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Wolf Gruner

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Beschreibung

Berlin, Februar 1943: Der Widerstand von Frauen gegen die Inhaftierung ihrer jüdischen Männer in der Rosenstraße gilt als Beispiel für gelungenen Widerstand. Der Autor schildert den wahren Hergang der Ereignisse. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Wolf Gruner

Widerstand in der Rosenstraße

Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der »Mischehen« 1943

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]DanksagungEinleitungKapitel 1: Geschichte und ErinnerungDie öffentliche Erinnerung der EreignisseDie Entstehung der These vom ErfolgDie historische Forschung und die damaligen VorgängeBegriffe und QuellenKapitel 2: Die Fabrik-AktionDie NS-Judenverfolgung und die DeportationenZwangsarbeit oder Deportation: Zur Situation seit Herbst 1942Die Entscheidung über den Abschluss der DeportationenDie Durchführung der reichsweiten GroßrazziaDer »Tag des Infernos« – Die »Großaktion Juden« in BerlinMassentransporte nach AuschwitzFlucht und Widerstand während der Fabrik-AktionKapitel 3: Die Internierung in der RosenstraßeDie NS-Politik gegenüber den »Mischehen« bis Ende 1942Die Juden aus »Mischehen« und die Fabrik-AktionSelektion in den Sammellagern und erste EntlassungenDie Insassen der RosenstraßeEinlieferung, Überprüfung, EntlassungDie Suche nach Ersatzpersonal für jüdische EinrichtungenDie Anstellung der neuen und die Deportation der früheren MitarbeiterKapitel 4: Der Protest und die FolgenDie »stumme Demonstration« der Angehörigen in der RosenstraßeDie These vom Deportationsstopp und dem Erfolg des ProtestesKZ oder Deportation? Der Fall der 25 nach Auschwitz gebrachten MännerVerhaftungen in Frankfurt am Main, Hamburg und anderen OrtenDie verschärfte NS-Politik gegen Juden in »Mischehen« 1943–1945ZusammenfassungAnhangAbkürzungsverzeichnisQuellen- und Literaturverzeichnis1. Unveröffentliche Quellen2. Veröffentlichte Quellen3. Sekundärliteratur

Die Zeit des Nationalsozialismus

Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

Danksagung

Meine Forschungen zu diesem Thema sind über die Jahre besonders von Wolfgang Benz (Berlin) und Thomas Jersch (Berlin), aber auch von Götz Aly (Berlin) sowie anderen Kollegen und Kolleginnen ermuntert worden. Für Hinweise auf Literatur und Akten, für hilfreiche Überlegungen und Kritik danke ich außer den in den Fußnoten Erwähnten besonders Rainer Decker (Paderborn), Alfred Gottwaldt (Berlin), Beate Kosmala (Berlin), Konrad Kwiet (Sydney), Margit Naarmann (Paderborn), Susanne zur Nieden (Berlin), Christian Jansen (Bochum), Dieter Pohl (München), Sven Reichhardt (Berlin), Wolfgang Scheffler (Berlin), Claudia Schoppmann (Berlin), Stefanie Schüler-Springorum (Hamburg), Susanne Willems (Berlin) und Peter Witte (Hemer). Stellvertretend für die Hilfe aller von mir bemühten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Archiven und Bibliotheken danke ich Frau Welka vom Archiv der Stiftung »Neue Synagoge-Centrum Judaicum« sowie Frau Völschow vom Referat R des Bundesarchivs in Berlin. Michel Peschke (Berlin), Jürgen Gruner (Berlin) und Dieter Pohl (München) haben das Manuskript vor der Abgabe an den Verlag gelesen; ihre Kritik und ihre Hinweise haben mir die letzte Überarbeitung sehr erleichtert. Walter Pehle (Frankfurt am Main) danke ich für die Aufnahme des Buches in die »Schwarze Reihe« des S. Fischer Verlages.

Wolf Gruner

Berlin, im März 2005

Einleitung

Am 27. Februar 1943 verhaftete die Gestapo auf brutale Weise in ganz Deutschland über zehntausend jüdische Deutsche, Männer, Frauen und Kinder. Der ostdeutsche Landesrabbiner Martin Riesenburger bezeichnete diesen Tag später als »das große Inferno«.[1] In Berlin wurden dabei auch viele Menschen interniert, die nach der NS-Terminologie in so genannter Mischehe lebten. Sie wurden in Sammellagern aussortiert und in ein besonderes Gebäude in einer kleinen Straße in Berlin-Mitte gebracht. Vor dem Haus Rosenstraße 2–4, einem Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde Berlin, versammelten sich bald viele ihnen nahe stehende Frauen, Männer und Kinder. Dass diese Angehörigen gegen die befürchtete Deportation ihrer jüdischen Partner vor dem Gebäude Rosenstraße protestierten, fand vor allem im letzten Jahrzehnt in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit Beachtung. Der Protest wird als einmalige und vor allem erfolgreiche Widerstandsaktion gewürdigt, die den Abtransport dieser Juden aus »Mischehen« nach Auschwitz verhindert habe. In einer Rede vor dem deutschen Bundestag sagte z.B. der israelische Historiker Yehuda Bauer am 27. Januar 1998 über das NS-Regime: »Nicht daß die Diktatur so ganz totalitär gewesen wäre, so daß eine Protestbewegung prinzipiell unmöglich war! Nicht nur der Protest gegen den Mord an deutschen Behinderten, der im August 1941 in einen wenigstens teilweisen Stopp der sogenannten Euthanasie mündete, bezeugt das, sondern auch der Protest der deutschen Frauen in der Berliner Rosenstraße im Februar 1943, der zur Befreiung ihrer jüdischen Männer führte.«[2]

Während der Würdigung des Protestes Yehuda Bauer zuzustimmen ist, steht allerdings in Frage, ob dieser wirklich erfolgreich war und die Insassen befreite. Diverse Quellen legen seit geraumer Zeit nahe, dass eine Deportation der Internierten in der Rosenstraße von der Gestapo gar nicht geplant war. Die jüdischen Deutschen aus »Mischehen« hatte das Reichssicherheitshauptamt im Februar 1943, wie hier nachgewiesen werden wird, generell von den Massentransporten ausgenommen. Die in die Rosenstraße Verbrachten sollten deshalb zunächst überprüft werden, ob sie ihren »Mischehestatus« nachweisen konnten, um von den Transporten freigestellt zu werden. Das Reichssicherheitshauptamt verfolgte aber noch ein zweites, perfides Ziel: Insassen der Rosenstraße sollten Hunderte Mitarbeiter der Berliner jüdischen Einrichtungen ersetzen, damit diese gleich nach dem Austausch deportiert werden konnten. Diese These hatte ich zuerst 1994 in einem anderen Zusammenhang skizziert[3] und dann nach neuen, intensiven Recherchen im Jahr 2002 in einem Aufsatz ausführlicher entwickelt.[4] Dem Artikel folgte eine oft sehr polemisch geführte Diskussion, die – verstärkt durch den Film »Rosenstraße« von Margarete von Trotta – vor allem in und von den Medien ausgetragen wurde. Um diese Debatte zu versachlichen, sollen in diesem Buch ausführlich die Für und Wider der gegensätzlichen historischen Interpretationen diskutiert sowie neue Argumente präsentiert werden. Es geht im Folgenden also auch um die Erinnerung der Geschichte der Rosenstraße und um die Geschichte dieser Erinnerung.

Sowohl um den Hergang und die Hintergründe der Fabrik-Aktion als auch um den mit ihr verknüpften Protest in der Rosenstraße hat sich über die Jahre hin ein dichtes Geflecht von Behauptungen gelegt. Es besteht hauptsächlich aus folgenden Annahmen: 1. Die Fabrik-Aktion habe nur in Berlin stattgefunden. 2. Sie habe allein das Ziel verfolgt, die jüdischen Zwangsarbeiter aus der Rüstungsindustrie zu deportieren. 3. Alle Berliner Juden, die in »Mischehen« lebten und bisher als »geschützt« galten, sollten im Zuge dieser Aktion ebenfalls abtransportiert werden und seien deshalb interniert worden. 4. Letzteres habe Goebbels entschieden. 5. Der Abtransport der Juden aus »Mischehen« sei durch den öffentlichen Protest ihrer Ehepartner vor deren Internierungsstätte verhindert worden. 6. Es hätten nur Frauen protestiert. 7. Goebbels persönlich habe interveniert und die geplante Deportation gestoppt.

In diesem Buch werden deshalb folgende Fragen behandelt: Welche Ziele verfolgte die NS-Führung im Februar 1943 mit der Fabrik-Aktion? Wer hat die Großrazzia organisiert und wie ist sie durchgeführt worden? Wer sollte in die Deportationen einbezogen werden? Wie gestaltete sich die Politik gegenüber den »Mischehen« bis 1942 und welches waren die Ziele der NS-Führung im Frühjahr 1943? Weshalb sind in Berlin viele jüdische Partner aus solchen Ehen tagelang festgehalten worden? Was passierte im Lager Rosenstraße? Was geschah vor dem Gebäude? Was spricht gegen die bisher vorherrschende Auffassung, dass der Protest der Angehörigen die geplante Deportation der Insassen gestoppt habe? Welche Folgen hatten die Vorgänge für die künftige NS-Politik gegenüber den »Mischehen«?

In diesem Buch wird nachgewiesen, dass die NS-Führung im Februar 1943 nicht plante, die Insassen der Rosenstraße zu deportieren. Im Gegensatz zu den bisher veröffentlichten Büchern zu diesem Thema[5], die weitgehend auf nachträglichen Zeitzeugenaussagen basieren, stützt sich meine Argumentation auf unberücksichtigte und neu erschlossene Dokumente der Gestapo, der damaligen jüdischen Einrichtungen, der Berliner Schutzpolizei sowie der katholischen Kirche. Aussagen von damals Beteiligten und Erinnerungen von Überlebenden spielen in diesem Buch trotzdem eine gewichtige Rolle. Für die Darstellung und die Analyse der Vorgänge waren viele, darunter bisher unbekannte Zeugnisse von Überlebenden grundlegend. In diesem Buch werden also die Entwicklung, der Ablauf und die Folgen der Ereignisse um die Fabrik-Aktion und die Rosenstraße untersucht und in ihren geschichtlichen Hintergrund eingeordnet.

Thema des ersten Kapitels ist deshalb die Entstehung der heute dominierenden Auffassung über die Vorgänge in der Rosenstraße. Es wird dargestellt, dass die These von der Befreiung durch den Protest gleich nach dem Krieg entstanden ist und sich rasch in Wissenschaft und Öffentlichkeit verbreitet hat. Dabei wird sowohl ihre Wirkung in der Öffentlichkeit als auch in der Fachliteratur analysiert. Im zweiten Kapitel geht es um die Vorgeschichte und die Hintergründe der Ereignisse. Die Fabrik-Aktion wird in die Entwicklungsgeschichte der vom NS-Staat organisierten antijüdischen Massendeportationen eingeordnet. Anhand diverser Dokumente werden die Ziele dieser Großrazzia beleuchtet. Detailliert wird die Verhaftung von 11000 jüdischen Deutschen, in ihrer Mehrheit Zwangsarbeiter, und ihre Unterbringung in Sammellagern am 27. Februar 1943 im Reich und in Berlin beschrieben. Ausführlich gehe ich auf die weithin unbekannte Tatsache ein, dass 4000 von den für die Deportation nach Auschwitz vorgesehenen Menschen in jenen Tagen in den Untergrund flüchteten, von denen es einem Teil gelang, bis Kriegsende zu überleben. Anschließend wird die Organisation der Massentransporte vom März 1943 nach Auschwitz untersucht. Das dritte Kapitel behandelt die viel diskutierte Frage nach den Ursachen der Internierung der Juden aus »Mischehen« in der Berliner Rosenstraße. Hierfür wird zuerst ein Blick auf die Entwicklung der NS-Politik gegenüber den »Mischehen« bis 1942 geworfen, danach gezeigt, mit welchen Zielen die jüdischen Partner aus »Mischehen« in die Großrazzia Ende Februar 1943 einbezogen wurden. Dargestellt wird, was mit dieser Gruppe in Berlin geschah, wie sie in allen Sammellagern aussortiert und dann in einem besonderen Lager in der Rosenstraße konzentriert wurden. Untersucht wird, wann und warum die ersten Insassen freikamen, wie lange sich die Entlassungen hinzogen und was mit den Freigelassenen passierte. Ausführlich zeige ich, wie die Insassen überprüft und mehrere hundert von ihnen für Tätigkeiten in den jüdischen Einrichtungen sowie für die Gestapo rekrutiert wurden. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels steht der Protest der Angehörigen gegen die vermutete Deportation. Es geht um folgende Fragen: Wie viele Menschen versammelten sich in der Rosenstraße? Welche Motive hatten sie und wie gestaltete sich ihr Protest? War es eine machtvolle Demonstration oder eher ein stummer Protest? Abschließend werden noch einmal die Für und Wider der These vom Stopp einer geplanten Deportation der Mischehepartner analysiert. Im letzten Kapitel geht es um die Folgen der Ereignisse, die nach der Fabrik-Aktion verschärfte NS-Politik gegen Juden aus »Mischehen«: die zunehmenden Verhaftungen in einzelnen Regionen, die verschärfte Zwangsarbeit sowie die Deportationen in den Jahren 1944 und 1945.

Wenn die Ursachen der Internierung der jüdischen Partner aus »Mischehen« in der Rosenstraße und die Frage nach dem Erfolg des Protestes in diesem Buch kritisch diskutiert werden, geschieht das nicht, um die Handlungen der in der Rosenstraße protestierenden Menschen in Frage zu stellen. Ihr Mut ist und bleibt unbestritten! Meine langjährigen Forschungen sollen vielmehr dazu beitragen, die antijüdische Politik des NS-Staates nachvollziehbar zu analysieren. In der bisher vorherrschenden Interpretation der Ereignisse, die davon ausgeht, der Protest habe die von der Gestapo geplante Deportation nach Auschwitz gestoppt, stecken zu viele bisher ungeklärte Widersprüche. Wissenschaftliche Skepsis dieser Auffassung gegenüber bedeutet gleichfalls nicht, die Möglichkeit und Notwendigkeit von Widerstand im Dritten Reich etwa generell in Frage zu stellen. Es geht hier vielmehr darum, die historischen Bedingungen für solchen Widerstand besser auszuloten.

Die NS-Herrschaft ruhte auf einer viel breiteren gesellschaftlichen Basis als früher angenommen. Diese Diktatur ist nicht auf Führerbefehl und Terror von oben zu reduzieren, ebenso wenig auf radikale Kräfte in der Partei und der Gestapo, denn breite Kreise der deutschen Gesellschaft waren involviert und interessiert. Unzählige nichtjüdische Deutsche beteiligten sich seit 1933 aktiv und initiativ an der Verfolgung der jüdischen Deutschen. Sie profitierten mit Karrieren, Besitz, Prestige und Macht. Das erklärt die schnelle Radikalisierung der Verfolgungspolitik, zugleich aber auch die erschreckende Stabilität des NS-Regimes. Da deshalb individuelle Opposition gegen die antijüdische Politik eher die Ausnahme als die Regel darstellte, müssen die Bedingungen und Hintergründe, die den Widerstand in der Rosenstraße ermöglichten bzw. herausforderten, besonders sorgfältig analysiert werden.

Kapitel 1: Geschichte und Erinnerung

Die öffentliche Erinnerung der Ereignisse

Seit den 1990er Jahren gedenken in Berlin jeweils Ende Februar viele Menschen den 1943 nach Auschwitz verschleppten und dort ermordeten Opfern der so genannten Fabrik-Aktion. Dabei erinnern sie zugleich an den tagelangen Protest der Angehörigen der nach der NS-Rassenterminologie in so genannter Mischehe lebenden Juden und Jüdinnen, die in der Rosenstraße festgehalten wurden.[6] Im Jahr 2005 würdigte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Albert Meyer, auf der Gedenkveranstaltung den erfolgreichen Protest von nichtjüdischen Frauen gegen die Deportation ihrer Männer und Verwandten als ein »historisches Ereignis, das nicht vergessen werden darf. Diese Frauen hätten Zivilcourage bewiesen, etwas, was viele andere in der NS-Zeit nicht gezeigt hätten.«[7]

Erst seit den 1990er Jahren, insbesondere seit dem 50. Jahrestag der Ereignisse von 1943, begann die deutsche Presse den Protest in der Rosenstraße als Thema aufzugreifen.[8] Bekannt war die Geschichte, dass die Frauen in der Rosenstraße eine geplante Deportation ihrer Männer verhinderten, allerdings schon seit dem Krieg. Rasch verschwand sie jedoch aus der öffentlichen Diskussion in Deutschland, die sich mit dem Widerstand im »Dritten Reich« beschäftigte. In Günther Weisenborns sehr detailliertem, umfassendem Bericht von 1953 über die Widerstandsbewegung, »Der lautlose Aufstand«, spielt die Rosenstraße keine Rolle mehr, obwohl in dem dort behandelten Spektrum vom kirchlichen über bürgerlichen bis hin zum Arbeiterwiderstand auch individuelle Opposition noch eingeschlossen war.[9] In jenem Jahrzehnt bildete in der jungen Bundesrepublik der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ein sehr kontroverses Thema, denn gewaltsamer Widerstand wurde von so manchem weiter als Vaterlandsverrat gebrandmarkt.[10] In den 1960er Jahren fanden solche Töne zwar kaum noch öffentliches Gehör, doch verengte sich im Westen die Sicht auf den Widerstand allein auf die bürgerlichen Kreise, während in der DDR allein die Aktionen kommunistischer Gruppen zu zählen begannen.[11] Die öffentliche Diskussion in der Bundesrepublik konzentrierte sich nun auf die Hitler-Attentäter des 20. Juli 1944.[12] Die westdeutschen Prozesse gegen NS-Verbrecher in den 1950er und 60er Jahren beförderten parallel die beginnende öffentliche Anerkennung von Widerstand im »Dritten Reich«.[13] Das bereitete auch den Boden für die in den folgenden Jahrzehnten intensivierte öffentliche und auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Ost und West, doch unorganisierte Opposition bzw. gewaltlose widerständige Handlungen Einzelner blieben lange außerhalb des Fokus.

Dass an die Geschichte des Protestes in der Berliner Rosenstraße seit dem Jahr 1989 wieder öffentlich erinnert wird, hängt sicher mit dem Bedürfnis in Deutschland zusammen, sich nach der Vereinigung als ein neues und besseres Land nach außen und innen darzustellen. Hierbei hilft es, sich auf moralisch unangreifbare Traditionen zu berufen. In der Rosenstraße erinnert seit 1995 ein steinernes Mahnmal an das Ereignis. Das Denkmal hatte noch die DDR bei der Bildhauerin Ingeborg Hunziger 1989 in Auftrag gegeben.[14] Eine Litfaßsäule mit Bild- und Textdokumenten, die in der Straße aufgestellt wurde, widmete die Berliner Stiftung »Topographie des Terrors« den Geschehnissen unter dem Titel »Protest gegen den NS-Terror«.[15] Die Vorgänge werden inzwischen auch in Schulbüchern thematisiert.[16] Ein weit verbreitetes Informationsheft der Bundeszentrale für politische Bildung charakterisierte 1994 den Protest der Frauen als einmaligen offenen Widerstand gegen den NS-Staat, der die Machthaber irritiert habe.[17] Mehrere Dokumentarfilme behandelten das spektakuläre Geschehen, zuerst in der DDR, dann in der BRD[18]1999 hatte im LOT-Theater in Braunschweig eine dokumentarische Aufführung von Gilbert Holzgang unter dem Titel »Rosenstraße ’43« Premiere, die später auch in Berlin gezeigt wurde.[19]

Die anlaufenden Dreharbeiten zu einem Spielfilm der Regisseurin Margarethe von Trotta über die Rosenstraße beförderten im Herbst 2002 die öffentliche Diskussion. Sie hatte einen Film zu diesem Stoff bereits seit Jahren vorbereitet, doch erst zur Jahrtausendwende gelang es ihr, die Finanzierung zu sichern. Nun wurde das sensitive Thema um diese Geschichte und ihre Erinnerung von den Medien neu, intensiv und kontrovers diskutiert, zuerst von der Presse, bald auch von Radio und Fernsehen. Eine Rolle spielten dabei auch die damals vom Autor des hier vorzustellenden Buches in einem Aufsatz entwickelten Argumente, die entgegen der landläufigen Auffassung vom Erfolg des Protestes die Hintergründe der Festsetzung der Rosenstraßeninsassen nicht in einer geplanten Deportation sahen.[20] In ihrem Film »Rosenstraße« erzählt von Trotta ausführlich die Geschichte des Protestes und deutet dessen Erfolg gegen die NS-Machthaber an. Nach neuen Mediendiskussionen im Frühjahr 2003 zum 60. Jahrestag der Ereignisse entwickelte sich schließlich im Herbst desselben Jahres eine heftige Diskussion sowohl auf den Kulturseiten der Printmedien, als auch in einigen Radio- und Fernsehprogrammen.[21] Den Anlass hierfür bildete die Uraufführung des Spielfilms, den in Deutschland danach Hunderttausende Zuschauer sehen sollten. Auch im Ausland debattierte man nun über die Ereignisse in der Rosenstraße, in den Niederlanden[22] ebenso wie in England[23], Spanien[24] und den USA.[25]

Kurz nach der Premiere von »Rosenstraße« spitzte sich die Auseinandersetzung im deutschen Feuilleton zu. Es ging dabei um den alten Widerspruch zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Regisseurin von Trotta hatte im Vorspann des Films behauptet, diese Ereignisse hätten sich im Film ebenso abgespielt wie in der Geschichte. Der Historiker Wolfgang Benz warf der Regisseurin Margarethe von Trotta »Geschichtsklitterung« vor, vor allem wegen einer erfundenen Opferungsszene, die darauf hindeute, die Gefangenen seien wegen einer sexuellen Gefälligkeit durch Goebbels, nicht aber durch den Protest freigekommen.[26] Auch von anderer Seite kam Kritik. Unredlich sei es, so Christian Esch in der Berliner Zeitung, im Vorspann zu behaupten, das Gebotene sei authentisch, und dann neue Mythen zu erfinden.[27] Doch hinter dieser Auseinandersetzung verbarg sich mehr: »Tatsächlich geht es also nicht um den Streit zwischen Kunst und Wissenschaft, streiten sich von Trotta und Benz noch nicht einmal wirklich um den Film, den auch der Historiker als autonomes Kunstwerk akzeptieren kann, sondern um den Eindruck, den er hinterlässt.«[28]

Die Ereignisse wurden und werden auch im Internet diskutiert[29] – vor allem als Lehrbeispiel.[30] Einhellig ist die aus dem angenommenen Erfolg des Protestes gewonnene Forderung, es hätten mehr Menschen so handeln müssen wie die Protestierenden, die damit den Tod ihrer Angehörigen verhinderten. Auf der Webseite »Erinnern für Gegenwart und Zukunft«[31] heißt es: »Um die Bedeutung der Protestaktion in der Rosenstraße, die heute vor 60 Jahren begann, ist jetzt unter Historikern eine Kontroverse ausgebrochen. Bislang konnte man nur spekulieren, warum die Menschen freigelassen wurden. Man ging davon aus, daß der tagelange Protest das NS-Regime offensichtlich beeindruckte.« Als Material für eine Auseinandersetzung mit dem Thema offerieren die Autoren der Webseite dem Betrachter allerdings lediglich einige Zitate aus dem Tagebuch des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels, die nahe legen, er habe den Abbruch der Deportation veranlasst, aber kein einziges Dokument für mögliche andere Gründe der Freilassung der Insassen der Rosenstraße. Die kontroverse Mediendiskussion führte also zumindest dazu, dass inzwischen in aller Regel angedeutet wird, dass heute unterschiedliche Auffassungen über die Geschehnisse existieren, wie z.B. in der »Neuen Zürcher Zeitung«: »Dabei ist es unter Historikern zumindest umstritten, ob der stumm harrende, nur von einzelnen erbitterten Rufen durchzuckte Protest der Frauen (›Ich will meinen Mann wieder haben!‹) tatsächlich – wie es sich die Zeitzeugen erklären – zur Freilassung der Gefangenen geführt hat; oder ob in der Rosenstrasse nicht vielmehr […] ein Aussiebungsverfahren stattfand, bei dem die ›reinen‹ Juden deportiert und die Juden aus Mischehen deren Arbeitsplätze übernehmen sollten.«[32] Auf diese Weise bleibt die Geschichte vom Erfolg des Protestes unbeschädigt. In den alten und neuen Medien, und nicht nur dort, lebt also diese These weiter.

Die Entstehung der These vom Erfolg

Wenn man die Hauptannahmen zur Entwicklung der Ereignisse in der Rosenstraße prüft, so stellt man fest, dass diese selbst eine lange Geschichte haben. Schon im Dezember 1945, also kurz nach dem Ende der NS-Diktatur, war in der »Sie«, einer Wochenzeitschrift »für Frauen- und Menschenrecht«, ein Artikel mit dem Titel »Aufstand der Frauen« erschienen, in dem es über die Ereignisse Ende Februar/Anfang März 1943 hieß:

»[…] wer kümmert sich um das Los der tapferen christlichen Eheliebsten des deutschen Juden […], die sich weder durch Lockungen noch durch Bedrohungen irre machen ließen. Aber einmal hätte sich der Blick des gesamten Volkes auf das Schicksal der Geächteten lenken müssen. Das war an einem grauen Tage des Jahres 1943. Die Gestapo hatte sich zu einer Großaktion entschlossen. An den Portalen der Industriebetriebe hielten die Kolonnen der zeltplanverdeckten Lastwagen. Sie hielten auch vor vielen Privathäusern. Einen ganzen Tag lang sah man sie in den Straßen fahren, von SS mit Karabinern dicht eskortiert. […] An diesem Tage wurden ausnahmslos sämtliche in Deutschland lebende Juden verhaftet und zunächst in Massenlager gebracht, es war der Anfang vom Ende. Die Umwelt senkte den Blick, mit Gleichgültigkeit die einen, andere vielleicht mit einem flüchtigen Gefühl des Schauderns und der Scham. […] Und es entging der Öffentlichkeit das Auflodern einer kleinen Fackel, an der ein Feuer des allgemeinen Widerstands gegen die Tyrannenwillkür sich vielleicht hätte entzünden können. Die Geheime Staatspolizei hatte aus den riesigen Sammellagern der zusammengebrachten jüdischen Einwohnerschaft von Berlin die ›arisch versippten‹ aussortieren und in einen Sondergewahrsam in der Rosenstraße bringen lassen. Es lag völlig im unklaren, was mit ihnen geschehen würde. Da griffen die Frauen ein. Bereits in den Morgenstunden des nächsten Tages hatten sie den Aufenthalt ihrer Männer aufgespürt und wie auf Verabredung, wie auf einen Ruf hin erschienen sie in Massen vor dem improvisierten Gefängnis. Vergeblich bemühten sich die Beamten der Schutzpolizei, die Demonstrantinnen – etwa 6000 – abzudrängen und auseinanderzubringen. Immer wieder sammelten sie sich, drängten sie vor, riefen sie nach ihren Männern – die sich, strengen Verboten zum Trotz, am Fenster zeigten – und forderten Freilassung. Die Pflichten des Arbeitstages unterbrachen die Kundgebungen für Stunden. Aber am Nachmittag war der Platz wieder dicht übersät, und die anklägerischen, fordernden Rufe der Frauen wuchsen mächtig empor: leidenschaftliche Bekenntnisse zu einer Liebe, die sich in einem Leben der Bitternis gefestigt hatte. Das Hauptquartier der Gestapo lag in der Burgstraße, unweit des Platzes der Demonstrationen. Ein paar Maschinengewehre hätten die aufständischen Frauen davonfegen können, aber die SS schoß nicht, diesmal nicht. Erschreckt über einen Vorfall, der in der Epoche des Dritten Reiches nicht seinesgleichen hatte, ließ man sich in der Burgstraße auf Verhandlungen ein, man beschwichtigte, machte Zusicherungen und gab die Männer schließlich frei. In der Staatsdoktrin des Dritten Reiches stand als erster Artikel die These: Alle Menschen seien entweder durch Vorteile käuflich oder durch Drangsalierungen zu zermürben. Die christlichen Frauen, die während der letzten zwölf Jahre zu ihren jüdischen Männern hielten, haben diesen Lehrsatz widerlegt, indem sie jede Furcht vergaßen, sich durch Demütigungen und Terror nicht beugen ließen, wurden sie zu Lebensrettern ihrer Männer und ihrer Kinder und haben der Welt bewiesen, daß auch ein Hitler nicht alle Keime des Guten in Deutschland abtöten konnte.«[33]

Dieser Artikel stammte von dem Berliner Journalisten und Theaterkritiker Georg Zivier. Er war 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden und musste während des Krieges Zwangsarbeit leisten. Erst nach Kriegsende konnte er seine Arbeit als Journalist wieder aufnehmen. Er schrieb u.a. mehrere Reportagen über den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.[34]

Die in Berlin seit 1945 erscheinende Zeitschrift »Sie«, in der Georg Zivier den Artikel »Aufstand der Frauen« veröffentlicht hatte, gab damals Heinz Ullstein heraus. Nach eigener Aussage inspirierte Ullstein den Journalisten Zivier zu dessen Artikel und verfasste diesen sogar in Teilen mit. Ullstein war nämlich selbst in der Rosenstraße interniert und seine Frau sogar Teilnehmerin der Proteste gewesen.[35] An dem Artikel war möglicherweise auch die Mitherausgeberin der »Sie«, die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, nicht unbeteiligt. Sie hatte ein Tagebuch geschrieben, von dem in der Zeitschrift im Januar 1946 Auszüge veröffentlicht wurden.[36] Ein damals nicht veröffentlichter Eintrag in ihrem Tagebuch bezog sich auf die Ereignisse in der Rosenstraße. Ganz offensichtlich hat Ruth Andreas-Friedrich diesen Abschnitt ihres Tagebuchs Zivier und Ullstein als Grundlage für den Zeitungsartikel zur Verfügung gestellt. Beide Texte, Tagebuch und Zeitungsartikel, stimmen sowohl im Tenor wie in den meisten Details auffällig überein. Bei Andreas-Friedrich heißt es zum 7. März 1943:

»Wenigstens einige sind wiedergekehrt. Die sogenannten ›Privilegierten‹. Die jüdischen Partner rassisch gemischter Ehen. Abgesondert von den übrigen, hat man sie vergangenen Sonntag in ein Sammellager geschafft. Zur Prüfung und endgültigen Beschließung. Noch am selben Tag machten sich die Frauen jener Männer auf, ihre verhafteten Ehegefährten zu suchen. Sechstausend nichtjüdische Frauen drängten sich in der Rosenstraße, vor den Pforten des Gebäudes, in dem man die ›Arisch-versippten‹ gefangenhielt. Sechstausend Frauen riefen nach ihren Männern. Schrien nach ihren Männern. Heulten nach ihren Männern. Standen wie eine Mauer. Stunde um Stunde, Nacht und Tag. In der Burgstraße liegt das Hauptquartier der SS. Nur wenige Minuten entfernt von der Rosenstraße. Man war in der Burgstraße sehr peinlich berührt über den Zwischenfall. Man hielt es nicht für opportun, mit Maschinengewehren zwischen sechstausend Frauen zu schießen. SS-Führerberatung. Debatte hin und her. In der Rosenstraße rebellieren die Frauen. Fordern drohend die Freilassung ihrer Männer. ›Privilegierte sollen in die Volksgemeinschaft eingegliedert werden‹, entscheidet am Montagmittag das Hauptquartier der SS. Wen das Zufallsglück traf, einen nichtjüdischen Partner geheiratet zu haben, der darf sein Bündel schnüren und nach Hause gehen. Die anderen werden in Güterzüge verladen und abtransportiert.«[37] Die Erzählweise ihres Tagebucheintrags deutet darauf, dass Ruth Andreas-Friedrich hier Gehörtes zusammengefasst hat und selbst keine Augenzeugin der Geschehnisse gewesen ist.

Tagebuch und Zeitungsartikel enthielten jedenfalls bereits die wichtigsten Elemente der Geschichte vom Protest in der Rosenstraße und seinem Erfolg, so wie sie heute überwiegend erinnert wird. Damit findet sich der historiographische Schlüssel zur heute vorherrschenden Erzählweise bereits in der frühen Nachkriegszeit. Beide Quellen fanden damals weite Verbreitung. Das Tagebuch von Ruth Andreas-Friedrich wurde zuerst 1947 in Deutschland und den USA als Buch veröffentlicht und danach wiederholt aufgelegt. Es ist heute eines der bekanntesten Zeugnisse zur NS-Zeit.[38] Der die Rosenstraße betreffende Eintrag zum 7. März 1943 wurde später in mehreren Publikationen in West- und Ostdeutschland als Quelle gedruckt bzw. zitiert.[39] Der Zivier-Artikel »Der Aufstand der Frauen« erlebte in der »Neuen Zeitung«, der von Hans Habe herausgegebenen und in München, Frankfurt und Berlin erscheinenden »amerikanischen Zeitung für die deutsche Bevölkerung« schon am 14. Januar 1946 einen ungekürzten Nachdruck.[40] Heinz Ullstein gab 1961 den Text in seinen Memoiren ebenfalls vollständig wieder.[41] Die Verbreitung und Kenntnis beider Texte hat in den folgenden Jahrzehnten nicht nur manche später befragte Zeitzeugen beeinflusst[42], sondern sie prägte lange auch entscheidend die Historiographie der Geschehnisse.

Die historische Forschung und die damaligen Ereignisse

Wie hat sich die historische Forschung zu den hier behandelten Ereignisse bisher geäußert? In der Zeitschrift »Judaica« schrieb erstmals 1948 der überlebende jüdische Jurist Bruno Blau in einem Aufsatz zur Geschichte der »Mischehe im Nazireich«, dass die Gestapo im Februar 1943 einen Vorstoß gegen die jüdischen Männer aus »Mischehen« geplant hätte, deren Freilassung aber durch den öffentlichen Protest ihrer Frauen erreicht worden sei. Allerdings gab er hierfür keine Belege an.[43] In seinem Standardwerk »Destruction of the European Jews« von 1961, das bis heute den wohl umfassendsten Überblick über die NS-Judenverfolgung bietet, verwies Raul Hilberg zwar auf die Fabrik-Aktion unter Bezug auf damals unveröffentlichte Einträge in den Goebbels-Tagebüchern, ohne jedoch die Ereignisse in der Rosenstraße zu erwähnen. Er nahm damals an, dass in Berlin das Reichssicherheitshauptamt eine Hand voll Juden aus »Mischehen« festgenommen und deportiert hätte. Eine Deportation aller »Mischehe-Partner« sei nicht zustande gekommen, weil ein geplantes »Scheidungsgesetz« von Hitler nicht abgesegnet worden war und sich in der NS-Führung das Gefühl breit gemacht habe, dass der Abtransport von Zehntausenden Juden[44] aus »Mischehen« das gesamte geheime Unternehmen der »Endlösung« gefährden würde. Auch in den erweiterten und bearbeiteten späteren Ausgaben seines Standardwerkes fehlte ein Rekurs Hilbergs auf die Rosenstraße.[45] Erstmals widmete er 1992 in seinem neuen Buch »Täter, Opfer, Zuschauer« dem Protest einige Zeilen, und zwar unter Verweis auf einen Aufsatz von Kurt Ball-Kaduri.[46]

Ball-Kaduri hatte lange zuvor, nämlich 1963, in einem Artikel über die Lage der Berliner Juden geschrieben, die Gestapo habe im Februar 1943 beabsichtigt, die Juden in »Mischehen« diesmal nicht mehr wie bislang von den Deportationen auszunehmen. Gegen diese Entscheidung hätten die »arischen« Frauen der verhafteten Männer demonstriert.[47] Ball-Kaduri zitierte hierzu als Beleg einen Nachkriegsbericht von Ernst Gross, der im Jahr 1943 Insasse des Lagers Rosenstraße gewesen war: »Am 28. Februar war eine ganz große Razzia. […] Dieses Mal ließen sie die Mischehen nicht frei […] und nachher wurden wir in das Lager Rosenstraße gebracht. Dort waren wir eine Woche, und niemand wußte, was mit uns werden würde. Sie wollten uns offenbar auch abtransportieren. Aber damals haben die Frauen gemeutert, das ist wohl das einzige Mal, daß so etwas vorgekommen ist. Da haben die christlichen Frauen tagelang vor dem Gebäude der Rosenstraße Skandal gemacht, und schließlich haben sie es erreicht, und uns wieder freigelassen. Darüber ist auch bald nach 1945 in der Zeitung geschrieben worden.«[48] Gross’ Nachsatz lässt vermuten, dass seine Kenntnis über den Protest zumindest von den damaligen Presseberichten beeinflusst war. Er bewahrte nämlich den Nachdruck des Artikels von Zivier in der »Neuen Zeitung« noch Ende der fünfziger Jahre auf und stellte ihn Ball-Kaduri zur Verfügung, der diesen auszugsweise in seinem Aufsatz nachdruckte.[49] Ball-Kaduri verfügte noch über eine weitere Quelle zu den Ereignissen um die Fabrik-Aktion, den Bericht von Hildegard Henschel, einer ehemaligen Angestellten der Berliner Jüdischen Gemeinde. Ihr Report, Ende 1946 – also nur dreieinhalb Jahre nach den Ereignissen – auf Bitten von Ball-Kaduri verfasst, enthielt allerdings kein Wort über den Protest.[50]

Obwohl Ball-Kaduri in seinem Aufsatz nur relativ kurz auf die Geschehnisse einging und seine Einschätzung nur auf Nachkriegsaussagen aufbaute, sollten sich in den folgenden Jahrzehnten viele Historiker sowohl in der Darstellung der Fabrik-Aktion und der Geschehnisse in der Rosenstraße als auch in der Schlussfolgerung vom Erfolg des Protestes der Angehörigen meist nur auf seinen Aufsatz beziehen.[51] Ball-Kaduris plastische Beschreibung anhand der Zeitzeugen fand viel Resonanz. Hingegen beriefen sich nur wenige Forscher auf eine vergleichbare Stelle in H.G. Adlers Standardwerk »Der verwaltete Mensch« über die Deportationen. 1974 hatte Adler darin behauptet, eine »mutige Demonstration« der »arischen« Frauen jüdischer Männer habe die Gestapo zum Nachgeben bewogen.[52] Als Beleg lieferte Adler nur eine sehr vage Quelle. Martha Mosse, 1943 Mitarbeiterin der Jüdischen Gemeinde Berlin, hatte 1958 in einer Vernehmung ausgesagt: »Über die besondere Aktion gegen die jüdischen Partner von Mischehen, die von der Leibstandarte in einem Hause der jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße untergebracht wurden, ist mir lediglich bekannt, daß durch Interventionen der arischen Partner der Abtransport dieser Gruppe unterblieb und das Durchgangslager wieder geräumt werden mußte.«[53]

Wie die Beispiele Ball-Kaduri und Adler zeigen, scheint schon in den 1960er bzw. 1970er Jahren das Narrativ von einem Erfolg des Protestes in der Rosenstraße auch in der Forschung wirkungsmächtig gewesen zu sein. In mehreren Abhandlungen aus jener Zeit findet sich der Topos vom Erfolg des Protestes sogar ohne jeden Nachweis von Quellen und Literatur.[54]

Die Ereignisse in der Rosenstraße sollten dann in Deutschland bis weit in die 1980er Jahre keine Rolle mehr spielen, weder in der Literatur zum Widerstand[55] noch in der zur NS-Judenverfolgung. Erst 1988 erwähnen Autoren in zwei Publikationen wieder den Erfolg des Protestes.[56] Auch in dem 1989 in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen Standardwerk »Die Juden in Deutschland 1933–1945«, welches erstmals die Perspektive der Verfolgten auf der Grundlage vieler Tagebücher, Briefe und Erinnerungen einnimmt, werden die Ereignisse angesprochen.[57]1990 erschien dann in Deutschland das erste Buch zur Rosenstraße. Die populärwissenschaftliche Publikation von Gernot Jochheim über den Erfolg des Protestes enthält einen fiktiven Bericht von Hans Grossmann, der aus diversen Erinnerungen von Überlebenden kompiliert ist.[58] In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren verbreitete sich die Geschichte vom Erfolg des Protestes sehr rasch.[59] Hans-Rainer Sandvoß zitierte 1994 in seiner Darstellung zum Widerstand in Berlin-Mitte diverse Zeitzeugenaussagen zu den Vorgängen.[60] Die These vom geplanten Abtransport der »Mischehen« und dessen Verhinderung selbst gegen die Maschinengewehre der SS vertritt am vehementesten der amerikanische Historiker Nathan Stoltzfus, der dem »Aufstand der Frauen« mehrere Aufsätze und ein Buch gewidmet hat.[61] Sein zuerst 1996 auf Englisch, dann 1999 auf Deutsch erschienenes Buch hat viel zur Anerkennung des Protestes als zu würdigende Widerstandshandlung beigetragen. Auf seine Forschungen beriefen sich in der Folge bekannte Historiker in ihren Darstellungen und Schlussfolgerungen.[62] Stoltzfus behauptet, basierend auf von ihm seit den 1980er Jahren geführten Interviews sowie anderer von ihm ausgewerteter Zeitzeugenberichte, ein machtvoller Straßenprotest der »arischen« Frauen habe die NS-Führung im Februar 1943 zum Einlenken und zur Freilassung der Juden aus der Rosenstraße gezwungen. Allerdings gewinnt er diese Meinung nicht allein aus einer historischen Analyse, denn wie er kürzlich in einem polemischen Zeitungsartikel schrieb, werde er auf seinem Standpunkt beharren, selbst wenn neu aufgetauchte zeitgenössische Dokumente etwas anderes besagten, denn man müsse »die Wahrheit jenseits der Akten« suchen.[63] Hinter seiner Polemik steckt der Vorwurf, die deutschen Historiker zögen allein aus den überlieferten Täter-Akten ihre Erkenntnisse und würden die Aussagen von Zeitzeugen zum NS-Staat völlig ignorieren. Es ist wohl wahr, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft lange schwer getan hat, auf die Stimmen der überlebenden Opfer zu hören. Doch nicht zuletzt dank Historikern wie Wolfgang Benz[64], gegen den sich Stoltzfus’ Zeitungspolemik in besonderer Weise richtete, gibt es seit dem Ende der 1980er Jahre diverse Darstellungen zur NS-Judenverfolgung, die Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen lassen. Und es entstanden Archive, die eine Vielzahl an geführten Interviews und schriftlichen Zeugenberichten verwahren.[65]

Gerade in Deutschland wurde das Thema der Rosenstraße in den 1990er Jahren vor allem durch zwei wiederholt neu aufgelegte Darstellungen mit Zeitzeugenberichten und Interviews bekannt. Ger not Jochheims Buch von 1990, welches einen Gutteil zur Verbreitung der Geschichte in Deutschland beigetragen hat, erschien in erweiterten Fassungen 1993 und 2001.[66] Nina Schröder publizierte 1998 ein Buch zur Rosenstraße, welches aus mehreren von ihr geführten ausführlichen Interviews mit Überlebenden besteht. Sie bewertet eine mögliche Wirkung des Protestes als Ursache für die Freilassung der Insassen zurückhaltend, kritisiert gleichzeitig offensiv das lange Schweigen der deutschen Öffentlichkeit über den Protest und dessen verspätete Würdigung.[67] Alle Abhandlungen, die sich seit 1990 genauer mit der Fabrik-Aktion und vor allem dem Rosenstraßen-Protest beschäftigt haben, stützen sich vor allem auf viele Jahre nach den Ereignissen abgefasste Berichte und geführte Interviews. Zeitgenössische Akten des NS-Staates oder auch Dokumente aus den damaligen jüdischen Organisationen wurden bislang kaum für die historische Analyse herangezogen. Dieses Manko führte zu Fehlschlüssen. Entgegen allen bisherigen Erkenntnissen heißt es im »Handbuch für die Benutzung von Quellen der NS-Zeit« von 1997 unter dem Stichwort »Fabrik-Aktion«, dass mit dieser 1943 die »noch in Deutschland lebenden Juden, welche mit arischen Partnern verheiratet waren«, verschleppt worden seien.[68]

Heute gilt der Protest der Wissenschaft ebenso als Paradebeispiel für eine »gewaltlose« Opposition[69] wie für den geschlechtsspezifischen Widerstand von Frauen.[70] Neben Publizisten kommen auch manche Historiker zu der Schlussfolgerung: Hätten mehr Menschen so gehandelt wie jene in der Rosenstraße, so hätte man die Judenvernichtung aufhalten können.[71] Vor allem Nathan Stoltzfus verfocht diese These.[72] Ihm schloss sich unter anderem auch Daniel Goldhagen in seinem viel diskutierten Buch »Hitlers willige Vollstrecker« an.[73] Auch diese programmatische Schlussfolgerung ist bereits kurz nach dem Krieg entstanden. 1948 schrieb Bruno Blau in seinem schon erwähnten Aufsatz: »Dieses Verhalten der Frauen zeigt, daß es nicht unmöglich war, mit Erfolg gegen die Macht der Nazis anzukämpfen. Wenn die verhältnismäßig geringe Zahl von Frauen jüdischer Männer es zuwege gebracht hat, deren Schicksal zum Guten zu wenden, so hätten diejenigen Deutschen, die sich jetzt in so großer Zahl als Gegner des Nazismus bezeichnen, auch die von ihnen angeblich nicht gewollten oder sogar verabscheuten Greueltaten verhindern können, sofern sie es ernstlich gewollt hätten.«[74]

Nur wenige Historiker zweifelten bisher an der bis heute gängigen Lesart eines erfolgreichen Widerstandes gegen die Deportationen. So kritisierte Christoph Dipper 1996 die Thesen von Nathan Stoltzfus in der Fachzeitschrift »Geschichte und Gesellschaft«.[75] Einige andere Historiker und Historikerinnen schlossen sich an.[76] Erst seit kurzem, angeregt durch die Mediendebatte, entstehen neue wissenschaftliche Untersuchungen zu Einzelaspekten der Ereignisse in der Rosenstraße.[77] Eine der letzten Veröffentlichungen zum Thema ist das Buch zum Film »Rosenstraße«. Der Historiker Felix Moeller hat darin einen Aufsatz zur Verteidigung der in Margarethe von Trottas Film verfochtenen Linie vom Erfolg des Protestes verfasst.[78] Auf einer vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und vom Jüdischen Museum Berlin Ende April 2004 gemeinsam veranstalteten öffentlichen Tagung zum Thema »Rosenstraße« diskutierten erstmals Zeitzeugen und Historiker gemeinsam, wenngleich sehr kontrovers, die bisherigen Forschungsergebnisse.[79]

Lange Zeit wurde aber die Erzählung vom Erfolg des Protestes und dem Stopp der geplanten Deportation nicht hinterfragt, sondern als belegt hingenommen. Als Raul Hilberg in einem seiner letzten Bücher unter Bezug auf Ball-Kaduri über den Protest schrieb, erwähnte er unter Verweis auf einen Aufsatz von Sybil Milton überraschenderweise, dass sogar ein Foto des Protestes existiere.[80] Sybil Milton wiederum hatte sich auf ein Buch bezogen, in der Inge Unikover das Leben des jüdischen Berliner Fotografen Abraham Pisarek erzählt.[81] Ein Foto vom Protest in der Rosenstraße ist bei Unikover aber gar nicht erwähnt. Die Geschichte des nichtexistenten Fotos symbolisiert gleichsam das Dilemma, vor dem der Forscher heute bei der Analyse steht: Es gibt kaum Originalzeugnisse vom damaligen Geschehen, und es ranken sich viele Legenden um die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der Ereignisse.

Begriffe und Quellen

Im Folgenden soll also den Fakten und Fiktionen um die Fabrik-Aktion, um die Internierung der Juden aus »Mischehen« und um den Protest in der Rosenstraße nachgegangen werden. Bevor sowohl die bisher benutzten Zeitzeugenaussagen als auch die wenigen bisher bekannten zeitgenössischen Dokumente kritisch geprüft und diskutiert und neue herangezogen werden können, muss hier kurz auf die Herkunft und Verwendung von Begriffen und Quellen eingegangen werden.

Oft wird in der Öffentlichkeit leichthin vom »Protest der deutschen Frauen« gegen die Deportation ihrer »jüdischen Männer« gesprochen. Auch Historiker benutzen im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Rosenstraße das Begriffspaar »Juden und Deutsche« oder den Terminus deutsch-jüdische »Mischehen«.[82] Doch es handelte sich 1933 nicht um zwei getrennte Völker, sondern um Deutsche. Juden waren nicht nur deutsche Staatsangehörige, sondern sie verstanden sich in ihrer überwiegenden Mehrheit als Deutsche jüdischen Glaubens. Hinzu kam die Gruppe der Christen und Glaubenslosen jüdischer Herkunft. Erst die Nazis diskriminierten und verfolgten diese Deutschen dann als angeblich Fremde, zuerst als »Nichtarier«, später als »Rassejuden«. Deshalb wird in diesem Buch bevorzugt von jüdischen Deutschen oder deutschen Juden die Rede sein.

Die Großrazzia von Ende Februar 1943, die den Ereignissen in der Rosenstraße voranging, ist heute allgemein unter dem Namen »Fabrik-Aktion« bekannt und berüchtigt. Der Begriff »Fabrik-Aktion« wurde aber nicht von den Nazis »verharmlosend« geprägt, wie Gernot Jochheim behauptet.[83] In keinem zeitgenössischen Dokument ist dieser Terminus nachweisbar. Ebenso wenig ließ sich in damaligen Quellen der heute in den Medien gern für die Ereignisse verwendete Begriff »Schlussaktion« oder auch »Judenschlussaktion« finden. Beide Bezeichnungen stammen nicht aus der NS-Zeit, sondern wurden Anfang der fünfziger Jahre im Strafprozess gegen den Gestapo-Beamten Walter Stock geprägt.[84] Für die Großrazzia findet sich in den NS-Dokumenten nur eine einzige Bezeichnung. So heißt es in einigen im Berliner Landesarchiv überlieferten Tagebüchern von Berliner Polizeirevieren aus dem Jahr 1943 übereinstimmend »Großaktion Juden«.[85] Das war offenbar die offizielle Bezeichnung der Großrazzia vom 27. Februar 1943. Der heute für die Razzia benutzte Begriff »Fabrik-Aktion« ist dessen ungeachtet wohl noch im Krieg bzw. kurz danach als symbolträchtige Charakterisierung für die Razzia geprägt worden, bei der Tausende jüdischer Zwangsarbeiter aus den Fabriken geholt wurden. Und zwar erfanden ihn die Opfer selbst. Der Begriff findet sich nachweisbar erstmals in Briefen von Überlebenden, die 1945/46 Anträge auf Anerkennung als »Opfer des Faschismus« beim Berliner Magistrat stellten. So schrieb Käte Bandow in ihrem Lebenslauf am 20. Oktober 1945 von ihrer Verhaftung »bei einer Fabrikaktion am 27. Februar«.[86]

Im Gegensatz zu den bisher zur Fabrik-Aktion und zur Rosenstraße vorliegenden Arbeiten, die sich fast ausschließlich auf die Aussagen von Überlebenden stützten, werden im Folgenden zur Rekonstruktion der Ereignisse neben diversen Aussagen Überlebender bisher unberücksichtigte Dokumente der Gestapo, der Schutzpolizei, jüdischer Einrichtungen und der katholischen Kirche herangezogen. Insgesamt gestaltet sich die Quellenlage dennoch als äußerst schwierig, denn trotz aufwendiger Recherchen ließen sich in den im Bundesarchiv erhaltenen zentralen Beständen der SS, der SS-Leibstandarte »Adolf Hitler«, der Ordnungspolizei sowie des Reichssicherheitshauptamtes keine Dokumente zu den zu diskutierenden Ereignissen ermitteln. Akten der Berliner Gestapo bzw. der Schutzpolizei des Berliner Stadtbezirkes Mitte, wo sich die Rosenstraße befindet, sind im Landesarchiv Berlin nicht überliefert. Nur sehr verstreut blieben in unterschiedlichen Archiven Einzeldokumente der Gestapo, der Schutzpolizei sowie jüdischer Einrichtungen erhalten, die wie in einem Puzzle zusammengesetzt werden mussten. Diese ergänzen die zahlreichen, uns heute vorliegenden Zeitzeugenberichte zu den Ereignissen. An Aussagen überlebender Opfer wie auch Täter lagen uns bisher die Vernehmungen aus den Ermittlungsverfahren für die geplanten RSHA- und Gestapo-Prozesse in den 1960er Jahren vor. Darunter befinden sich Ermittlungs- und Prozessakten gegen die ehemaligen Berliner Gestapo-Angehörigen aus dem »Bovensiepen-Verfahren« vor dem Berliner Landgericht.[87] Außerdem haben Nathan Stoltzfus, Gernot Jochheim und Nina Schröder umfangreiche Interviews in den 1980er und 1990er Jahren geführt und aufgezeichnet. Während die Ersteren ausführliche Auszüge zitierten, publizierte Schröder ihre Gespräche wohl vollständig.[88] Sowohl die Aussagen in den Verfahren als auch die von den Historikern niedergelegten Berichte der Überlebenden müssen mit kritischem Blick benutzt werden. Zum einen sind die Aussagen von den Zeitzeugen oft Jahrzehnte nach den Ereignissen gemacht worden, zum anderen sind die Aussagen vor Gericht wie auch in manchen Interviews auf gezieltes Befragen zu den Ereignissen hin entstanden.

Neben diesem heterogen zusammengesetzten Material wird hier erstmals eine neu entdeckte, umfangreiche Quelle benutzt: die Anträge von Überlebenden auf die Anerkennung als »Opfer des Faschismus« aus den Jahren 1945/46 im Archiv der Berliner Stiftung »Neue Synagoge – Centrum Judaicum«. Diese Schriftstücke entstanden nur zwei oder drei Jahre nach den Vorgängen im Februar und März 1943, sind also sehr zeitnah niedergeschrieben worden. Von diesen Anträgen sind für die Untersuchung mehrere hundert durchgesehen worden. Diese Dokumente, darunter z.B. viele Lebensläufe von Juden aus »Mischehen«, enthalten überraschende unbekannte Informationen zu dem hier behandelten Zeitraum.[89] Zusätzlich hat die Hamburger Historikerin Beate Meyer jüngst umfangreiche, in der DDR für einen geplanten Globke-Prozess aufgenommene Zeitzeugenaussagen ausgewertet.[90]

Während man für den Protest vor dem Gebäude Rosenstraße aufgrund der disparaten Quellenlage weiter allein auf die oft widersprüchlichen Erinnerungen der Überlebenden angewiesen bleibt, lassen sich die Vorgeschichte, der Verlauf und die Nachwirkungen der Fabrik-Aktion sowie die Umstände und Ziele der Internierung der Juden aus »Mischehen« in der Rosenstraße mittlerweile durch Dokumente und Zeitzeugenaussagen detailliert rekonstruieren.

Kapitel 2: Die Fabrik-Aktion

Die NS-Judenverfolgung und die Deportationen

Zu Beginn der NS-Diktatur 1933 lebten über 500000 Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland, nach dem Ende des Krieges 1945 nur noch etwa 15000.[91] Eine gezielte Politik des NS-Staates von Vertreibung und Deportation hatte zum nahezu vollständigen Verschwinden der deutsch-jüdischen Bevölkerung geführt. Konnten bis 1938 noch viele Menschen flüchten, waren danach aus Deutschland Zehntausende Juden deutscher und anderer Staatsangehörigkeit mit Bussen, Lastwagen, Personen- oder Güterzügen verschleppt worden. Die Gestapo deportierte die Opfer u.a. in Kleinstädte bei Lublin, nach Gurs in den Pyrenäen, in die Ghettos Lodz und Warschau, nach Kowno, Riga und Minsk, in das Ghetto Theresienstadt und in das Vernichtungslager Auschwitz.[92]

Die Fabrik-Aktion vom Februar 1943 sollte den brutalen Auftakt zu dem von der NS-Führung geplanten Abschluss der Massendeportationen in Deutschland bilden, die bereits mehrere Jahre andauerten. Gemeinhin verstehen Forschung und Öffentlichkeit unter den Deportationen aus Deutschland diejenigen Massentransporte, die Mitte Oktober 1941 begannen. Doch deren Geschichte reicht mehrere Jahre zurück. Im Jahr 1938 drohte in den Augen der NS-Führung die seit 1933 betriebene Politik der Vertreibung zu scheitern, weil zum einen viele Länder kaum noch Flüchtlinge aus Deutschland aufnahmen und zum anderen nach allen Verfolgungen immer weniger jüdische Deutsche über genügend Besitz verfügten, um eine kostspielige Emigration finanzieren zu können. Deshalb ordnete die NS-Führung im Jahr 1938 erstmals mehrere Kollektivvertreibungen an.[93] Die Sicherheitspolizei organisierte im Januar zuerst die Ausweisung der Juden sowjetischer Staatsangehörigkeit aus dem deutschen Staatsterritorium, später die Vertreibung der Juden aus dem österreichischen Burgenland und dem der tschechischen Republik abgenommenen Sudetengebiet. Ende Oktober 1938 wurden gewaltsam 17000 polnische Juden binnen weniger Tage mit Sonderzügen an die polnische Grenze abgeschoben. Die Gestapo sammelte dabei erste Erfahrungen, Massentransporte von zuerst Hunderten, später Zehntausenden Menschen zu organisieren. Allerdings stieß der NS-Staat auf Widerstand der Länder, in die die Opfer gewaltsam ausgewiesen oder über deren »grüne« Grenzen sie gebracht wurden, sodass weder die vollständige Ausweisung der Menschen mit sowjetischem Pass noch die derjenigen mit polnischer Staatsangehörigkeit gelang.[94]

Das weitgehende Scheitern dieser Kollektivausweisungen im Jahr 1938 führte zu einer Rekonzipierung der NS-Vertreibungspolitik. Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen fällte die NS-Führung im September 1939 eine grundlegende Entscheidung. Hitler wies an, 300000 deutsche und österreichische Juden in das nun von Deutschland beherrschte Territorium Polens zu deportieren. Die im Oktober 1939 im neu gegründeten Reichssicherheitshauptamt[95] von Adolf Eichmann zentral organisierte Deportation von 5000 Juden aus Österreich, aus dem Protektorat und aus dem Deutschland angegliederten Ostoberschlesien bildete dafür den Auftakt. Die Massentransporte nach Nisko am San stellten keine lokale Maßnahme dar, sondern den Beginn einer Gesamtdeportation der Juden aus dem Deutschen Reich. Deshalb enthielten die Transporte nach Nisko im Osten des Generalgouvernements Menschen aus Prag, Brünn, Wien, Mährisch-Ostrau und mehreren ostoberschlesischen Städten. Deportationen aus Deutschland wurden für den Monat November bereits vorbereitet. Doch Anfang November 1939, kurz bevor der erste Transport aus dem Altreich abgehen sollte, musste – weil der Zielort aus Witterungsgründen nicht mehr erreicht werden konnte – Himmler die Aktion unterbrechen und auf Februar 1940 verschieben.[96]

Die Planung von antijüdischen Massendeportationen begann also bereits kurz nach dem Überfall auf Polen und nicht erst im Herbst 1941 nach dem Beginn des »Unternehmens Barbarossa«, wie meist angenommen. Die ersten Deportationen aus Deutschland fanden dann im Februar/März 1940 in der preußischen Provinz Pommern statt, organisiert von der Staatspolizeileitstelle Stettin. Mehr als 1000 Juden aus Stettin und vielen kleinen pommerschen Orten wurden nach Polen verschleppt und zwangsweise in überfüllten Kleinstädten bei Lublin »angesiedelt«. Viele der Deportierten starben dort rasch an Hunger und Kälte.[97] Weitere Massendeportationen aus dem übrigen Deutschland wurden parallel dazu vorbereitet. Ab Februar 1940 sollten laut Anweisung des Reichssicherheitshauptamtes an die Gestapostellen im Reich alle jüdischen Deutschen in jeweils drei bis fünf Städten in den Ländern bzw. preußischen Provinzen konzentriert werden, wie aus einem bisher unbekannten Erlass hervorgeht.[98] Doch die in Deutschland vor Ort getroffenen Vorbereitungen wurden vom Reichssicherheitshauptamt wieder gebremst, da man zunächst jüdische und nichtjüdische Polen aus den von Deutschland annektierten polnischen Gebieten deportieren wollte. Die nächste Teilaktion in Deutschland selbst fand im Herbst 1940 statt. Nach dem schnellen Sieg des NS-Staates über Frankreich hatten sich die Pläne geändert. Nun sollten nach Kriegsende sämtliche Juden aus dem von Deutschland beherrschten Europa auf die afrikanische Insel Madagaskar deportiert werden. In diesem Zusammenhang organisierte das RSHA Ende Oktober 1940 auf Anordnung Hitlers eine neue Aktion. Über 6500 Menschen aus Baden und der Saarpfalz verschleppte die Gestapo in Sonderzügen über die Grenze ohne Absprache mit der Vichy-Regierung in den unbesetzten Süden Frankreichs. Die Deportierten kamen in das Lager Gurs, von wo sie später offenbar weiterdeportiert werden sollten. Während aus Pommern, Baden und der Saarpfalz damit bereits fast alle jüdischen Deutschen deportiert worden waren, stockte die Gesamtplanung nicht zuletzt wegen der Vorbereitung auf den Krieg mit der Sowjetunion. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Reichssicherheitshauptamt wegen des Krieges immer nur regionale Teil-Deportationen realisieren können.[99]

Im Frühjahr 1941 intensivierte das Reichssicherheitshauptamt – mit Blick auf den geplanten Krieg mit der Sowjetunion und auf mögliche neue Zielgebiete – die Vorbereitungen für den Abtransport der deutschen Juden. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion sprach sich Hitler Ende Juli/Anfang August 1941 allerdings gegen eine von Reinhard Heydrich vorgeschlagene Gesamtdeportation noch während des Krieges aus. Zugleich fällte er jedoch eine Entscheidung über neue Teilaktionen, diesmal aus deutschen Großstädten. Weil die vorgesehenen Gebiete der Sowjetunion und auch das Generalgouvernement in jener Kriegsphase für Transporte unzugänglich waren, einigten sich die Verantwortlichen Anfang September auf den Kompromiss, Zehntausende Juden befristet in das Ghetto Lodz im annektierten Warthegau zu bringen, von wo sie später weiterdeportiert werden sollten. 20000 Menschen deportierte die Gestapo daraufhin in wenigen Wochen im Oktober/November 1941 aus Berlin und anderen deutschen Städten sowie aus Prag und Wien.[100] Diese neue große Teilaktion von Mitte Oktober 1941 hatte man in Wissenschaft und Öffentlichkeit bisher immer als den Beginn der Deportationen der Juden aus Deutschland wahrgenommen. Als die Transporte im Herbst erstmals ohne größere Störungen abliefen, wollte Hitler die Deportation aller jüdischen Deutschen – auch vor dem Hintergrund gesamteuropäischer Planungen zur »Endlösung« – bald abgeschlossen wissen. Die NS-Führung entschied, in einer weiteren Teil-Aktion 50000 Menschen bis Dezember erstmals in die besetzten Gebiete der Sowjetunion, nach Riga und Minsk, zu deportieren. Der Abtransport von schließlich weit über 30000 Menschen in die beiden Zielorte zog sich aber bis Anfang Februar 1942 hin.[101]

Danach wurden die Deportationen für mehrere Wochen aufgrund von Transportproblemen unterbrochen. Noch während der Pause instruierte Eichmann am 6. März 1942 in Berlin Vertreter lokaler Gestapostellen über die kommende Wiederaufnahme der Transporte in Deutschland, Österreich und dem Protektorat. Ab Ende des Monats würden 55000 Juden abtransportiert werden, davon aus dem »Altreich« 17000 Menschen.[102] Jüdische Deutsche sollten nun in das Generalgouvernement »umgesiedelt« werden, wo gerade die systematische Ermordung der polnischen Juden begann.[103] Die im vorangegangenen Herbst in das Ghetto Lodz gebrachten deutschen Juden hätten jetzt weiter nach Osten verschleppt werden sollen, doch seit Mai 1942 tötete man auch Insassen aus dem Reich zu Tausenden in Chelmno.[104] Zwischen März und Juni deportierte die Gestapo schließlich Zehntausende Menschen aus Berlin, Breslau, aus Bayern, dem Rheinland, aus Schwaben, Hessen und aus Sachsen in das Generalgouvernement.[105] Der Mitte Juni 1942 vom RSHA wegen der neuen militärischen Offensive gegen die Sowjetunion angekündigte Stopp der Deportation der »Juden aus Deutschland in das östliche Operationsgebiet« war Hauptgrund für die veränderten Transportprioritäten.[106] So sollten in den nächsten Wochen vorzugsweise die Deportationen aus Deutschland in das Ghetto Theresienstadt gerichtet werden.[107] Damit weitete die NS-Führung die Massentransporte auf bisher noch verschonte deutsche Juden aus, wie auf die über 65-jährigen Menschen und die mit Auszeichnungen dekorierten Veteranen des Ersten Weltkrieges.[108]

Hunderttausende Menschen ohne Beeinträchtigung der Kriegswirtschaft zu deportieren war nur durch zentrale Koordination erreichbar. Entschieden wurde über die Massentransporte in der NS-Führung, Planung und Durchführung oblagen dem Reichssicherheitshauptamt. Aus beiden Gründen spielten lokale Initiativen – im signifikanten Gegensatz zur sonstigen antijüdischen Politik – für Entwicklung und Verlauf der Deportationen kaum eine Rolle. Vom Reichsicherheitshauptamt erhielten die lokalen Gestapostellen sowohl genaue Anweisungen, welche Opfergruppen zu verschleppen waren, als auch nach Orten aufgeschlüsselte Opferzahlen und Termine für die Bereitstellung von Sonderzügen übermittelt. Vor Ort organisierte die Gestapo dann Auswahl, Zusammenfassung, Behandlung und Abtransport der einzelnen Opfer. Nur hierbei konnten Gestapobeamte Handlungsspielräume nutzen.[109]