Wie Arthur Pepper sich vor seiner Nachbarin versteckte und am Ende doch sein Herz fand - Phaedra Patrick - E-Book
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Wie Arthur Pepper sich vor seiner Nachbarin versteckte und am Ende doch sein Herz fand E-Book

Phaedra Patrick

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Beschreibung

Arthur Pepper. 69 Jahre alt. Seit einem Jahr Witwer. Führt ein geregeltes Leben ohne größere Überraschungen – bis er auf ein Armband seiner verstorbenen Frau stößt, das er noch niemals zuvor gesehen hat. Hatte seine Frau Geheimnisse vor ihm? Einen Liebhaber? Wo kommen die acht Anhänger her? Um das herauszufinden, muss er aus seiner Routine ausbrechen und sich auf die Spuren dieses Armkettchens begeben. Und so kommt es, dass er einen Tiger abwehren muss, mit einem bekannten Autoren spricht, nackt vor einer Kunstklasse posiert – und somit letztendlich nicht nur seiner Frau näher kommt, sondern auch sich selbst. Und vielleicht auch einer neuen Liebe …

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Zum Buch

Arthur Pepper. 69 Jahre alt. Seit einem Jahr Witwer. Führt ein geregeltes Leben ohne größere Überraschungen – bis er auf ein Armband seiner verstorbenen Frau stößt, das er noch niemals zuvor gesehen hat. Hatte seine Frau Geheimnisse vor ihm? Einen Liebhaber? Wo kommen die acht Anhänger her? Um das herauszufinden, muss er aus seiner Routine ausbrechen und sich auf die Spuren dieses Armkettchens begeben. Und so kommt es, dass er einen Tiger abwehren muss, mit einem bekannten Autoren spricht, nackt vor einer Kunstklasse posiert – und somit letztendlich nicht nur seiner Frau näherkommt, sondern auch sich selbst. Und vielleicht auch einer neuen Liebe …

Zur Autorin

PHAEDRA PATRICK hat bereits als Glasmalerin, als Kellnerin, als Film-Fest-Organisatorin und als Kommunikationsmanagerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. Phaedra Patrick lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Saddleworth in Großbritannien, wo sie gerne spazieren geht, Schokolade isst, und sich künstlerisch betätigt. Die Idee zu Arthur Pepper kam ihr, als sie ihrem Sohn ihr eigenes Armband aus der Kindheit zeigte und ihm die Geschichten erzählte, die hinter jedem der Anhänger steckten.

Phaedra Patrick

Wie Arthur Pepper sich vor seiner Nachbarin versteckte und am Ende doch sein Herz fand

Roman

Aus dem Englischen vonBeate und Ute Brammertz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Curious Charms of Arthur Pepper« bei Harlequin Mira, HarperCollins Publishers, London.
Copyright © Phaedra Patrick 2016Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: © Shutterstock/Victoria Novak; alphaspirit; DoubleBubble; Olga Korneeva; Andrii MuzykaSatz: Uhl + Massopust, AalenAH · Herstellung: scISBN 978-3-641-17944-1V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für Oliver

1. Die Überraschung im Kleiderschrank

Jeden Tag um Punkt sieben Uhr dreißig stand Arthur auf, genau wie er es getan hatte, als seine Frau Miriam noch am Leben war. Er duschte und zog sich die Kleider an, die er am vergangenen Abend herausgelegt hatte, die graue Hose, das blassblaue Hemd und den senffarbenen Pullunder. Er rasierte sich und ging dann nach unten.

Um acht Uhr bereitete er sein Frühstück zu, gewöhnlich eine Scheibe Toast mit Margarine, und er setzte sich an den Bauerntisch aus Kiefernholz, an dem sechs Leute Platz fanden, jetzt aber nur einer saß. Um halb neun spülte er die Töpfe ab und wischte über die Arbeitsflächen in der Küche, erst mit der Handfläche und dann mit zwei nach Zitrone duftenden Wischtüchern. Jetzt konnte sein Tag beginnen.

An einem anderen sonnigen Maimorgen hätte er sich womöglich gefreut, dass die Sonne bereits schien. Er könnte Zeit im Garten verbringen, Unkraut jäten und die Erde umgraben. Die Sonne würde ihm den Nacken wärmen und die Kopfhaut küssen, bis sie rosa war und kribbelte. Sie würde ihm ins Gedächtnis rufen, dass er hier war und lebte – immer noch durchhielt.

Aber heute, am fünfzehnten des Monats, war es anders. Es war der Jahrestag, vor dem es ihm schon seit Wochen graute. Das Datum auf seinem Kalender Schönes Scarborough fiel ihm jedes Mal ins Auge, wenn er daran vorbeikam. Er starrte es dann einen Moment lang an und versuchte anschließend, sich mit einer kleinen Aufgabe abzulenken. Er goss dann seinen Farn Frederica oder machte das Küchenfenster auf und rief »Zisch ab!«, um die Nachbarskatze davon abzuhalten, seinen Steingarten als Toilette zu missbrauchen.

Es war auf den Tag genau ein Jahr her, dass seine Frau gestorben war.

Hingeschieden war der Ausdruck, den alle gern verwendeten. Es war, als würde man ein Schimpfwort benutzen, wenn man das Wort gestorben in den Mund nahm. Arthur hasste das Wort hingeschieden. Es klang sanft, wie ein Kanalboot, das durch sich kräuselndes Wasser tuckerte, oder eine Seifenblase, die an einem wolkenlosen Himmel schwebte. Doch so war ihr Tod nicht gewesen.

Nach über vierzig Jahren Ehe war da jetzt nur noch er in dem Haus mit den drei Schlafzimmern und der bodengleichen Dusche, die sie sich auf Empfehlung der erwachsenen Tochter Lucy und des Sohns Dan von ihrer Rente geleistet hatten. Die erst vor Kurzem eingebaute Küche war aus echter Buche und hatte einen Herd mit einer Schaltfläche wie das Weltraumzentrum der NASA. Arthur benutzte ihn nie, aus Angst, das Haus könnte wie eine Rakete abheben.

Wie er das Gelächter im Haus vermisste. Er sehnte sich nach Fußgetrampel auf der Treppe und sogar dem Knallen von Türen. Er wollte auf herrenlose Wäschehaufen auf dem Treppenabsatz stoßen und in der Diele über dreckige Gummistiefel stolpern. Gummitiefel nannten die Kinder sie früher. Die Stille, seit nur er hier wohnte, war ohrenbetäubender als jeglicher Familienlärm, über den er früher immer gemurrt hatte.

Arthur war gerade mit dem Putzen der Arbeitsfläche fertig und wollte ins Wohnzimmer gehen, als sich ein lautes Geräusch in seinen Schädel bohrte. Instinktiv drückte er den Rücken an die Wand. Seine Finger spreizten sich an der magnolienfarbenen Raufasertapete. Schweiß kribbelte in seinen Achselhöhlen. Durch die mit Gänseblümchen gemusterte Scheibe der Haustür erblickte er eine gewaltige violette Gestalt. Er war ein Gefangener in seiner eigenen Diele.

Die Türglocke ertönte ein weiteres Mal. Es war erstaunlich, wie sie es schaffte, dass die Klingel bei ihr so laut klang. Wie eine Feuerglocke. Zum Schutz der Ohren fuhren seine Schultern ruckartig hoch, und sein Herz schlug rasend. Nur noch ein paar Sekunden, dann hätte sie bestimmt die Nase voll und würde gehen. Doch da öffnete sich der Briefschlitz.

»Arthur Pepper. Machen Sie auf. Ich weiß, dass Sie da sind.«

Es war diese Woche das dritte Mal, dass seine Nachbarin Bernadette vorbeikam. In den letzten Monaten hatte sie versucht, ihn mit ihren selbst gemachten Fleischpasteten zu mästen. Manchmal gab er klein bei und machte die Tür auf. Meistens nicht.

Letzte Woche hatte er in der Diele eine Blätterteigtasche gefunden, die wie ein verängstigtes Tier aus ihrer Papiertüte lugte. Es hatte ewig gedauert, die Teigstückchen von seinem Fußabtreter aus Sackleinen wegzubekommen.

Er musste die Nerven behalten. Wenn er sich jetzt bewegte, wüsste sie, dass er sich versteckte. Dann würde er sich eine Ausrede einfallen lassen müssen: Er brachte gerade den Müll hinaus oder goss die Geranien im Garten. Doch er fühlte sich zu erschöpft, ihr eine Geschichte aufzutischen, besonders am heutigen Tag.

»Ich weiß, dass Sie da sind, Arthur. Sie müssen das hier nicht allein durchstehen. Sie haben Freunde, denen Sie am Herzen liegen.« Der Briefschlitz klapperte. Eine kleine fliederfarbene Broschüre mit der Aufschrift »Trauerhelfer« segelte zu Boden. Auf der Vorderseite befand sich eine schlecht gezeichnete Lilie.

Obwohl er seit einer Woche mit niemandem gesprochen hatte, obwohl alles, was sich im Kühlschrank befand, ein kleines Stück Cheddar und eine abgelaufene Milchflasche waren, hatte er immer noch seinen Stolz. Er würde nicht zu einem von Bernadettes aussichtslosen Fällen werden.

»Arthur!«

Er kniff die Augen zu und tat so, als wäre er eine Statue im Garten eines herrschaftlichen Landguts. Miriam und er hatten es früher geliebt, vom National Trust verwaltete Anwesen zu besichtigen, aber nur unter der Woche, wenn kein Andrang herrschte. Er wünschte, sie beide wären jetzt dort, ihre Füße würden auf Kieswegen knirschen, sie würden Kohlweißlinge bestaunen, die zwischen den Rosen flatterten, und sich auf ein großes Stück Victoria Sponge in der Teestube freuen.

Bei dem Gedanken an seine Frau bildete sich ein Kloß in seinem Hals, aber Arthur rührte sich nicht. Er wünschte, er könnte tatsächlich aus Stein sein, damit er keinen Schmerz mehr empfände.

Endlich schlug der Briefschlitz zu. Der violettfarbene Schatten entfernte sich. Arthur entspannte zuerst die Finger, dann die Ellbogen. Er ließ die Schultern kreisen, um die Anspannung abzuschütteln.

Nicht völlig davon überzeugt, dass Bernadette nicht am Gartentor herumlungerte, öffnete er die Haustür ein paar Zentimeter. Er drückte das Auge an den Spalt und spähte nach draußen. Im Garten gegenüber schleppte Terry, der seine Dreadlocks mit einem roten Halstuch zusammengebunden hatte und ständig den Rasen mähte, den Rasenmäher aus dem Schuppen. Die beiden rothaarigen Kinder von nebenan rannten barfuß die Straße auf und ab. Tauben hatten die Windschutzscheibe seines ungenutzten Micra gesprenkelt. Allmählich fühlte sich Arthur ruhiger. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Routine war gut.

Er las die Broschüre und legte sie dann sorgfältig zu den anderen, die Bernadette bei ihm eingeworfen hatte – »Wahre Freunde«, »Thornapple Bürgerversammlung«, »Höhlenmänner« und »Diesel-Gala bei der North Yorkshire Moors Eisenbahn« – und zwang sich dann, sich eine Tasse Tee zu machen.

Bernadette hatte seinen Morgen gestört, ihn aus der Fassung gebracht. Vor Aufregung ließ er den Teebeutel nicht lange genug in der Kanne ziehen. Als er an der Milch aus dem Kühlschrank schnupperte, ließ der Geruch ihn zusammenzucken, und er schüttete sie in die Spüle. Den Tee würde er schwarz trinken müssen. Er schmeckte wie Eisenspäne. Arthur stieß einen tiefen Seufzer aus.

Heute würde er nicht den Küchenboden wischen oder den Teppich auf der Treppe so fest saugen, dass die abgenutzten Stellen noch lichter wurden. Er würde nicht die Hähne im Badezimmer polieren und die Handtücher zu ordentlichen Quadraten falten.

Er streckte die Hand aus und berührte die dicke schwarze Rolle aus Müllbeuteln, die er auf den Küchentisch gelegt hatte, und hob sie widerstrebend hoch. Die Beutel waren schwer. Gut geeignet für seine Aufgabe.

Um sich die Sache zu erleichtern, las er sich die Broschüre des wohltätigen Katzenvereins noch einmal durch: »Katzenretter. Sämtliche Spendenartikel werden verkauft, um Geld für misshandelte Katzen und Kätzchen aufzubringen.«

Er selbst war kein Katzenliebhaber, zumal sie seinen Steingarten dezimiert hatten, doch Miriam mochte sie, selbst wenn die Tiere sie zum Niesen brachten. Sie hatte die Broschüre unter dem Telefon aufgehoben, und Arthur nahm das zum Zeichen, dass dies die Wohltätigkeitsorganisation war, der er ihre Habseligkeiten spenden sollte.

Er zögerte die vor ihm liegende Aufgabe absichtlich hinaus, indem er die Treppe langsam hochstieg und auf dem ersten Treppenabsatz eine Pause einlegte. In ihrem Kleiderschrank auszusortieren, fühlte sich an, als nähme er von Neuem von ihr Abschied. Er war dabei, sie aus seinem Leben zu räumen.

Mit einer Träne im Auge sah er aus dem Fenster in den Garten hinter dem Haus. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er gerade noch die Spitze des York Minster sehen, dessen steinerne Finger den Himmel zu stützen schienen. Das Dorf Thornapple, in dem er lebte, schloss gleich an den Stadtrand an. Die Kirschblüten fielen bereits von den Bäumen und wirbelten wie rosafarbenes Konfetti herum. Der Garten war an drei Seiten von einem hohen Holzzaun umschlossen, der für Privatsphäre sorgte. Zu hoch, als dass Nachbarn für einen Plausch hinüberschauen konnten. Miriam und er blieben gern unter sich. Sie machten alles gemeinsam und so mochten sie es, herzlichen Dank auch.

Es gab vier Hochbeete, die er aus Eisenbahnschwellen gefertigt hatte und in denen Rote Beete, Karotten, Zwiebeln und Kartoffeln wuchsen. Dieses Jahr würde er es vielleicht sogar mit Kürbissen versuchen. Miriam hatte früher immer einen prächtigen Hühnchen-Gemüse-Eintopf aus den Erträgen gekocht, und selbst gemachte Suppen. Doch er war kein Koch. Die schönen roten Zwiebeln, die er letzten Sommer geerntet hatte, waren so lang auf der Küchenarbeitsfläche geblieben, bis ihre Haut genauso runzelig wie seine eigene war, und er hatte sie in die Biotonne geworfen.

Endlich stieg er den Rest der Treppe hoch und kam keuchend vor dem Badezimmer an. Früher hatte er problemlos von oben nach unten sausen können, wenn er hinter Lucy und Dan hergelaufen war. Doch jetzt wurde alles immer langsamer. Seine Knie knirschten, und er war sich sicher, dass er schrumpfte. Seine einstmals schwarzen Haare waren nun taubenweiß (wenn auch immer noch so dicht, dass es schwierig war, sie am Abstehen zu hindern), und seine runde Nasenspitze schien von Tag zu Tag röter zu werden. Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern, wann er aufgehört hatte, jung zu sein, und ein alter Mann geworden war.

Er dachte an die Worte seiner Tochter Lucy, als sie vor ein paar Wochen das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. »Du könntest eine Entrümpelung vertragen, Dad. Du wirst dich besser fühlen, wenn Mums Zeug weg ist. Du kannst drüber wegkommen.« Gelegentlich rief Dan aus Australien an, wo er jetzt mit seiner Frau und den zwei Kindern lebte. Er war weniger taktvoll. »Schmeiß einfach alles weg. Verwandele das Haus nicht in ein Museum.«

Drüber wegkommen? Und wohin dann, verdammt noch mal? Er war neunundsechzig, kein Teenager, der an die Universität gehen oder ein Jahr im Ausland verbringen konnte. Drüber wegkommen. Mit einem Seufzen schlurfte er ins Schlafzimmer.

Langsam zog er die Spiegeltüren des Kleiderschranks auf.

Braun, schwarz und grau. Vor ihm offenbarte sich eine Reihe aus Kleidungsstücken in Erdfarben. Komisch, er erinnerte sich nicht, dass sich Miriam so langweilig gekleidet hatte. Unvermittelt schoss ihm ein Bild von ihr durch den Kopf. Sie war jung und wirbelte Dan an einem Arm und einem Bein herum – ein Flugzeug. Sie trug ein blaues gepunktetes Sommerkleid und ein weißes Tuch. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und lachte, ihr Lachen lud ihn dazu ein, mit einzustimmen. Doch das Bild verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Seine letzten Erinnerungen an sie waren von der gleichen Farbe wie die Kleidungsstücke im Schrank. Grau. Sie hatte aluminiumfarbene Haare, geformt wie eine Bademütze. Sie war verwelkt wie die Zwiebeln.

Ein paar Wochen lang war sie krank gewesen. Zuerst eine Bronchitis, ein alljährliches Leiden, aufgrund dessen sie zwei Wochen im Bett liegen und Antibiotika nehmen musste. Doch diesmal wurde aus der Bronchitis eine Lungenentzündung. Der Arzt verschrieb mehr Bettruhe, und seine Frau, die noch nie viel Aufhebens gemacht hatte, hatte sich gefügt.

Arthur hatte sie im Bett vorgefunden, mit starrem Blick, leblos. Zuerst hatte er gedacht, sie beobachte die Vögel in den Bäumen, doch als er ihren Arm geschüttelt hatte, wachte sie nicht auf.

Ihr halber Kleiderschrank war mit Strickjacken gefüllt. Sie hingen formlos da, mit schlaff herabbaumelnden Ärmeln, als wären sie von Gorillas getragen und dann wieder zurückgehängt worden. Dann waren da Miriams Röcke: marineblau, grau, beige, halblang. Er konnte ihr Parfüm riechen, etwas mit Rosen und Maiglöckchen, und das weckte das Verlangen in ihm, die Nase an ihren Nacken zu schmiegen, bitte nur noch ein einziges Mal, lieber Gott. Oft wünschte er sich, das alles wäre ein schlechter Traum, und sie würde unten sitzen und das Kreuzworträtsel in der Woman’s Weekly lösen oder einen Brief an Freunde schreiben, die sie im Urlaub kennengelernt hatten.

Er gestattete sich, aufs Bett zu sinken und ein paar Minuten lang in Selbstmitleid zu zerfließen. Dann entrollte er rasch zwei Tüten und schüttelte sie auf. Er musste das hier tun. Es gab eine Tüte für den Katzenverein und eine für Zeug, das weggeworfen werden musste. Er nahm ganze Ladungen Kleidungsstücke aus dem Schrank und stopfte sie in die Kleiderspendentüte. Miriams Hausschuhe – abgetragen und mit einem Loch an der Spitze – landeten in der Mülltüte. Er arbeitete schnell und schweigend, machte keine Pausen, damit ihm keine Gefühle in die Quere kommen konnten. Als die Hälfte der Arbeit bewältigt war, wanderte ein Paar graue Hush-Puppies-Schnürschuhe in die Kleiderspendentüte, gefolgt von einem beinahe identischen Paar von Clarks. Er zog eine gewaltige Schuhschachtel hervor und holte ein Paar praktische braune Wildlederstiefel mit Pelzfutter heraus.

Als er sich an eine von Bernadettes Geschichten über ein Paar Stiefel erinnerte, das sie auf dem Flohmarkt gekauft und in dem sie einen Lottoschein (eine Niete) gefunden hatte, ließ er automatisch die Hand in einen Stiefel (leer) gleiten und dann in den anderen. Zu seiner Überraschung stieß er mit den Fingerspitzen an etwas Hartes. Seltsam. Er schob die Finger um das Ding und zog es heraus.

Eine herzförmige Schatulle lag in seiner Hand. Sie war mit scharlachrotem Kunstleder überzogen und mit einem winzigen goldenen Vorhängeschloss gesichert. Etwas an der Farbe machte ihn nervös. Sie sah teuer aus, leichtsinnig. Vielleicht ein Geschenk von Lucy? Nein, daran würde er sich doch gewiss erinnern. Und er selbst hätte seiner Frau so etwas niemals gekauft. Sie mochte einfache oder nützliche Dinge, wie schlichte runde, silberne Ohrstecker oder hübsche Topfhandschuhe. Ihre ganze Ehe hindurch hatten sie Geldprobleme gehabt, hatten geknausert und Geld für schlechte Zeiten auf die Seite gelegt. Als sie schließlich ein Vermögen für die Küche und das Badezimmer hinausgeworfen hatten, hatte sie sich nur kurze Zeit daran erfreuen können. Nein, sie hätte sich diese Schatulle nicht gekauft.

Er musterte das Schlüsselloch in dem winzigen Vorhängeschloss. Dann kramte er am Boden des Kleiderschranks herum, wobei er Miriams restliche Schuhe verschob und die Paare durcheinanderbrachte. Doch den Schlüssel fand er nicht. Er griff nach einer Nagelschere und stocherte damit in dem Schlüsselloch herum, aber das Schloss widersetzte sich ihm trotzig. Neugier regte sich in ihm. Da er sich nicht geschlagen geben wollte, ging er wieder nach unten. Beinahe fünfzig Jahre war er Schlosser gewesen, und da schaffte er es verdammt noch mal nicht, eine herzförmige Schatulle aufzubekommen. Aus der untersten Schublade in der Küche holte er die Zweiliter-Plastik-Eiscremepackung, die ihm als Werkzeugkasten diente. Seine Trickkiste.

Wieder oben setzte er sich aufs Bett und zog einen Ring voller Dietriche hervor. Er führte den kleinsten in das Schlüsselloch ein und wackelte daran. Diesmal ertönte ein Klicken, und die Schatulle öffnete sich ein paar verlockende Millimeter weit, wie ein Mund, der einem gleich ein Geheimnis zuflüstern würde. Er entfernte das Vorhängeschloss und schob den Deckel auf.

Die Schatulle war mit schwarzem Knautschsamt ausgeschlagen, der eine Aura von Dekadenz und Reichtum verströmte. Doch es war das darin liegende Bettelarmband, das ihm den Atem stocken ließ. Es war aufwändig und golden mit dicken runden Gliedern und einem herzförmigen Verschluss. Schon wieder ein Herz.

Noch eigenartiger waren die vielen Anhänger, die von dem Armband wegstanden wie Sonnenstrahlen in einer Kinderbuchillustration. Insgesamt waren es acht: ein Elefant, eine Blume, ein Buch, eine Farbpalette, ein Tiger, ein Fingerhut, ein Herz und ein Ring.

Er holte das Armband aus der Schatulle. Es war schwer und klirrte, als er es in der Hand bewegte. Es sah antik aus, oder zumindest alt, und war kunstvoll gefertigt. Die Einzelheiten an jedem Anhänger waren deutlich erkennbar. Doch sosehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht erinnern, es an Miriam gesehen oder die einzelnen Anhänger von ihr gezeigt bekommen zu haben. Vielleicht hatte sie es als Geschenk für jemanden gekauft. Doch für wen? Es sah teuer aus. Wenn Lucy Schmuck trug, handelte es sich um neumodischen Kram mit Kringeln aus Silberdraht und kleinen Glas- und Perlmuttteilen.

Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, seine Kinder anzurufen, um herauszufinden, ob sie etwas über ein Bettelarmband wussten, das ihre Mutter im Kleiderschrank versteckt hatte. Es schien ein triftiger Grund, um Kontakt aufzunehmen. Doch dann überlegte er es sich anders, da sie zu beschäftigt sein würden. Es war eine Weile her, seitdem er Lucy unter dem Vorwand angerufen hatte, sich erkundigen zu wollen, wie der Herd funktionierte. Was Dan betraf, war es zwei Monate her, seitdem sich sein Sohn das letzte Mal gemeldet hatte. Er fasste es nicht, dass Dan jetzt vierzig war und Lucy sechsunddreißig. Wo war die Zeit geblieben?

Sie hatten jetzt ihr eigenes Leben. Während Miriam früher einmal ihre Sonne gewesen war und er ihr Mond, waren Dan und Lucy jetzt entfernte Sterne in ihren eigenen Galaxien.

Von Dan stammte das Armband sowieso nicht. Definitiv nicht. Jedes Jahr vor Miriams Geburtstag rief Arthur bei seinem Sohn an, um ihn an das Datum zu erinnern. Dan bestand dann darauf, es nicht vergessen zu haben, dass er gerade an dem Tag zum Briefkasten gehen und eine Kleinigkeit losschicken wollte. Und gewöhnlich war es auch eine Kleinigkeit: ein Kühlschrankmagnet in Form des Opernhauses von Sydney, ein Foto der Enkelkinder Kyle und Marina in einem Papprahmen, ein kleiner Koalabär mit Klammerarmen, den Miriam am Vorhang in Dans altem Zimmer befestigte.

Falls Miriam über die Geschenke ihres Sohns enttäuscht gewesen war, hatte sie es sich nie anmerken lassen. »Wie reizend!«, rief sie immer, als handelte es sich um das beste Geschenk, das sie je bekommen hatte. Arthur wünschte, sie könnte aufrichtig sein, nur einmal, und sagen, dass sich ihr Sohn mehr Mühe geben sollte. Andererseits hatte er schon als Junge kein Bewusstsein für andere Menschen und deren Gefühle gehabt. Richtig glücklich war er nur, wenn er Automotoren auseinandernahm und ölverschmiert war. Arthur war stolz darauf, dass seinem Sohn in Sydney drei Autowerkstätten gehörten, aber er wünschte, Dan würde Menschen so viel Aufmerksamkeit schenken wie seinen Vergasern.

Lucy war aufmerksamer. Sie verschickte Dankeskarten und vergaß niemals einen Geburtstag. Sie war ein derart stilles Kind gewesen, dass Arthur und Miriam sich schon gefragt hatten, ob sie Sprachprobleme hatte. Aber nein, eine Ärztin erklärte, sie sei lediglich sensibel. Sie empfand Dinge tiefer als andere Menschen. Sie dachte viel nach und ergründete ihre Gefühlswelt. Arthur redete sich ein, dies sei der Grund, warum sie nicht auf die Beerdigung ihrer eigenen Mutter gekommen war. Dans Entschuldigung lautete, dass er Tausende Meilen weit weg war. Doch obwohl Arthur für sie beide Ausreden fand, schmerzte es ihn mehr, als seine Kinder es sich je vorstellen konnten, dass sie nicht da gewesen waren, um sich richtig von Miriam zu verabschieden. Und wenn er nun ab und an mit ihnen telefonierte, fühlte es sich an, als befände sich ein Damm zwischen ihnen. Er hatte nicht nur seine Frau verloren, sondern stand auch im Begriff, seine Kinder zu verlieren.

Er quetschte die Finger eng zusammen, aber das Armband ließ sich nicht über seine Fingerknöchel schieben. Der Elefant gefiel ihm am besten. Er hatte einen aufgerichteten Rüssel und kleine Ohren. Ein indischer Elefant. Er lächelte bitter angesichts der Exotik. Miriam und er hatten zwar darüber gesprochen, im Ausland Urlaub zu machen, sich dann aber doch immer für Bridlington entschieden, im selben Bed and Breakfast an der Strandpromenade. Wenn sie je ein Souvenir kauften, handelte es sich um eine Packung Abreißpostkarten oder ein neues Geschirrtuch, keinen Goldanhänger.

Auf dem Rücken des Elefanten befand sich ein überdachter Sattel und darin war ein dunkelgrüner schillernder Stein eingebettet. Er bewegte sich, als Arthur daran herumfummelte. Ein Smaragd? Nein, natürlich nicht, bloß Glas oder ein falscher Edelstein. Er ließ den Finger über den Rüssel gleiten, betastete dann das runde Hinterteil des Elefanten, bevor er sich seinem winzigen Schwanz widmete. An manchen Stellen war das Metall glatt, an anderen fühlte es sich uneben an. Je genauer er jedoch hinsah, desto verschwommener wurde der Anhänger. Er brauchte eine Lesebrille, konnte die Dinger aber nie finden. Fünf Stück musste er an sicheren Orten im ganzen Haus deponiert haben. Er griff nach seiner Trickkiste und holte seine Uhrmacherlupe hervor: etwa einmal im Jahr erwies sie sich als nützlich. Nachdem er sie sich in die Augenhöhle gedrückt hatte, betrachtete er den Elefanten. Während er den Kopf näher heranbrachte, dann wieder weiter weg, um scharf sehen zu können, erkannte er, dass es sich bei den Unebenheiten tatsächlich um eingravierte Buchstaben und Zahlen handelte. Er las sie und las sie noch einmal.

Ayah. 0091 832 221 897

Sein Herz schlug schneller. Ayah. Was konnte das bedeuten? Und auch die Zahlen. Handelte es sich um einen Verweis auf einer Landkarte, einen Code? Er holte einen kleinen Bleistift und einen Block aus seiner Kiste und notierte die Zahlen. Seine Lupe fiel aufs Bett. Erst gestern Abend hatte er eine Quizshow im Fernsehen gesehen. Der Moderator mit den wilden Haaren hatte nach der Vorwahl für Anrufe von Großbritannien nach Indien gefragt – 0091 lautete die Antwort.

Arthur schloss den Deckel der Eisverpackung und trug das Armband mit den Anhängern nach unten. Dort schlug er in seinem Oxforder Taschenwörterbuch nach. Die Definition des Wortes »ayah« ergab keinen Sinn – eine Amme oder ein Kindermädchen in Ostasien oder Indien.

Gewöhnlich rief er niemanden aus einer plötzlichen Laune heraus an. Er zog es vor, das Telefon überhaupt nicht zu benutzen. Anrufe bei Dan und Lucy brachten nur Enttäuschung. Nichtsdestotrotz griff er nach dem Hörer.

Er setzte sich auf seinen angestammten Küchenstuhl und wählte sorgfältig die Nummer, bloß um es einmal auszuprobieren. Das hier war einfach nur töricht, aber etwas an dem eigenartigen kleinen Elefanten weckte in ihm den Wunsch, mehr zu erfahren.

Es dauerte lange, bis der Wählton erklang, und noch länger, bis sich jemand meldete.

»Bei Mehra. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die höfliche Dame hatte einen indischen Akzent. Sie klang sehr jung. Arthurs Stimme zitterte beim Sprechen. War das hier nicht absurd? »Ich rufe wegen meiner Frau an«, sagte er. »Sie hieß Miriam Pepper, na ja, vor unserer Heirat hieß sie Miriam Kempster. Ich habe einen Elefantenanhänger mit dieser Nummer darauf gefunden. Er war in ihrem Kleiderschrank. Ich war am Entrümpeln …« Seine Stimme verlor sich und er fragte sich, was in aller Welt er da tat.

Die Dame schwieg einen Moment. Er war sich sicher, sie würde gleich auflegen oder ihn zurechtweisen, weil er einen Scherzanruf machte. Doch dann sagte sie: »Ja. Ich habe Geschichten über Miss Miriam Kempster gehört. Ich werde eben Mr Mehra an den Apparat holen, Sir. Er wird Ihnen sicher weiterhelfen können.«

Arthur stand der Mund offen.

2. Der Elefant

Arthur hielt den Hörer fest umklammert. Eine Stimme in seinem Kopf ermahnte ihn aufzulegen, die Sache zu vergessen. Zum einen waren da die Kosten. Er telefonierte gerade nach Indien. Das konnte nicht billig sein. Miriam war immer so umsichtig gewesen, was die Telefonrechnung betraf, insbesondere da die Telefonate mit Dan in Australien teuer waren.

Und dann war da das nagende Gefühl, dass er seiner Frau hinterherspionierte. Vertrauen hatte immer einen hohen Stellenwert in ihrer Ehe gehabt. Wenn er durchs Land reiste, um Schlösser und Safes zu verkaufen, hatte sich Miriam gelegentlich gesorgt, er könnte bei einer Übernachtung den Reizen einer attraktiven Gastwirtin erliegen. Er hatte ihr versichert, dass er niemals etwas täte, das seine Ehe oder sein Familienleben aufs Spiel setzen würde. Abgesehen davon war er nicht der Typ Mann, den Frauen attraktiv fanden. Eine ehemalige Freundin hatte ihn mit einem Maulwurf verglichen. Sie sagte, er sei ängstlich und ein bisschen zappelig. Doch zu seiner Überraschung waren ihm ein paarmal eindeutige Avancen gemacht worden. Auch wenn es wahrscheinlich eher an der Einsamkeit oder dem Opportunismus der Damen (und einmal eines Mannes) gelegen hatte als an seiner eigenen Anziehungskraft.

Manchmal waren seine Arbeitstage lang gewesen. Er musste viel reisen. Am meisten Vergnügen bereitete es ihm, neue Einsteckschlösser vorzuführen und seinen Kunden die Sperren, Riegel und Stifte zu erklären. Etwas an Schlössern übte eine Faszination auf ihn aus. Sie waren stabil und verlässlich. Sie schützten einen und sorgten für Sicherheit. Er liebte es, dass sein Auto immer nach Öl roch, und er genoss die Unterhaltungen mit seinen Kunden in ihren Geschäften. Doch dann kamen das Internet und Onlinebestellungen. Schlossereibetriebe brauchten keine Handelsvertreter mehr. Die Läden, die nicht zumachten, bestellten ihren Warenbestand lieber per Computer, und Arthur war seitdem an den Schreibtisch gefesselt. Anstatt persönlich mit seinen Kunden zu sprechen, benutzte er das Telefon. Er hatte das Telefon noch nie gemocht. Man konnte die Leute nicht lächeln sehen oder in ihren Augen lesen, wenn sie Fragen stellten.

Es war auch schwer, nicht bei den Kindern zu sein, und manchmal erst nach Hause zu kommen, wenn sie schon im Bett lagen. Lucy hatte Verständnis und freute sich immer sehr, ihn am nächsten Morgen zu sehen. Sie schlang ihm dann die Arme um den Hals und sagte ihm, sie habe ihn vermisst. Dan war schwieriger. An den seltenen Tagen, wenn Arthur früher aus der Arbeit kam, schien er es ihm übelzunehmen. »Ich bin lieber mit Mum zusammen«, sagte er einmal. Miriam riet Arthur, er solle es sich nicht zu Herzen nehmen. Manche Kinder standen einem Elternteil näher als dem anderen. Das verhinderte aber nicht, dass Arthur ein schlechtes Gewissen hatte, weil er so schwer arbeitete, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten.

Miriam hatte geschworen, ihm immer treu zu sein, ganz egal, wie viel er arbeitete, und er war überzeugt, dass sie es auch gewesen war. Sie hatte ihm nie Anlass gegeben, an ihr zu zweifeln. Er hatte sie nie mit anderen Männern flirten gesehen oder war auf einen Beweis gestoßen, dass sie je auf Abwege geraten sein könnte. Nicht dass er danach gesucht hätte. Doch manchmal, wenn er von einer Geschäftsreise nach Hause gekommen war, fragte er sich, ob sie Gesellschaft gehabt hatte. Es musste schwer gewesen sein, die Zeit allein mit den beiden Kindern. Nicht dass sie sich je beklagt hätte. Sie war immer eine Kämpfernatur gewesen, seine Miriam.

Bei dem Gedanken an seine Familie musste er schlucken. In seinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, und er begann, das Ohr vom Hörer wegzubewegen. Seine Hand zitterte. Am besten würde er die Sache auf sich beruhen lassen. Auflegen. Doch da vernahm er eine blecherne Stimme, die nach ihm rief. »Hallo! Mr Mehra am Apparat. Wie ich höre, rufen Sie wegen Miriam Kempster an, ja?«

Arthur schluckte. Sein Mund war ausgetrocknet. »Ja, das ist richtig. Ich heiße Arthur Pepper. Miriam ist meine Frau.« Es fühlte sich falsch an, Miriam war meine Frau zu sagen. Denn obwohl sie nicht mehr hier war, waren sie doch wohl immer noch verheiratet?

Er erklärte, dass er ein Bettelarmband und den Elefantenanhänger mit der eingravierten Nummer gefunden habe. Er habe nicht damit gerechnet, dass jemand an den Apparat ginge. Dann erzählte er Mr Mehra, dass seine Frau jetzt tot sei.

Mr Mehra verfiel in Schweigen. Es dauerte über eine Minute, bis er wieder etwas sagte. »O nein. Das tut mir so leid. Sie hat sich so gut um mich gekümmert, als ich ein Junge war. Aber das ist jetzt viele Jahre her. Ich wohne immer noch im selben Haus! In unserer Familie ändert sich nicht viel. Wir haben dieselbe Telefonnummer. Ich bin Arzt und vor mir waren mein Vater und mein Großvater Ärzte. Ich habe Miriams Güte nie vergessen. Ich hatte gehofft, sie vielleicht eines Tages wiederzufinden. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen.«

»Sie hat sich um Sie gekümmert?«

»Ja. Sie war meine ayah. Sie hat sich um mich und meine kleinen Schwestern gekümmert.«

»Ihr Kindermädchen? Hier in England?«

»Nein, Sir. In Indien. Ich lebe in Goa.«

Die Worte verschlugen Arthur die Sprache. Seine Gedanken waren wie gelähmt. Davon wusste er nichts. Miriam hatte nie erwähnt, in Indien gelebt zu haben. Wie war das möglich? Er starrte ein grünes Blatt an, das als Potpourrischmuck aufgefädelt an einer Schnur im Flur hing.

»Darf ich Ihnen ein wenig von ihr erzählen, Sir?«

»Ja. Ich bitte darum«, murmelte er. Alles, um gewisse Lücken zu füllen, die ihm verrieten, dass es sich bei der Frau, von der sie sprachen, um eine andere Miriam Kempster handelte.

Mr Mehras Stimme war beruhigend und Respekt einflößend. Arthur verlor keinen Gedanken an seine Telefonrechnung. Mehr als alles andere auf der Welt wollte er mit jemandem sprechen, der Miriam vielleicht gekannt und geliebt hatte, selbst wenn es sich bei diesem Mann um einen Fremden handelte. Nicht über sie zu reden, weckte manchmal das Gefühl, als verblasse die Erinnerung an sie.

»Wir hatten viele ayahs, bevor Miriam zu uns kam. Ich war ein ungezogener Bengel. Ich spielte ihnen Streiche. Ich steckte ihnen Molche in die Schuhe und streute Chiliflocken in die Suppe. Lange hielten sie es nicht aus. Aber Miriam war anders. Sie aß das scharfe Essen, ohne einen Ton zu sagen. Sie holte die Molche aus den Schuhen und brachte sie in den Garten zurück. Ich musterte ihr Gesicht, aber sie war eine gute Schauspielerin. Sie ließ sich nie etwas anmerken, und ich wusste nicht, ob sie böse auf mich war oder sich amüsierte. Nach und nach gab ich auf, sie zu ärgern. Es war sinnlos. Sie kannte all meine Tricks! Ich weiß noch, dass sie einen Beutel mit wunderbaren Murmeln hatte. Sie glänzten wie der Mond und eine leuchtete wie ein echtes Tigerauge. Es machte ihr nichts aus, im Staub zu knien.« Er stieß ein kehliges Lachen aus. »Ich war ein bisschen in sie verliebt.«

»Wie lang blieb sie bei Ihrer Familie?«

»Ein paar Monate, in Indien. Es hat mir das Herz gebrochen, als sie ging. Es war ganz und gar meine Schuld. Das ist etwas, das ich noch nie jemandem gebeichtet habe. Aber Sie, Mr Pepper, haben es verdient, die Wahrheit zu kennen. Es ist eine Schmach, die ich all die Jahre mit mir herumgetragen habe.«

Arthur verlagerte nervös das Gewicht auf seinem Stuhl.

»Darf ich es Ihnen erzählen? Es würde mir sehr viel bedeuten. Es ist wie ein Geheimnis, das ein Loch in meinen Bauch brennt.« Mr Mehra wartete keine Antwort ab, sondern fuhr mit seiner Geschichte fort. »Ich war erst elf, aber ich habe Miriam geliebt. Es war das erste Mal, dass mir ein Mädchen auffiel. Sie war so hübsch und immer fein angezogen. Ihr Lachen, tja, es klang wie winzige Glöckchen. Morgens beim Aufwachen war sie das Erste, woran ich dachte, und beim Zubettgehen freute ich mich auf den nächsten Tag. Jetzt weiß ich, dass es keine echte Liebe war, nicht wie bei meiner Begegnung mit meiner Frau Priya, aber für einen kleinen Jungen war es sehr real. Sie war ganz anders als die Mädchen, mit denen ich zur Schule ging. Sie war exotisch, mit ihrer alabasterfarbenen Haut und ihren Haaren, die die Farbe von Walnüssen hatten. Ihre Augen waren wie Aquamarine. Wahrscheinlich hing ich ihr ein bisschen zu viel am Rockzipfel, aber sie gab mir nie das Gefühl, töricht zu sein. Meine Mutter war gestorben, als ich noch sehr klein war, und ich bat Miriam ständig, mit mir in ihrem Zimmer zu sitzen. Wir gingen dann gemeinsam den Schmuckkasten meiner Mutter durch. Sie liebte den Elefantenanhänger. Wir guckten durch den Smaragd und sahen die Welt in Grün.«

Es ist also ein echter Smaragd, dachte Arthur.

»Doch dann fing Miriam an, zweimal die Woche auszugehen. Wir verbrachten ein bisschen weniger Zeit miteinander. Ich war alt genug, um keine ayah mehr zu brauchen, aber meine beiden Schwestern schon. Sie war für sie da und kaum mehr für mich. Eines Tages folgte ich ihr, und sie traf sich mit einem Mann. Er war ein Lehrer an meiner Schule. Ein Engländer. Er kam zu uns nach Hause, und er und Miriam tranken Tee. Ich sah, dass er sie mochte. Er pflückte eine Hibiskusblüte im Garten und schenkte sie ihr.

Mr Pepper. Ich war ein kleiner Junge. Ich war am Heranwachsen, und Hormone rauschten durch meinen Körper. Ich war sehr wütend. Ich erzählte meinem Vater, ich hätte gesehen, wie sich Miriam und der Mann küssten. Mein Vater war ein sehr altmodischer Mann und er hatte schon einmal eine ayah unter ähnlichen Umständen verloren. Also ging er auf der Stelle zu Miriam und kündigte ihr. Sie war so überrascht, aber sie benahm sich würdevoll und packte ihren Koffer.

Ich war am Boden zerstört. Das hatte ich nicht gewollt. Ich nahm den Elefanten aus der Schmuckschatulle und rannte ins Dorf, um ihn gravieren zu lassen. Ich schob ihn in die Vordertasche ihres Koffers, als er unbeaufsichtigt an der Tür stand. Ich war ein zu großer Feigling, um mich zu verabschieden, doch sie fand mich in meinem Versteck und gab mir einen Kuss. ›Auf Wiedersehen, mein lieber Rajesh‹, sagte sie. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.

Von dem Tag an, Mr Pepper, habe ich versucht, nie wieder zu lügen, das schwöre ich. Ich sage immer die Wahrheit. Ich kann nicht anders. Ich habe gebetet, sie könne mir verzeihen. Hat sie Ihnen das gesagt?«

Arthur wusste nichts über diesen Teil von Miriams Leben. Doch er wusste, dass es sich um dieselbe Frau handelte, die sie beide geliebt hatten. Miriams Lachen klang tatsächlich wie winzige Glöckchen. Sie hatte einen Beutel mit Murmeln, den sie Dan geschenkt hatte. Arthur war zwar immer noch benommen vor Verblüffung, aber er konnte die Sehnsucht in Mr Mehras Stimme hören. Er räusperte sich. »Ja, sie hat Ihnen vor langer Zeit verziehen. Sie hat nur Gutes von Ihnen erzählt.«

Mr Mehra lachte laut auf. »Ha ha! Mr Pepper! Sie haben ja keine Vorstellung, wie glücklich mich Ihre Worte machen. Jahrelang hat sich die Sache wie eine riesige Bürde angefühlt. Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, bei mir anzurufen. Es tut mir leid zu hören, dass Sie Miriam verloren haben.«

Arthur verspürte ein warmes Gefühl in der Magengegend. Es war etwas, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte. Er fühlte sich nützlich.

»Sie waren ein Glückspilz, so lange verheiratet gewesen zu sein, ja? Eine Frau wie Miriam zu haben. Hat sie ein glückliches Leben geführt, Sir?«

»Ja. Ja, ich glaube schon. Es war ein ruhiges Leben. Wir haben zwei wunderbare Kinder.«

»Dann müssen Sie versuchen, glücklich zu sein. Würde sie wollen, dass Sie traurig sind?«

»Nein. Aber es ist schwer, es nicht zu sein.«

»Ich weiß. Aber es gibt viel an ihr, das gefeiert werden sollte.«

»Ja.«

Beide Männer schwiegen.

Arthur drehte das Armband in der Hand. Jetzt wusste er, was der Elefant bedeutete. Aber was war mit den anderen Anhängern? Wenn er nichts von Miriams Leben in Indien wusste, welche Geschichten bargen dann die anderen Anhänger? Er fragte Mr Mehra, ob er etwas über das Armband wisse.

»Ich habe ihr nur den Elefanten gegeben. Einmal hat sie mir geschrieben, ein paar Monate nach ihrer Abreise, um sich zu bedanken. Ich bin ein sentimentaler Tor und habe den Brief immer noch. Ich habe mir immer eingeredet, ich würde mich melden, aber ich habe mich zu sehr wegen meiner Lüge geschämt. Ich kann nachsehen, welche Adresse auf dem Brief steht, wenn Sie möchten?«

Arthur schluckte. »Das wäre äußerst liebenswürdig.«

Er wartete fünf Minuten, bis Mr Mehra wieder an den Apparat zurückkehrte. Er streckte die Hand aus, um das Potpourriblatt daran zu hindern, sich zu drehen. Dann blätterte er durch die Broschüren, die Bernadette durch den Türschlitz geworfen hatte.

»Ah ja, hier ist es – Graystock Manor in Bath, England, 1963. Ich hoffe, das hilft bei Ihrer Suche. In ihrem Brief schreibt sie, dass sie dort bei Freunden wohne. Da steht etwas von Tigern auf dem Anwesen.«

»An dem Armband hängt ein Tiger«, sagte Arthur.

»Aha. Dann könnte das Ihre nächste Anlaufstelle sein. Sie werden die Geschichten der Anhänger eine nach der anderen herausfinden, ja?«

»Oh, das hier ist keine Suche«, setzte Arthur an. »Ich war nur neugierig …«

»Tja, sollten Sie jemals in Indien sein, Mr Pepper, müssen Sie mich besuchen kommen. Ich werde Ihnen die Orte zeigen, die Miriam früher geliebt hat. Und ihr altes Zimmer. Es hat sich im Laufe der Jahre nicht groß verändert. Möchten Sie es sich ansehen?«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich noch nie aus Großbritannien hinausgekommen bin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in Bälde nach Indien reisen werde.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal, Mr Pepper. Denken Sie an mein Angebot, Sir.«

Arthur verabschiedete sich und bedankte sich für die Einladung. Nach dem Auflegen schwirrten ihm unaufhörlich Mr Mehras Worte im Kopf herum … nächste Anlaufstelle … die Geschichten der Anhänger eine nach der anderen herausfinden …

Er geriet ins Grübeln.

3. Gesprengte Ketten

Es war immer noch dunkel, als Arthur am nächsten Morgen erwachte. Die Ziffern seines Weckers klappten auf 5 Uhr 32 um. Er lag noch eine Weile da und starrte an die Decke. Draußen fuhr ein Auto vorbei, und er beobachtete die Lichtkegel der Scheinwerfer, die über die Decke huschten wie die Strahlen eines Leuchtturms über das Wasser. Er ließ die Finger über die Matratze kriechen, streckte die Hand nach Miriam aus, auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass sie nicht da war, und bekam nur das kühle Baumwolllaken zu spüren.

Jeden Abend beim Zubettgehen kam ihm in den Sinn, wie kalt es ohne sie war. Mit ihr neben ihm hatte er die Nacht immer durchgeschlafen, war sanft eingeschlummert, um dann zum Klang von Drosselgezwitscher draußen aufzuwachen. Kopfschüttelnd hatte sie ihn dann gefragt, ob er nicht das Gewitter oder die Alarmanlage nebenan gehört habe? Aber das hatte er nie.

Jetzt war sein Schlaf unruhig, rastlos. Er wachte oft zitternd auf und schlang die Decke wie einen Kokon um sich. Er sollte eine zusätzliche Decke aufs Bett legen, um die Kälte daran zu hindern, ihm den Rücken hinaufzukriechen und seine Füße taub werden zu lassen. Sein Körper hatte seinen eigenen seltsamen Rhythmus aus Schlafen, Aufwachen, Zittern, Schlafen, Aufwachen, Zittern gefunden, den er nicht stören wollte, obwohl er unangenehm war. Er wollte nicht einnicken und dann mit den Vögeln aufwachen und feststellen, dass Miriam nicht mehr da war. Selbst jetzt wäre das ein zu großer Schock. Nachts aufzuwachen rief ihm ins Gedächtnis, dass sie gestorben war, und er begrüßte diese steten Mahnungen. Er wollte nicht Gefahr laufen, Miriam zu vergessen.

Sollte er mit einem Wort beschreiben, wie er sich an diesem Morgen fühlte, wäre es verwirrt. Miriams Kleidung zu entsorgen, sollte ein Ritual sein, um das Haus von ihren Dingen, ihren Schuhen, ihren Kosmetikartikeln zu befreien. Es war ein kleiner Schritt auf dem Weg, mit seinem Verlust fertigzuwerden und darüber hinwegzukommen.

Doch das tags zuvor gefundene Bettelarmband kam ihm bei seinen Absichten in die Quere. Es warf Fragen auf, wo früher keine gewesen waren. Es hatte eine Tür geöffnet und er war hindurchgegangen.

Miriam und er unterschieden sich darin, wie sie an Krimis herangingen. Sonntagnachmittags sahen sie sich gern einen Miss-Marple- oder Hercule-Poirot-Film an. Arthur schaute dann aufmerksam zu. »Meinst du, er ist es?«, fragte er häufig. »Er ist so eifrig, und die Figur an sich steuert nichts zur Geschichte bei. Ich glaube, er könnte der Mörder sein.«

»Schau dir den Film an.« Miriam drückte dann sein Knie. »Genieß es einfach. Du musst nicht alle Figuren analysieren. Du musst den Schluss nicht erraten.«

»Aber es ist ein Krimi. Er soll einen zum Mitraten bringen. Wir sollen versuchen, das Rätsel zu lösen.«

Miriam lachte und schüttelte den Kopf.

Wäre es umgekehrt gewesen und (er hasste den Gedanken) er zuerst gestorben, hätte sich Miriam vielleicht nicht den Kopf zerbrochen, wenn sie einen seltsamen Gegenstand in Arthurs Kleiderschrank gefunden hätte. Wohingegen er nun hier war und seine Gedanken herumschwirrten wie ein Kinderwindrad im Garten.

Er stand ächzend aus dem Bett auf und duschte, ließ das heiße Wasser von seinem Gesicht abprallen. Dann trocknete er sich ab, rasierte sich, zog die graue Hose, das blaue Hemd und den senffarbenen Pullunder an und ging nach unten. Miriam mochte es, wenn er diese Sachen trug. Sie sagte, sie ließen ihn gesellschaftsfähig aussehen.

In den ersten Wochen nach ihrem Tod hatte er noch nicht einmal die Anstrengung unternommen, sich anzukleiden. Wer war schon da, für den er sich die Mühe machen sollte? Wenn seine Frau und seine Kinder fort waren, warum sollte es ihm nicht egal sein? Er trug Tag und Nacht seinen Schlafanzug. Zum ersten Mal im Leben ließ er sich einen Bart wachsen. Als er sich im Badezimmerspiegel sah, überraschte es ihn, wie sehr er Käpt’n Iglo ähnelte. Er rasierte ihn ab.

Er ließ in jedem Zimmer das Radio laufen, um nicht seine eigenen Schritte hören zu müssen. Er lebte von Joghurts und Dosensuppe, bei der er sich nicht die Mühe machte, sie aufzuwärmen. Ein Löffel und ein Dosenöffner waren alles, was er brauchte. Er suchte sich kleine Aufgaben: die Bolzen am Bett nachziehen, damit es nicht mehr knarzte, die schwarz verfärbte Fugenfüllung um die Badewanne wegkratzen.

Miriam hatte ein Farngewächs auf dem Fensterbrett in der Küche. Es war ein mottenzerfressenes Ding mit herabhängenden fedrigen Blättern. Anfangs verabscheute er es und war wütend, weil ein derart erbärmliches Ding leben konnte, während seine Frau gestorben war. Er hatte es auf den Boden neben die Hintertür geräumt und auf den Tag gewartet, an dem die Müllabfuhr kam. Doch aus schlechtem Gewissen lenkte er schließlich ein und stellte es an seinen angestammten Platz zurück. Er nannte es Frederica und fing an, es zu gießen und mit ihm zu reden. Und allmählich rappelte sich Frederica auf. Sie ließ nicht mehr die Blätter hängen. Sie wurden grüner. Es fühlte sich gut an, für etwas da zu sein. Es fiel ihm leichter, sich um die Pflanze zu kümmern und mit ihr zu plaudern als mit Menschen. Etwas zu tun zu haben, tat ihm gut. Es bedeutete, dass er keine Zeit hatte, traurig zu sein.

Nun ja, jedenfalls redete er sich das ein. Er ging seinen täglichen Hausarbeiten nach, schlug sich eigentlich ganz gut und glaubte, sich im Griff zu haben. Doch dann erspähte er das grüne Potpourriblatt aus Stoff, das in der Diele hing, oder Miriams dreckverkrustete Wanderschuhe in der Abstellkammer, oder die Handcreme von Crabtree & Evelyn auf dem Regal im Badezimmer – und es riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Derart kleine, bedeutungslose Gegenstände zerbrachen ihm jetzt das Herz.

Er setzte sich dann auf die unterste Treppenstufe und hielt den Kopf in den Händen. Wiegte sich vor und zurück, kniff die Augen zu und sagte sich, dass sich jeder Mensch so fühlen würde. Seine Trauer war immer noch frisch. Es würde vergehen. Miriam war an einem besseren Ort. Sie würde nicht wollen, dass er sich so fühlte. Bla bla bla. Der ganze übliche Quatsch aus Bernadettes Broschüren. Und es verging tatsächlich. Doch es verschwand nie ganz. Er schleppte seinen Verlust wie eine Bowlingkugel im Magen mit sich herum.

In diesen Momenten stellte er sich seinen eigenen Vater vor, streng, stark. »Verflucht noch mal! Reiß dich zusammen, Junge. Heulen ist was für Waschlappen.« Und dann reckte er das Kinn und versuchte, tapfer zu sein.

Vielleicht müsste er mittlerweile darüber hinweg sein.

Seine Erinnerungen an jene dunklen ersten Tage waren verschwommen. Es war, als sähe er alles in einem Schwarz-Weiß-Fernseher mit gestörtem Bild. Er sah sich durchs Haus schlurfen.

Wenn er ehrlich war, war Bernadette eine große Hilfe gewesen. Sie war wie ein unwillkommener Flaschengeist an seiner Türschwelle aufgetaucht und hatte darauf bestanden, dass er badete, während sie das Mittagessen kochte. Arthur hatte nicht essen wollen. Essen hielt weder Geschmack noch Freude für ihn bereit.

»Der Körper gleicht einem von einer Dampflok gezogenen Zug, der Kohle braucht«, sagte Bernadette, als er Widerspruch gegen die Pasteten, Suppen und Eintöpfe erhob, die sie über seine Türschwelle schleppte, aufwärmte und ihm dann vorsetzte. »Wie wollen Sie Ihre Reise ohne Treibstoff fortsetzen?«

Arthur plante keine Reise. Er wollte das Haus nicht verlassen. Sein einziger Ortswechsel bestand darin, nach oben ins Badezimmer oder zu Bett zu gehen. Er hatte kein Verlangen, etwas darüber hinaus zu tun. Um des lieben Friedens willen aß er ihr Essen, verdrängte ihr Geplauder und las ihre Broschüren. Eigentlich war es ihm lieber, in Ruhe gelassen zu werden.

Doch sie war hartnäckig. Manchmal machte er ihr die Tür auf, dann verkroch er sich wieder im Bett und zog sich die Decke über den Kopf oder erstarrte zu einer National-Trust-Statue. Aber sie gab nicht auf.

Später am Vormittag, als wüsste Bernadette, dass er gerade an sie dachte, läutete sie an der Tür. Arthur stand ein paar Augenblicke lang reglos im Esszimmer und fragte sich, ob er aufmachen sollte. In der Luft hing der Geruch von Eiern und Speck und frischem Toast, während die anderen Bewohner der Bank Avenue ihr Frühstück genossen. Es klingelte erneut.

»Ihr Mann Carl ist kürzlich gestorben«, hatte Miriam ihm vor ein paar Jahren erzählt, als sie Bernadette bei einem Kirchenfest an einem Stand erspähte, wo sie Cupcakes und Schokoladenkuchen verkaufte. »Ich glaube, trauernde Menschen fallen in eine von zwei Kategorien. Es gibt diejenigen, die sich an der Vergangenheit festkrallen, und diejenigen, die in die Hände spucken und ihr Leben weiterleben. Die Dame dort mit den roten Haaren gehört in letztere Kategorie. Sie sucht sich Beschäftigung.«

»Kennst du sie?«

»Sie arbeitet bei LadyBLovely, der Boutique im Ort. Ich habe mir dort ein marineblaues Kleid gekauft. Es hat winzige Perlknöpfe. Sie hat mir erzählt, sie würde im Gedenken an ihren Mann auch anderen durch ihr Backen helfen. Sie sagte, wenn die Leute müde, einsam und todunglücklich sind oder einfach keinen Elan mehr haben, dann brauchen sie etwas zu essen. Ich finde es sehr mutig von ihr, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, anderen unter die Arme zu greifen.«

Von da an fiel Bernadette Arthur häufiger auf: beim Sommerfest der örtlichen Schule, auf der Post, in ihrem Morgenmantel, wenn sie sich um ihre Rosen kümmerte. Sie grüßten freundlich, redeten aber sonst nicht viel. Manchmal sah er Bernadette und Miriam an der Straßenecke plaudern. Sie lachten dann und unterhielten sich über das Wetter und die Erdbeeren, die in diesem Jahr süß waren. Bernadettes Stimme war so laut, dass er die Unterhaltung im Haus mit anhören konnte.

Bernadette war auf Miriams Beerdigung gewesen. Er erinnerte sich undeutlich, dass sie neben ihm aufgetaucht war und seinen Arm getätschelt hatte. »Wenn Sie jemals etwas brauchen sollten, einfach nur Bescheid geben«, sagte sie, und Arthur fragte sich, worum er sie jemals bitten könnte. Dann fing sie an, unangekündigt an seiner Haustür aufzutauchen.

Anfangs ärgerte ihn ihre Gegenwart, dann machte er sich allmählich Sorgen, sie könne es auf ihn abgesehen haben, vielleicht als potenziellen zweiten Ehemann. Etwas in der Richtung hatte er nicht im Sinn. Nach Miriam war das unmöglich. Doch in all den Monaten, die Bernadette nun schon an seine Tür klopfte, hatte sie ihm nie Anlass zu der Befürchtung geboten, ihre Aufmerksamkeit sei nicht rein platonisch. Sie hatte eine ganze Liste an Witwern und Witwen, denen sie Besuche abstattete.

»Hackfleischpastete«, begrüßte sie ihn, als er öffnete. »Frisch zubereitet.« Mit der Pastete vorneweg betrat sie die Diele. Dort fuhr sie mit dem Finger das Regal über dem Heizkörper entlang und nickte zufrieden, weil es staubfrei war. Sie schnupperte. »Es ist ein bisschen muffig hier. Haben Sie ein Duftspray?«

Arthur staunte, wie unhöflich sie sein konnte, ohne sich dessen bewusst zu sein, und holte es gehorsam. Nach ein paar Sekunden erfüllte der durchdringend süße Geruch von Berglavendel die Luft.

Sie marschierte geschäftig in die Küche und stellte die Pastete auf die Arbeitsfläche. »Das hier ist eine schöne Küche«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Der Herd ist fabelhaft.«

»Ich weiß.«

Bernadette war das absolute Gegenteil von Miriam. Seine Frau war schmächtig gebaut gewesen. Bernadette war füllig, geradezu gepolstert. Sie hatte die Haare briefkastenrot gefärbt und trug Strasssteine an den Spitzen ihrer Fingernägel. Einer ihrer Vorderzähne war gelb verfärbt. Sie hatte ein lautes Organ, das wie eine Machete durch die Stille seines Hauses schnitt. Arthur klirrte nervös mit dem Armband in seiner Tasche. Seit seinem Telefonat mit Mr Mehra am vorigen Abend hatte er es mit sich herumgetragen. Er hatte jeden einzelnen Anhänger aufmerksam studiert.

Indien. Das war so weit weg. Es musste ein großes Abenteuer für Miriam gewesen sein. Warum hatte sie ihm nichts davon erzählt? Mr Mehras Geschichte war doch gewiss nicht Grund genug, ein Geheimnis daraus zu machen.

»Geht es Ihnen gut, Arthur? Sie sind in einer Traumwelt.« Bernadettes Worte rissen ihn aus seinen Gedanken.

»Mir? Ja, natürlich.«

»Ich habe gestern Vormittag vorbeigeschaut, aber Sie waren nicht da. Waren Sie bei den Höhlenmännern?«

Die Höhlenmänner waren eine Gruppe für alleinstehende Männer, die sich im Gemeindehaus trafen. Arthur war zweimal dort gewesen und hatte eine Gruppe düster dreinblickender Männer vorgefunden, die mit Holzklötzen und Werkzeug hantierten. Der Leiter, Bobby, war wie ein Kegel geformt, mit einem winzigen Kopf und dickem Körper. »Männer brauchen Höhlen«, trillerte er. »Sie müssen sich irgendwohin zurückziehen und eins mit sich sein können.«

Arthurs Nachbar mit den Dreadlocks war da gewesen. Terry. Er war damit beschäftigt, an einem Stück Holz herumzufeilen. »Mir gefällt Ihr Auto«, sagte Arthur, um höflich zu sein.

»Eigentlich ist es eine Schildkröte.«

»Oh.«

»Ich habe letzte Woche eine beim Rasenmähen gesehen.«

»Eine frei lebende?«

»Sie gehört den rothaarigen Kindern, die barfuß rumlaufen. Sie ist entlaufen.«

Arthur wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte schon genug Ärger mit den Katzen in seinem Steingarten, ohne dass er auch noch eine Schildkröte auf freiem Fuß brauchte. So kehrte er wieder zu seinem eigenen Werk zurück. Er fertigte ein Holzschild mit seiner Hausnummer an – 37. Die 3 war viel größer als die 7, aber er hängte es sowieso an die Hintertür.

Es wäre leicht gewesen, einfach zu sagen, er wäre bei den Höhlenmännern gewesen, auch wenn es zu früh am Morgen gewesen war. Doch Bernadette stand da und lächelte ihn an. Die Pastete roch köstlich. Er wollte Bernadette nicht belügen, besonders nachdem er von Mr Mehras Reue gehört hatte, weil dieser Lügen über Miriam erzählt hatte. Er würde seinem Beispiel folgen und versuchen, immer die Wahrheit zu sagen. »Gestern habe ich mich vor Ihnen versteckt«, sagte er.

»Sie haben sich versteckt?«

»Ich wollte niemanden sehen. Ich hatte mir vorgenommen, Miriams Kleiderschrank auszuräumen, und als Sie geklingelt haben, habe ich ganz reglos in der Diele gestanden und so getan, als wäre ich nicht zu Hause.« Die Worte purzelten ihm aus dem Mund, und es fühlte sich überraschend gut an, so ehrlich zu sein. »Gestern hat sich ihr Todestag das erste Mal gejährt.«

»Das ist sehr aufrichtig von Ihnen, Arthur. Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen. Ich verstehe, dass das aufwühlend sein kann. Als Carl starb … na ja, es war schwer loszulassen. Ich habe den Höhlenmännern sein Werkzeug geschenkt.«

Arthur sank das Herz. Er hoffte, dass sie ihm nicht von ihrem Mann erzählen würde. Er wollte keine Todesgeschichten austauschen. Unter Menschen, die ihren Ehepartner verloren hatten, schien es einen seltsamen Konkurrenzkampf zu geben, einander zu übertrumpfen. Erst letzte Woche auf der Post hatte er bei einer Gruppe aus vier Rentnern etwas erlebt, das man fast als Prahlerei bezeichnen konnte.

»Meine Frau hat zehn Jahre gelitten, bevor sie schließlich verschied.«

»Tatsächlich? Tja, mein Cedric ist von einem LKW platt gefahren worden. Die Sanitäter haben gesagt, so etwas hätten sie noch nie gesehen. Wie ein Pfannkuchen, meinte einer.«

Dann eine brüchige Männerstimme. »Ich denke, es waren die Medikamente. Dreiundzwanzig Tabletten am Tag haben sie ihr verabreicht. Sie hat fast gerasselt.«

»Als man ihn aufgeschnitten hat, war im Innern nichts mehr übrig. Der Krebs hatte ihn völlig aufgefressen.«

Sie redeten über ihre Liebsten, als wären es Objekte. Miriam würde für ihn immer ein realer Mensch sein. Er würde die Erinnerung an sie nicht einfach mit anderen austauschen.

»Sie mag aussichtslose Fälle«, sagte Vera, die Postbeamtin, zu ihm, als er mit einer kleinen Packung brauner Briefumschläge an den Schalter trat. Sie hatte immer einen Bleistift an die Brille geklemmt und es sich zum Ziel gesetzt, alles über jeden im Ort zu wissen. Ihrer Mutter hatte vor ihr die Post gehört und sie war ganz genauso gewesen.

»Wer?«

»Bernadette Patterson. Uns ist aufgefallen, dass Sie Ihnen Pasteten vorbeibringt.«

»Wem ist das aufgefallen?«, fragte Arthur verärgert. »Gibt es einen Verein, der nichts weiter zu tun hat, als in meinem Leben herumzuspionieren?«

»Nein, bloß meine Kundschaft, die freundlich Informationen austauscht. Das macht Bernadette eben. Sie kümmert sich um die Hoffnungslosen, Hilflosen und Nutzlosen.«

Arthur bezahlte seine Umschläge und marschierte von dannen.

Er stand auf und schaltete den Wasserkocher ein. »Ich spende Miriams Sachen dem Katzenverein. Sie verkaufen Kleidung, Nippes und solches Zeug, um Geld zu sammeln und misshandelten Katzen zu helfen.«

»Das ist eine nette Idee, auch wenn ich persönlich kleine Hunde vorziehe. Sie sind viel dankbarer.«

»Ich glaube, Miriam wollte Katzen helfen.«

»Dann müssen Sie es tun. Soll ich Ihnen die Pastete in den Ofen schieben? Wir könnten zusammen zu Mittag essen. Es sei denn, Sie haben andere Pläne …«

Er wollte schon vor sich hinmurmeln, er hätte etwas zu tun, aber dann fiel ihm wieder Mr Mehras Geschichte ein. Er hatte keine Pläne. »Nein, steht nichts im Terminkalender«, sagte er.

Zwanzig Minuten später, als er mit dem Messer in die Pastete schnitt, dachte er wieder an das Armband. Bernadette könnte ihm vielleicht die Perspektive einer Frau vermitteln. Er wollte, dass ihm jemand sagte, der Schmuck sei bedeutungslos, und dass man, auch wenn er teuer aussah, heutzutage billige gute Imitate kaufen konnte. Doch er wusste, dass der Smaragd in dem Elefanten echt war. Und sie würde vielleicht bei Vera von der Post und ihren aussichtslosen Fällen darüber tratschen.

»Sie sollten mehr aus dem Haus kommen«, sagte sie. »Bei den Höhlenmännern waren Sie nur einmal.«

»Ich war zweimal da. Ich gehe sehr wohl aus.«

Sie hob eine Augenbraue. »Wohin denn beispielsweise?«

»Ist das hier ein Fernsehquiz? Ich erinnere mich nicht, mich beworben zu haben.«

»Ich versuche nur, mich um Sie zu kümmern.«

Sie sah ihn als aussichtslosen Fall, genau wie Vera angedeutet hatte.

Er wollte sich nicht so fühlen, nicht so behandelt werden. In seiner Brust schwoll ein Verlangen an. Er musste etwas sagen, damit sie ihn nicht für hilflos, hoffnungslos und nutzlos hielt, wie Mrs Monton, die seit fünf Jahren nicht mehr das Haus verlassen hatte und zwanzig Woodbines am Tag rauchte, oder Mr Flowers, der glaubte, in seinem Gewächshaus lebe ein Einhorn. Arthur hatte noch einen Funken Stolz in sich. Früher hatte er Bedeutung als Vater und Ehemann gehabt. Früher hatte er Gedanken und Träume und Pläne gehabt.

Er dachte an die Absenderadresse, die Miriam auf ihren Brief an Mr Mehra geschrieben hatte, und räusperte sich. »Tja, wenn Sie es unbedingt wissen müssen«, sagte er hastig. »Ich spiele mit dem Gedanken, Graystock Manor in Bath zu besuchen.«

»O ja«, sinnierte Bernadette. »Da laufen die Tiger frei herum.«

Bernadette war ein wandelndes Lexikon in Sachen Vereinigtes Königreich. Sie und Carl hatten gemeinsam in ihrem Luxuswohnmobil jedes Fleckchen besucht. Die Härchen in Arthurs Nacken richteten sich auf, während er sich bereit machte anzuhören, wohin er fahren sollte und wohin nicht, was er in Graystock tun sollte und was nicht.

Während Bernadette sich in seiner Küche zu schaffen machte, seine Waage zurechtrückte und überprüfte, ob seine Messer sauber genug waren, trug sie vor, was sie wusste.

Nein, Arthur wusste nicht, dass Lord Graystock vor fünf Jahren von einem Tiger angefallen worden war, der seine Zähne und Krallen in seiner Wade versenkt hatte, und er jetzt hinkte. Er wusste auch nicht, dass sich Graystock in jüngeren Jahren einen Harem aus Frauen aller Nationalitäten gehalten hatte, wie eine hedonistische Arche Noah, oder dass er dafür berüchtigt war, in den Sechzigerjahren in seinem Herrenhaus wilde Orgien gefeiert zu haben. Er wusste auch nicht, dass der Lord ausschließlich die Farbe Hellblau-Metallic trug, selbst bei seiner Unterwäsche, weil ihm einmal in einem Traum verkündet worden war, dass sie Glück brachte. (Arthur fragte sich, ob er während des Tigerangriffs Hellblau-Metallic getragen hatte.)

Zudem wusste er jetzt, dass Lord Graystock versucht hatte, sein Herrenhaus an Richard Branson zu verkaufen. Allerdings hatten sich die beiden Männer zerstritten und weigerten sich, je wieder ein Wort miteinander zu wechseln. Der Lord war jetzt ein Einsiedler und öffnete Graystock Manor nur an Freitagen und Samstagen, und die Öffentlichkeit durfte sich die Tiger nicht mehr ansehen.

Nach Bernadettes Geschichten fühlte sich Arthur gut über Lord Graystocks Leben und seine Zeit informiert.

»Jetzt sind nur noch der Souvenirladen und die Gartenanlagen geöffnet. Und die sind ein bisschen heruntergekommen.« Bernadette beendete mit einer schwungvollen Bewegung das Reinigen von Arthurs Wasserhahn. »Warum fahren Sie dorthin?«

Arthur blickte auf die Uhr. Jetzt wünschte er, er hätte nichts gesagt. Sie hatte fünfundzwanzig geschlagene Minuten lang geredet. Sein linkes Bein war steif geworden. »Ich dachte, es wäre eine nette Abwechslung«, sagte er.

»Tja, zufälligerweise fahren Nathan und ich nächste Woche nach Worcester und Cheltenham. Wir sehen uns Universitäten an. Kommen Sie mit, wenn Sie möchten. Von dort aus könnten Sie mit dem Zug nach Graystock fahren.«

Arthur verspürte ein Kribbeln in der Magengegend. Nach Graystock zu reisen war bloß ein Gedankenspiel gewesen. Er hatte nicht wirklich vorgehabt, dorthin zu fahren. Ausflüge machte er nur mit Miriam. Welchen Sinn hatte es, alleine zu fahren? Er hatte die Reise nach Graystock nur erwähnt, um Bernadette zu zeigen, dass er nicht nutzlos war. Jetzt nagte Besorgnis an ihm. Er wünschte, er könnte die Uhr zurückdrehen und hätte nicht die Hand in den Stiefel gesteckt und das Armband entdeckt. Dann hätte er nie bei der Nummer auf dem Elefanten angerufen. Er säße nicht hier und würde mit Bernadette über Graystock Manor reden. »Ich bin mir noch nicht sicher«, sagte er. »Vielleicht ein andermal …«

»Sie sollten hinfahren. Versuchen Sie, Ihr Leben weiterzuleben. Kleine Schritte. Ein Ausflug tut Ihnen vielleicht gut.«