachte er uns vor der Schule mit dem Auto in die Western Lane, und nach der Schule nahmen wir den Bus. Musste er am Wochenende arbeiten, fuhren wir mit dem Fahrrad hin und er kam nach Feierabend dazu. Anfangs brauchten wir immer wieder mal einen Tag Pause, weil uns alles wehtat: Arme, Beine, Schultern. Einfach alles. Pa meinte, wir würden uns daran gewöhnen, und so war es auch. Nach einer Weile konnten wir uns kaum noch daran erinnern, wie es war, nur ein- oder zweimal die Woche zu spielen, so als wäre es nur zum Vergnügen.

Die Courts in der Western Lane waren oft frei. Die Männer, die bei Vauxhall arbeiteten, kamen in der Regel samstags, und die meisten droschen wie wild drauf los, rannten hinter dem Ball her und schlugen ihn möglichst hart. Meine Schwestern und ich saßen in Sweatshirt und Trainingshose vor den Courts auf einer Bank und warteten, bis die Männer fertig waren und wir mit unserem Training weitermachen konnten. Außer den Männern von Vauxhall kamen noch ein paar andere Spieler, und außerdem kam Ged.

Ged war dreizehn und still, und eigentlich hieß er Gethen. Er verbrachte viel Zeit in der Western Lane, weil seine Mutter oben in der Bar arbeitete und er nicht wusste, wo er sonst hingehen sollte. Seit dem Sommer war Ged in die Höhe geschossen und ziemlich linkisch, außer beim Squash. Auf dem Court war er total locker. Er hatte so eine Art, sich zu bewegen, aber es war nicht nur das. Er trainierte allein, und manchmal schaute ich ihm von der Galerie aus zu. Als wir einmal beide am Ende der Galerie standen und das Treiben im Schwimmbad beobachteten, hab ich ihn gefragt, ob es ihm etwas ausmache, dass ich ihm zuschaute, und er hat sich kurz zu mir umgedreht und dann wieder zum Schwimmbad runtergeschaut und nein gesagt.

Die meisten Leute kamen nur zum Schwimmen in die Western Lane, am tiefen Ende des Beckens gab es ein Sprungbrett, aber wir kamen zum Squash. Pa zahlte einen Mitgliedsbeitrag, der es uns erlaubte, die Courts zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends jederzeit zu benutzen, wir mussten nur rechtzeitig reservieren. Dass die Farbe von den Wänden abblätterte, der Boden abgezogen werden musste und die Klimaanlage nur selten funktionierte, war Pa egal: Die Courts in der Western Lane hatten gläserne Rückwände.

Und es gab die Bar. Pa ging manchmal nach oben, im selben Anzug, den er zur Arbeit und zum Sportstudio und überallhin trug, und obwohl er nichts trank und nicht sehr gesprächig war, unterhielten sich die Leute mit ihm. Sie mochten ihn. Manche fanden heraus, dass er Elektriker und selbstständig war, und anfangs bekam er dadurch mehr Aufträge, weil die Leute ihn zu sich nach Hause bestellten, aber nach einer Weile sagte er auf solche Anfragen gern, er werde bald kommen, er habe nur gerade viel um die Ohren, und dann verabschiedete er sich und brachte für jede von uns von der Bar eine Flasche Cola mit, und während wir tranken, betrachtete er seine eigene Colaflasche und erzählte uns von Jahangir Khan, einem Spieler aus Pakistan, der noch als Junge zur Nummer eins der Weltrangliste aufgestiegen war. Eigentlich hatte nicht Jahangir, sagte Pa, sondern sein älterer Bruder Torsam Weltmeister werden sollen. Aber der Bruder war gestorben, als Jahangir fünfzehn war, und da hatte Jahangir angefangen, mit seinem Vetter Rahmat in Wembley zu trainieren. Rahmat hatte sich um Jahangir gekümmert und ihn angespornt. Er fuhr mit Jahangir in die Berge, auf den Khyber Pass, um ihn daran zu erinnern, woher er kam und wer er war. Als er zwei Jahre nach dem Tod seines Bruders die Weltmeisterschaft gewann, war Jahangir immer noch ein Junge. Über fünf Jahre, in denen er fünfhundertfünfundfünfzig Spiele bestritt, blieb er ungeschlagen. Fünfhundertfünfundfünfzig Spiele, ohne einmal zu verlieren, sagte Pa, und wir betrachteten Pas Colaflasche, während wir aus unserer tranken.

An einen Samstag erinnere ich mich besonders gut. Wir waren nach dem Gujarati-Unterricht zur Western Lane geradelt. Die Männer von Vauxhall waren nicht da. Ged trainierte in einem Court, und als er uns bemerkte, winkte er uns kurz und machte weiter. Wir setzten uns auf die Bank und betrachteten unseren Court, der leer war. Ich weiß nicht, was wir uns dachten. Ich nehme an, wir waren einfach erledigt nach der langen Woche. Alle Türen standen offen, und die Geräusche aus dem Schwimmbad hallten von den Wänden wider, und oben hörten wir Geds Mutter staubsaugen. Sie ließ den Staubsauger laufen, während sie Tische hin und her schob. Pa kam auch, aber da wir ihn nicht gleich hörten, sah er uns untätig vor dem leeren Court sitzen. Er stellte seine Tasche auf die Bank.

Wir nahmen unsere Schläger und betraten den Court, und Pa stand in seinem Anzug auf der anderen Seite der Stirnwand. Er zog sich nicht um. Er gab uns keine Anweisungen. Das weiße Notizheft, in das er normalerweise alle Einzelheiten unserer Trainingseinheiten eintrug, lag ungeöffnet auf der Bank hinter ihm. Wir begriffen, dass er uns das Training selbst gestalten lassen wollte, also machten wir ein paar Sprints und übten unsere Longlines. Während eine von uns trainierte, standen die anderen zwei am Rand. Nachdem Mona erst Khush und dann mir mehrere Minuten lang zugesehen hatte, wie wir versuchten, eng an der Wand zu schlagen, legte sie ihren Schläger auf den Boden, zog einen Schuh aus und platzierte ihn für uns als Zielpunkt zwischen Aufschlagfeld und Rückwand auf unserer Vorhandseite. Wir überanstrengten uns nicht. Wir übten immer und immer wieder denselben Schlag, rückten Monas Schuh ein bisschen nach vorn oder nach hinten, und weiter ging es. Genauso hätte Pa uns auch angeleitet, aber als wir es jetzt allein machten, wurde uns die Zeit lang, und wir fanden es anstrengend.