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Ein brutaler Mord unterbricht die Ruhe eines abgelegenen Tals im Schweizerischen Jura. Als die Mörder auf ihrer Flucht den Mercedes der exzentrischen Kim Rochat entwenden, in dem zufällig gerade einer ihrer zwölf Hunde steckt, macht sie sich mit dem jungen Sascha auf, ihr Eigentum zurückzuholen. Ihr Neffe Sylvan, der gerade in einer Lebenskrise steckt, wird in eine wilde Verfolgungsjagd in den Süden Frankreichs verwickelt, als er seiner Tante nachfährt, um sie vor sich selber zu schützen. Und er erfährt, dass eine gehörige Portion Adrenalin in Kombination mit einer hübschen Studentin auch die hartnäckigste Schwermut vertreibt. Ein heiterer Kriminalroman voller unerwarteter Wendungen und mit einem überraschenden Schluss.
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Mein Dank geht an alle, die mich in diesem Projekt unterstützt haben, mich auf Fehler aufmerksam gemacht haben und an mich geglaubt haben.
Ganz besonderer Dank gehört meinem Mann Ernst für seine Geduld.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Manolo Bartoli war um die fünfzig Jahre alt. Geschäftsmann. Er liebte seine Familie, italienische Opern und große, elegante Partys.
Letztere waren das sichtbare Zeichen seines gesellschaftlichen Aufstiegs. Wenn er genug getrunken hatte, erzählte er manchmal, dass sein Vater eines Abends ohne Gepäck von Ventimiglia zu einem Spaziergang über die französische Grenze aufgebrochen war und erst in Marseille angehalten hatte. Er war geblieben und hatte den Grundstein für das Vermögen gelegt, dessen Verwaltung und Vermehrung nun seinem einzigen Sohn und Erben oblag.
Seine Zuhörer belächelten die Anekdote. Aber sie war keine Erfindung. Manolos Vater hatte gute Gründe gehabt, ein paar hundert Kilometer zwischen sich und seine Heimatstadt zu legen. Er war im gleichen Business tätig gewesen wie sein Sohn, und in seiner Heimat war die Konkurrenz groß und unzimperlich gewesen. Manolo, den manche ‚die Spinne‘ nannten war ein notorischer Schmuggler und Autoschieber. Man sagte ihm nach, dass er weltweit alles beschaffen konnte, wenn nur der Preis stimmte. Sein offizielles Geschäft war eine seriöse Import-Export-Firma in einem eleganten Geschäftshaus mit Aussicht auf den Hafen von Marseille.
Der kleine schlanke Mann machte einen sympathischen Eindruck, solange man den Ausdruck seiner kalten Augen ignorierte. Doch seine Rücksichtslosigkeit war legendär, auch wenn man ihm einen gewissen italienischen Charme nicht absprechen konnte.
An diesem Morgen war er nicht charmant, sondern nur wütend. «Verschwunden? Wie das denn? Was? Mir schnuppe!» Seine Stimme hob sich um eine halbe Oktave, als er brüllte: «Findet ihn, erledigt ihn. Und besorgt verdammt nochmal die Ware. Der Kunde wartet. Also versaut es nicht noch einmal, ihr Idioten, sonst werde ich ungemütlich.»
Er beendete das Gespräch und trommelte nervös auf die Tischplatte. Eine Katastrophe! Er hatte für den Auftrag eine erhebliche Anzahlung kassiert. Sein Auftraggeber war bestimmt nicht erfreut zu hören, dass Manolos Angestellter mit dem bestellten Artikel stiften gegangen war.
Joseph ‚Joe‘ Bensaoula, der besagte Angestellte, versuchte bereits zum zehnten Mal an diesem Freitagmorgen seine Frau zu kontaktieren. Doch Mariette beantwortete weder seine Anrufe noch seine Textnachrichten. Joes Unruhe wuchs mit jeder Minute. Über sein Schicksal machte er sich keine Illusionen. Sein Leben war vorbei. Was für ein Idiot er doch gewesen war! Doch nun musste er seine Karten klug spielen, um wenigstens seine Familie zu retten. In was für eine Scheisse hatte er sich da bloß reingeritten?
Seinen Spitznamen trug Manolo Bartoli nicht zu Unrecht. Er saß wie die Spinne im Nest und zog seine Fäden. Niemals machte er sich selbst die Finger schmutzig, er war nur der große Organisator. Und eines musste ihm der Neid lassen, wie er einen Bruch vorbereitete, hatte schon etwas Geniales. Auch dieses Mal: Joes Anweisungen waren klar und die Vorbereitungen perfekt gewesen. Zur genannten Adresse fahren, rein – raus – fertig, für Ablenkung hatte der Chef gesorgt. Es war ein Kinderspiel gewesen. Kein Mensch wusste, dass Joe überhaupt dort gewesen war.
Alles war reibungslos abgelaufen, bis die Natur mit einem winzigen Virus Manolos wohlausgereiften Plan durchkreuzt hatte. Joe konnte nichts dafür, dass er zwei Tage nur zwischen Bett und Bad hin- und her gepilgert war. Aber natürlich hätte er das Päckchen nicht ins Bad stellen sollen. Dann nämlich hätte er es nicht ins Klo gestoßen, als er in einem Schwächeanfall beim Aufstehen dagegen getaumelt war. Als er die unappetitliche Verpackung heruntergeschält hatte, hatte er seine Beute zum ersten Mal gesehen. Und dann hatte ihn der Teufel geritten.
Joe hatte jetzt eine Familie, einen Beruf und einen lukrativen Spieler-Vertrag. Er brauchte keine krummen Dinger mehr zu drehen. Ein Wink des Schicksals, seine Freiheit gegen die Ware, der Beginn eines durch und durch ehrbaren Lebens, so hatte er sich das gedacht. Doch man hörte natürlich nicht eben mal bei Manolo Bartolo auf, wie zum Beispiel im Baugeschäft nebenan. Es war die dämlichste Idee seines Lebens gewesen, Joe hatte sicher Fieber gehabt.
Er holte im Dorfladen eine Cola, spazierte ein Stück entlang der Hauptstraße und danach über den Wanderweg bergauf durch den lichten Wald. Auf der Bank am Waldrand öffnete er die Cola und packte sein Picknick aus. Er kaute langsam und bedächtig, während er überlegte. Sein Plan war ebenso simpel wie riskant, aber ihm blieben nicht viele Möglichkeiten. Er würde Manolo anrufen und ihm einen Deal anbieten: Ihn und die Ware gegen das Leben seiner Familie. Es war eine dumme Idee gewesen. Davonlaufen war zwecklos.
Ein Knacken schreckte ihn auf. Er wandte sich um und erkannte durch Büsche und Bäume zwei ebenso bekannte wie unwillkommene Besucher. Sie hatten ihren Wagen zurückgelassen, um keinen Lärm zu verursachen, denn nichts lag ihnen ferner als eine gemütliche Wanderung. Joe blickte sich gehetzt um. Der Weg in den Wald zurück war ihm versperrt und sonst gab es hier kaum ein Versteck. Er ließ alles liegen, lief geduckt so weit wie möglich bergauf, ein Stück ins Rapsfeld hinein und ließ sich zwischen die goldgelben Stauden fallen. Der Wind rauschte mächtig in den Bäumen, während er sich gegen den feuchten Boden presste. Das Geräusch war so laut, dass es die nahenden Schritte übertönte.
Ein schwerer Männerschuh traf unvermittelt Joes Gesicht. Sein Jochbein brach, und er schrie. Der Angreifer beugte sich vor, um ihm in die tränenden Augen zu sehen. «Wo ist es, Alter?»
Joe war ein durchtrainierter Athlet, doch gegen die beiden Gangster hatte er keine Chance. Immer neue Schläge trafen sein geschundenes Gesicht.
«Wo ist es? Raus damit!»
«Im Clef-d’Or», brachte Joe mühsam heraus und spuckte Blut. «T… Toilette.»
«Wo ist das? Wo? Wo?» Einer der Schläger trat ihm in die Kniekehlen. Joe fiel mit einem dumpfen Schlag aufs Gesicht. «Zieh ihm die Schuhe aus, Mathieu. Ein bisschen Feuer unter den Füßen hat noch jeden zum Reden gebracht.»
Sein Partner gehorchte. Als Joe sich nicht wehrte, sah er betroffen auf. «Willem, ich glaube, … Schau mal. Ich glaube fast, du hast ihn totgeschlagen.»
«Was?!» Willem Van Dam trat den Reglosen in die Seite. Als sein Opfer sich nicht rührte, fluchte er.
«Komm, hauen wir ab», drängte Mathieu Lafitte.
«Nicht ohne diesen Idioten. Du weißt, was der Chef gesagt hat. Er darf nicht wieder auftauchen. Los, holen wir den Wagen. Aber erst verstecken wir die Leiche.» Er fluchte erneut, einen fantasievollen langen holländischen Fluch. «Und dann suchen wir diesen verdammten Goldenen Schlüssel. Das muss eine Bar oder eine Kneipe in der Nähe sein.»
Kim Rochat sog tief die Luft ein und freute sich über den wunderbaren Frühlingstag. Gesäumt von tiefdunklem Wald an den Flanken des schmalen Tals, zog sich ein goldgelber Riemen Raps hinauf bis fast zu den Wiesen, wo ihr Pächter seine Kühe sömmerte. Kuhglocken läuteten, Bienen summten, Vögel zwitscherten, das Tal wirkte friedlich und wie ausgestorben. Zwar gab es seit einigen Jahren einen markierten Wanderweg und sogar ein paar Holzbänke, die zur Muße einluden. Aber Wanderer waren hier selten anzutreffen, egal wie sehr sich die Touristiker anstrengten. Die Attraktivität dieser abgelegenen Juragegend lag eher im Auge des Betrachters. Oder vielmehr der Betrachterin. Madame Rochat war natürlich befangen, denn das kleine Tal gehörte ihr, beziehungsweise der Familie Rochat.
Jenseits von Wald und Raps lag breit und behäbig das alte Landgut Le Rochet, das seit fast zweihundert Jahren von einem gewissen Wohlstand seiner Besitzer verkündete. Kim sprach im Scherz manchmal von ihrer Residenz. Von dort brach sie so oft es ihr möglich war mit ihren Hunden zur nahen Rundwanderung auf, nicht nur, aber auch um sich an ihrem Besitz zu erfreuen.
Das letzte Stück vor der Sommerweide war steil, und sie blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Liebevoll glitt ihr Blick über die Landschaft. Sie musste unbedingt wieder einmal mit Leinwand und Farben heraufkommen. Quatsch! Das gab Bräuning nur wieder einen Anlass, ihre Bilder als Kitsch abzuqualifizieren, damit er die Preise drücken konnte. Sie verabscheute den Berner Galeristen. Aber immerhin war er bereit, ihre Bilder an bester Lage auszustellen.
Wem wohl der auffällige rote Geländewagen am Wald bei der Hauptstraße gehören mochte? Sicher Spaziergänger, die zu faul waren, die paar Meter vom Parkplatz im Dorf zum Wald hinauf zu Fuß zurückzulegen. Zappa lenkte sie ab, ehe sie den Gedanken weiterverfolgen konnte. Der zottige Hütehund tat, was die Natur und Generationen von Schaf- und Hundezüchtern in seinen Genen verankert hatten: Er trieb eifrig die Kühe des Pächters zusammen und ignorierte alle Zurufe und Pfiffe seiner Herrin.
Diese machte sich daran, ihrem Befehl Nachdruck zu verleihen. Zappa einfach mitten im Lauf am Halsband zu fassen, war allerdings keine Option. Der Hund war fast siebzig Kilo schwer und von überschäumendem Temperament. Bei Letzterem konnte Kim Rochat zweifellos mithalten, doch ihr Gewicht reichte bei weitem nicht an das des Hundes heran. Zudem war sie nicht mehr ganz jung. Ihr genaues Alter war ein gut gehütetes Geheimnis. Schätzungen gingen von schmeichelhaften fünfundvierzig bis zu weniger freundlichen sechzig Jahren weit auseinander.
Sie griff in ihre Umhängetasche. Als der Hund begeistert bellend ihren Weg kreuzte, schwang sie ihren Arm hoch und vollführte eine Drehbewegung über ihrem Kopf. Eine Kette wirbelte durch die Luft und traf den Hund in die Seite. Überrascht stellte er sein Tun ein und legte sich hin.
Sie stieg schnaufend zu ihm hinab und steckte ihre Wurfkette wieder ein. Der Hund blickte der Herde mit hängender Zunge sehnsüchtig nach, während Kim ihn anleinte.
«Ja, ich weiß, du brauchst Arbeit. Mal sehen, vielleicht finden wir einen Schäfer, der dich haben will.»
Mit Zappa an der Leine machte sich Madame Rochat auf den Heimweg. Auf halber Höhe blieb sie stehen und warf einen angewiderten Blick auf die Holzbank des örtlichen Tourismusvereins.
«Zum Kuckuck!» Madame Rochat blieb stehen und sah sich angewidert um. In Gesellschaft wahrte sie stets einen Schein von Noblesse, obwohl sie seit zwanzig Jahren behauptete, sich um keine Konventionen mehr scheren zu wollen. Doch hier draußen, ohne Publikum, gestattete sie sich manchmal, etwas deutlicher zu werden.
Nicht dass ihr verbaler Ausrutscher unbemerkt geblieben wäre. An ihrer Seite hob Radetzky die Ohren und spähte irritiert umher. Und die kleine Nella knurrte mutig unter dem Bauch der schwarz-weißen Dogge hervor.
«Ruhe, ihr zwei!», brummte ihre Herrin ungehalten und machte sich an die Arbeit.
Auch die anderen Hunde waren nähergekommen und sahen interessiert zu, wie sie die Reste einer Mahlzeit in den Eimer neben der Bank warf. Othello, der Labrador, stellte sich hoffnungsvoll neben dem Eimer auf. Man konnte nie wissen.
Seit Tagen ärgerte sich Kim über diesen Fremden. Auf ihrer nachmittäglichen Hunderunde hatte sie ihn mehrmals hier angetroffen. Er hatte sie immer höflich gegrüßt und sich dann weiter seiner Mahlzeit gewidmet. Und jedes Mal war er danach so rasch aufgebrochen, dass die Zeit offenbar nicht gereicht hatte, um den Müll zu entsorgen.
Heute schien er früher dran gewesen zu sein, denn Madame Rochat war pünktlich wie alle Tage.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick auf die Bank und nahm sich vor, mit dem Fremden das nächste Mal über die Sauberkeit von öffentlichem Grund und Boden zu sprechen. Dann pfiff sie nach den Hunden und setzte ihren Weg fort..
Die kleinen Hunde stöberten im Unterholz, während Kim ohne Eile talwärts spazierte. Die Großen, mit Ausnahme von Zappa, genossen ihre Freiheit und liefen weit voraus. Aber die Augen des armen Sünders folgten ihnen mit einem solchen Ausdruck von Neid, dass Kim schließlich Einsicht zeigte und ihn ebenfalls von der Leine ließ. Sofort stürmte er los und gesellte sich zu Othello und Radetzky. Die drei rannten um die Wette, bis sie schließlich weit unten mit allen Zeichen der Unruhe verharrten.
Als Kim zu ihnen aufschloss und sah, was die Hunde gefunden hatten, wurde ihr flau und sie musste sich setzen. Sie schluckte krampfhaft, als sich ihr Magen hob. Vor ihr, zwischen dem Raps und dem Gestrüpp am Straßenrand lag ein Toter. Nur die Kleider verrieten ihr, dass es sich um den Fremden von der Bank handelte. Sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Seine Füße waren nackt.
Radetzky senkte den großen Kopf und beschnüffelte die Leiche. Othello stand bocksteif mit gesträubtem Fell daneben und knurrte so drohend, dass sich die Kleinen erst gar nicht heranwagten. Einzig Tamina näherte sich zögernd und leckte über die nackten Füße des Toten. Das brachte Madame auf die Beine, obwohl ihre Magennerven noch immer flatterten.
«Lass das, Tamina! Weg da, Alle!», befahl sie mit gepresster Stimme. Scheu schlichen die Hunde zur Seite und legten sich nieder.
Madames Gedanken rasten. Bisher hatte sie noch keine Veranlassung gesehen, sich eines dieser neumodischen mobilen Telefone anzuschaffen. Doch jetzt, sie gab es zu, wäre ein Solches von Nutzen gewesen. Die Polizei musste unverzüglich benachrichtigt werden, doch der Ort des Schreckens war noch ein ganzes Stück von ihrem Haus entfernt. Mit den Hunden brauchte sie bis dahin fast eine halbe Stunde.
Zappa hatte sich verstohlen wieder herangeschlichen. Er beschnüffelte die Füße des Toten. Dann hob er den Kopf in den sonnigen Frühlingshimmel und heulte die kleinen weißen Wolken an, die über das Tal zogen.
«Zappa! Bist du übergeschnappt, du sentimentale kleine Seele? Scher dich weg und halt die Schnauze!»
Der zottige Hund faltete sich zusammen, platzierte die Schnauze zwischen seinen Vorderpfoten und wimmerte vor sich hin.
«Heiliger Bimbam!» Madame betrachtete ihn voller Abscheu und kam zu einem Entschluss. Sie wies auf den Feldweg neben der Leiche. «Othello! Radetzky hierher! Macht Platz, bleibt!»
Othello war zwar kein Wachhund und Radetzky nicht der Hellste. Doch, wer die beiden nicht kannte, wagte sich hoffentlich nicht an den ihnen vorbei. Damit schien ihr die Leiche hinreichend gesichert.
«Auf geht’s! Wir müssen telefonieren», munterte sie die anderen Hunde auf und setzte sich in Trab.
Kim hatte nicht bemerkt, dass sie beobachtet wurde. Die beiden Männer hatten es gerade noch rechtzeitig geschafft, sich gegenüber ins Gebüsch zu werfen.
«Soll ich sie erschießen?», fragte der kleine dünne Mann mit Schnauzbart und schütterem Haar leise.
«Spinnst du? Du kannst doch hier nicht am helllichten Tag herumballern!», zischte Willem Van Dam, sein Chef. Er war mit Mathieu Lafittes Schwester verheiratet. Leider hatte er zu spät bemerkt, dass man immer auch die Familie mitheiratete, dachte er zynisch. Die Intelligenz seines Schwagers war nicht gerade sprichwörtlich.
Sie warteten endlose Minuten reglos, bis die Spaziergängerin ihren Weg fortsetzte.
«Endlich, das wurde auch Zeit», brummte Lafitte. «Dumm, dass die Alte ausgerechnet jetzt ihre Fifis ausführen muss.»
«In der daad», pflichtete van Dam bei. Hin und wieder verfiel er in seine Muttersprache, obwohl er fließend und fast akzentfrei französisch sprach. Er lebte seit vielen Jahren in Frankreichs sonnigem Süden.
Lafittes Erleichterung verflog, als ihm klar wurde, dass die Frau nicht alle Hunde mitnahm. «Mist! Die alte Schabracke lässt die beiden Hunde zurück. Sieh nur, Willem, dieses Kalb! Was machen wir jetzt?»
Der Belgier grinste. «Tja, Mathieu, da wirst du leider dein Abendessen opfern müssen, du Schisser. Ich bin sicher mit einem Pfund Schinken kann ich die beiden dort weglocken.»
«Vielleicht fressen sie ja auch deinen Käse.»
«Erst probieren wir’s mit dem Schinken», entschied Van Dam.
Lafitte kickte verbittert gegen einen Stein und verkniff sich einen weiteren Kommentar. Sein Schwager schätzte keinen Widerspruch.
Van Dam warf ihm einen verächtlichen Blick zu. «Beweg dich jetzt und hol den Wagen. Ich passe so lange hier auf und überlege mir wie wir die Leiche loswerden. Dann müssen wir nur noch die Kneipe finden, die Joe erwähnt hat und unsere Probleme sind gelöst.»
Er hatte ja keine Ahnung. Ihre Probleme fingen eben erst an.
Zunächst aber ging alles glatt. Lafitte brauchte weniger als eine Viertelstunde, um den Wagen zu holen. Van Dams Trick mit dem Schinken funktionierte ebenfalls tadellos. Nachdem der Labrador angebissen hatte, mochte sein vierbeiniger Kumpel auch nicht zurückstehen. Während sie fraßen, luden die Mörder den Leichnam ohne Zwischenfall in den Wagen.
Als Lafittes Abendessen vernichtet war, und die Hunde die Spender erwartungsvoll anschauten, befahl Van Dam streng: «Platz, ihr Hunde!», und sah grinsend zu, wie die beiden brav gehorchten.
Als sie wegfuhren, beobachtete er im Seitenspiegel, wie die Hunde ihre Pfoten leckten und lachte sich halbtot. «Blöde Viecher!»
Das Lokal, das ihnen Bensaoula genannt hatte, existierte zu ihrer Erleichterung tatsächlich. Es lag an einer Nebenstraße und war von einem großen lauschigen Garten umgeben. Der Parkplatz war fast leer, und das Restaurant, ein schmuckloses weißes Haus mit einem goldenen Schlüssel über dem Eingang, war geschlossen.
Lafitte, ganz Franzose, schüttelte fassungslos den Kopf. «Was ist das bloß für ein Land?», klagte er. «Freitagabend und das Restaurant ist geschlossen? Ich will nach Hause.»
«Da hängt ein Schild! Mal sehen, vielleicht sind wir nur zu früh.»
Als sie sich der Eingangstür näherten, trat ein Mann heraus und fummelte nach seinen Zigaretten. Von drinnen rief eine Frauenstimme nach ihm.
«Schon gut. Nur eine kleine Zigarettenpause.» Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. «Hallo, kann ich Ihnen helfen?», begrüßte der die beiden Fremden.
«Guten Tag. Das Clef-d’Or wurde uns von einem Freund empfohlen. Sind Sie der Wirt?»
«Wirt, Koch, Maler und Möbelrücker, alles in einer Person.» Der Mann wies müde hinter sich. «Sie sind einen Tag zu früh.»
Van Dam studierte das Schild, das besagte, dass der Goldene Schlüssel die ganze Woche wegen Renovationsarbeiten geschlossen war, Wiedereröffnung am Samstagabend. «Verstehe», sagte er enttäuscht und verbarg seinen Ärger. «Das ist sehr schade. Eh, können wir vielleicht Ihre Toilette benutzen?»
«Tut mir leid. Die hinteren Räume sind komplett mit Möbeln vollgestellt. Kein Durchkommen. Aber an der Tankstelle am Dorfausgang können Sie sicher die Toilette benutzen.»
Wieder rief drinnen jemand nach ihm. «Ich muss weiterarbeiten. Unser Zeitplan ist eng und einer der Arbeiter ist heute nicht gekommen», sagte er und trat seufzend die Zigarette aus. «Morgen um 18 Uhr ist Neueröffnung. Kommen Sie doch morgen Abend vorbei, das erste Getränk geht aufs Haus.»
Er ging zurück in seine Baustelle, während seine potenziellen Gäste unverrichteter Dinge zu ihrem Wagen zurückkehrten.
«Ein Desaster. Der Chef bringt uns um», brummte Van Dam düster.
Lafittes Gedanken drehten sich um ein anderes Problem: «Willem, der Tank ist fast leer. Wir brauchen einen anderen Wagen.»
«Nicht am hellen Tag. Wir fahren zurück in den Wald. Ich hoffe, soweit reicht der Sprit noch.»
«Hm. Glaub schon», sagte Lafitte und fügte trübsinnig hinzu: «Mann, ich habe solch einen Hunger!»
«Hast du Idiot keine anderen Sorgen als deinen Magen?»
«Du hast mir mein Mittagessen weggenommen. Schon vergessen? Komm, lass uns wenigstens im Dorf noch was einkaufen.»
«Bist du bescheuert? Vielleicht willst du unsere Fahndungsbilder gleich noch selbst beim Postamt aufhängen? Fahr verdammt nochmal jetzt endlich los, zurück zum Waldweg von heute früh.»
Im Schatten der Bäume teilte Van Dam gnädig Brot und Käse mit seinem hungrigen Kollegen. «Damit du endlich die Schnauze hältst.»
Eine Weile schien dies zu funktionieren. Dann räusperte sich Lafitte und sagte vorsichtig: «Wir brauchen jetzt einen neuen Wagen, Willem. Allzu weit kommen wir mit dem da nicht mehr. Und bestimmt wird er auch schon gesucht.»
«Dann geh mal einen requirieren. Aber lass dich nicht erwischen, hörst du?»
Lafitte brummte etwas Unverständliches und machte sich auf den Weg. Bald kam er im Laufschritt zurück. «Rasch! Wir müssen weg hier! Das Landgut da unten gehört der Frau mit den Hunden. Und so viel Blaulicht hast du noch nie gesehen. Aber ich habe eine Idee.»
Silvan Rochat drehte sich ächzend in seinem Bett um, als sich die elektronische Version der Ouvertüre aus Rossinis Wilhelm Tell in sein verschlafenes Gehirn bohrte. Er gab ein paar Nettigkeiten an die Adresse des frühen Störenfrieds von sich, während er sich mit geschlossenen Augen durch seine auf dem Boden verstreuten Kleider tastete. Das Getröte verstummte im gleichen Moment, in dem er die Finger auf sein Smartphone legte.
Er ließ sich zurücksinken und blinzelte in die Maisonne, die durch die Vorhänge kroch. Zu früh! Er gähnte und wühlte sich zurück unter die Decke. Sein Puls fand eben zu seinem normalen Rhythmus zurück, als …
Tatata tatata tata ta ta …
Sein Herz tat einen weiteren Satz. Beim zweiten Versuch ans Telefon zu gelangen, verhedderte er sich hoffnungslos im Bettzeug. Immerhin wusste er nun, wo das verfluchte Ding lag. «Ja!?»
«Hallo? Hallo? Wer ist da?»
Also das ging entschieden zu weit. «Wen haben Sie denn angerufen?»
«Silvan? Schläfst du etwa noch?»
Diesmal erkannte er die Stimme. «Himmel, Sébastien! Es ist noch nicht mal acht Uhr. Samstagmorgen, falls du es nicht bemerkt hast.»
«Doch, das habe ich. Steh gefälligst auf, zieh dich an und setz dich in Bewegung! Kim hat Probleme.»
«Kim?» Silvan gähnte. «Ich zitiere dich, lieber Onkel: Kim wird mit allen Schwierigkeiten allein fertig. Und nun lass mich in Ruhe ausschlafen. Ich habe eine lange Nacht hinter mir.»
«Das kann ich mir denken», knurrte Sébastien Rochat. «Hab schon gehört, dass du ein Lotterleben führst. Aber Kim braucht dich. Also mach dich gefälligst auf die Socken.»
« Warum hilfst du ihr nicht?»
«Ist sie meine Erbtante oder deine? Zudem bist du von uns beiden der Jurist.»
«Au ja. Ich habe schon immer davon geträumt, ein Rudel Hunde zu erben», brummte Silvan, bog sein Kreuz durch und zog die Pyjamahose wieder hoch, die er beim einhändigen Auswickeln aus der Decke verloren hatte. «Und wozu braucht Kim am Wochenende einen Anwalt?»
«Die Polizei hat Kim gestern auf die Wache mitgenommen. Und bis ich zu Bett ging, war sie noch nicht zu Hause.»
«Ach zu liebe Zeit. Was sie denn jetzt wieder angestellt?»
«Sie wird festgehalten im Zusammenhang mit einem Toten, der auf unserem Land gefunden wurde.»
«Hat sie ihn umgebracht?», fragte Silvan interessiert.
«Quatsch! Natürlich nicht.»
Silvan gähnte. «Na also, wo ist dann das Problem?»
«Außer ihr hat niemand den Toten gesehen. Und der untersuchende Beamte ist Marc Nussbaumer.»
Das änderte die Sachlage. Silvan stellte seine Füße ruckartig auf den Boden und tastete nach den Badelatschen. Seinetwegen hatte Kim sich einst mit dem Polizisten angelegt und dabei eine Rote Linie überschritten. Seither hasste der Mann nicht nur Kim, sondern die ganze Familie Rochat wie die Pest. Von ihm hatte sie nichts Gutes zu erwarten.
«Warum sagst du das nicht gleich? Ich komme, so rasch ich kann. Ciao.»
Er unterbrach die Verbindung und ging duschen. Als er, ein Handtuch um die Hüften gewickelt, vor dem Spiegel stand und sich die Haare trocknete, öffnete sich die Badezimmertür.
«Bist du aus dem Bett gefallen?»
«Auch dir einen guten Morgen», versetzte der Angesprochene, ohne sich umzudrehen. «Und wie wäre es mit Anklopfen?»
«Wie wäre es mit Schlüssel umdrehen?»
Silvan verdrehte die Augen. Er hatte dem jungen Sascha vorübergehend ein Zimmer in seiner viel zu großen Wohnung angeboten. Inzwischen bedauerte er seine Gutmütigkeit, denn es erwies sich als schwierig, seinen Untermieter wieder loszuwerden. Der bezeichnete sich selbst in großartiger Verkennung der Tatsachen als seinen WG-Partner und ignorierte hartnäckig alle Hinweise auf das herannahende Ende seines Mietvertrags. Bisher hatte es Silvan nicht über sich gebracht, ihn vor die Tür zu setzen, aber jetzt reichte es ihm.
Er legte den Haartrockner ins Fach zurück, nahm den Rasierer zur Hand und versteckte sich hinter dichtem Schaum. «Ich muss weg, meine Tante ist in Schwierigkeiten», murmelte er.
«Ach, du hast eine Tante?»
«Ja, stell dir vor.» Er schnitt eine Grimasse und zog den Rasierer über seine linke Wange.
«Soll ich mitkommen?»
«Nein, Kleiner. Family Business. Und wenn ich zurück bin …»
Das Funkeln in den Augen des jüngeren Mannes erlosch. «Herrje, Silvan …!»
«… will ich hören, wann du ausziehst», vervollständigte dieser seinen Satz ungerührt. «Du arbeitest seit drei Monaten wieder. Du verdienst nicht schlecht, um nicht zu sagen ausgezeichnet. Und du hattest mehr als genug Zeit, eine Wohnung zu suchen.»
«Ach, bitte Silvan! Soll ich vielleicht auf der Baustelle schlafen? Ich finde doch an einem Wochenende keine neue Bleibe.»
«Familienangelegenheiten bei den Rochats dauern immer länger», belehrte ihn Silvan und versuchte, das flaue Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren. Es musste der Hunger sein. Er wandte sich wieder dem Spiegel zu und setzte seine Rasur fort. «Würdest du mich jetzt bitte allein lassen, ehe ich mir noch die Kehle durchschneide?»
Als er kurze Zeit später in die gemütliche Wohnküche trat, stand bereits dampfender Kaffee auf dem Tisch. Sascha hatte beim Bäcker unten im Haus frische Brötchen geholt und deponierte sie nun neben Butter, Marmelade und Honig. «Ich habe dir Frühstück gemacht», betonte er. «Magst du Käse?»
Silvan durchschaute die Taktik. «Nett von dir. Und keinen Käse, danke. In einer Woche …»
«Okay, okay.» Sascha setzte sich zu ihm an den Tisch und bediente sich mit Brötchen. Während er mit den für ihn typischen pedantischen Bewegungen Butter darauf schmierte, sagte er: «War jedenfalls nett, dass ich bei dir wohnen durfte.»
«Ja, schon gut.»
«Deine Tante …?»
«Angeheiratet. Sogar doppelt», erläuterte Silvan. «Ich glaube, Papa hätte sie auch gerne zu meiner Stiefmutter gemacht. Aber dann ist er gestorben, bevor etwas Ernstes daraus wurde.»
«Kluger Mann», bemerkte Sascha kauend.
Silvan bedachte ihn für seinen Zynismus mit einem strafenden Blick. «Mein Onkel François war dann der Glückliche. Er war schon ein älterer Herr, und als er nicht einmal drei Jahre später starb, heiratete sie seinen geschiedenen Zwillingsbruder, nach angemessener Trauerzeit natürlich. Der ließ sie nach vier glücklichen Ehejahren ebenfalls als trauernde Witwe zurück. Du musst wissen, sie ist verrückt nach allem, was Rochat heißt.»
Sascha starrte ihn ungläubig an. «Hat sie ihre Ehemänner umgebracht oder ist sie so anstrengend?»
«Keins von beiden. Das heißt, na ja, letzteres ist sie zweifellos.» Silvan lachte. «Aber sie hat auch etwas Charismatisches. Alle Rochat-Brüder waren hinter ihr her, und sie hat es genossen. Na ja, bis auf meinen Onkel Sébastien. Der hat ihr bisher widerstanden, obwohl sie es bestimmt versucht hat. Das kann er sich leisten, er ist nicht gerade reich, aber ihm gehört die Firma jetzt allein und für einen Junggesellen genügt es. Er genießt es, mir immer unter die Nase zu reiben, dass sie meine Erbtante ist. Sie hat zwei Rochat-Brüder beerbt. Es gibt aber einen Erbvertrag, der besagt, dass das Rochat-Vermögen in der Familie bleiben muss. Nach Kims Tod fällt darum das gesamte Erbe einschließlich ihrer zwölf Hunde an mich, als einzigen Vertreter der Familie meiner Generation. Und weil sie keine eigenen Kinder hat, muss ich mich um ihre Probleme kümmern.»
Saschas honigbraune Augen wurden groß: «Sie hat zwölf Hunde?»
«… und drei Katzen, einen Papagei, sowie vier Pferde und zwei Esel biblischen Alters, wenn nicht irgendetwas noch dazugekommen ist. Kim kann nicht widerstehen, wenn man ihr irgendwelche Viecher auf die Schwelle legt.»
«Klingt interessant. Du solltest mich vielleicht doch mitnehmen», schlug Sascha vor und trank seine Kaffeetasse leer. «Vielleicht darf ich im Stall wohnen. Oder in der Scheune.»
Silvan lachte. «Tut mir leid. Gegenüber Menschen ist sie weit weniger gastfreundlich. Und Toleranz gegenüber Menschen abseits dessen, was sie für die Norm ansieht, gehört gewiss nicht zu ihren Tugenden.»
«Ich bin also abseits der Norm?», fragte Sascha und zupfte an seinem Brauenring.
«Ganz gewiss. Und ich auch», antwortete Silvan. Normale Leute tun etwas Vernünftiges, hielt Kim ihm vor, seit sie herausfand, dass er seit Monaten keinen Job mehr hatte. Und auch keinen suchte.
Er warf seine Serviette auf den Tisch und stand auf. Sein Appetit war verflogen.
«Ich mache den Abwasch», bot Sascha an.
«Darum wollte ich dich eben bitten.» Silvan strebte der chromstahlglänzenden Garderobe zu und griff nach Lederjacke und Schlüsseln. «Ich bin in Eile. Ciao.»
Silvan entschied sich für die nahe Autobahnauffahrt. Bis er seinen Fehler bemerkte, stand er bereits im Stau. Scheinbar ohne ersichtlichen Grund quälte sich der Verkehr im Schritttempo westwärts. So viel also zur Zeitersparnis auf der Autobahn.
Während er automatisch zwischen dem ersten und dem zweiten Gang hin und zurück schaltete, ließ er seine Gedanken schweifen. Wieso zum Teufel war seine Tante in einen Mord verwickelt? Kim war zweifellos zu vielem fähig, aber sicher niemals zu einem Mord. Gut, allenfalls hätte sie bei ihm eine Ausnahme gemacht. Oder bei Marc Nussbaumer, aber der lebte offenbar ebenfalls noch. Silvan wünschte, sein Onkel wäre am Telefon konkreter geworden. Aber wahrscheinlich wusste Sébastien auch nichts Genaues.
Silvan liebte seine Tante im gleichen Maße, wie er sie verabscheute. Es gab eine Zeit, da hatte er sie beinahe gehasst. Nach Papas Tod hatte ihn Onkel François zu sich genommen und bald darauf Kim geheiratet. Was diese dazu bewogen hatte, den Antrag des ältlichen Witwers anzunehmen, konnte Silvan sich lange nicht vorstellen. Jahre später erfuhr er, dass die Behörden ihn eher in ein Waisenhaus gegeben hätten, als ihn dem alleinstehenden Onkel anzuvertrauen. Ob François oder Kim auf die Idee mit der Heirat gekommen war, hatte er nie herausgefunden. Darüber schwieg sich seine Tante eisern aus, genauso wie über die Natur ihrer ungewöhnlichen Ehe.
Auf die Tante hätte er im Übrigen gerne verzichtet. Kim tolerierte noch kurze Zeit den Zorn und den Widerstand des störrischen Elfjährigen, dann knöpfte sie ihn sich vor.
«Ich weiß nichts über Kinder und will auch nichts darüber wissen», erklärte sie ihm kühl. «Und ich werde ganz gewiss nicht versuchen, gegen deinen Willen Mutterstelle an dir zu vertreten. Ich biete dir an, für dich da zu sein und dich zu behandeln, wie ich auch jeden Erwachsenen behandle, mit Ehrlichkeit und Respekt. Wir können freundschaftlich miteinander umgehen. Wenn du es jedoch vorziehst, mich nicht zu mögen, dann komme ich damit auch klar. Es liegt allein bei dir.»
Sie hielt ihr Versprechen. Sie war der sichere Halt in seinem Leben, nachdem zwei Tage vor Silvans vierzehntem Geburtstag auch Onkel François einem Herzinfarkt, dem Fluch der Rochats, zum Opfer gefallen war. Als nach angemessener Trauerzeit der jüngste Rochat-Bruder, Robert, der attraktiven Witwe den Hof machte, heiratete sie ihn. Silvan war inzwischen alt genug, um zu verstehen, dass sie François respektiert hatte, aber Robert liebte.
Kim achtete darauf, dass er die Schule ernst nahm und einen großen Teil seiner freien Zeit dem Sport widmete. Unter ihrem Einfluss entwickelte er sich von einem unsicheren Kind zu einem sportlichen, einigermaßen selbstsicheren jungen Mann.
Sie sorgte mit harter Hand dafür, dass der junge Silvan sein Jura-Studium ernst nahm und mit der nötigen Disziplin vorantrieb. Dazu hatte sie genug Zeit, denn inzwischen war sie erneut verwitwet. Sie hielt durch, bis er sein Staatsexamen in der Tasche hatte, danach betrachtete sie ihre Aufgabe als erledigt. Sie zog sich auf das Familienanwesen im Jura zurück, widmete sich fortan ihren Tieren und ihrer Malerei und überließ ihn sich selbst.
Er trat eine mäßig interessante, aber ordentlich bezahlte Stelle in einer bekannten Berner Kanzlei an, machte sein Anwaltspatent und heiratete seine langjährige Freundin Nicole. Nur drei Jahre später folgte eine üble Scheidung, und danach war sein Leben einfach zerbröselt. Seine Träume waren geplatzt und auch die Arbeit als Wirtschaftsanwalt machte ihm keine Freude mehr. Einen Tag nach seinem zweiunddreißigsten Geburtstag zog er die Reißleine und warf den Bettel hin.
Inzwischen war er seit über einem Jahr ohne Beschäftigung, abgesehen von einer Kolumne, die er seit ein paar Monaten für die Berner Zeitung schrieb. Angefangen hatte er mit einer kleinen Briefkasten-Rechtsberatung, die ihm ein Freund zugeschanzt hatte. Aber inzwischen nahm er auch zu politischen und gesellschaftlichen Tagesereignissen Stellung. Stoff gab es dazu genug, schließlich lebte er in der Bundesstadt, in der Schweizer Hauptstadt.
Im Journalismus sah er eine Möglichkeit. Doch auch Journalisten arbeiteten üblicherweise auf regelmäßiger Basis, was ihm im Augenblick fast nicht möglich schien. Eine merkwürdige Schwermut hinderte ihn daran, sein Leben mit Mut und Tatkraft in Angriff zu nehmen.
Kim verabscheute seinen Lebenswandel zutiefst. Direkt wie immer, gab sie ihm das ohne Umwege zu verstehen: «Du hast einfach zu viel Zeit zum Grübeln. Geh endlich wieder einer geregelten Arbeit nach, dann geht es dir bald besser, du wirst schon sehen.»
Wahrscheinlich hatte sie recht. Aber sie täuschte sich, wenn sie glaubte, er scheue die Arbeit. Er brachte nur die Energie dafür nicht auf, seinem Leben wieder einen Schub zu geben.
Sein Schulfreund Rolf, der gerade seine Weiterbildung zum Psychiater durchlief, bezeichnete bei einem Glas Wein seinen Zustand offen als Depression und empfahl ihm einen bekannten Therapeuten. Aber nicht einmal dazu konnte sich Silvan aufraffen. Ohne sein väterliches Erbe wäre er schon längst in der Gosse gelandet. Auch ohne Kims mehr oder weniger dezente Hinweise war er sich über diesen Punkt völlig im Klaren.
Den Umweg zur Kantonspolizei hätte er sich sparen können. Seine Tante war bereits nach Hause entlassen worden. Auf seine Fragen erhielt er keine Antworten. Die anwesenden Beamten beriefen sich auf das Amtsgeheimnis und ein laufendes Verfahren. Aber, wenn er lieber auf Kommissär Nussbaumer warten wolle?
Silvan winkte dankend ab und fuhr den Rest der Strecke in sehr gemäßigtem Tempo nach Hause. Die Gegend war ebenso Heimat wie Feindesland. Der frühere Verkehrspolizist und heutige Kriminalkommissär fand bestimmt einen Weg, ihn für die geringste Verletzung der Straßenverkehrsordnung so lange einzubuchten, wie es das Gesetz gerade noch zuließ. Und Silvan war keineswegs sicher, dass der Feind sich damit begnügen würde. Ihm fiel ein, dass er sich wahrscheinlich auch mit Nussbaumer befassen musste, falls Kim seine Unterstützung wirklich brauchte und – das war keineswegs sicher – auch in Anspruch zu nehmen gewillt war.
Plötzlich hatte er keine Lust mehr nach Le Rochet zu fahren. Um sich einen kleinen Aufschub zu verschaffen, wählte er den Umweg durch den Wald. Er öffnete das Fenster, atmete die wunderbare Luft ein und freute sich an den Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blätterdach hereinfielen.