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Nach einer Tragödie lässt Josie Preston ihr New Yorker Leben überstürzt hinter sich und zieht ins malerische Laurel Lake. Dort hat ihr Vater ihr ein Haus am See vermacht. Laurel Lake wurde wiederholt zur freundlichsten Kleinstadt Amerikas gewählt – Josies neuer Nachbar anscheinend nicht mitgerechnet. Fox Cassidy, ein unverschämt attraktiver ehemaliger Eishockey-Star, ist verschlossen und abweisend, und Sonnenschein Josie geht ihm ganz besonders auf die Nerven. Doch je öfter die beiden aneinandergeraten, desto mehr scheint die Luft zwischen ihnen zu knistern. Wenn jemand Fox’ harte Schale knacken kann, dann Josie. Aber will sie wirklich wissen, warum er sein Herz so verbissen schützt?
Für alle, die diese Tropes lieben:
*Opposites attract*
*Small Town*
*Grumpy/Sunshine*
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nach einer Tragödie lässt Josie Preston ihr New Yorker Leben überstürzt hinter sich und zieht ins malerische Laurel Lake. Dort hat ihr Vater ihr ein Haus am See vermacht. Laurel Lake wurde wiederholt zur freundlichsten Kleinstadt Amerikas gewählt – Josies neuer Nachbar anscheinend nicht mitgerechnet. Fox Cassidy, ein unverschämt attraktiver ehemaliger Eishockey-Star, ist verschlossen und abweisend, und Sonnenschein Josie geht ihm ganz besonders auf die Nerven. Doch je öfter die beiden aneinandergeraten, desto mehr scheint die Luft zwischen ihnen zu knistern. Wenn jemand Fox’ harte Schale knacken kann, dann Josie. Aber will sie wirklich wissen, warum er sein Herz so verbissen schützt?
Weitere Informationen zu Vi Keeland sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Vi Keeland
Roman
Übersetzt von
von Babette Schröder
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel What happens at the Lake.
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Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2025
Copyright © 2024 by Vi Keeland
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: FinePic®, München
Redaktion: Antje Steinhäuser
MR · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medianagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32950-1V002
www.goldmann-verlag.de
Begegnung mit Paul Bunyan
Josie
Ach du Scheiße.
Ich stellte die Schaltung meines Mietwagens auf Parken und stieg aus, um die Rückseite des Ford Explorer zu begutachten. Stirnrunzelnd betrachtete ich die kleine Delle an der Stoßstange und war froh, dass mich der aufdringliche Angestellte der Autovermietung überredet hatte, eine Zusatzversicherung abzuschließen. Warum stand hier überhaupt ein einzelner Pfahl herum? Ich seufzte.
Egal. Darum würde ich mich morgen kümmern. Ich hatte einen langen Tag hinter mir. Aufgrund einer Reifenpanne und diverser Staus hatte ich für die eigentlich elfstündige Fahrt von New York City hierher fünfzehn Stunden gebraucht. Und dabei hatte ich mich auch noch ständig mit Textnachrichten und Anrufen von Noah, meinem Ex, herumgeschlagen. Als ich mich gerade umdrehen wollte, um wieder ins Auto zu steigen, sah ich etwas Rotes unter dem Hinterreifen hervorlugen und stutzte.
War das etwa … ein Briefkasten?
Mist. Offenbar stand der Pfahl nicht einfach so hier in der Gegend herum. Ich sah zu dem Haus hinauf, zu dem er gehörte, und überlegte, ob ich erst morgen klopfen sollte. Doch ich würde eine Weile hierbleiben und wollte nicht gleich einen schlechten Start mit meinem Nachbarn haben. Also zog ich die zerquetschte Metallkiste unter dem Auto hervor, ging damit die Einfahrt hinauf und klopfte an der Haustür.
Als sie geöffnet wurde, vergaß ich für einen Moment, warum ich dort stand.
Wow. Heiß war kein Ausdruck. Grüne Augen mit einem Hauch von Grau, ein markantes Kinn mit einem attraktiven Bartschatten und eine perfekt gerade Nase. Ganz zu schweigen davon, dass er ziemlich groß war. Eins neunzig? Oder größer? Seine breiten Schultern füllten die gesamte Türöffnung aus. Womöglich hatte ich noch nie einen derart stattlichen Mann aus der Nähe gesehen. Kurz überlegte ich, ob er seine Hemden in einem normalen Geschäft kaufen konnte. Noah trug XL, und dieser Mann wirkte, als könnte er meinen Ex wie einen Käfer zerquetschen. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln.
Der Mann, der wie Paul Bunyan, der legendenumwobene starke Holzfäller aussah, allerdings nicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf den zerbeulten Briefkasten in meinen Händen. »Möchten Sie mir etwas sagen?« Er hob eine Augenbraue.
»Hmmm …« Ich hielt den Briefkasten hoch. Warum? Keine Ahnung. Aber ich verspürte das Bedürfnis, etwas mit meinen Armen zu machen. »Ich glaube, ich hab Ihren Briefkasten umgefahren.«
»Sie glauben?«
»Nein, nein …« Ich nickte. »Ich hab ihn ganz offensichtlich umgefahren. Ich meinte, ich war mir nicht sicher, ob es Ihrer ist.«
»Wo war der Briefkasten, als Sie ihn umgefahren haben?«
Ich drehte mich um und zeigte auf das Rasenstück am Ende der Einfahrt, über die ich gerade zur Tür gelangt war. Der einsame Pfahl stand noch da. »Dort drüben.«
»Und Sie waren sich nicht sicher, zu welchem Haus er gehört?«
»Ich, äh …« Oh, was für ein Idiot. Er musste sich nicht über mich lustig machen. So was passierte eben. Wie andere Missgeschicke auch. Es war keine große Sache. Ich würde ihn ersetzen. »Ja, ich hab Ihren Briefkasten umgefahren. Ich entschuldige mich. Es war ein langer Tag, ich bin keine sonderlich gute Fahrerin, und es ist dunkel. Ich hab versucht, rückwärts in meine Einfahrt zu setzen, und na ja … rückwärts fahren ist nicht so einfach wie vorwärts.«
Der Mann kniff die Augen zusammen. »Ihre Einfahrt?«
Ich zeigte auf das Haus auf der rechten Seite. »Das da.«
Er warf einen Blick darauf. »Sie übernachten in dieser Bruchbude?«
»Bruchbude?« Ich blickte nach nebenan, aber anders als hier war die Veranda nicht beleuchtet, sodass ich nicht viel erkennen konnte. »Die Dame von der Hausverwaltung sagte, es müssten nur ein paar Schönheitsreparaturen gemacht werden.«
Der Mann verzog spöttisch die Lippen. »Wenn Sie meinen …«
Toll! Jetzt kann ich es kaum erwarten, das Haus zu sehen. Ich schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, ich werde Ihnen den Briefkasten ersetzen. Haben Sie ihn hier irgendwo in der Nähe gekauft?«
Er hob das Kinn. »Bei Clifton’s, dem Holzlager am Ende der Straße.«
»Ich werde gleich morgen früh einen neuen besorgen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ihn bis dahin behalte, um sicherzugehen, dass ich auch den richtigen besorge?«
Paul Bunyan zuckte mit den Schultern. »Wenn’s Ihnen Spaß macht.«
»Okay, also …« Ich hob die Hand und winkte etwas unbeholfen. »Dann bis morgen.«
Ich ging die Einfahrt hinunter und spürte seinen Blick im Rücken, drehte mich jedoch nicht um. Doch als ich zum Auto kam, das ich noch immer in die Einfahrt nebenan setzen musste, wandte ich mich zwangsläufig wieder zum Haus und blickte verstohlen zum Eingang hinauf. Der mürrische Riese stand doch tatsächlich noch immer da und beobachtete mich. Ich winkte ein zweites Mal unbeholfen, stieg ins Auto und legte den ramponierten Briefkasten auf den Beifahrersitz.
Nachdem ich den Motor gestartet hatte, blickte ich noch mal zum Haus hinauf. Yep. Er glotzt immer noch.
Na toll. Wahrscheinlich wartete er nur auf die Vorstellung, wenn ich versuchte, rückwärts in die Einfahrt zu setzen, nachdem ich ihm gestanden hatte, dass ich keine sonderlich gute Fahrerin war. Diesen Druck konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Ich beschloss, ein Stück vorzufahren, zu wenden und dann vorwärts in der Einfahrt zu parken. Dann musste ich mein Gepäck eben etwas weiter tragen. Nur … jetzt war ich verunsichert. Nachdem ich den Briefkasten angefahren hatte und der Kerl mich beobachtete, legte ich versehentlich den Rückwärts- statt den Vorwärtsgang ein und fuhr prompt erneut gegen den Pfosten, an dem der Briefkasten gehangen hatte. Und diesmal fuhr ich ihn um.
Erschrocken trat ich auf die Bremse und schloss die Augen. Verdammt. Ich hatte in letzter Zeit versucht, mehr auf meine Instinkte zu vertrauen, aber irgendwie funktionierte das nicht wie geplant.
Meine Kehle schnürte sich zu, und meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln – verräterische Anzeichen einer bevorstehenden Panikattacke. Das hatte mir gerade noch gefehlt, also tat ich, was meine neue Therapeutin mir beigebracht hatte. Ich schloss fest die Augen und zählte bis zehn. Als ich die Augen wieder aufschlug, ging es mir nicht besser, insbesondere, als ich sah, dass Mr Bunyan noch immer im Eingang stand. Ich fühlte mich gezwungen, etwas zu sagen, fuhr das Beifahrerfenster herunter und winkte.
»Tut mir leid! Den werde ich auch ersetzen!«
Mein neuer, wenig freundlicher Nachbar sagte nichts. Ich war mir ziemlich sicher, dass wir nicht die besten Freunde werden würden, also versuchte ich erst gar nicht, die Wogen zu glätten. Ich schaltete in den Fahrmodus, vergewisserte mich, dass ich auch ganz sicher im Vorwärtsgang war, bevor ich den Fuß von der Bremse nahm, und schaffte es, zu wenden und ohne weitere Katastrophen in die Einfahrt zu biegen.
Doch als ich im Scheinwerferlicht zum ersten Mal mein neues Zuhause sehen konnte, fragte ich mich, ob mir eine weitere Katastrophe bevorstand.
O nein.
Zwei Fenster waren mit Brettern zugenagelt, das Garagentor war demoliert, die eine Hälfte der Fensterläden fehlte und die andere hing schief in den Angeln. Kein noch so tiefes Durchatmen konnte an diesem Zustand etwas ändern. Wenn es schon von außen so aussah, was würde mich erst drinnen erwarten? Da die Lampe über der Eingangstür kaputt war, ließ ich die Scheinwerfer an, damit ich etwas sehen konnte. Das rostige Schloss passte zum Rest des Hauses, daher wusste ich nicht, warum es mich überraschte, als der Schlüssel sich darin nicht drehen ließ. Ich rüttelte ein paarmal am Griff. Es fühlte sich an, als wollte das Schloss sich drehen, brauchte aber ein wenig Überzeugungsarbeit. Also übte ich ein bisschen mehr Druck aus, und … es bewegte sich. Oh, es bewegte sich tatsächlich.
Knack!
Ich schloss die Augen. Bitte, bitte, lass nicht den Schlüssel abgebrochen sein.
Aber natürlich war er das.
Mist.
Mist.
Doppelt Mist!!!
Was zum Teufel sollte ich jetzt tun?
Ich betrachtete das Haus. Vielleicht war im Erdgeschoss ein Fenster offen? Oder ich könnte die Bretter herausbrechen, hinter denen sich wahrscheinlich eine kaputte Scheibe verbarg. Die nächsten zehn Minuten lief ich ums Haus herum und probierte jedes Fenster, an das ich herankam. Unnötig zu sagen, dass ich heute einfach kein Glück hatte – keins war offen. Zurück am Auto, schaltete ich das Fernlicht ein, um den Rest des Hauses zu inspizieren. Es sah so aus, als stünde im ersten Stock das dritte Fenster von links ein paar Zentimeter offen. Ich erwog, den Wagen auf den Rasen zu fahren, um mich aufs Dach zu stellen, aber auch dann würde ich wohl nicht heranreichen. Vielleicht sollte ich einen Schlüsseldienst rufen? Das letzte Mal hatte es allerdings drei Stunden gedauert, bis der Typ gekommen war, und das war im geschäftigen New York City gewesen, nicht in dieser Kleinstadt. Ich konnte es kaum erwarten, ins Bett zu kommen.
Ich nagte an meiner Lippe und blickte verstohlen zum Haus von Paul Bunyan hinüber. Er war zwar nicht sonderlich freundlich, aber ich brauchte ja nur eine Leiter. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das die einfachste Lösung war, und da mein Bauchgefühl mich überhaupt erst in diesen Schlamassel gebracht hatte, sollte es mich gefälligst auch wieder da herausholen. Also schluckte ich meinen verbliebenen Stolz herunter, schlenderte zum Nachbarhaus und holte tief Luft, bevor ich klopfte.
Der baumlange Typ öffnete wieder und hielt es nicht für nötig, Hallo zu sagen, was mich nicht überraschte. »Hallo noch mal!«, zwitscherte ich etwas zu fröhlich. »Könnten Sie mir vielleicht eine Leiter leihen?«
Er runzelte die Stirn. »Wozu?«
Ich zeigte auf die Tür nebenan. »Ich stecke wohl in der Klemme. Der Schlüssel ist im Schloss abgebrochen.« Ich hielt meinen Schlüsselbund mit dem abgebrochenen Beweisstück hoch. »Sehen Sie? Und ich hab nur den einen. Im Erdgeschoss sind alle Fenster geschlossen, aber es sieht so aus, als wäre im ersten Stock eins offen. Wenn Sie eine Leiter hätten, bringe ich sie Ihnen in fünf Minuten zurück.«
Der Typ starrte mich ganze zehn Sekunden lang an. Dann schob er sich wortlos an mir vorbei. Ich hatte keine Ahnung, ob ich ihm folgen sollte, also tat ich es einfach. Paul gab neben der Garage einen Code ein, und das Tor rollte hoch. Er duckte sich, ging hinein und nahm eine Leiter.
»Vorne oder hinten?«, brummte er.
»Äh … vorne.«
Mit der Leiter auf der Schulter marschierte er über den Rasen zu meinem Haus. Ich folgte ihm. »Sie müssen sie nicht tragen. Das kann ich doch machen.«
Der wortkarge Mann warf mir einen Blick zu und ging weiter.
»Na gut. Sie wollen sie wohl tragen«, murmelte ich.
Nebenan begutachtete er die Vorderseite des Hauses. Als er das offene Fenster entdeckte, lehnte er die Leiter an die Holzschindeln und stieg hinauf.
Das übernimmt er also offenbar auch …
Ich sah von unten zu und genoss im Stillen den Ausblick auf seinen knackigen Jeanshintern. Vielleicht halluzinierte ich nach der langen Fahrt, aber ich stellte mir unwillkürlich vor, dass eine Münze davon abprallen würde, und plötzlich hatte ich Lust auf einen reifen, saftigen Pfirsich.
Ich verdrängte die lächerlichen Gedanken, als Paul »der Pfirsich« Bunyan das Fenster im ersten Stock aufschob und hineinkletterte. Zwei Minuten später öffnete er die Haustür.
Ich atmete erleichtert auf. »Tausend Dank.«
Der hochgewachsene Mann blieb in der offenen Tür stehen, verschränkte die Arme – offenbar eine seiner Lieblingshaltungen – und sah von oben auf mich herab. »Woher weiß ich, dass Sie tatsächlich hier wohnen dürfen?«, fragte er.
»Na ja, das Haus gehört mir, also …«
Er blinzelte. »Wann haben Sie es gekauft? Ich hab kein Verkaufsschild gesehen.«
»Ich hab es nicht gekauft, ich hab es geerbt. Vor fünfzehn Jahren. Als mein Vater starb.«
»Wer war dann die alte Dame, die hier gewohnt hat?«
»Eine Mieterin. Meine Mutter hat es nach dem Tod meines Vaters an sie vermietet. Ich war damals erst dreizehn.«
»Was ist mit ihr passiert?«
»Mrs Wollman? Sie ist letzten Monat in eine Einrichtung für betreutes Wohnen gezogen. Sie konnte nicht mehr allein leben und sich um das Haus kümmern.«
»Ich würde sagen …« Er schaute über seine Schulter. »Wann waren Sie zum letzten Mal hier?«
»Noch nie. Ich bin das erste Mal in Laurel Lake.«
Paul warf wieder einen Blick über seine Schulter und dann zu mir. »Mit welcher Baufirma arbeiten Sie zusammen?«
Ich runzelte die Stirn. »Baufirma? Mit keiner. Ich dachte, ich bringe das Haus selbst in Ordnung, solange ich hier bin.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Das dürfte interessant werden.«
Ich mochte seinen Briefkasten demoliert haben, und er hatte mir vielleicht eine Leiter hergetragen und war in mein Haus geklettert, um mich hereinzulassen. Das gab diesem Idioten aber noch lange nicht das Recht, sich über mich lustig machen. Ich stemmte die Hände in die Hüften und kniff die Augen zusammen. »Was ist so lustig daran, dass ich die Arbeiten im Haus selbst erledigen will?«
Er grinste noch breiter. »Es braucht ein bisschen mehr als nur einen Eimer Farbe und ein paar Kissen.«
Jetzt machte er mich wütend. »Sie sollten wissen, dass ich ziemlich geschickt bin. Ich hab Ingenieurwesen studiert.« Die Tatsache, dass es sich um einen Ingenieur in Pharmazeutik handelte, ließ ich weg.
»Wenn Sie meinen …«
»Wie wäre es, wenn ich mich für die Hilfe heute Abend bedanke und Sie mich in mein Haus lassen?«
Der Idiot trat zur Seite, um mir Platz zu machen, blieb aber weiter in der Tür stehen. Ich straffte die Schultern, hob das Kinn, schob mich so selbstbewusst wie möglich an ihm vorbei und versuchte, das Kribbeln in meinem Körper zu ignorieren.
Paul Bunyan schaltete das Licht ein. Ganz gleich, wie das Haus aussehen mochte, ich würde diesem Mann nicht die Genugtuung gönnen, eine Reaktion zu zeigen. Doch nicht mit aller Selbstbeherrschung der Welt hätte ich den Schock überspielen können, der mich beim Anblick des Hauses traf. Ich schnappte hörbar nach Luft.
Oh.
Mein.
Gott.
Ich blinzelte ein paarmal und hoffte, dass ich mir das alles nur einbildete. Vielleicht war es ein schlechter Traum? Es war ein langer Tag gewesen, und ich war müde. Vielleicht war ich in dieses niedliche, kleine Haus mit der hübschen Einrichtung gegangen und war eingenickt … Aber nein, das war kein Traum. In der einen Hälfte der Küche waren bis unter die Decke Zeitungen gestapelt. Und die Küche war nicht klein. Die Stapel waren ein halbes Dutzend Reihen tief, ungefähr fünf Meter breit und zweieinhalb hoch. Diese schräge Sammlung verstörte mich so, dass ich einen Moment brauchte, um die andere Hälfte der Küche zu bemerken. Die hellgrün gestrichenen Schranktüren hingen lose in den Angeln. An der gefliesten Rückwand fehlte die Hälfte der Kacheln und an der Spüle der Wasserhahn. Und das war nur, was mir auf den ersten Blick auffiel.
Mir blieb der Mund offen stehen. Ein paar Schönheitsreparaturen? Das hatte die Hausverwalterin gesagt. Ein Torbogen führte ins Wohnzimmer. Ich beging den Fehler, hindurchzuspähen, und das Haus begann, sich ein wenig zu drehen. Da drin sah es genauso schlimm aus, wenn nicht noch schlimmer als in der Küche. Es gab weder eine Decke noch Wände! Keine verdammten Rigipsplatten! Nur Holzrahmen und überall Drähte. Schlimmer noch, auch in diesem Teil des Hauses stapelte sich das Zeug. Zuerst dachte ich, es handele sich um weitere Zeitungen, doch als ich mich vorbeugte, um es besser erkennen zu können, wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte.
»Sind das VHS-Kassetten?«
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass tatsächlich jemand antworten würde. In meinem Schockzustand hatte ich Paul Bunyan ganz vergessen, und so fuhr ich zusammen, als seine Stimme ertönte.
»Ja.«
Ein Wort. Eine verdammte Silbe. Doch ich hörte die Belustigung in seiner Stimme. Das reichte. Nach diesem beschissenen Tag war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ich stellte mich dicht vor ihn und stieß ihm einen Zeigefinger gegen die Brust. »Finden Sie das etwa lustig?« Es nervte mich, dass ich trotz meiner Wut registrierte, wie fest besagte Brust unter meinem Finger war. Das verdammte Ding fühlte sich an wie eine Ziegelmauer. Aber nein … einfach nein. Ich zwang mich, es zu ignorieren, und fuhr fort: »Ich war fünfzehn Stunden auf überfüllten Straßen unterwegs. Dabei hat wie eine nervige Mücke unablässig mein Handy gesummt. Ich hatte eine Reifenpanne, die Klimaanlage des Mietwagens ist ausgefallen, ich hab Ihren blöden Briefkasten umgefahren, und dann ist mir auch noch der Schlüssel abgebrochen. Ich musste zu meinem mürrischen Nachbarn hinüberkriechen und mir eine Leiter leihen, um überhaupt ins Haus zu kommen. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass die Hütte ein einziger Trümmerhaufen ist, in dem offensichtlich ein Messie gehaust hat. Und als wäre all das nicht schon genug, als würde ein derart beschissener Tag nicht genügen, einen vollkommen fertigzumachen, müssen Sie sich auch noch darüber amüsieren. Das gibt mir den Rest.« Ich löste kurz den Finger von der Brust dieser menschlichen Eiche und stieß ihn dann bei jedem Wort wieder mit Nachdruck hinein.
»Ich.«
Stoß.
»Hab.«
Stoß.
»Die.«
Stoß.
»Schnauze.«
Stoß.
»Voll.«
Wenigstens hatte ich es geschafft, dem Kerl das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Er sagte allerdings kein Wort, stand nur da und starrte mich an. Nach einer guten Minute sprach er endlich.
»Übernachten Sie heute hier?«
Meine Augen weiteten sich. »Natürlich!« Ich kreischte wie eine Geisteskranke. »Wo sollte ich denn sonst hingehen?«
Er sah mich einen Moment lang an, dann drehte er sich um und ging. Ich dachte, das war’s, bis ich hörte, wie eine Autotür geöffnet wurde. Zehn Sekunden später erschien Paul Bunyan wieder in der Tür – mit meinem Gepäck.
Nun war ich genauso sprachlos wie beim ersten Anblick des Hauses. Der Mann stellte die Taschen in der Küche ab und verschwand wieder. Eine Minute später kehrte er zurück, diesmal mit dem Aufblasbett, das ich eingepackt hatte, und mit einem Karton. Er stellte die Sachen zu meinem Gepäck und verschwand erneut. Nach zwei weiteren Gängen sah er mir in die Augen und nickte knapp. »Gute Nacht.«
Dann verschwand er und zog die Tür hinter sich zu.
Kopfschüttelnd sah ich mich im Haus um. Was zum Teufel war in den letzten fünfzehn Minuten passiert?
Die freundlichste Stadt Amerikas
Josie
»Hallo. Liefern Sie auch?«
Der grauhaarige Mann, dessen Namensschild ihn als Sam auswies, lächelte.
»Aber selbstverständlich. Wohin soll es denn gehen?«
»In die Rosewood Lane, ungefähr eineinhalb Kilometer von hier.«
»Kein Problem. Wenn Sie möchten, kann ich Sie heute Nachmittag mit einplanen.«
»Oh, das wäre toll. Vielen Dank.«
»Wissen Sie schon, was wir liefern sollen?«
»Ich hab eine Liste, vor allem Rigipsplatten, Haushaltsgeräte und so weiter, aber ich dachte, ich schau mich mal um, ob ich etwas vergessen hab.«
Er nickte. »Lassen Sie sich Zeit. Ich heiße Sam. In ungefähr einer halben Stunde mache ich Pause. Vorher komme ich aber zu Ihnen, falls wir noch etwas für Sie tun können.«
Na, das war die Freundlichkeit, die ich in Laurel Lake erwartet hatte, nicht der Empfang, den mir dieser mürrische Typ von nebenan bereitet hatte. Wenigstens hatte ich ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Als ich ihm gestern sagen wollte, dass ich den Briefkasten bestellt hatte, war niemand zu Hause gewesen.
Bei Tageslicht hatte ich sein Haus in Augenschein nehmen können. Blumenkästen, hübsche Vorhänge, ein Kranz an der Haustür – ob es wohl eine Mrs Bunyan gab? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das so schön dekoriert hatte.
Während ich durch die Gänge des Baumarkts schlenderte, surrte mein Handy in der Tasche. Angespannt holte ich es hervor und erwartete, Noahs Namen auf dem Display zu sehen. Zu meiner Freude war es Nilda – die Frau, von der ich wünschte, sie wäre meine Mutter. Meine Schultern entspannten sich, und ich nahm das Gespräch an.
»Hallo, Nilda!«
»Hallo, mein Schatz. Wie geht es dir?«
»Gut.«
»Wie lebt es sich in Amerikas freundlichster Stadt?«
»Na ja, bislang ist es ganz interessant. Der See ist wundervoll, so ruhig und friedlich. Nur auf meiner Seite stehen Häuser, auf der anderen ist Naturschutzgebiet. Im Garten kommt man sich vor wie in der Wildnis. Man sieht nur einen riesigen See und hohe, alte Bäume.«
»Das hört sich paradiesisch an.«
»Das ist es. Zumindest von außen. Von innen … nicht ganz so. Dads Haus wurde offenbar von einem Messie bewohnt, das Ganze ist ziemlich heruntergekommen. Gestern hab ich einen ganzen Container vollgemacht und bin immer noch nicht alle Zeitungen und VHS-Kassetten losgeworden.«
»O nein. Übernachtest du woanders?«
Wahrscheinlich hätte ich das tun sollen, so wie das Haus aussah, aber ich wollte nicht, dass Nilda sich Sorgen machte. »Es ist bewohnbar. Nur ein bisschen mehr Arbeit als gedacht.«
»Zum Glück weiß ich, dass niemand so hart arbeiten kann wie mein Mädchen.«
Ich lächelte. »Wie geht’s dir? Warst du schon beim Arzt wegen deiner Rückenschmerzen?«
»Ich arbeite daran.«
»Das hast du auch gesagt, als du vor einem Jahr Schmerzen in der Seite hattest. Doch tatsächlich bist du erst bei einem Arzt gelandet, als man dich auf einer Trage aus dem Haus befördert hat, weil dein Blinddarm geplatzt war. Muss ich meine Mutter bei dir vorbeischicken?« Es gab nicht allzu viele Dinge, für die sich die geschätzte Dr. Melanie Preston interessierte. Wenn es um die Gesundheit ging, war sie allerdings sofort zur Stelle.
Nilda seufzte. »Ich mache bald einen Termin. Versprochen. Aber apropos Dr. Preston … Hast du seit deiner Entlassung mit deiner Mutter gesprochen?«
»Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen, aber ich hab noch nicht zurückgerufen.«
»Sie macht sich bestimmt Sorgen.«
Ich schnaubte verächtlich. »Wenn sie sich Sorgen gemacht hätte, wie es mir geht, hätte sie vorbeikommen können.«
Nilda schwieg. In den fünfundzwanzig Jahren, die ich sie kannte, hatte sie nicht ein einziges Mal ein schlechtes Wort über meine Mutter verloren, auch wenn diese es eindeutig verdient hätte. Und das nicht nur, weil meine Mutter ihre Arbeitgeberin war. Ich bezweifelte, dass Nilda jemals schlecht über jemanden geredet hatte. Sie war der netteste, warmherzigste Mensch auf diesem Planeten. Ich verdankte ihr sehr viel.
»Erzähl mir von den Menschen in Laurel Lake«, sagte Nilda. »Verdienen sie den Titel ›Amerikas freundlichste Stadt‹?«
Mir fiel nur ein Mensch ein, der den Titel, den Laurel Lake seit siebzehn Jahren trug, nicht verdiente. Andererseits hatte ich in den letzten achtundvierzig Stunden etwas zu oft an diesen Menschen gedacht. Es war an der Zeit, dass ich Mr Griesgram vergaß. Ich wollte nicht zulassen, dass ein Blödmann die kleine Stadt ruinierte, von der ich fast mein ganzes Leben lang geträumt hatte.
»Ich hab noch nicht so viele Leute kennengelernt«, sagte ich zu Nilda. »Aber der Typ im Baumarkt ist wirklich nett, und die Dame im Café hat mir gestern einen Kaffee ausgegeben, als ich ihr sagte, dass ich neu in der Stadt sei.«
Nilda und ich plauderten weiter, während ich durch die Elektro- und Heizungsabteilung schlenderte und verschiedene Dinge einpackte, an die ich beim Erstellen der Einkaufsliste nicht gedacht hatte. Schließlich erzählte ich ihr von meinem Nachbarn, obwohl ich mir vorgenommen hatte, ihn aus meinem Kopf zu verbannen. Bevor wir auflegten, erinnerte ich sie daran, einen Arzttermin zu vereinbaren, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich in ein paar Tagen meine Mutter einschalten musste. Ich traute es Nilda sogar zu, dass sie keinen Termin machte, nur damit ich gezwungen war, Melanie anzurufen. Ich hatte nie verstanden, warum sie unbedingt wollte, dass ich eine Beziehung zu meiner Mutter aufbaute, aber sie meinte es nur gut. Nachdem wir aufgelegt hatten, suchte ich Sam.
»Jetzt können wir einen Liefertermin vereinbaren«, sagte ich und reichte ihm die Liste.
Sam studierte sie. »Unsere Leute dürfen nur bis in Ihre Einfahrt liefern. Wenn Sie nicht vorhaben, die Rigipsplatten und das Holz sofort zu verwenden, sollten Sie vielleicht ein paar Planen bestellen. Für die nächsten Tage ist etwas Regen vorhergesagt.«
»Gut zu wissen. Können Sie das bitte noch ergänzen?«
Sam zwinkerte. »Schon geschehen. Und ich schicke Ihnen George als Fahrer. Wenn Sie etwas ins Haus getragen haben möchten, macht er das gern. Einige der Jungs sind faul und verstecken sich hinter den Vorschriften.«
»Danke.«
Er nahm ein Klemmbrett und überflog einige Papiere. »Ich kann Ihnen das heute zwischen eins und vier liefern lassen. Wenn Sie aus irgendeinem Grund nicht zu Hause sind, wird alles in die Einfahrt gestellt.«
»Okay. Aber ich werde auf jeden Fall da sein. Ich bekomme auch ein Bett geliefert.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich käme mit einer aufblasbaren Matratze zurecht. Aber anscheinend hat mein Rücken gemerkt, dass ich kein Teenager mehr bin.«
Sam lächelte. »Das tut meiner auch.«
Stunden später sah ich mir mit AirPods in den Ohren ein YouTube-Video über das Anbringen von Rigipsplatten an, als der Küchentisch vibrierte. Ich nahm einen Ohrhörer heraus und sah mich nach der Ursache um, konnte aber nichts entdecken. Bis es laut klopfte. Peng. Peng. Ich zuckte vor Schreck zusammen. Meine Güte. Das musste der Fahrer vom Baumarkt sein, aber das Klopfen klang leicht aggressiv.
Das erklärte sich, als ich die Haustür öffnete und Paul Bunyan davorstand. Er presste grimmig die Lippen zusammen, doch ich beschloss, ihn übertrieben freundlich zu begrüßen.
Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Hallo, Nachbar. Schön, Sie zu sehen.«
Er brummte etwas, das ich nicht verstand.
»Was war das?« Ich legte eine Hand um mein Ohr. »Ich hab nicht verstanden, was Sie gebrummt haben.«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Erwarten Sie eine Lieferung?«
»Ja. Warum?«
»Weil die Ihren Mist in meiner Einfahrt abgeladen haben.«
»Was?« Mir blieb der Mund offen stehen. »Das kann doch nicht sein.« Ich zwängte mich an dem baumlangen Mann vorbei, der anscheinend gern in Hauseingängen stand, und schaute zu seiner Einfahrt hinüber. Und tatsächlich, dort war meine Lieferung. Und der Lieferwagen war nirgends zu sehen.
»Ich weiß nicht, warum sie das getan haben. Ich hab den ganzen Nachmittag auf das Zeug gewartet.«
Mr Bunyan hielt eine gelbe Durchschlagrechnung hoch. »Ich hab da eine Idee.«
»Wovon reden Sie?« Ich schnappte mir das Papier und suchte die Adresse. »Vierundvierzig Rosewood Lane. Sie hatten die richtige Adresse.«
»Ach ja?«
»Ja.« Er deutete mit dem Kinn hinter mich. Ich war verwirrt, was er mir in meinem Haus zeigen könnte, das seine Gereiztheit begründete. Doch als ich begriff, machte ich große Augen.
Sein verbeulter Briefkasten.
Sein verbeulter Briefkasten, auf den seitlich eine Nummer gemalt war: vierundvierzig.
Mist.
»Ich …« Ich ließ die Schultern hängen. »Ich hab es vermasselt.«
»Ach was.«
»Ich bin in den letzten zwei Tagen so oft an diesem Briefkasten vorbeigegangen, dass sich die Nummer wohl unbewusst in meinem Hirn festgesetzt hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich darum.«
»Wie?«
»Keine Sorge. In einer Stunde ist das Zeug weg. Okay?«
Statt einer Antwort schüttelte er den Kopf. Mr Happy machte kehrt und ging meine Einfahrt hinunter. Doch dann fiel mir etwas ein.
»Hey, Paul? Hast du …«
Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Meinst du mich?«
Ich schloss die Augen. Mist. »Sorry. Ich, ähm … heißt du nicht so?«
»Nein.«
»Wie denn?«
»Fox.«
»Fox? Ist das eine Abkürzung für Foxton oder Foxwell oder so?«
»Nein, nur Fox.«
»Okay, also, NurFox … Hast du dem Fahrer zufällig Trinkgeld gegeben? Denn es war nicht seine Schuld, dass ich die falsche Adresse angegeben habe, und ich möchte ihn nicht um sein Trinkgeld bringen.«
Paul – oder vielmehr Fox – stand immer noch mit dem Rücken zu mir. Erst jetzt drehte er sich um und schüttelte den Kopf. »Wenn ich gesehen hätte, wie sie den Krempel in meiner Einfahrt abladen, hätte ich ihnen dann nicht gesagt, dass sie die falsche Adresse haben?«
»Oh.« Ich verzog das Gesicht. »Sorry, ich hab nicht nachgedacht.«
»Was du nicht sagst.«
Meine Augen weiteten sich. »Du musst nicht so unhöflich sein! Ich hab halt einen Fehler gemacht.«
Fox lief weiter. Also tat ich etwas überaus Reifes, ich streckte ihm die Zunge heraus.
»Das hab ich gesehen«, sagte er, schon auf halbem Weg zurück zu seinem Grundstück.
Im Ernst? Was zum Teufel? Hatte der Idiot etwa Augen im Hinterkopf? Ich wette, die waren auch jadegrün und von schwarzen Wimpern gerahmt, wie die, aus denen er mich stets finster ansah. Nichtsdestotrotz schnappte ich mir meine Sneaker, zog sie an und ging nach nebenan, um meine Lieferung dorthin zu schaffen, wo sie hingehörte.
Mir war nicht klar, wie viel ich bestellt hatte, bis ich es aus der Nähe sah. Auf einer großen Holzpalette war ein Haufen Krempel gestapelt.
»Na toll«, murmelte ich, als ich mich bückte, um die erste Rigipsplatte anzuheben. Leider hatte ich nicht nur die Menge des bestellten Materials falsch eingeschätzt, sondern auch das Gewicht. Eine einzige Rigipsplatte musste fast fünfzig Pfund wiegen, ganz zu schweigen davon, dass sie um einiges größer war als ich. Mein schwacher Versuch, sie zu tragen, war lächerlich, und ich entschied rasch, sie über den Rasen zu ziehen. Ich war etwa drei Meter weit gekommen, als meine Last plötzlich leicht wurde. Mr Freundlich hob die Rigipsplatte hoch über seinen Kopf und trug sie nach nebenan, als würde sie gerade einmal fünf Pfund wiegen. Ich musste joggen, um mit seinen Riesenschritten mitzuhalten.
»Ich kann das machen«, sagte ich.
»Wo sollen die hin?«
»Ähm … ich glaube, in die Einfahrt. In der Garage steht lauter Krempel, den die Mieterin zurückgelassen hat.«
»Es soll regnen.«
»Ich hab eine Plane.«
»Du brauchst eine Palette, sonst kommt das Wasser von unten.«
»Oh. Da ist eine unter den Sachen, die geliefert wurden.«
»Und das hilft mir jetzt … wie?«
Gutes Argument. Ich sah mich nachdenklich um, als könnte auf wundersame Weise eine Holzpalette auf meinem Rasen erscheinen.
»Mein Wagen sollte unverschlossen sein«, brummte Fox. »Die Fernbedienung zum Öffnen der Garage liegt auf der Sonnenblende. Auf der linken Seite stehen ein paar Holzpaletten auf Rollen an der Wand.«
»Okay.« Ich joggte nach nebenan, während mein mürrischer Nachbar mit der Rigipsplatte wartete. Erwartungsgemäß war seine Garage tadellos aufgeräumt, und die Paletten standen genau dort, wo er gesagt hatte. Ich zerrte die Palette in die Mitte meiner Einfahrt. Fox legte die Rigipsplatte darauf und ging zurück zu dem Stapel in seiner Einfahrt.
»Lass mich dir wenigstens helfen.« Ich lief ihm hinterher. »Es ist einfacher, wenn wir die Rigipsplatten zusammen tragen.«
Er schüttelte den Kopf, ohne in meine Richtung zu schauen. »Nein, ist es nicht.«
Als er sich dieses Mal bückte, um eine Platte aufzuheben, nahm er gleich zwei. Ich weigerte mich, ihn die ganze Arbeit allein machen zu lassen, nahm die nächste Platte und begann, sie über den Rasen zu schleifen. Als ich es bis zu meiner Einfahrt geschafft hatte, hatte Fox schon zwei Mal zwei Rigipsplatten herübergetragen. Der Riesenkerl kam nicht einmal ins Schwitzen.
Fünfzehn Minuten später war der große Stapel dort, wo er hingehörte. Fox wies auf das Haus.
»Hast du schon eine Firma beauftragt?«, fragte er.
»Nein. Das mach ich selbst.«
»Hast du viel Erfahrung im Anbringen von Rigipsplatten?«
»Nein, aber ich schaue mir YouTube-Videos an, um zu lernen. Es sieht nicht so schwer aus.«
»Klar. YouTube.« Er grinste. »Das klingt nach einem soliden Plan.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Was ist dein verdammtes Problem?«
»Abgesehen von einem kaputten Briefkasten und einem Haufen Mist, den ich nicht bestellt hab und der in meiner Einfahrt lag, als ich dort parken wollte?«
Ich verdrehte die Augen. »Bist du immer so negativ?«
»Realistisch, nicht negativ.«
»Du kennst mich nicht. Aber du bist dir sicher, dass ich nicht in der Lage bin, etwas selbst zu reparieren?«
»Um Rigipsplatten anzubringen, muss man sie hochheben können.«
»Weißt du was? Die Leute in dieser Stadt sollen angeblich freundlich sein.«
»Und gute Nachbarn sollte man sehen, nicht hören. Wir kriegen nicht alle, was wir wollen.«
»Das Sprichwort bezieht sich auf Kinder, nicht auf Nachbarn.« Ich wischte mir eine Schweißperle von der Stirn und stellte fest, dass auf Fox’ Stirn nicht mal ein noch so schwacher verdammter Schweißfilm zu sehen war. »Und warum zum Teufel schwitzt du nicht, nachdem du das alles geschleppt hast?«
»Ich trainiere.«
Ich fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Willst du damit etwa andeuten, dass ich das nicht tue?«
Fox’ ließ den Blick über meinen Körper gleiten, dann sah er mir in die Augen. »Das hab ich nicht gesagt.«
Die Art, wie mein Körper reagierte, brachte mich aus dem Konzept. »Wie auch immer«, schnaufte ich. »Danke, dass du mir geholfen hast, alles zu tragen.«
»Gern geschehen.« Er zögerte. »Wieder mal.«
Das wieder mal machte meinen Versuch eines höflichen Austauschs zunichte. Offensichtlich war dieser Mann nicht in der Lage, höflich zu sein. Ich schenkte ihm ein offensichtlich aufgesetztes Lächeln. »Schönen Tag noch.«
Wie es seine Art zu sein schien, machte Fox kehrt und entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Wer macht so etwas? Dreht sich um, ohne auch nur das Kinn zu heben oder zu winken? Jemand, den ich in meinem Leben nicht gebrauchen kann.
Kopfschüttelnd beobachtete ich, wie mein Nachbar über den Rasen zurückmarschierte. Der Typ ist wirklich ein Idiot. Mein Blick fiel auf seine gut sitzende Jeans. Aber … ein Idiot mit einem tollen Hintern.
Das Gewohnheitstier
Fox
»Herrgott«, murmelte ich vor mich hin. »Was macht sie denn jetzt?«
Ich hätte mich nicht von meiner Neugier überwältigen lassen und im Vorbeifahren nach links schauen dürfen. Doch nun war es passiert. Ich hielt den Wagen an und beobachtete durch das große Erkerfenster auf der Vorderseite des Hauses meine verrückte neue Nachbarin. Der kleine blonde Hitzkopf balancierte auf einem Stuhl, der auf einem anderen Stuhl stand, und fummelte an der Küchenlampe herum. Ich hätte das Handy zücken und den Notruf wählen sollen, um auf das vorbereitet zu sein, was in etwa fünf Sekunden passieren würde.
Als sie sich hinaufstreckte, wankte sie, und mir blieb fast das Herz stehen. Ich riss die Autotür auf und wollte gerade herausspringen, zu ihr ins Haus laufen und sie aus der wackeligen Lage befreien. Doch da flackerte das Licht auf, an dem sie herumgefummelt hatte, und sie stieß die Faust in die Luft. Sie kletterte hinunter, und ich atmete aus, schlug die Tür wieder zu und gab Gas, bevor ich dort drüben noch eine weitere waghalsige Aktion beobachten konnte.
Auf dem Weg zur Baustelle hielt ich wie immer bei Rita’s Coffee Beanery an. Früher hieß es einfach nur Rita’s, doch nachdem sie den Laden vor ein paar Jahren renoviert hatte, fügte sie den hipp klingenden Namen Beanery hinzu. Die Airbnb-Yuppies, die wegen des dämlichen Titels »Die freundlichste Stadt Amerikas« hier auf der Suche nach etwas waren, was es nicht gab, gaben bereitwillig einen Dollar fünfzig mehr aus, um überteuerten Kaffee in einer Rösterei zu kaufen.
»Morgen.« Ich nickte.
»Wie geht es dir, mein Hübscher?«, fragte Rita. »Das Übliche?«
»Ja.«
»Ein schwarzer Kaffee und ein langweiliger Vollkorntoast, kommt sofort.« Sie drückte einige Knöpfe auf der Kasse. »Wann kann ich dich endlich zu was Neuem überreden? Meine Power-Shakes sind total lecker. Ich kann zaubern. In meinem Gurken-Apfel-Power-Smoothie schmeckst du den Grünkohl überhaupt nicht.«
»Ich mag keine Veränderungen.« Sie verschwand und kam mit meinem üblichen in Folie gewickelten Toast und einem großen Kaffee zurück. »Ich hab gehört, du hast eine neue Nachbarin. Vielleicht kannst du eine Freundin finden.«
Diese Stadt hätte den Titel »Die neugierigste Stadt Amerikas« verdient, nicht »Die freundlichste«. Ich schüttelte den Kopf. »Neue Freunde interessieren mich ungefähr genauso sehr wie dein Power-Smoothie.« Ich streckte die Hand aus. »Kann ich jetzt mein Frühstück haben?«
Rita schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Du hast Glück, dass deine Mutter so nett ist und du so gut aussiehst, sonst wäre niemand nett zu dir, Fox Cassidy.«
Ich nickte knapp und legte einen Fünfer auf den Tresen. »Dir auch einen schönen Tag, Rita.«
Auf der Baustelle fand ich meine bunt zusammengewürfelte Mannschaft im klimatisierten Wohnwagen vor. Ich zeigte auf meinen Vorarbeiter, Porter, der auf der Schreibtischkante meiner Assistentin saß, und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Warum bist du hier drinnen, anstatt draußen deine Arbeit zu tun?«
Sein freches Grinsen mochte zwar bei Frauen gut ankommen, zog bei mir allerdings gar nicht. »Es ist noch nicht acht. Ich erzähle Opal gerade von der zukünftigen Mrs Tobey. Hatte gestern Abend ein Date. Ich sag dir, ich bin verliebt.«
Ich ging an ihm vorbei und setzte mich an meinen Schreibtisch. »Sind wir noch bei den Krankenschwestern?«
Porter Tobey arbeitete jetzt seit drei Jahren für mich. Im ersten Jahr hatte er auf Lehrerinnen gestanden und sich nur mit Grundschullehrerinnen verabredet, weil er meinte, die seien mütterlich und anhänglich. Im zweiten Jahr war er zu Flugbegleiterinnen übergegangen – keine leichte Sache, wenn man bedachte, dass unsere kleine Stadt fünfundvierzig Minuten vom nächsten Flughafen entfernt war. Aber er war engagiert und verbrachte viel Zeit mit einem leeren Koffer an Flughafenbars, um wie ein Reisender zu wirken. Flugbegleiterinnen mochte er, weil sie nicht so anhänglich waren – ihre Unabhängigkeit schien ihm erfrischend. Jetzt waren es Krankenschwestern. Davon gab es mehr als eine Handvoll in Laurel Lake, und ich fragte mich, ob der Wechsel etwas mit der langen Fahrt zum Flughafen und den explodierenden Benzinpreisen zu tun hatte.
»Krankenschwestern sind so warmherzig und fürsorglich.« Er seufzte.
»Was ist mit den Damen von der Jobvermittlung? Wie sind die so? Denn dort wirst du demnächst deine Zeit verbringen«, ich wies mit zwei Fingern auf die Tür, »wenn du deinen Hintern nicht aus meinem Büro bewegst.«
Porter stand auf. »Weißt du, meine Krankenschwester hat viele Freundinnen. Vielleicht kann ich sie bitten, dich zu verkuppeln, und wir treffen uns zum Doppel-Date. Das könnte gegen die schlechte Laune helfen, die du in letzter Zeit hast, also, in den letzten drei Jahren.«
»Raus!«
Porter verließ fluchtartig den Bauwagen und ließ nur mich und Opal zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Du solltest netter zu dem Jungen sein. Er sieht zu dir auf.«
»Er ist siebenundzwanzig, nur sechs Jahre jünger als ich. Er ist also kein Junge. Und er schaut zu mir auf, weil ich gut einen Kopf größer bin als er.«
»Er hat früh seinen Vater verloren. Du bist sein Vorbild.«
»Dann helfe ich ihm, indem ich ihm eine solide Arbeitsmoral beibringe.« Ich zeigte auf den Drucker. »Apropos Arbeit, kannst du mir die technischen Daten für den Franklin-Auftrag ausdrucken?«
Sie blickte auf ihre Uhr. »Nachdem ich meine Mutter angerufen habe. Porter kannst du vielleicht herumkommandieren und drängen, vor seiner Schicht anzufangen, aber mir machst du keine Angst.«
Die nächsten zehn Minuten hatte ich das Vergnügen, Opals Telefonat mit ihrer Mutter über deren Ballenzehen zu lauschen. Um Punkt acht legte sie auf, drückte ein paar Tasten am Computer, und der Drucker spuckte Papiere aus. Unsere Schreibtische standen höchstens drei Meter voneinander entfernt. Opal brachte mir den Stapel herüber. »Guten Morgen, Boss. Hier sind die Franklin-Daten.«
»Danke«, brummte ich.
Ich las, was sie mir gegeben hatte, doch Opal rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen wartete sie, dass ich wieder aufsah.
Ich seufzte und ließ die Papiere sinken. »Ja?«
Sie lächelte. »Ich hab gehört, du hast eine neue Nachbarin. Sie heißt Josie.«
»Herrgott. Gibt es irgendjemanden, der das nicht weiß?«
»Reuben von der Tankstelle sagt, sie ist sehr hübsch.«
Blondes Haar, hellblaue Augen, und ich fragte mich, ob ihre Haut wohl so weich war, wie sie aussah. Aber ich würde dem Affen nicht noch Zucker geben, indem ich meine Meinung kundtat. Ich zuckte mit den Schultern. »Ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie ist Wissenschaftlerin, weißt du?«
»Bist du sicher, dass du von der richtigen Nachbarin sprichst?«
»Wohnt im Haus von Mrs Wollman – dem alten Messie.«
Ich zog die Brauen zusammen. »Woher wusstest du, dass Mrs Wollman ein Messie war?«
»Das wussten alle in der Stadt.« Opals Blick glitt über mein Gesicht. »Außer dir, anscheinend. Jedenfalls, die hübsche junge Frau ist Doktorin – nicht die Art, zu der man geht, wenn man krank ist oder sich die Knochen bricht, sondern eine von diesen Forschertypen. Sie hat einen fetten Job, entwickelt neue Medikamente für ein Pharmaunternehmen.«
Na, hoffentlich konnte sie besser Pillen herstellen als ein Bauprojekt leiten. »Schön für sie.«
»Und Frannie von der Post sagte, ihr Nachsendeantrag läuft nur sechzig Tage, nicht dauerhaft.«
»Muss sich Frannie nicht an irgendwelche Datenschutzrichtlinien halten? Oder öffnet sie die Rechnungen und Briefe der Leute und verbreitet auch darüber Klatsch und Tratsch?«
»Sie bekommt Weihnachtskarten von Josie – Frannie, nicht die Post. Wobei sie natürlich über diesen Kanal zu Frannie gelangen müssen.«
Ich sah sie skeptisch an. »Sie kennen sich?«
»Nein. Frannie ist ihr zum ersten Mal begegnet, als sie vor ein paar Tagen ihre nachgesandte Post abgeholt hat.«
»Und trotzdem bekommt sie Weihnachtskarten von ihr?«
»Nicht nur Weihnachten, sondern auch an Ostern und zu Thanksgiving. Sie schicken sich Karten zu jedem Feiertag.«
»Was entgeht mir hier? Sie kennen sich nicht, aber sie schicken sich Weihnachtskarten?«
»Ja.«
»Wie funktioniert das?«
»Ich verstehe es selbst nicht ganz. Aber Frannie sagt, sie hätten vor einem Jahrzehnt angefangen, sich Karten zu schicken. Offenbar treffen ein paarmal im Jahr einige Hundert mit derselben Absenderadresse bei der Post ein. Dr. Josie schickt viele Karten an die Menschen in Laurel Lake.«
Vermutlich fehlten Opal ein oder zwei Puzzleteile. Irgendwo gab es eine Lücke in der Gerüchtekette. Wie auch immer, ich hatte anderes zu tun. »Wann werden die Fliesen heute geliefert?«
Wie üblich ignorierte Opal mich. »Rachael vom Supermarkt sagt, Josie habe sich mit einer Menge Lebensmittel eingedeckt. Anscheinend isst sie nicht glutenfrei und viele Kohlenhydrate.«
Ich warf die Papiere in meinen Händen in die Luft.
»Ernsthaft? Was zum Teufel? Trefft ihr euch alle bei geheimen Zusammenkünften, bei denen ihr das Kommen und Gehen in dieser Stadt besprecht? Habt ihr irgendwo heimlich eine Kamera installiert, die euch anzeigt, wenn jemand kommt?«
»Im Gegensatz zu dir sind einige von uns freundlich und möchten die neuen Leute, die herkommen, ein bisschen kennenlernen.«
»Ich glaube, es ist eher so, dass ihr über das Leben anderer Leute redet, weil ihr kein eigenes habt.« Ich ahmte mit den Fingern eine Gehbewegung nach. »So, jetzt finde heraus, wann die Fliesen kommen.«
Es war fast halb acht, als ich auf dem Heimweg anhielt, um mir etwas zu essen zu holen. Das Laurel Lake Inn war ein für diese Stadt verhältnismäßig vornehmes Restaurant; dort aß man nicht in staubigen Jeans und schmutzigen Arbeitsstiefeln, wie ich sie trug. Aber sie machten dort ein mit Speck umwickeltes Schweinefilet mit Pesto, das mir schon beim Gedanken daran das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Einmal in der Woche fuhr ich dort vorbei und nahm mir eine Portion mit nach Hause. Normalerweise gab ich meine Bestellung vorher telefonisch durch, aber ich hatte mein Handy im Büro vergessen und kam direkt von einer Baustelle.
»Hey, Syl. Kann ich bitte Schweinefilet mit Kartoffelpüree bekommen?«
»Alles klar, Fox. Heute Abend haben wir ganz gut zu tun. Aber ich sehe mal nach, ob gerade jemand Schweinefilet bestellt hat, dann gebe ich dir die Portion mit. Die können noch ein paar Minuten warten.« Sie zwinkerte mir zu.
»Danke. Das ist nett.«
Sylvia verschwand in der Küche, und ich dachte, ich nutze die Gelegenheit, um in der Bar ein kühles Bier zu trinken. Ich hatte sie kaum betreten, als ich einer gewissen Blondine in die Augen sah. Josie war eine schlechte Autofahrerin und konnte nicht mehr als fünf Pfund tragen, aber verdammt, es war schwer, den Blick von ihr abzuwenden. Als sie mich entdeckte, verfinsterte sich ihre Miene, und ich musste lächeln.
Das Restaurant mochte gut besucht sein, aber in der Bar saßen außer Josie und mir nur noch zwei weitere Gäste. Vor ihr standen ein Teller mit Essen und ein Glas Wein. Ich schlenderte an den Tresen, bestellte ein Bier und bemühte mich, nicht zu ihr hinüberzusehen, doch das hielt ich nicht lange durch. Mein Blick blieb an ihrer Hand hängen, die das Glas umfasste, insbesondere an ihrem linken Ringfinger. Er war nackt. Das war mir neulich schon aufgefallen.
Josie sprach, ohne aufzublicken. »Ich hab gehört, du hast früher in der NHL gespielt haben. Stimmt das?«
»Von wem hast du das gehört?«
»Von der netten Dame auf der Post.«
Das war ja klar. Das war Frannies Strategie. Erst versorgte sie einen mit Informationen und verwickelte einen in ein Gespräch, dann entlockte sie einem unmerklich Informationen über sein eigenes Leben. Das hatte ich schon vor langer Zeit durchschaut.
»Die netteDame auf der Post ist eine Wichtigtuerin, die in unangemessener Weise über andere tratscht.«
»Heißt das, du hast kein Eishockey gespielt?«
»Doch, hab ich.«
Sie sah mich an und lächelte. »Ich weiß. Nachdem sie es erwähnt hatte, hab ich dich gegoogelt.«
»Warum fragst du, wenn du die Antwort schon kennst?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Warst du gut?«
»Wusste Google das nicht?«
»In dem Artikel, den ich gelesen habe, stand, dass du in der Olympiamannschaft warst.«
»Kennst du viele beschissene Profisportler, die es in die Olympiamannschaft schaffen?«
»Ich kenne überhaupt keine beschissenen Profisportler.«
Darüber musste ich lächeln. Sie war eine Klugscheißerin. Und sie war hübsch. Aber sie schien auch ganz schön anstrengend zu sein. Und von dieser Dreierkombination hielt ich mich derzeit lieber fern. Also nippte ich an meinem Bier und schwieg.
»Isst du auch was, oder bist du nur wegen des Biers gekommen?«, fragte sie einige Minuten später.
»Ich nehme mir etwas mit nach Hause.«
»Das Essen hier ist wirklich gut.«
Ich nickte. »Das beste, was Laurel Lake zu bieten hat. Glaub mir, ich nehme mir oft was mit nach Hause.«
»Kochst du nicht gern?«
»Ich hasse es, nach dem Kochen aufzuräumen. Es ist einfacher, sich auf dem Heimweg was mitzunehmen.«
»Ich koche für mein Leben gern. Ich finde es entspannend. Aber mein Ofen ist kaputt. Er war mit Zeitungen aus den letzten acht Jahren vollgestopft, und daraus schließe ich, dass Mrs Wollman auch keine große Köchin war. Morgen wird ein neuer geliefert.«
Sylvia kam herein und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Dein Essen ist fertig, Fox.«
»Danke. Komme sofort.«
Ich wäre gerne noch geblieben, um herauszufinden, was die gute Frau Doktor sonst noch für Hobbys hatte, aber das bedeutete, ich sollte wirklich besser gehen. Ich zog einen Zehner aus der Tasche, warf ihn auf die Theke und winkte dem Barkeeper zu.
»Guten Appetit«, sagte Josie.
»Dir auch. Um wie viel Uhr muss ich morgen mit der Lieferung rechnen?«
Sie zog die süße kleine Nase kraus. »Mit welcher Lieferung?«
»Dem neuen Herd. Es sei denn, du hast es geschafft, dieses Mal die richtige Adresse anzugeben.«
Sie blinzelte mich an. »Sehr witzig. Aber ich glaube, du musst keinen Backofen rübertragen.«
Ich warf noch einen Blick auf ihre mandelförmigen Augen und die vollen rosa Lippen und dachte: Schade. Ich nickte. »Schönen Abend, Doc.«
»Dir auch. Moment. Woher weißt du, dass ich einen Doktortitel habe?«
Ich zwinkerte ihr zu. »Der Gerüchtezug fährt in zwei Richtungen.«
Wände verkleiden
Josie
Ich war Stammkundin bei Lowell’s geworden, dem kleinen, aber gut sortierten Baumarkt in der Stadt. Sam erinnerte sich immer an meinen Namen und fragte, wie die Renovierung lief, und gestern hatte mir die Kassiererin einen Gutschein über zwanzig Prozent Rabatt gegeben. Heute war Samstag, darum war trotz Regen mehr los als sonst, und die Kunden sahen eher aus wie Hausbesitzer als wie die Bauarbeiter, die unter der Woche hier einkauften. Ich wartete in der Schlange und scrollte auf meinem Handy, bis mir jemand auf die Schulter tippte.
»Entschuldigen Sie. Sie wohnen nicht zufällig in der Rosewood Lane, oder?«
Ich drehte mich um und stand vor einer Frau, die vermutlich Anfang sechzig war, grell geschminkt war und in einem noch grelleren pinkfarbenen kurzen Einteiler steckte.
»Ja. Woher wissen Sie das?«
Die Frau lächelte. »Ich hab geraten. Meine Freundin hat Sie beschrieben, und, na ja, es ist eine kleine Stadt, da ist es nicht schwer, neue Leute zu erkennen.« Sie streckte mir die Hand hin. »Ich bin Opal Rumsey. Ich glaube, mein Chef ist Ihr Nachbar?«
»Fox?«
Sie nickte. »Aber nehmen Sie es mir nicht übel. Nicht jeder, der bei Cassidy Construction arbeitet, ist so mürrisch wie der Chef.«
Ich lachte. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Opal. Ich bin Josie.«
»Man munkelt, dass Ihnen das Haus gehört, in dem Sie wohnen.«
»Das stimmt. Ich hab es von meinem Vater geerbt, als er starb.«
»Mein Beileid.«
»Danke. Es ist schon lange her.«
Opal nickte. »Die meisten von uns dachten, es würde Mrs Wollman gehören, weil sie so lange dort gewohnt hat.«
»Meine Eltern sind in Laurel Lake aufgewachsen.«
»Wirklich? Wie hießen sie?«
»Henry und Melanie Preston. Der Mädchenname meiner Mutter war Melanie Langone. Mein Vater wäre dieses Jahr siebzig geworden. Meine Mutter ist achtundsechzig. Meine Eltern haben mich erst spät bekommen.«
»Ich kann nicht behaupten, dass mir der Name bekannt vorkommt.« Sie zwirbelte eine Haarsträhne und zwinkerte. »Andererseits bin ich auch deutlich jünger als Ihre Eltern. Sind sie hier in der Stadt zur Schule gegangen?«
»Mein Vater ist in Laurel Lake geboren und aufgewachsen. Die Familie meiner Mutter zog erst her, nachdem sie die Highschool abgeschlossen hatte. Aber sie hatte einen jüngeren Bruder.«
»Wissen Sie, wer sie dann wahrscheinlich kennt?«
»Wer?«
»Bernadette und Bettina Macon. Zwillingsschwestern. Geboren und aufgewachsen hier in Laurel Lake. Sie sind letzte Woche neunundsechzig geworden. Bernadette war Lehrerin in der Stadt, bevor sie in den Ruhestand ging, daher kennt sie noch mehr Leute als ich.«
»Oh, Bettina Macon kenne ich.« Ich schüttelte den Kopf. »Na ja, ich kenne sie nicht gut, aber wir schreiben uns Weihnachtskarten.«
»Sie auch? Allmählich fühle ich mich ausgeschlossen. Meine Freundin Frannie sagte, dass Sie sich Karten schreiben. Waren sie Freunde Ihrer Familie?«
Ich lächelte. »Nein. Das ist eine lange Geschichte, aber ich verschicke viele Weihnachtskarten.«
»Wer ist als Nächstes dran?«, rief die Kassiererin.
Ich hatte geplaudert und gar nicht bemerkt, dass ich an der Reihe war. Ich trat an den Tresen, und Opal folgte mir.
»Na, wir sind hier in Nullkommanix fertig«, sagte Opal. »Aber ich würde gerne Ihre lange Geschichte hören. Was halten Sie davon, wenn wir zusammen zu Mittag essen? Bernadette und Bettinas kleiner Schwester Rita gehört das Café in der Stadt, und samstags steht Bernadette hinterm Tresen, damit Rita nachmittags Zeit für ihre Kinder hat. In dem Laden gibt es diese kleinen dreieckigen Sandwiches, sie werden ein paarmal am Tag frisch zubereitet. Absolut köstlich. Ich mag sie, weil sie so klein sind, dass ich mich nicht für eines entscheiden muss. Na egal, ich kann Sie Bernadette vorstellen, wir können sehen, ob sie sich an Ihren Vater erinnert, und Sie können mir Ihre Geschichte mit den Weihnachtskarten erzählen.«
»Ähm … Klar.« Ich zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Das hört sich gut an.«
Meine neue Freundin Opal fuhr einen leuchtend gelben VW-Beatle. Als wir zum Parkplatz gingen, begann es, leicht zu regnen, und wir fuhren getrennt zu Rita’s. Auf dem Weg dorthin kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass ich so etwas in New York City niemals tun würde – mit einem praktisch wildfremden Menschen zu Mittag essen. Ich war hier weniger argwöhnisch und nahm es hin, dass jemand einfach nur freundlich war, ohne dabei Hintergedanken zu haben. Die Atmosphäre war so anders.
Im Rita’s sagte die junge Frau hinter der Verkaufstheke, Bernadette habe Pause und werde bald zurück sein. Opal und ich bestellten Eiskaffee und vier verschiedene Sorten von den kleinen Sandwiches. Dann setzten wir uns in den hinteren Teil des Ladens auf eine bequeme Ledercouch und einen passenden übergroßen Sessel. Der Laden erinnerte mich an Friends. Warm und gemütlich. Ein Ort, an dem man sich mit seinen Freunden traf, um sich auszutauschen.
»Ich bin ganz Ohr.« Opal nippte an ihrem Kaffee und nahm sich ein Sandwich. »Erzählen Sie mir Ihre Weihnachtskartengeschichte. Wenn sie gut ist und wir noch Zeit haben, bevor Bernadette zurückkommt, erzähle ich Ihnen, wie sie etwas zu viel getrunken hatte, hinfiel und es beim Aufstehen irgendwie geschafft hat, ihren Slip zum Rutschen zu bringen.«
Ich lachte. »Vielleicht muss ich meine Geschichte ein wenig ausschmücken, um sicherzugehen, dass ich Ihre zu hören bekomme.«
Opals Augen funkelten. »Irgendetwas sagt mir, dass Ihre Geschichte mehr als ausreicht. Na los, erzählen Sie. Warum bekommt jeder außer mir in dieser Stadt eine Weihnachtskarte von Ihnen?«
»Also, ich bin in einem Vorort von New Jersey aufgewachsen. Als ich klein war, erzählte mir mein Vater tolle Geschichten über das Aufwachsen in Laurel Lake. Zwei Jahre vor seinem Tod wurde die Stadt vom People Magazine zum ersten Mal zur freundlichsten Stadt Amerikas gewählt. Er war so stolz, dass er es jedem erzählte. Laurel Lake wurde für mich zu einem mythischen, irgendwie magischen Ort. Er hatte mir immer versprochen, dass wir mal herkommen würden, aber meine Mutter ist eine sehr erfolgreiche Neurochirurgin und arbeitet viel. Wir wollten ein paarmal herfahren, aber immer kam etwas dazwischen, und wir mussten es verschieben. Dann starb mein Vater überraschend, als ich dreizehn war – an einem Herzstillstand im Schlaf. Wir haben es nie zusammen hergeschafft.«