Wie das Feuer zwischen uns - Brittainy C. Cherry - E-Book

Wie das Feuer zwischen uns E-Book

Brittainy C. Cherry

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Beschreibung

Es gab einmal einen Jungen, den ich liebte.

Logan Francis Silverstone und ich waren das komplette Gegenteil. Ich tanzte, er stand still. Er brachte kein Wort heraus, ich hörte nie auf zu reden. Er konnte sich kaum ein Lächeln abringen, während ich zu keinem einzigen finsteren Blick fähig war.

Doch in der Nacht, als er mir die Dunkelheit zeigte, die in ihm tobte, konnte ich nicht wegsehen.

Wir waren beide zerbrochen und zusammen doch irgendwie ganz. Alles an uns war falsch, und doch fühlte es sich irgendwie richtig an.
Bis zu dem Tag, als ich ihn verlor.

Es gab einmal einen Jungen, den ich liebte.

Und ich glaube, ein paar Atemzüge lang, für einige wenige Momente liebte er mich auch.



"Bewegend, atemberaubend, wunderschön und herzzerreißend!" Bookbabes Unite

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Seitenzahl: 426

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungPrologErster Teil12345678910111213Zweiter Teil14151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647EpilogDanksagungDie AutorinDie Romane von Brittainy C. Cherry bei LYXImpressum

BRITTAINY C. CHERRY

Wie das Feuer zwischen uns

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katja Bendels

Zu diesem Buch

Unsere Leben waren miteinander verbunden, als wären wir zwei Flammen, die gemeinsam in der Dunkelheit brannten.

ALYSSA Walters glaubt, ihr Herz bleibt stehen, als sie Logan in der hintersten Ecke des kleinen Diners, in dem sie bedient, sitzen sieht. Früher einmal waren sie unzertrennlich, obwohl jeder in True Falls ihnen deutlich zu spüren gab, dass sie nicht zusammenpassten. Sie hatten gemeinsam von einer Welt geträumt, in der niemand dachte, dass Logan Francis Silverstone nicht gut genug für die hübsche Alyssa sein könnte. Bis er ihr in einer tragischen Nacht bewies, dass alle recht gehabt hatten. Bis er Alyssa verließ, als sie ihn am meisten gebraucht hätte. Doch jetzt – nach 5 Jahren und 1810 unbeantworteten Nachrichten – ist Logan zurück. Und mit ihm auch das schmerzliche Feuer, das über all die Jahre nicht erloschen ist. Logan weiß, dass er Alyssa aus dem Weg gehen sollte, weil sie sich ein Leben ohne ihn aufgebaut hat. Weil sie ihr Herz vor ihm beschützen muss. Doch die Erinnerung an seine glücklichsten Momente, die alle mit Alyssa verbunden sind, ist zu stark, als dass er auf seinen Verstand hören könnte. Alyssa zieht ihn an wie ein Feuer in der Nacht, und ob er will oder nicht, sind sie sich näher als jemals zuvor. Für einen Moment schlägt sein Herz wieder im Rhythmus von ihrem. Für einen Moment sind ihre Tränen wieder seine. Für einen Moment sind sie wieder verbunden zu einer Flamme, die jede Dunkelheit erhellt. Doch wenn das Leben Logan eins gelehrt hat, dann, dass nach dem höchsten Flug ein tiefer Fall kommt, auf jedes High der Abgrund folgt – und er Alyssas Welt gerade ein weiteres Mal zu zerstören droht …

Für alle, in denen ein Feuer brennt, und die für ein besseres Morgen kämpfen.

Für alle, die wissen müssen, dass sie mehr sind als die Fehler ihrer Vergangenheit.

Dieses Buch ist für euch.

PROLOG

ALYSSA

Der Junge mit dem roten Kapuzenpullover in der Kassenschlange starrte mich an.

Ich hatte ihn schon ein paarmal gesehen. Er und seine Freunde hingen immer in der Gasse hinter dem Supermarkt ab, in dem ich arbeitete. Erst heute Vormittag hatte ich sie gesehen, als mein Chef mich rausgeschickt hatte, um leere Kartons zu zerreißen und in der Gasse zu stapeln.

Der Junge im roten Hoodie und seine Freunde hingen jeden Tag am Supermarkt herum. Sie machten eine Menge Lärm, rauchten und fluchten. Aber er war anders als die anderen. Während sie lachten und grinsten, blieb er stumm, und es schien beinahe, als wäre er in Gedanken weit weg. Seine Mundwinkel verzogen sich fast nie zu einem Lächeln, und ich fragte mich, ob er überhaupt wusste, wie man lächelte. Vielleicht war er ein Mensch, der bloß existierte, statt wirklich zu leben.

Manchmal trafen sich unsere Blicke, aber ich sah jedes Mal weg.

Es fiel mir schwer, in seine karamellbraunen Augen zu schauen, denn sie waren trauriger, als die Augen eines Jungen in seinem Alter es sein sollten. Außerdem hatten sie tiefe dunkle Ränder und waren von Fältchen umgeben. Trotzdem sah er gut aus. Ein schöner, trauriger Junge. Kein Junge sollte so müde und dabei so süß aussehen. Er wirkte, als hätte er schon hundert Jahre gekämpft. Allein wie er da stand, mit hängenden Schultern und gebeugtem Rücken, wusste ich, dass er mehr private Kriege erlebt hatte als die meisten anderen Menschen auf der Welt.

Aber nicht alles an ihm war gebrochen.

Seine dunklen halblangen Haare waren immer perfekt gestylt. Immer. Manchmal zog er einen kleinen Kamm aus der Tasche und fuhr sich damit wie ein Greaser aus den Fünfzigern durch die Locken. Außerdem trug er immer die gleichen Klamotten: ein schlichtes weißes oder schwarzes T-Shirt, manchmal den roten Hoodie, schwarze Jeans und schwarze Schuhe mit weißen Schnürsenkeln. Ich weiß nicht, warum, aber obwohl sein Outfit schlicht war, bekam ich jedes Mal eine Gänsehaut.

Auch seine Hände waren mir aufgefallen. Er spielte immer mit einem Feuerzeug, ließ die Flamme aufflackern und wieder ausgehen, immer und immer wieder. Ob es ihm überhaupt noch bewusst war? Manchmal schien es, als wäre die Flamme, die aus dem Feuerzeug schoss, ein Teil seiner Existenz.

Ein ausdrucksloses Gesicht, müde Augen, perfekte Frisur und ein Feuerzeug in der Hand.

Welcher Name würde zu so einem Jungen passen?

Hunter vielleicht. Das klang ein bisschen nach einem Badboy – was er vermutlich auch war. Oder Gus. Gus der Greaser. Oder Mikey – weil es niedlich klang und damit das Gegenteil von dem ausdrückte, was er zu sein schien. Ich mochte solche Widersprüche.

Aber im Moment war sein Name nicht so wichtig.

Viel wichtiger war, dass er gerade an meiner Kasse im Supermarkt vor mir stand. Sein Gesicht zeigte mehr Ausdruck, als ich es jemals bei ihm hinten in der Gasse gesehen hatte. Er war knallrot und spielte nervös mit seinen Fingern. Ich konnte sehen, wie unendlich peinlich es ihm war, als er wieder und wieder seine Lebensmittelkarte durch das Lesegerät zog. Sie wurde jedes Mal abgelehnt. Guthaben zu gering. Und mit jedem Mal wirkte er niedergeschlagener. Guthaben zu gering. Er biss sich auf die Unterlippe. »Das kann doch überhaupt nicht sein«, brummte er.

»Ich kann es mal hier an der Kasse versuchen, wenn du willst. Manchmal zicken die Lesegeräte ein bisschen rum.« Ich lächelte ihm zu, aber er gab mein Lächeln nicht zurück. In seinem Gesicht standen harte, kalte Furchen. Er hatte wütend die Brauen zusammengezogen, reichte mir aber trotzdem seine Karte. Ich zog sie durch und blickte stirnrunzelnd auf mein Lesegerät. Guthaben zu gering. »Es sagt, dass nicht genug Geld auf der Karte ist.«

»Vielen Dank, Miss Superschlau«, murmelte er.

Wie unverschämt.

»Das kann nicht sein«, schnaubte er. »Wir haben gestern erst Geld drauf bekommen.«

Wer mochten »wir« sein? Das geht dich nichts an, Alyssa. »Hast du noch eine andere Karte, mit der wir es versuchen können?«

»Wenn ich noch eine andere Karte hätte, hätte ich es doch wohl schon längst damit probiert, oder?«, blaffte er, sodass ich ein wenig zusammenzuckte. Hunter. Er war definitiv ein Hunter. Ein echter Bad Boy Hunter. Oder vielleicht Travis. Ich hatte mal ein Buch gelesen, in dem ein Travis vorgekommen war, der ein ziemlich schlimmer Junge war – so schlimm, dass ich das Buch zuklappen musste, um nicht rot zu werden und laut loszuschreien.

Der Junge vor mir holte tief Luft, blickte auf die Schlange, die sich hinter ihm gebildet hatte, und sah mir dann unverwandt in die Augen. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anraunzen.«

»Schon okay«, antwortete ich.

»Nein. Ist es nicht. Tut mir leid. Kann ich das Zeug kurz hier liegen lassen? Ich muss meine Mom anrufen.«

»Klar. Ich storniere es, und wir scannen es einfach neu, wenn wir die Sache geklärt haben. Kein Problem.«

Als er beinahe lächelte, wäre ich fast vom Stuhl gekippt. Ich hatte nicht gewusst, dass er tatsächlich beinahe lächeln konnte. Vielleicht war es nur ein Zucken seiner Lippen, aber als sie sich ganz leicht nach oben bogen, sah er unglaublich gut aus. Offensichtlich gehörte Lächeln sonst nicht zu seinem Repertoire.

Als er ein paar Schritte zur Seite trat und seine Mom anrief, musste ich mich zusammenreißen, um nicht zu lauschen. Ich griff nach den Einkäufen des nächsten Kunden, aber meine Augen und Ohren fanden immer wieder neugierig zu ihm zurück.

»Ma, ich sag doch nur, dass ich mir hier wie der letzte Idiot vorkomme. Ich hab die Karte durchgezogen, aber sie wird jedes Mal abgelehnt.«

»Ich weiß die PIN. Ich hab sie eingegeben.«

»Hast du die Karte gestern benutzt?«, fragte er. »Wofür? Was hast du gekauft?«

Er hielt das Telefon ein Stück weg, während er ihr zuhörte, und verdrehte die Augen, bevor er es sich wieder ans Ohr drückte.

»Was soll das heißen, du hast zweiunddreißig Paletten Coca Cola gekauft?«, brüllte er. »Was zum Teufel sollen wir mit zweiunddreißig Paletten Cola?« Alle im Laden drehten sich zu ihm um. Unsere Blicke trafen sich, und ich konnte sehen, wie peinlich ihm dieser Auftritt war. Ich lächelte. Er runzelte die Stirn. Er sah so unglaublich gut aus. Langsam drehte er mir den Rücken zu und konzentrierte sich wieder auf das Telefongespräch. »Und was sollen wir in den nächsten vier Wochen essen?«

»Ja, ich kriege morgen Geld, aber das wird nicht reichen, um … nein, ich werde Kellan nicht wieder um Geld anbetteln … Ma, leg jetzt nicht auf. Hör zu. Ich muss die Miete bezahlen. Da werde ich es auf keinen Fall schaffen …« Schweigen. »Ma, halt verdammt noch mal die Klappe, okay?! Du hast unser Essensgeld für Cola ausgegeben!«

Kurzes Schweigen. Wirre, wütende Gesten.

»Nein! Nein, es ist mir egal, ob es Cola Light oder Coke Zero ist!« Er seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Dann legte er das Handy auf den Boden, schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor er es wieder aufhob. »Schon okay. Ich lass mir was einfallen. Mach dir keine Gedanken, okay? Mir fällt schon was ein. Ich leg jetzt auf. Nein, Ma, ich bin nicht sauer. Ja, ich bin mir sicher. Ich werde jetzt einfach auflegen. Ja, ich weiß. Es ist okay. Ich bin nicht sauer, okay? Tut mir leid, dass ich dich angebrüllt hab. Tut mir leid. Ich bin nicht sauer.« Seine Stimme wurde ganz leise, aber ich konnte nicht anders, ich musste einfach zuhören. »Tut mir leid.«

Als er sich wieder mir zuwandte, hatte ich gerade den letzten Kunden in meiner Schlange abgefertigt. Er zuckte mit der linken Schulter, rieb sich den Nacken und trat näher. »Ich glaube nicht, dass ich die Sachen da heute mitnehmen kann. Tut mir leid. Ich bring alles wieder zurück. Tut mir echt leid.« Er entschuldigte sich wieder und wieder.

Mein Magen zog sich zusammen. »Schon okay. Wirklich. Ich kümmere mich darum. Ich habe ohnehin jetzt Feierabend. Ich sortiere das wieder ein.«

Wieder runzelte er die Stirn. Ich wünschte, er würde damit aufhören. »Okay. Tut mir leid.« Ich wünschte, er würde auch aufhören, sich immer wieder zu entschuldigen.

Als er gegangen war, warf ich einen Blick in seine Einkaufstüten, und es tat mir in der Seele weh. Die Dinge, die er hatte kaufen wollen, kosteten insgesamt gerade mal elf Dollar, und nicht einmal das konnte er sich leisten. Ramen-Nudeln, Cornflakes, Milch, Erdnussbutter und ein Brot – alles Dinge, über die ich nicht eine Sekunde nachdenken musste, wenn ich sie kaufen wollte.

Man weiß immer erst, wie gut man es hat, wenn man sieht, wie schlecht es anderen geht.

»Hey!«, rief ich und rannte ihm nach, als er über den Parkplatz ging. »Hey! Du hast was vergessen!«

Er drehte sich langsam um und kniff irritiert die Augen zusammen.

»Deine Tüten«, erklärte ich und hielt sie ihm hin. »Du hast deine Tüten vergessen.«

»Dafür könntest du gefeuert werden.«

»Was?«

»Dass du geklaut hast«, erklärte er.

Ich zögerte einen Moment, ein wenig verwirrt, weil sein erster Gedanke war, dass ich die Sachen gestohlen haben könnte. »Ich habe nichts geklaut. Ich habe alles bezahlt.«

Er starrte mich verwirrt an. »Wieso solltest du so was tun? Du kennst mich ja nicht mal.«

»Ich weiß, dass du versuchst, dich um deine Mom zu kümmern.«

Er kniff sich in den Nasenrücken und schüttelte den Kopf. »Ich zahl’s dir zurück.«

»Nein, das brauchst du nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »War keine große Sache.«

Er biss sich auf die Unterlippe und rieb sich mit der Hand über die Augen. »Ich zahle es zurück. Aber … danke. Danke, äh …« Sein Blick fiel auf meine Brust, und einen kurzen Moment lang fühlte ich mich unbehaglich, bis ich merkte, dass er auf mein Namenschild schaute. »Danke, Alyssa.«

»Gern geschehen.« Er drehte sich um und ging weiter. »Was ist mit dir?«, rief ich und hatte ein- oder zweimal Schluckauf – oder vielleicht auch fünfzigmal.

»Was mit mir ist?«, fragte er, ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen.

»Wie heißt du?«

Hunter?

Gus?

Travis?

Mikey?!

Er könnte definitiv ein Mikey sein.

»Logan.« Er ging weiter, ohne sich noch einmal umzublicken. Ich schob mir den Kragen meines Poloshirts in den Mund und kaute darauf herum. Es war eine schreckliche Angewohnheit, und meine Mutter schimpfte immer mit mir, wenn sie es mitbekam. Aber sie war nicht hier, und in meinem Bauch übernahm gerade ein ganzer Schwarm Schmetterlinge die Herrschaft.

Logan.

Wenn ich es recht bedachte, sah er auch aus wie ein Logan.

Ein paar Tage später kam er zurück, um mir mein Geld zu geben. Und von da an kam er jede Woche, um ein Brot zu kaufen oder ein paar Ramen-Nudeln oder ein Päckchen Kaugummi. Und jedes Mal stellte er sich in meine Kassenschlange. Irgendwann fingen Logan und ich an, uns dabei zu unterhalten. Ich erfuhr, dass sein Halbbruder mit meiner Schwester zusammen war, und zwar schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Einmal hätte er beinahe gelächelt. Und dann lachte er sogar. Wir wurden so etwas wie Freunde und tasteten uns langsam von kurzen Wortwechseln zu längeren Gesprächen vor.

Wenn ich Feierabend hatte, saß er auf dem Parkplatz und wartete auf mich. Und wir redeten weiter.

Unsere Haut bräunte sich unter der brennenden Sonne. Und jeden Abend verabschiedeten wir uns unter einem funkelnden Sternenhimmel.

Ich begegnete meinem besten Freund in der Kassenschlange eines Supermarkts.

Und mein Leben war nie wieder, wie es einmal gewesen war.

ERSTER TEIL

Seine Seele brannte,

und er versengte jeden, der ihm zu nahe kam.

Sie trat näher,

ohne Angst vor der Asche, zu der sie werden würden.

1

LOGAN

Zwei Jahre, sieben Freundinnen, zwei Freunde, neun Trennungen und eine engere Freundschaft später

Ich hatte eine Dokumentation über Pies gesehen.

Zwei Stunden meines Lebens waren verstrichen, in denen ich vor einem winzigen Fernseher gesessen und eine DVD aus der Bücherei über die Geschichte der Pies angeschaut hatte. Wie sich herausstellte, kannten schon die alten Ägypter diese besondere Form der Zubereitung. Der erste dokumentierte Pie stammte von den Römern, eine Ziegenkäse-Honig-Füllung mit Roggenkruste. Es klang fürchterlich, aber aus irgendwelchen Gründen wollte ich, als die Doku zu Ende war, nur noch diesen dämlichen Pie.

Ich war kein großer Freund von Pies, ich stand mehr auf einfache Kuchen, aber in diesem Moment konnte ich an nichts anderes denken als an die krümelige Kruste.

Ich hatte sogar alles, was ich brauchte, um in die Wohnung zu gehen und diesen Pie zu backen. Das Einzige, was mir im Weg stand, war Shay, seit wenigen Minuten meine Ex-Freundin, der ich in den letzten Stunden allerdings ziemlich widersprüchliche Signale gesendet hatte.

Im Schlussmachen war ich die totale Niete. Meistens textete ich den Mädchen bloß so was wie »Funktioniert nicht mit uns, sorry« oder rief sie an, um ihnen in fünf Sekunden mitzuteilen, dass es vorbei war. Aber diesmal war es anders, weil Alyssa mir klargemacht hatte, dass am Telefon Schluss zu machen das Schlimmste war, das man einem anderen Menschen antun konnte.

Also hatte ich mich persönlich mit Shay getroffen. Keine gute Idee.

Shay, Shay, Shay. Ich wünschte, ich hätte nicht das Bedürfnis gehabt, an dem Abend auch noch mit ihr zu schlafen – was wir getan hatten. Dreimal. Nachdem ich mit ihr Schluss gemacht hatte. Aber jetzt war es nach ein Uhr in der Nacht und …

Sie. Weigerte. Sich. Zu. Gehen.

Und sie hörte auch nicht auf zu reden.

Kalter Regen prasselte, als wir vor meinem Haus standen. Ich wollte nur noch in mein Zimmer hinaufgehen und ein bisschen entspannen. War das zu viel verlangt? Ein bisschen Pot rauchen, eine neue Doku anfangen und einen Pie backen – oder fünf.

Ich wollte allein sein. Niemand genoss es so wie ich, allein zu sein.

Ding. Mein Handy meldete sich, und ich sah Alyssas Namen neben einer Textnachricht auf meinem Bildschirm aufleuchten.

Alyssa: Ist die gute Tat vollbracht?

Ich musste grinsen, weil sie damit wissen wollte, ob ich mit Shay Schluss gemacht hatte.

Ich: Jepp.

Ich sah, wie die üblichen drei Punkte auf meinem Bildschirm erschienen, und wartete auf Alyssas Antwort.

Alyssa: Oh, Gott, du hast mit ihr geschlafen, hab ich recht?

Mehr Punkte.

Alyssa: WIDERSPRÜCHLICHE ZEICHEN!

Ich musste leise lachen. Sie kannte mich besser als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Seit zwei Jahren waren Alyssa und ich die besten Freunde; dabei waren wir so verschieden, wie zwei Menschen nur sein konnten. Am Anfang waren Alyssa und ich davon überzeugt gewesen, dass wir überhaupt nichts gemeinsam hatten. Sie ging in die Kirche, während ich mir eine Ecke weiter eine Tüte drehte. Sie glaubte an Gott, während ich mit Dämonen tanzte. Sie hatte eine Zukunft, während ich aus irgendwelchen Gründen in der Vergangenheit gefangen war.

Und doch hatten wir ein paar Dinge gemeinsam, und deshalb ergab unsere Freundschaft durchaus einen Sinn. Ihre Mom duldete sie gerade so, während meine Mom mich hasste. Ihr Dad war ein Arschloch, mein Dad war der Teufel.

Als wir erkannten, dass wir ein bisschen was gemeinsam hatten, verbrachten wir mehr Zeit miteinander und kamen uns von Tag zu Tag näher.

Sie war meine beste Freundin, das Highlight meiner beschissenen Tage.

Ich: Ich habe einmal mit ihr geschlafen.

Alyssa: Zweimal.

Ich: Jepp, zweimal.

Alyssa: DREIMAL, LOGAN?! OH, MEIN GOTT!

»Wem schreibst du da?«, heulte Shay und zwang mich, von meinem Handy aufzublicken. »Was könnte wichtiger sein als dieses Gespräch?«

»Alyssa«, antwortete ich knapp.

»Oh, mein Gott. Das ist nicht dein Ernst. Sie kriegt einfach nicht genug von dir, was?«, beschwerte sich Shay. Aber das war nichts Neues. Jedes Mädchen, mit dem ich in den letzten zwei Jahren ausgegangen war, hatte extrem eifersüchtig auf Alyssas und meine Freundschaft reagiert. »Ich wette, du vögelst sie.«

»Jepp.« Das war die erste Lüge. Alyssa war nicht so leicht ins Bett zu kriegen, und erst recht nicht von mir. Sie hatte Ansprüche, die ich nicht erfüllen konnte. Und ich hatte Ansprüche, wenn es um Alyssas Beziehungen ging, die kein Kerl jemals erfüllen konnte. Sie verdiente das Beste, und die meisten Leute in True Falls, Wisconsin, konnten ihr bloß ein paar Überbleibsel bieten.

»Ich wette, sie ist der Grund, dass du mit mir Schluss machst.«

»Ja, genau.« Das war die zweite Lüge. Ich traf meine eigenen Entscheidungen, aber Alyssa stand immer hinter mir, worum auch immer es ging. Und sie sagte mir offen, was sie dachte, und ließ es mich wissen, wenn ich in meinen Beziehungen Mist gebaut hatte. Manchmal konnte sie schrecklich unverblümt sein.

»Vergiss es, sie wird sich nie auf dich einlassen. Sie ist ein gutes Mädchen, und du – du bist der letzte Dreck!«, schrie Shay.

»Du hast recht.« Das war die erste Wahrheit.

Alyssa war ein gutes Mädchen, und ich war der Junge, der ihr niemals sagen könnte, dass sie zu mir gehörte. Trotzdem schaute ich manchmal auf ihre wilden blonden Locken und stellte mir vor, wie es wohl wäre, sie in meinen Armen zu halten und ihre Lippen zu schmecken. In einer anderen Welt wäre ich vielleicht gut genug für sie gewesen. Vielleicht wäre ich dann nicht schon von Kindesbeinen an so verkorkst gewesen und hätte mein Leben im Griff gehabt. Ich wäre aufs College gegangen und hätte einen guten Job und etwas aufzuweisen. Dann hätte ich sie in ein schickes Restaurant ausführen und ihr sagen können, dass sie alles auf der Karte bestellen konnte, weil ich nicht aufs Geld schauen musste.

Ich hätte ihr sagen können, dass ihre blauen Augen immer lächelten, selbst wenn der Rest ihres Gesichts es nicht tat, und wie sehr ich es liebte, dass sie immer auf dem Kragen ihres T-Shirts herumkaute, wenn sie nervös war oder sich langweilte.

Ich hätte jemand sein können, der es wert wäre, geliebt zu werden, und sie hätte mir gestattet, sie zu lieben.

In einer anderen Welt vielleicht. Aber ich hatte nur das Hier und Jetzt, in dem Alyssa meine beste Freundin war, und darüber musste ich schon froh sein.

»Du hast gesagt, dass du mich liebst!«, heulte Shay und ließ den Tränen freien Lauf.

Wie lange weinte sie schon? Sie war echt ein Profi, wenn es darum ging, im richtigen Moment loszuheulen.

Ich schob die Hände in die Taschen meiner Jeans und betrachtete ihr Gesicht. Verdammt. Sie sah echt furchtbar aus. Sie war immer noch high, und ihr Make-up war total verschmiert.

»Das habe ich nie gesagt, Shay.«

»Doch, hast du! Mehr als einmal!«, schwor sie.

»Das ist eine Scheißlüge.« Ich hätte ja in meiner Erinnerung nachgeforscht, um zu sehen, ob diese drei Wörter mir zufällig rausgerutscht waren, aber ich wusste genau, dass es nicht so war. Ich liebte nicht. Jemanden zu mögen, war das Äußerste, wozu ich fähig war. Meine Finger strichen über meine Schläfen. Es wurde höchste Zeit, dass Shay in ihren Wagen stieg und weit, weit wegfuhr.

»Ich bin nicht blöd, Logan! Ich weiß, was du gesagt hast!« Sie war tatsächlich davon überzeugt, dass ich sie liebte. Was im Großen und Ganzen betrachtet ziemlich traurig war. »Du hast es heute Abend gesagt! Erinnerst du dich nicht? Du hast gesagt, dass du mich liebst!«

Heute Abend?

Oh, scheiße.

»Shay, ich habe gesagt, dass ich es liebe, dich zu ficken. Nicht, dass ich dich verdammt noch mal liebe.«

»Ist doch dasselbe.«

»Glaub mir, das ist es nicht.«

Sie schlug mit ihrer Handtasche nach mir, und ich ließ zu, dass sie mich traf. Wenn ich ehrlich war, hatte ich es verdient. Sie schlug noch einmal zu, und ich ließ sie gewähren. Doch als sie zum dritten Mal ausholte, packte ich die Tasche und zog sie – und Shay mit ihr – an mich. Meine Hand landete auf ihrem Steiß, und sie bog bei der Berührung den Rücken durch und drückte sich gegen mich. Sie atmete schwer, und ihr liefen immer noch Tränen über die Wangen.

»Nicht weinen«, flüsterte ich und schaltete meinen Charme ein, um sie endlich zum Gehen zu bewegen. »Du bist zu schön zum Weinen.«

»Du bist ein Arschloch, Logan.«

»Das ist genau der Grund, wieso du nicht mit mir zusammen sein solltest.«

»Wir sind seit drei Stunden nicht mehr zusammen, und du bist ein völlig anderer Mensch geworden.«

»Schon seltsam«, murmelte ich. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist nämlich, dass du es warst, die sich verändert hatte, als du mit Nick geknutscht hast.«

»Ach, reg dich nicht auf. Das war ein Fehler. Wir hatten nicht mal Sex. Du bist der Einzige, mit dem ich in den letzten sechs Monaten geschlafen habe.«

»Ähm, wir waren acht Monate lang zusammen.«

»Was bist du, ein Mathe-Genie? Das spielt doch keine Rolle.«

Von allen Mädchen in den letzten zwei Jahren war ich mit Shay am längsten zusammen gewesen. Meist hielt ich es maximal einen Monat aus, aber mit ihr hatte ich immerhin acht Monate und zwei Tage geschafft. Ich wusste nicht genau wieso, vielleicht weil ihr Leben eine exakte Kopie meines eigenen war. Ihre Mutter war alles andere als stabil, und ihr Vater saß im Knast. Sie hatte niemanden, zu dem sie aufschauen konnte, und ihre Mom hatte ihre Schwester aus dem Haus geworfen, weil sie sich von irgendeinem Idioten hatte schwängern lassen.

Möglicherweise hatte die Finsternis in mir die Finsternis in ihr gesehen und eine Zeit lang honoriert. Wir passten zusammen. Aber im Laufe der Zeit hatte ich erkannt, dass wir gerade weil wir uns so ähnlich waren, nicht auf Dauer zusammengehörten. Wir waren beide zu kaputt. Wenn ich mit Shay zusammen war, fühlte ich mich, als würde ich in einen Spiegel starren, der mir meine sämtlichen Narben zeigte.

»Shay, lass uns nicht damit anfangen. Ich bin müde.«

»Okay. Das hatte ich ganz vergessen, Mr Perfect. Manche Menschen treffen in ihrem Leben eben auch mal falsche Entscheidungen«, erklärte sie.

»Du hast mit meinem Freund rumgemacht, Shay.«

»Und mehr war es auch nicht! Und ich hab’s nur gemacht, weil du mich betrogen hast.«

»Ich weiß nicht mal, was ich darauf antworten soll, weil ich dich nämlich nie betrogen habe.«

»Vielleicht nicht mit Sex, aber emotional, Logan. Du warst mit deinen Gedanken nie wirklich bei mir. Und das ist alles Alyssas Schuld. Sie ist der Grund, wieso du dich nie wirklich auf unsere Beziehung eingelassen hast. Diese scheiß …«

Ich hielt ihr die Hand vor den Mund, damit sie nicht weitersprechen konnte. »Nicht.« Ich ließ die Hand sinken. Sie schwieg. »Ich habe dir vom ersten Tag an klar gesagt, wer ich bin. Du bist selbst schuld, wenn du dachtest, du könntest mich ändern.«

»Du wirst nie mit jemandem glücklich werden, oder? Weil du dich in ein Mädchen verschossen hast, das du nie haben wirst. Und am Ende sitzt du dann da, traurig, allein und verbittert. Und dann wirst du erkennen, was du an mir hattest!«

»Könntest du jetzt bitte einfach gehen?«, seufzte ich und rieb mir das Gesicht. Das war alles Alyssas Schuld.

»Du musst persönlich mit ihr Schluss machen, Lo. Nur so würde ein echter Mann es tun. Man macht so was nicht am Telefon.«

Manchmal hatte sie wirklich blödsinnige Ideen.

Shay weinte immer noch.

Diese verdammten Tränen.

Mit Tränen konnte ich nicht umgehen.

Nach ein paar Schluchzern senkte sie für einen Moment den Blick, bevor sie den Kopf wieder hob und ein Funken Selbstbewusstsein sie durchzuckte. »Ich denke, wir sollten Schluss machen.«

Ich tat geschockt. »Schluss machen?« Das haben wir doch schon hinter uns!

»Ich habe einfach das Gefühl, als wären wir zwei Menschen, die in unterschiedliche Richtungen streben.«

»Okay«, sagte ich.

Ihre Finger flatterten über meinen Lippen. »Schsch!« Dabei hatte ich gar nichts gesagt. »Nimm’s nicht so schwer. Es tut mir so leid, Logan. Aber mit uns beiden, das funktioniert einfach nicht.«

Im Stillen lachte ich über sie, ließ sie aber in dem Glauben, die Trennung sei ihre Idee gewesen. Ich trat einen Schritt zurück und legte die Hände in den Nacken. »Du hast recht. Du bist zu gut für mich.«

Wieso bist du überhaupt noch hier?

Sie trat einen Schritt vor und strich mit den Fingerspitzen über meine Lippen. »Du wirst jemanden finden, der besser zu dir passt. Ich weiß es. Ich meine, zugegeben, vielleicht sieht sie aus wie ein Schimpanse, aber darauf kommt es ja nicht an.« Sie lief zu ihrem Wagen, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Als sie losfuhr, bereute ich es, dass ich sie so hatte gehen lassen. Im strömenden Regen rannte ich hinter dem Wagen her und rief ihren Namen.

»Shay! Shay!« Ich wedelte mit den Armen in der Dunkelheit und musste mindestens fünf Blocks weit hinter ihr herrennen, bevor sie an einer roten Ampel hielt. Als ich gegen ihr Fenster hämmerte, kreischte sie erschrocken auf.

»Logan! Was zum Teufel machst du da?!«, schrie sie und kurbelte das Fenster runter. Ihre Verwirrung verwandelte sich in ein stolzes, etwas schiefes Lächeln, und sie betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen. »Du willst mich zurückhaben, nicht wahr? Ich wusste es!«

»Ich …« Ich rang nach Luft. Sport war das Spezialgebiet meines Bruders, nicht meins. Keuchend stützte ich mich auf die Kante des Seitenfensters. »Ich … ich b-brauche …«

»Du brauchst was? Was, Baby? Was brauchst du?«, fragte sie und streichelte mir über die Wange.

»… Pie.«

Sie lehnte sich verwirrt in ihrem Sitz zurück. »Was?«

»Pie. Die Zutaten für meinen Pie, die wir gekauft haben. Sie liegen noch auf der Rückbank.«

»Willst du mich verarschen?!«, schrie sie. »Du bist die ganze Strecke hinter mir hergerannt, weil du das Zeug für deinen Pie haben willst?«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ähm, ja?«

Sie griff hinter sich, packte die Einkaufstüte und rammte sie mir gegen die Brust. »Du bist unglaublich! Da hast du deine dämlichen Zutaten!«

Ich schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Danke.«

Sie gab Gas, und ich musste lachen, als ich sie rufen hörte: »Du schuldest mir noch zwanzig Dollar für den Ziegenkäse!«

Sobald ich oben in der Wohnung war, zog ich mein Handy aus der Tasche und schickte Alyssa eine Nachricht.

Ich: Das nächstes Mal mache ich per SMS mit einem Mädchen Schluss.

Alyssa: So schlimm?

Ich: Furchtbar.

Alyssa: Sie tut mir leid. Sie hat dich wirklich gemocht.

Ich: Sie hat mich betrogen!

Alyssa: Und dennoch hast du noch dreimal mit ihr geschlafen.

Ich: Zu wem hältst du eigentlich?

Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.

Alyssa: Sie ist ein Monster! Ich bin so froh, dass du sie los bist. Niemand hat es verdient, mit so einer Psychotante auszugehen. Sie ist schrecklich. Hoffentlich tritt sie für den Rest ihres Lebens auf Legosteine.

Diese Antwort hatte ich gebraucht.

Alyssa: Hab dich lieb, bester Freund.

Ich las ihre Worte und versuchte, das Ziehen in meiner Brust zu ignorieren. Hab dich lieb. Nie würde ich so etwas zu einem anderen Menschen sagen, nicht einmal zu Ma oder Kellan. Aber manchmal, wenn Alyssa Marie Walters mir sagte, dass sie mich lieb hatte, dann wünschte ich mir, ich könnte es ihr ebenfalls sagen.

Aber wie schon gesagt: Ich konnte niemanden lieben.

Zumindest war das die Lüge, die ich mir jeden Tag einredete, um nicht verletzt zu werden. Die meisten Leute glaubten, Liebe sei etwas Gutes, aber ich wusste es besser. Seit Jahren musste ich mit ansehen, wie meine Mutter meinen Vater liebte, und dabei war noch nie was Gutes herausgekommen. Liebe war kein Segen, sondern ein Fluch. Wenn man ihr sein Herz einmal geöffnet hatte, hinterließ sie nichts als Brandnarben.

2

ALYSSA

Ich: Hey, Dad. Wollte nur wissen, ob du zum Klavierabend kommst.

Ich: Hey! Hast du meine Nachricht bekommen?

Ich: Hey, ich noch mal. Ich wollte nur sichergehen, dass alles okay ist. Erika und ich machen uns Sorgen.

Ich: Dad?

Ich:???

Ich: Bist du noch wach, Lo?

Ich starrte auf mein Handy, und das Herz hämmerte in meiner Brust, als ich die Nachricht an Logan schickte. Ich sah auf die Uhr und seufzte tief.

2.33 Uhr.

Eigentlich sollte ich schlafen, aber ich dachte mal wieder an meinen Dad. In den letzten zwei Tagen hatte ich ihm insgesamt fünfzehn Nachrichten geschickt und zehn Nachrichten auf die Mailbox gequatscht, aber ich hatte noch immer nichts von ihm gehört.

Ich legte mir das Handy auf die Brust und atmete tief ein und aus. Als es schließlich vibrierte, ging ich sofort dran. »Du solltest um diese Zeit eigentlich schlafen«, flüsterte ich, insgeheim aber froh, dass er geantwortet hatte. »Wieso schläfst du nicht?«

»Was ist passiert?«, fragte Logan und ignorierte meine Frage.

Ein leises Kichern schlich sich über meine Lippen. »Wie kommst du darauf, dass etwas passiert ist?«

»Alyssa«, sagte er ernst.

»Das Arschloch hat nicht zurückgerufen. Ich habe ihn diese Woche bestimmt zwanzigmal angerufen, und er hat nicht zurückgerufen.« Arschloch war der Name, mit dem wir meinen Vater beehrt hatten, nachdem er meine Mom und mich verlassen hatte. Er und ich, die beiden Musiker der Familie, hatten uns sehr nahegestanden, und als er ging, war ein Teil von mir mit ihm davongeflogen. Ich redete nicht oft über ihn, aber auch wenn ich es nicht direkt aussprach, wusste Logan, dass es mich bedrückte.

»Vergiss ihn. Er ist der letzte Dreck.«

»In ein paar Tagen spiele ich beim größten Sommer-Klavierkonzert meiner Karriere, und ich weiß nicht, ob ich das ohne ihn hinkriege.« Ich bemühte mich, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten, und versuchte krampfhaft, nicht zu weinen, aber in dieser Nacht verlor ich den Kampf. Ich machte mir viel mehr Gedanken um ihn, als Mom und Erika es taten, die ihn vielleicht nie wirklich verstanden hatten, weder als Künstler noch als Musiker. Meine Mutter und meine Schwester waren sehr rationale Menschen, was mit einer großen Stabilität einherging – Dad und ich dagegen waren eher Freigeister, die im Feuer tanzten.

Aber er hatte mich nicht zurückgerufen, und ich mache mir schreckliche Sorgen.

»Alyssa«, begann Logan.

»Lo«, flüsterte ich, und meine Stimme zitterte ein wenig. Mein Schluchzen drang in den Hörer, und ich richtete mich ein wenig auf. »Als ich klein war, hatte ich furchtbare Angst vor Gewitter. Ich bin immer zu meinen Eltern ins Schlafzimmer gelaufen und habe gebettelt, dass sie mich bei ihnen schlafen ließen. Mom hat immer Nein gesagt, weil sie meinte, ich müsste lernen, dass Gewitter mir nichts anhaben können. Und das Arschloch hat ihr immer zugestimmt. Also bin ich zurück in mein Zimmer gegangen und habe mich unter der Decke versteckt. Ich habe den Donner gehört und den Blitz nicht zu sehen versucht. Eine Minute später ging die Tür auf. Er brachte sein Keyboard mit und hat so lange neben meinem Bett gespielt, bis ich eingeschlafen war. An den meisten Tagen bin ich stark. Ich komme zurecht. Aber heute Nacht, mit dem Gewitter, und den ganzen Anrufen, auf die er nicht reagiert hat … Heute Nacht tut es furchtbar weh.«

»Lass es nicht zu, Alyssa. Lass ihn nicht gewinnen.«

»Ich bin nur …« Ich begann wieder zu weinen und in mich zusammenzusinken. »Ich bin gerade einfach nur sehr traurig, das ist alles.«

»Ich komme rüber.«

»Was? Nein. Es ist mitten in der Nacht.«

»Ich komme.«

»Die Busse fahren schon seit zwei Uhr nicht mehr, Logan. Und außerdem hat meine Mom das Tor abgeschlossen. Das Grundstück ist komplett verriegelt. Du würdest sowieso nicht reinkommen. Es ist schon in Ordnung.« Mom war eine erfolgreiche Anwältin und hatte Geld – viel Geld. Wir wohnten oben auf dem Berg, mit einem meterhohen Zaun rund um das Grundstück. Es war so ziemlich unmöglich hereinzukommen, nachdem Mom das Tor am Abend abgeschlossen hatte. »Es geht mir gut«, versicherte ich ihm. »Ich musste einfach nur deine Stimme hören, die mir sagt, dass ich ohne ihn besser dran bin.«

»Weil es so ist.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich meine es ernst. Du bist besser als dieses Arschloch.«

Mein Schluchzen wurde heftiger, und ich musste mir die Hand auf den Mund pressen, damit er nicht hörte, wie sehr ich weinte. Mein ganzer Körper bebte, und ich fiel förmlich in mich zusammen, während meine Tränen auf das Kopfkissen fielen und meine Gedanken mich nur noch mehr in Panik versetzten.

Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Was, wenn er wieder angefangen hatte zu trinken? Was, wenn …

»Ich komme.«

»Nein.«

»Alyssa. Bitte.« Er klang beinahe flehend.

»Bist du high?«, fragte ich.

Er zögerte, was mir als Antwort genügte. Ich wusste es immer, wenn er high war, hauptsächlich weil es fast immer der Fall war. Er wusste, dass es mir nicht gefiel, aber er sagte immer, er sei wie ein Hamster in seinem Rad, unfähig, die Richtung zu ändern.

Wir waren auf so viele Arten verschieden. Alles, was ich tat, war arbeiten, Klavier spielen und mit Logan abhängen. Er hatte so viel mehr Erfahrung in Dingen, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte, nahm Drogen, deren Namen ich nicht einmal kannte und in denen er sich fast jede Woche verlor, meistens, nachdem er mit seinem Vater oder mit seiner Mutter aneinandergeraten war. Aber irgendwie fand er immer den Weg nach Hause. Zu mir.

Ich versuchte so zu tun, als störte es mich nicht, aber manchmal tat es das doch.

»Gute Nacht, bester Freund«, sagte ich leise.

»Gute Nacht, beste Freundin«, antwortete er seufzend.

Er hielt die Hände hinter dem Rücken und war von Kopf bis Fuß klitschnass. Sein normalerweise welliges braunes Haar klebte an seinem Kopf und hing ihm strähnig in die Augen. Er trug seinen roten Lieblingskapuzenpulli und seine schwarze Jeans, die mehr Risse hatte, als eine Hose eigentlich haben sollte. Er sah mich mit einem schiefen Grinsen an.

»Logan, es ist halb drei in der Nacht«, flüsterte ich, um auf keinen Fall meine Mom zu wecken.

»Du hast geweint«, sagte er. »Und das Gewitter hat nicht aufgehört.«

»Du bist hergelaufen?«, fragte ich.

Er nieste. »War nicht so weit.«

»Du bist über das Tor geklettert?«

Er wand sich ein wenig und zeigte mir seine zerrissene Jeans. »Ich bin übers Tor geklettert. Und …« Er zog die Hände hinter dem Rücken hervor und brachte eine mit Alufolie bedeckte Kuchenform zum Vorschein. »… ich hab dir einen Pie gebacken.«

»Du hast einen Pie gebacken?«

»Ich hab eine Doku über Pies gesehen. Hast du gewusst, dass schon die alten Ägypter Pies kannten? Der erste dokumentierte Pie stammt von den Römern, und es war ein …«

»… Ziegenkäse-Honig-Pie mit Roggenkruste?«, unterbrach ich ihn.

Er sah mich entgeistert an. »Woher weißt du das?«

»Du hast es mir gestern erzählt.«

»Oh. Ja, richtig«, sagte er ein wenig verlegen.

Ich lachte. »Du bist high.«

Er kicherte und nickte. »Ich bin high.«

Ich lächelte. »Es sind mindestens fünfundvierzig Minuten von deiner Wohnung hierher, Logan. Das hättest du nicht tun müssen. Du zitterst ja. Komm rein.« Ich packte seinen tropfnassen Hoodie am Ärmel und zog ihn durch den Flur ins Badezimmer, das von meinem Zimmer abging. Dort setzte ich ihn auf den geschlossenen Toilettendeckel und schloss die Tür hinter uns. »Zieh Pulli und T-Shirt aus«, befahl ich.

Er lächelte verschmitzt. »Willst du mir nicht vorher einen Drink anbieten?«

»Logan Francis Silverstone«, knurrte ich. »Sei nicht seltsam.«

»Alyssa Marie Walters. Ich bin immer seltsam. Deshalb magst du mich.«

Da hatte er nicht unrecht.

Er zog den Hoodie und sein T-Shirt aus und warf beides in die Badewanne. Mein Blick huschte über seine Brust, und ich versuchte, die Schmetterlinge in meinem Bauch zu ignorieren, während ich Logan in drei Handtücher wickelte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Der Blick seiner karamellbraunen Augen wurde weich. Er beugte sich vor und sah mir in die Augen. »Ist alles okay?«

»Ja, alles in Ordnung.« Ich kämmte mit den Fingern durch sein Haar, das sich kalt und weich anfühlte. Er verfolgte jede meiner Bewegungen. Ich griff nach einem kleinen Handtuch, kniete mich vor ihn und schüttelte den Kopf, während ich ihm die Haare trocken rubbelte. »Du hättest zu Hause bleiben sollen.«

»Deine Augen sind ganz rot.«

Ich kicherte. »Deine auch.« Draußen donnerte es, und ich zuckte heftig zusammen. Logan legte eine Hand auf meinen Arm, und ein Schluckauf schlüpfte über meine Lippen. Ich starrte auf seine Finger, und sein Blick folgte meinem. Nach einem kurzen Moment räusperte ich mich und vergrößerte den Abstand zwischen uns wieder. »Essen wir jetzt Pie?«

»Wir essen jetzt Pie.«

Leise, um meine Mom nicht zu wecken, schlichen wir in die Küche. Dabei war ich sicher, dass sie bei der Menge an Schlaftabletten, die sie jeden Abend nahm, nicht aufwachen würde. Logan setzte sich mit klitschnassen Jeans und freiem Oberkörper auf die Arbeitsplatte und hielt mir seinen Pie hin.

»Teller?«, fragte ich.

»Gabel reicht.«

Ich nahm eine Gabel und setzte mich neben ihn auf die Küchenarbeitsplatte. Er nahm mir die Gabel ab, stach ein großes Stück vom Pie ab und hielt es mir hin. Bereitwillig öffnete ich den Mund, schloss die Augen – und verliebte mich.

Himmel.

Er war einfach der beste Koch. Ich war keine Expertin, aber ich bezweifelte, dass viele Menschen in der Lage waren, einen Ziegenkäse-Honig-Pie zuzubereiten. Und Logan bereitete ihn nicht einfach nur zu, er hauchte ihm Leben ein. Der Pie schmeckte cremig, frisch und einfach nur köstlich.

Ich schloss die Augen, öffnete den Mund und wartete auf die nächste Gabel Pie, die er mir gab. »Mhm«, stöhnte ich leise.

»Stöhnst du etwa über meinen Pie?«

»Absolut.«

»Mach den Mund auf. Das will ich noch mal hören.«

Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an. »Du bist schon wieder seltsam.« Er lächelte. Ich liebte dieses Lächeln. Er zog so häufig die Stirn kraus, dass ich gelernt hatte, die wenigen Momente, in denen er lächelte, zu genießen. Er stach ein weiteres Stück von seinem Pie ab und ließ es vor meinen Lippen schweben, als würde es durch die Luft fliegen, während er die entsprechenden Flugzeuggeräusche von sich gab. Ich versuchte nicht zu lachen, aber es gelang mir nicht. Dann öffnete ich den Mund, und das Flugzeug landete. »Mhm«, stöhnte ich.

»Du kannst unglaublich gut stöhnen.«

»Wenn ich jedes Mal, wenn ich das höre, einen Dollar bekäme«, unkte ich.

Er kniff die Augen zusammen. »Dann hättest du einen Dollar und null Cent«, zahlte er es mir heim.

»Idiot.«

»Nur um das klarzustellen, wenn irgendein anderer Kerl es wagen sollte, dir zu sagen, dass du gut stöhnen kannst, dann bring ich ihn um.«

Er sagte ständig, dass er jeden Jungen umbringen würde, der es wagte, auch nur in meine Richtung zu schauen, und das war sicher einer der Gründe, wieso meine Beziehungen nie funktionierten. Die anderen Jungs hatten panische Angst vor Logan Francis Silverstone – was ich nie recht verstanden hatte. Für mich war er ein einfach nur ein großer Teddybär.

»Das ist das Beste, das ich heute gegessen habe. Es ist so gut, dass ich am liebsten die Gabel einrahmen würde.«

»So gut?«, grinste er, und ich konnte sehen, wie stolz er war.

»So gut«, bestätigte ich. »Du solltest wirklich darüber nachdenken, auf eine Kochschule zu gehen. Du wärst unglaublich.«

Er schnaubte, und ein Runzeln zog über seine Stirn. »So was ist nichts für mich.«

»Könnte es aber.«

»Themawechsel.« Er zog die Nase kraus. Ich ließ es dabei bewenden, denn ich wusste, dass ich ein sensibles Thema berührt hatte. Er glaubte einfach nicht, dass er schlau genug war, um noch einmal irgendeine Art von Schule zu besuchen, aber da irrte er sich. Logan war einer der schlausten Menschen, die ich kannte. Wenn er sich selbst so sehen könnte, wie ich ihn sah, würde sein Leben sich für immer verändern.

Ich mopste ihm die Gabel und schob mir ein weiteres Stück in den Mund, das ich mit einem erneuten lauten Stöhnen kommentierte, um das Gespräch wieder ein wenig aufzulockern. Er lächelte wieder. Gut so. »Ich bin wirklich froh, dass du diesen Pie mitgebracht hast, Lo. Ich habe den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen. Mom sagt, ich muss noch zehn Kilo abnehmen, bevor ich im Herbst aufs College gehe, weil ich sonst Gefahr laufe, die Freshman Thirty mitzunehmen.«

»Ich dachte immer, es heißt Freshmen Fifteen?«

»Mom sagt, weil ich ohnehin schon zu dick bin, würde es sich bei mir noch stärker bemerkbar machen als bei normalen Studenten. Du weißt doch, wie sehr sie mich liebt.«

Er verdrehte dramatisch die Augen. »Wie nett von ihr.«

»Nach acht Uhr abends darf ich eigentlich nichts mehr essen.«

»Zum Glück ist es nach vier Uhr morgens, also ein neuer Tag! Wir müssen den ganzen Pie vor acht aufessen!«

Ich kicherte und hielt ihm schnell die Hände vor den Mund, damit er wieder leiser sprach. Seine Lippen küssten sanft meine Handflächen, und mein Herz ließ einen Schlag aus. Langsam ließ ich die Hände sinken. Die Schmetterlinge in meinem Bauch sammelten sich. Ich räusperte mich. »Das wird harte Arbeit, aber irgendjemand muss es ja tun.«

Und wir taten es; wir aßen den ganzen Pie. Als ich zur Spüle ging, um die Gabel abzuwaschen, griff er nach meiner Hand. »Nein, wir dürfen sie nicht abwaschen. Wir müssen sie rahmen, schon vergessen?« Ich spürte seine Hand in meiner, und mein Herz setzte zwei Schläge aus.

Als unsere Blicke sich trafen, trat er näher. »Und nur damit du es weißt, du bist wunderschön, so wie du bist, Aly. Hör nicht auf deine Mom. Ich finde dich wunderschön, nicht bloß an der Oberfläche. Das verliert sich mit der Zeit. Nein, ich meine in jeder Hinsicht. Du bist ein wundervoller Mensch, also vergiss, was andere denken. Du weißt ja, was ich von anderen Menschen halte.«

Ich nickte, denn ich kannte sein Motto sehr gut. »Scheiß auf Menschen. Leg dir lieber ein Haustier zu.«

»Korrekt.« Er lächelte ein wenig schief und ließ meine Hand los. Ich vermisste seine Berührung bereits, bevor er mich ganz losgelassen hatte. Er gähnte und lenkte mich so von meinem launischen Herzschlag ab.

»Müde?«, fragte ich.

»Ich könnte ein wenig schlafen.«

»Du musst aber weg sein, bevor meine Mom aufsteht.«

»Bin ich das nicht immer?«

Wir gingen in mein Zimmer. Ich gab ihm eine Jogginghose und ein T-Shirt, das ich ihm vor ein paar Wochen geklaut hatte, dann kletterten wir nebeneinander in mein Bett. Abgesehen von Logan hatte ich noch nie mit einem Jungen im selben Bett gelegen. Manchmal wachte ich auf und stellte fest, dass ich mit dem Kopf auf seiner Brust lag, und bevor ich ihn wegzog, lauschte ich seinem Herzschlag. Er atmete durch den Mund ein und aus. Als er zum ersten Mal die Nacht über bei mir geblieben war, hatte ich kein Auge zugemacht. Doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, und seine Geräusche erinnerten mich an zu Hause. Wie sich herausstellte, war »zu Hause« kein bestimmter Ort, sondern ein Gefühl, das von den Menschen ausging, die ich am meisten liebte, ein Gefühl von Frieden, das das Feuer in meiner Seele beruhigte.

»Immer noch müde?«, fragte ich, als wir nebeneinander in der Dunkelheit lagen. Mein Kopf war hellwach.

»Ja, aber wir können trotzdem reden.«

»Ich habe bloß gedacht: Du hast mir nie erzählt, wieso du so sehr auf Dokus stehst.«

Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, verschränkte sie dann hinter dem Kopf und starrte an die Decke. »In dem Sommer, bevor mein Großvater starb, habe ich ein paar Wochen bei ihm gewohnt. Er hatte eine Doku über das Weltall, und das hat mich fasziniert. Ich wollte unbedingt mehr wissen, über … alles. Ich wünschte, ich könnte mich an den Namen der Doku erinnern, dann würde ich sie mir kaufen. Irgendwas mit schwarzem Loch oder schwarzem Stern.« Er runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls, er und ich, wir haben uns immer mehr Dokus angesehen – es wurde zu unserer Spezialität. Das war der beste Sommer meines Lebens.« Eine Welle der Traurigkeit schien über ihm zusammenzuschlagen. Er senkte den Blick. »Nach seinem Tod habe ich die Tradition weitergeführt. Das ist so ziemlich die einzige Tradition, die ich jemals hatte.«

»Weißt du viel über die Sterne?«

»Eine Menge. Wenn es in dieser Stadt einen geeigneten Ort ohne Lichtverschmutzung geben würde, könnte ich dir die Sterne zeigen, und ein paar Sternbilder. Aber leider gibt es das hier nicht.«

»Wie schade. Das wäre wundervoll. Du solltest eine Dokumentation über dein Leben machen.«

Er lachte. »Das will doch niemand sehen.«

Ich wandte ihm das Gesicht zu. »Ich schon.«

Er schenkte mir ein schiefes Lächeln, bevor er den Arm um mich legte und mich an sich zog. Ich spürte seine Wärme, und es war, als würden Funken durch meinen Körper jagen.

»Lo?«, flüsterte ich, halb wach, halb schlafend, als ich mich still und heimlich in meinen besten Freund verliebte.

»Ja?«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch anstelle von Worten kam nur ein leises Seufzen über meine Lippen. Mein Kopf fiel auf seine Brust, und ich lauschte den Schlägen seines Herzens. Eins … zwei … fünfundvierzig …

Innerhalb von Minuten beruhigten sich meine Gedanken. Ich vergaß, warum ich so traurig gewesen war, und schlief ein.

3

LOGAN

Ma und ich hatten kein Kabelfernsehen in unserer Wohnung, aber das war okay. Das war mir nicht besonders wichtig. Als ich klein war, hatten wir Kabelfernsehen, aber es schien es nicht wert zu sein, wegen meines Vaters. Er bezahlte die Rechnung und beschwerte sich ständig darüber, dass ich vor der Glotze hockte und Comics schaute, als könnte er es nicht ertragen, wenn ich für ein paar Augenblicke am Tag glücklich war. Eines Tages nahm er den Fernseher mit und kündigte den Kabelvertrag.

Das war der Tag, an dem er bei uns auszog.

Und das war einer der besten Tage meines Lebens.

Einige Zeit später fand ich einen Fernseher im Müllcontainer. Er hatte einen kleinen 19-Zoll-Bildschirm und einen DVD-Player, also begann ich, mir in der Bücherei Dokumentationen auszuleihen und sie mir zu Hause auf dem kleinen Fernseher anzusehen. So wurde ich zu dem Jungen, der zu viel wusste: über Baseball, tropische Vogelarten, Area 51, alles nur wegen der Dokus. Gleichzeitig hatte ich keine Ahnung von gar nichts.

Manchmal setzte Ma sich zu mir, aber meistens schaute ich alleine.

Ma liebte mich, trotzdem konnte sie mich nicht besonders gut leiden.

Wobei, das stimmt nicht ganz.

Meine nüchterne Ma liebte mich, als wäre ich ihr bester Freund.

Meine zugedröhnte Ma war ein Monster, und in letzter Zeit war sie die Einzige, die bei uns zu Hause lebte.

Manchmal vermisste ich meine nüchterne Ma. Wenn ich die Augen schloss, erinnerte ich mich an ihr Lachen und an die geschwungene Form ihrer Lippen, wenn sie glücklich war.

Hör auf, Logan.

Ich hasste meinen Verstand dafür, dass er sich erinnerte. Erinnerungen waren nur Dolche in meiner Seele, und ich hatte ohnehin kaum positive, an denen ich mich hätte festhalten können.

Aber es war mir egal. Ich sorgte dafür, dass ich immer high genug war, um das beschissene Leben, das ich führte, beinahe zu vergessen. Wenn ich mich in meinem Zimmer einschloss, mit einem Stapel Dokus, die ich mir ansehen konnte, und genug gutem Dope, konnte ich fast vergessen, dass meine Mutter vor ein paar Wochen an der Straßenecke gestanden hatte, um für ein paar Lines Coke ihren Körper zu verkaufen.

Diesen Anruf von meinem Freund Jacob hätte ich lieber nie bekommen.

»Dude, hab grad deine Mom an der Ecke Jefferson und Wells Street gesehen. Ich glaube, sie, ähm …« Jacob zögerte. »Komm lieber her, Mann.«

Am Dienstagmorgen lag ich auf meinem Bett und starrte an die Decke, während im Hintergrund eine Dokumentation über chinesisches Kunsthandwerk lief, als sie nach mir rief.

»Logan! Logan! Logan, komm her!«

Ich rührte mich nicht und hoffte, sie würde aufhören zu rufen, aber das tat sie nicht. Also stemmte ich mich hoch und verließ mein Zimmer. Ma saß am Tisch. Unsere Wohnung war winzig, aber wir hatten ohnehin nicht viel, womit wir sie hätten füllen können. Ein vergammeltes Sofa, einen dreckigen Couchtisch und einen Esstisch mit drei nicht zusammengehörenden Stühlen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Du musst die Fenster von außen putzen, Logan«, sagte Ma und goss Milch in eine gesprungene Schale, in die sie fünf Cheerios legte. Sie behauptete, sie würde eine neue Diät machen, um nicht dick zu werden. Dabei wog sie mit ihren knapp eins achtzig nicht mehr als vielleicht fünfundfünfzig Kilo, sodass ich bei ihrem Anblick immer an ein Skelett denken musste.

Sie sah fix und fertig aus, und ich fragte mich, ob sie in der letzten Nacht überhaupt geschlafen hatte. Wenn ja, dann sicher nur ein, zwei Stunden.

Auch ihre Haare sahen furchtbar aus an diesem Morgen, allerdings nicht schlimmer als ihre gesamte Erscheinung. Ich konnte mich schon nicht mehr daran erinnern, dass Ma mal nicht so ausgesehen hatte. Jeden Sonntagmorgen lackierte sie sich die Fingernägel, und jeden Sonntagabend hatte sie den Lack schon wieder so weit abgekratzt, dass sie den Rest der Woche mit kleinen Farbflecken auf den Nägeln herumlief. Bis zum nächsten Sonntagmorgen, wenn die ganze Prozedur von vorne losging. Ihre Anziehsachen waren immer schmutzig, aber morgens um vier sprühte sie dann alles mit Textilerfrischer ein und bügelte, denn sie hielt Textilerfrischer für eine sinnvolle Alternative zum Waschsalon.

Ich sah das ein wenig anders und nahm, wenn sie es nicht bemerkte, ihre Sachen mit, um sie zu waschen. Die meisten Menschen beachteten einzelne Münzen, die auf der Straße lagen, vermutlich gar nicht, aber für mich bedeuteten sie eine Woche lang eine saubere Hose.