Wie der Minister die Jungfrau zersägte - Harry Keaton - E-Book

Wie der Minister die Jungfrau zersägte E-Book

Harry Keaton

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Beschreibung

Zersägte Jungfrauen, Kartentricks und die große Politik – wie passt das zusammen? Viel besser als man glaubt, behauptet Profi-Zauberer Harry Keaton. Mit seinem Buch tritt er den verblüffenden Beweis an. Dabei verlässt er sich nicht auf Plattitüden, sondern enthüllt originell, kenntnisreich und unterhaltsam die Gemeinsamkeiten. Der Autor weiht die Leser ein. Er enthüllt einige streng gehütete Geheimnisse der Zauberkunst, verrät welche Techniken Angela Merkel anwendet, und beantwortet u. a. folgende Fragen: Wozu benötigt Alexis Tsipras die Strategie des Forcierens? Wie nutzt Wladimir Putin das Out-to-Lunch-Prinzip für seine Macht? Während der Lektüre treffen Sie auf viele bekannte Politiker, z. B. Helmut Kohl, Willy Brandt, Karl-Theodor von Guttenberg, Silvio Berlusconi, Hillary Clinton oder Donald Trump. Mal seziert Keaton die Täuschungen nach allen Regeln der Kunst, mal beschreibt er in kurzweiligen Essays das Wesen von Politik und Magie. Der Lese- bzw. Showeffekt: Die genialen, schlitzohrigen und manchmal auch gefährlichen Täuschungen der Politstars lassen uns staunend zurück. Amüsante Anekdoten von Präsidenten, Kanzlern, Ministern, Quacksalbern und Magiern tragen zum Lesevergnügen bei.

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Seitenzahl: 332

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Harry Keaton

Wie der Minister die Jungfrau zersägte

Die heimlichen Parallelen zwischen Politik und Zauberei

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Harry Keaton

Wie der Minister die Jungfrau zersägte

Die heimlichen Parallelen zwischen Politik und Zauberei

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71–81

60327 Frankfurt am Main

Geschäftsführung: Oliver Rohloff

1. Auflage

Frankfurt am Main 2016

ISBN 978-3-95601-214-3

Copyright

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71–81

60327 Frankfurt am Main

Umschlag & Satz

Julia Desch, Frankfurt am Main

E-Book-Herstellung

Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.

Meinen Eltern gewidmet

Sie schenkten mir Gene und eine Erziehung, die sich zu einer unergründlichen Mischung aus Chaos und Disziplin entfalteten. Ohne beides würde es dieses Buch nicht geben.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Die Show beginnt in wenigen Minuten

1. Sage nie vorher, was Du tun wirst!

Zaubertrick 1: Die „Magician’s Choice“ – Wie Sie mit der Sprache den Zuschauer lenken

2. Der trickreiche Dr. Wladimir Putin

Zaubertrick 2: Das Out-To-Lunch-Prinzip – Eine verblüffende Verwandlung

3. „Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit“ – Ach je!

Zaubertrick 3: Die verschwundene Münze

4. Sei anders: Der Magier Karl-Theodor zu Guttenberg

Zaubertrick 4: Die Flasche aus dem Nichts – Wie sich der Magier von Trickhandlungen distanziert

5. Deute die Wirklichkeit zu Deinen Gunsten

6. Der Geheimnisvolle: Willy Brandt

7. Fatale Fehler und ertappte Zauberer

Zaubertrick 5: Die magische Farbenwahl

8. Wenn schwarze Riesen zaubern – Helmut Kohl

Zaubertrick 6: Das One-Ahead-Prinzip

9. Die Illusion von Macht und Tatkraft

10. Griechische Bürger: Ihr habt (k)eine Wahl

Zaubertrick 7: Die Matrix

Zaubertrick 8: Die Kreuzforce

11. Vorsicht Feind! Groß, böse, mächtig!

12. Con yourself into belief – Glaube Deiner eigenen Lüge

13. Das Enigma namens Angela

Zaubertrick 9: Der Münzpropeller

Zaubertrick 10: Die Sonntagsfrage

14. Freifahrschein ins Paradies

15. Bilder für die Ewigkeit: Die magische Geste

16. Wer bin ich? – Warum die Selbsterkenntnis für Täuschungskünstler so wichtig ist

17. Gesägt, getan: Wie Politiker die Säge ansetzen

18. Zugabe: Kuriose Fakten aus Politik und Zauberei

Anhang

Wie Edgar Allan Poe den Schachtürken entlarvte

Vielen Dank, dass Sie mich begleitet haben

Ich danke sehr! Thank you! Merci beaucoup!

Literatur

Bildnachweise

Sorry!

Kopiervorlage Medwedew

Kopiervorlage Putin

Kopiervorlage Münzpropeller

Freifahrschein ins Paradies: Auflösung des Rätsels

Anmerkungen

Der Autor

Die Show beginnt in wenigen Minuten

Endlich sind wir unter uns, liebe Leserin und lieber Leser, nur Sie und ich. Haben Sie es sich gemütlich gemacht?

Falls wir uns noch nicht kennen: Ich bin männlich, 1,76cm groß, habe Locken und blau-graue Augen. Aber deshalb haben Sie das Buch wohl kaum gekauft. Eher wegen des Themas und meiner professionellen Tätigkeit: Von Beruf bin ich Magier und Entertainer. Als Jugendlicher hatte ich unterschiedliche Berufswünsche: Zauberer wollte ich werden, vielleicht auch Journalist oder Lehrer. Und ja, auch die Laufbahn eines Politikers stand zeitweilig auf der Wunschliste. Aber mein größter Traum war doch die Arbeit als Zauberkünstler. Und so bin ich Magier geworden.

Bei meinen Auftritten lernte ich die außergewöhnlichsten Menschen kennen. Auch viele Politiker. Im Laufe der Jahre durfte ich vor verschiedenen Volksvertretern auftreten, darunter zwei Bundeskanzler, fünf Ministerpräsidenten und auch ein Prinz (Prince of Wales, hierzulande Prinz Charles genannt). Die Begegnung mit diesen Menschen hat meine Neugierde auf Politik beflügelt und ich entdeckte zu meinem Erstaunen erste Parallelen zwischen Politik und Zauberei. Mit diesem Wissen wagte ich mich schließlich vor einer Bundestagswahl an die Vorhersage des Wählervotums – vor laufender TV-Kamera in Berlin. Solche mentalen Experimente sind riskant, aber es gelang dennoch: Meine Voraussage eine Woche vor der Wahl war am Ende nicht nur korrekt, sie stimmte sogar exakt auf die Stelle hinter dem Komma für alle Parteien. Ich war überglücklich.

Das hat mich ermutigt, mich intensiver mit Politik zu beschäftigen und meine Entdeckungen in einem Buch festzuhalten. Nun liegt es vor Ihnen und ich freue mich, dass ich mich dazu durchgerungen habe, Ihnen auch einige gut gehütete Geheimnisse der Zauberkunst zu verraten. Normalerweise gibt ein Zauberer sein Wissen nicht preis. Das widerspricht unserem Ehrenkodex. Aber für dieses Buch mache ich eine Ausnahme. Ich bin über meinen Schatten gesprungen, damit ich Ihnen zeigen kann, worin die Gemeinsamkeiten von Zauberei und Politik bestehen. Ein Politiker würde diese Analogie nie zugeben, denn mit Illusionen oder Tricks hat er nichts am Hut. Natürlich nicht! Also muss ich es tun, damit Sie, liebe Leser und Leserinnen, nicht arglos vor der politischen Bühne stehen. Die Parallelen zwischen dem magischen und politischen Parkett sind aus meiner Sicht so offensichtlich, dass es verwundert, warum es noch niemand aufgeschrieben hat: Es gibt beispielsweise in der Zauberei das Konzept der „gezwungenen Wahl“: Der Zuschauer glaubt, er hätte die freie Wahl, aber tatsächlich lenkt ihn der Zauberer unbemerkt zu einer ganz bestimmten Entscheidung. Das finden wir auch in der Politik. Wohlgemerkt, in einer Demokratie!

Und noch ein Beispiel: Der Zauberer lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer wie eine Filmkamera: Er zeigt dem Publikum nur die Dinge, die ihm und seiner Täuschung nutzen. Alles andere blendet er aus.

Im Buch werden Sie erstaunlich viele Politiker finden, die mit dieser Strategie arbeiten.

Die Auswahl der Themen und analysierten Politiker folgt keinem festen Schema, sondern allein meiner Neugierde. Gehen Sie mit mir auf eine magische Erkundungsreise. Die Lektüre wird Ihnen Spaß machen und einige Geheimnisse – da bin ich mir ganz sicher – werden für Sie von Nutzen sein. Also Vorhang auf; Ihr Minister und Magier, Ihr Kanzler und Präsidenten, Ihr Abgeordneten und Hochstapler, Ihr Blender, Arbeitstiere und Teufelskerle, seid Ihr bereit? Bereit, um uns zu erstaunen, zu unterhalten und zu täuschen? Dann bitte auf die Bühne; wir warten …

*

* Liebe Wähler und liebe Wählerinnen, liebe Politiker und liebe Politikerinnen, liebe Bücherwürmer und liebe Bücherwürmerinnen … diese Anrede ist vielleicht politisch korrekt, verunstaltet aber die Sprache und ermüdet auf Dauer. „Bücherwürmerinnen“ hört sich auch ziemlich schräg an. Deshalb verwende ich in diesem Buch immer die Form, die den Lesefluss erleichtert. Ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort: Die Käufer dieses Buches – ob weiblich oder männlich – ich achte Sie alle gleich hoch.

1. Sage nie vorher, was Du tun wirst!

Das Reden ist ein wichtiges Instrument eines Zauberers. Die gesprochene Sprache selbst kann eine durchschlagende, geradezu magische Kraft entwickeln. An die Stelle der Zaubersprüche „Abrakadabra“, „Hokuspokus Fidibus“ oder „Simsalabim“ rücken Formeln mit beschwörender Kraft. Sie brennen sich in das kollektive Bewusstsein ein. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle; jede Zeit hat ihre eigenen Helden: der Wahlkampf-Slogan des US-Präsidenten Barack Obama – „Yes We Can“ –, „Ich bin ein Berliner“ von John F. Kennedy 1963 oder – schon etwas länger her – die Rede von Kaiser WilhelmII., 1914: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Selbst wenn eine Formulierung nur lautmalerisch einem Zauberspruch gleicht – wie beispielsweise „Hätte, hätte, Fahrradkette“ (SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück 2013) –, bleibt sie lange in den Köpfen haften. Als Titel verwendet lassen sich damit sogar Bücher verkaufen, wie der Kabarettist Florian Schröder beweist.

Politik und Zauberkunst treffen sich beim Werkzeug „Sprache“ in einer goldenen Regel. Diese Grundregel klingt banal. Ja, die Empfehlung findet sich sogar in Zauberkästen für Kinder. Das macht sie nicht weniger wichtig:

Sage nie vorher, was Du tun wirst!

Sie gehört zum kleinen Einmaleins der Zauberkunst. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber gemeinhin kündigt der Zauberer nicht an, was gleich passieren wird. Sonst wäre die Gefahr viel zu groß, dass die Zuschauer seine Trickhandlungen durchschauen. Sie wüssten ja, worauf sie zu achten hätten. In der Politik gilt diese Regel erst recht: Zwar erwartet der Wähler eine Aussage darüber, was der Politiker nach der Wahl zu tun gedenkt. Aber solche Aussagen können nur vage bleiben, denn hier beginnt für den Politiker der Balanceakt: Sagt er zu wenig, wird er vielleicht nicht gewählt. Sagt er zu viel, fliegt es ihm womöglich eines Tages als unwahr um die Ohren.

George H. W. Bush Senior hat einmal dramatisch gegen die magische Grundregel verstoßen: Lange hatte sich der Vizepräsident von Ronald Reagan nicht konkret zum Thema „Steuern“ festlegen lassen wollen. Dabei galt er als aussichtsreicher Kandidat bei der anstehenden Präsidentenwahl. Seine Berater drängten ihn, sich eindeutig zu äußern, was er dann auch schlagkräftig tat: „Read my lips. No new taxes“ („Lest es von meinen Lippen ab: keine neuen Steuern“). Nach seiner Wahl zum 41. Präsidenten der USA kam es, wie es kommen musste: Er konnte sein Versprechen nicht einhalten. Die Wirtschaftsflaute und der von den Demokraten dominierte Kongress zwangen ihn dazu. Bush erhöhte die Steuern und verlor nach nur vier Amtsjahren die nächste Wahl gegen seinen demokratischen Herausforderer Bill Clinton.

„Ich will nicht alles anders machen, nur vieles besser“, sagte Gerhard Schröder nebulös im Wahlkampf 1998. Das klang gut, obwohl er – natürlich – nicht konkret wurde. Anstelle von klaren Aussagen lullte der Kanzlerkandidat sein Publikum ein: „Ich bin aus Prinzip für ein vernünftiges Sozialsystem. Das Prinzip heißt Gerechtigkeit.“ Wer kann dagegen schon etwas einwenden. Schröder gewann schnell das Ansehen eines „smarten Politikers“, und doch macht auch ein solch gewitzter Polit-Profi einmal Fehler. In seiner ersten Amtszeit bringt er einen folgenschweren Satz: „Wenn wir die Arbeitslosenquote nicht spürbar senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.“ Die Arbeitslosenzahl stieg und seine großsprecherische Aussage wurde zum gefundenen Fressen für den politischen Gegner.

Es ist also nicht verwunderlich, wenn Politiker eindeutige Aussagen vermeiden. Als Naturwissenschaftlerin hat Angela Merkel eine große Affinität zur Mathematik – sie war Einser-Abiturientin, schätzt präzise Formeln und klare Ansagen. Aber in der Öffentlichkeit verlässt sie sich lieber auf Allgemeinplätze:

„Wir brauchen endlich wieder eine Politik, die die Kräfte der Menschen in diesem Lande ernst nimmt, denn es ist doch kein Zweifel, dass es ein großes Potential an Begabungen gibt, die sich entfalten wollen, dass es starke Kräfte gibt, die wir mobilisieren können in diesem Land, dass es so viel gesunden Menschenverstand gibt, der mit den Realitäten richtig umgehen kann. Und genau das heißt, die Prioritäten richtig zu setzen.“1

Das klingt ja gut und richtig, aber was genau sind nun diese Prioritäten?

Merkel habe sich, so ihre Biografin Evelyn Roll, bei Kohl abgeguckt, dass sie darüber, was sie politisch will, nicht rede.2 Denn es würde an dem gemessen werden, was sie hinterher tatsächlich durchsetzt. Man solle keine Versprechen machen, meinte die Kanzlerin einmal im vertrauten Kreis, weil man so erpressbar werde. Auch bei Hans-Dietrich Genscher (zuweilen „Genschman“ genannt) konnte Merkel beobachten, wie wichtig es ist, Festlegungen zu vermeiden: Der „Meister des Ungefähren“ gehörte nicht umsonst von 1969 bis 1992 ohne größere Unterbrechungen der Bundesregierung an – mal als Innenminister, später als Außenminister und Vize der Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl.

„Nur Trödel ist Dein Taschenspielerkram,

wenn Deine Zunge keinen Zauber übt.“

(F. W. Conradi-Horster, deutscher Zauberkünstler,

Fachschriftsteller und Schöpfer von Zauberapparaten, 1870–1944)

Politiker und Zauberer (besonders Mentalmagier) machen sich also das Ungefähre, das Schwebende in ihrer eigenen Sprache zunutze, um sich mehrere Optionen offenzuhalten. Die Sprache kann den Zuhörer fesseln, ohne eindeutig zu sein. Nehmen wir einmal Uri Geller, den israelischen Mentalisten. Er inszeniert sich als Psi-Begabter, verbiegt am liebsten Besteck und gehört zu den ganz wenigen Künstlern, die es auf die Titelseite des Magazins Der Spiegel geschafft haben. Mein Kollege Thomas Fröschle alias Topas fragte ihn einmal ganz direkt: „Nervt es nicht manchmal, wenn man dauernd so tun muss, als hätte man übersinnliche Fähigkeiten?“ Selbst erfolgreicher Zauberer, kennt er natürlich die Methoden des israelischen Showstars. Topas war gespannt auf die Antwort. Würde Geller zugeben, dass er mit Tricks arbeitet? Oder würde er darauf bestehen, übersinnliche Kräfte zu haben? Weder noch: „Uri sprach lange und ausführlich, aber völlig uneindeutig zu mir, wie mit einem Journalisten. Er legte Fährten in beide Richtungen. Er habe wirklich nie ein Zauberbuch gelesen. Viele Zauberer könnten besser Löffel verbiegen als er. Er habe nie Grenzen der Verantwortung überschritten, oder jedenfalls sehr selten etc. etc. Ein rhetorisches Tänzchen in perfekter Balance.“ Der Künstler als Musterbeispiel eines Politikers. Mit seinen vagen Formulierungen verscherzt es sich Uri Geller weder mit den Zauberern noch mit den PSI-Anhängern.

In der Politik gibt es noch weitere Gründe, sich in einer sehr vagen Sprache auszudrücken:

Franz Müntefering erinnert sich in bemerkenswerter Offenheit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung daran, wie es ihm als Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Bundestagsfraktion erging:

„Ich musste nun über Dinge reden, öffentlich, vor zahlreichen Menschen und Kameras, die ich nicht hinreichend durchdrungen hatte (…). Ich habe mich durchgebissen, aber das Problem dieser Situation nie vergessen.“3

Politiker müssen permanent suggerieren, sie wüssten Bescheid. Als hätten sie alle Probleme verstanden und auch die entsprechenden Lösungen für jede Krise parat. Ist das nicht eine permanente Überforderung? Welcher Politiker kennt sich schon allen Ernstes in allen Fachbereichen gleichermaßen gut aus? Ein bisschen ist das wie in der Schule: Wie täuscht man darüber hinweg, wenn man keine Ahnung hat? Die ehrliche Antwort eines Politikers müsste also oftmals lauten: „Das weiß ich nicht.“ Aber entspricht diese Antwort wirklich der Erwartungshaltung der Wähler? Und der der Medien? Mit einer Ansammlung von Allgemeinplätzen setzt man sich zumindest nicht in die Nesseln.

Wenn wir als Zauberer die Grundregel „Sage nie vorher, was Du tun wirst“ beherzigen, tun wir es auch, um unsere Zuschauer überraschen zu können. Willy Brandt beispielsweise nannte die „Überrumpelung“ eines der wichtigsten Mittel der Politik.4 Die Überraschung sprengt den Rahmen, verlässt die üblichen Parameter. Eine vorherige Ankündigung würde den Effekt verderben: Der Magier gibt die Waffen aus der Hand, mit denen er das Publikum erobern möchte. Der Zuschauer ist perplex, wenn sich ein Luftballon blitzartig in eine Taube verwandelt oder die schwebende Frau inmitten der Luft verschwindet.

Am 28. November 1989 gelang Helmut Kohl solch ein Überraschungseffekt so gut wie nie zuvor: Er trägt im Deutschen Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit vor. Eine Sensation! Noch nicht einmal seinen Koalitionspartner, die FDP, hatte er eingeweiht. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags sind so verblüfft, dass selbst die SPD-Politiker spontan dem Plan zustimmen.

Sie lernen jetzt einen Trick, bei dem es vor allem darauf ankommt, die Sprache geschickt einzusetzen.

Anleitungen für Zaubertricks sind tödlich. Tödlich einschläfernd. Sie lesen sich wie ein Ritt durch die Sahara: sehr trocken. Der Unterhaltungswert solcher Texte ist gering, aber die Mühe lohnt sich: Sie lernen, wie Sie Ihre Freunde verblüffen können.

ZAUBERTRICK 1

Die „Magician’s Choice“ – Wie Sie mit der Sprache den Zuschauer lenken

Der Effekt: Ein Zuschauer wählt aus fünf Gegenständen einen Gegenstand aus. Er glaubt, die Wahl sei seine freie Entscheidung. Er irrt sich! Der Magier lenkt ihn unauffällig zu einem ganz bestimmten Gegenstand hin.

Das Geheimnis: Die nachfolgend beschriebene Methode, damit jemand etwas tut, das Sie möchten, lässt sich auf die unterschiedlichsten Gegenstände anwenden. Die sogenannte „Magician’s Choice“ beruht – wie viele mentale Effekte – auf einem geschickten Umgang mit der Sprache. Richtig ausgeführt kommt die Technik spielerisch leicht daher und dann verfügen Sie über eine starke Waffe. Wenn der britische Mentalist David Berglas die „Magician’s Choice“ verwendet, wird daraus geradezu eine Sensation.

Am schnellsten lässt sich die Technik erlernen, indem wir einen möglichen Ablauf durchspielen. Auf dem Tisch liegen beispielsweise fünf Gegenstände: eine Nuss, ein Bleistift, ein Löffel, eine Uhr und ein Schlüssel. Ihr (heimliches) Ziel ist es, dass der Zuschauer die Nuss „wählt“ (vielleicht weil Sie in der Nuss etwas versteckt haben oder die Nuss Teil Ihrer Vorhersage ist … wie auch immer). Sie sitzen neben dem Zuschauer am Tisch.

Bitten Sie den Zuschauer, die Gegenstände in eine Reihe zu legen. Nun darf er sie mehrmals vertauschen, es ist seine Entscheidung. Betonen Sie das ruhig:

„Sie entscheiden, in welcher Reihenfolge die Gegenstände liegen sollen, ganz wie Sie wollen. Gut, nehmen Sie bitte zwei Gegenstände auf, einen mit der rechten Hand, einen mit der linken.“

Nehmen wir an, Ihr Kandidat hält nun die Nuss in der einen und den Bleistift in der anderen Hand. Reden Sie weiter:

„Sie treffen jetzt eine wichtige Entscheidung. Bitte geben Sie mir einen Gegenstand – welchen auch immer Sie wollen.“

Nun gibt er Ihnen den Bleistift.

„Okay, die Nuss wollen Sie behalten – es ist Ihre Entscheidung!“ Er hat die Nuss „gewählt“. Bingo!

Wenn er Ihnen aber die Nuss gibt, halten Sie diese hoch und sagen:

„Die Nuss – also gut, wie Sie wollen. Legen Sie den Bleistift beiseite.“ Bingo! In beiden Fällen endet der Zuschauer bei der Nuss.

Was aber ist, wenn der Zuschauer die Nuss nicht genommen hat, sondern stattdessen den Bleistift und den Löffel. Kein Problem, Sie machen einfach ohne zu zögern weiter:

„Gut, legen Sie die beiden Gegenstände (Bleistift und Löffel) beiseite und vertauschen Sie die restlichen Objekte vor sich. Die Reihenfolge liegt ganz allein bei Ihnen.“

Auf dem Tisch liegen also der Schlüssel, die Uhr und die Nuss. Sollte die Nuss in der Mitte liegen, fragen Sie Ihren Mitspieler beiläufig:

„Mitte oder außen?“

Sagt er nun „Mitte“, bitten Sie ihn, den Gegenstand in der Mitte zu nehmen. Bingo, wieder die Nuss!

Sagt er „außen“, sagen Sie:

„Okay, legen Sie beide äußeren Gegenstände zur Seite. Und übrig bleibt die Nuss – Ihre Entscheidung!“ Und wieder: Bingo!

Hier noch einige Tipps:

+Sagen Sie nicht vorher, was passieren wird.

+Denken Sie voraus und passen Sie die Wörter der Situation an.

+Vermeiden Sie das Wort „wählen“.

+Wählen Sie Ihren Spielpartner sorgfältig aus. Bevorzugen Sie spontane Personen, die sich auf einen Spaß freuen. Wenn Sie ein Mann sind, nehmen Sie am besten eine Frau. Und umgekehrt.

+Vermeiden Sie einen Text nach einem festen Schema, bleiben Sie flexibel.

+Schenken Sie den Aktionen Ihres Mitspielers (scheinbar) keine Aufmerksamkeit.

+Tragen Sie Ihre Anweisungen selbstsicher und zügig vor.

Ist Ihnen das Prinzip klar geworden? Es ist müßig, alle möglichen Spielzüge der Mitspieler hier zu beschreiben, aber: Was immer Ihr Mitspieler auch tut, es ist alles gut und richtig. Das Publikum denkt, Sie hätten einen Plan. Tatsächlich halten Sie sich alle Optionen offen und passen Ihre Worte geschmeidig der Situation an. Eben wie ein echter Politiker.

Erste intensive Beschäftigung mit Politik (Vorhersage der Bundestagswahl auf dem Potsdamer Platz in Berlin: Die Linke hieß damals noch PDS)

2. Der trickreiche Dr.Wladimir Putin

Wladimir Wladimirowitsch Putin, Präsident der Russischen Föderation. Sohn einer Putzfrau und eines Arbeiters. Beherrscht Kampfsportarten wie zum Beispiel Judo. War sieben Jahre KGB-Offizier (sowjetischer Geheimdienst, heute FSB). Spricht fließend Deutsch, seine Frau Ljudmila – mittlerweile von ihm geschieden – arbeitete einst als Deutschlehrerin. Putin war von 1985 bis 1990 in der DDR stationiert, hauptsächlich in Dresden. Fühlte sich von Moskau beim Zusammenbruch der DDR verraten, namentlich von Gorbatschow, und empfindet den Zerfall der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Mitarbeit im Wahlkampfstab von Boris Jelzin, später wird Putin zum Präsidenten gewählt. Der neue Staatschef ist ganz anders als seine Vorgänger. Er trinkt keinen Alkohol, spricht Fremdsprachen (was kaum ein Machthaber in Moskau zuvor vermochte), trägt gut sitzende Anzüge, treibt viel Sport. Das russische Volk schätzt sein hartes Vorgehen im Tschetschenien-Krieg. Macho-Sprüche. Putins System wird auch „gelenkte Demokratie“ genannt; Kennzeichen hierfür ist die „Vertikale der Macht“, also die lückenlose Umsetzung der Befehlskette. Barack Obama nannte Putin einmal ein „gelangweiltes Kind in der letzten Reihe der Klasse“.

Der Präsident will, dass Russland wieder eine Großmacht wird. Nach der Annexion der Krim ist der Kremlchef in seinem Land so populär wie noch nie. Während Putins Amtszeit sind viele seiner Freunde zu großen Reichtümern gekommen.

„Boris Jelzin“, so schrieb 1999 die Zeitung Moskowskije nowosti nach Putins Ernennung, „zog aus seinem vom häufigen Benutzen klebrig gewordenen Kader-Kartenspiel den kleinen unscheinbaren Direktor des FSB hervor und ernannte ihn zu seinem Nachfolger. Was wird dieser müde, farblose Mann, ohne eine Spur von Anziehungskraft geschweige denn Charisma, dieser wenig einprägsame Mensch schon können?“

Jelzins Nachfolger wurde nicht lediglich unterschätzt, nein: Eine journalistische Befragung der politischen und wirtschaftlichen Elite Russlands beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos ergab, dass niemand Genaueres über ihn zu sagen wusste. Da hat also das größte Land der Welt – ein Land mit riesigen Öl- und Gasvorräten sowie Nuklearwaffen – einen neuen Präsidenten und offenbar ist allen ein Rätsel, wer der Mann ist.

Putin, schreibt Masha Gessen1, trete bewusst als undurchschaubarer, emotionsloser Mann auf, der sich nicht in die Karten sehen lasse. In ihrem gleichnamigen Buch nennt die Autorin den Präsidenten einen „Mann ohne Gesicht“. Er ist wie ein gerissener Pokerspieler oder Zauberer, der seine Geheimnisse nicht preisgeben will. Jelzins Nachfolger will sich unter keinen Umständen ausrechnen lassen. Er weiß pragmatisch Positionen zu wechseln und seinen Handlungsspielraum zu erweitern: Mal vergleicht sich der Staatschef mit dem Pazifisten Ghandi (ja, das tut er!2), dann wieder – durchaus selbstironisch – mit Kaa, der Schlange aus dem Dschungelbuch.3 Die Riesenschlange versteht sich auf die Kunst des Hypnotisierens und ist gefährlich, weil sie so schlau ist (von Rudyard Kiplings Dschungelbuch waren auch andere fasziniert: Der große Nachkriegszauberer Helmut Schreiber gab sich den Künstlernamen Kalanag – in Anlehnung an den Elefanten Kala Nag).

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stimmt Putin zu, dass die Amerikaner im Kampf gegen den Terror Militärbasen der ehemaligen Sowjetrepubliken nutzen dürfen. Selbst der russische Verteidigungsminister ist von dieser Entscheidung überrascht, von der westlichen Welt ganz zu schweigen. Während des Ukraine-Konflikts hatte im Westen zudem niemand ernstlich mit der Annexion der Halbinsel Krim gerechnet (listig vergleicht Putin seinen Überraschungscoup mit der deutschen Wiedervereinigung4). Und ebenso geheim – und überraschend – waren die militärische Intervention in Syrien September 2015 und dann der schnelle, konsequente Rückzug im März 2016.

Vielleicht rührt Putins Faible für Geheimes aus seinen Kindheitstagen. Als kleiner Junge träumte er von einer geheimen Macht. Angeregt wurde er durch einen Roman mit dem Titel Der Schild und das Schwert – ein Bestseller in der damaligen Sowjetunion. Seine Hauptfigur war ein sowjetischer Geheimagent, der in Deutschland arbeitete. Das Buch wurde auch fürs Fernsehen bearbeitet und die Serie erfreute sich großer Beliebtheit. „Über eine Art geheimer Macht zu verfügen“, das ist laut Gessen, was Putin sich wünscht: „Es beeindruckte mich stark, dass eine kleine Einheit, eine Einzelperson tatsächlich etwas erreichen konnte, das einer ganzen Armee nicht gelang (…). Ein einziger Geheimagent konnte das Schicksal Tausender Menschen bestimmen. Zumindest sah ich es so.“5 Putins familiäres Umfeld begünstigt derartige Phantasien. Seine Kindheit sei nicht sehr emotional gewesen, verrät der Russe irgendwann dem deutschen Journalisten Hubert Seipel. Man habe sich in der Familie gegenseitig nichts erzählt: „Jeder lebte irgendwie in sich selbst.“6

Wunschträume von einer geheimen Macht kennen wir Zauberer nur zu gut. Die Kindheit war eine ohnmächtige Zeit, so war es auch für mich.

Doch die Zauberei gewährte nur mir allein Zugang zu einem Geheimwissen und ermöglichte kleine Fluchten. Denn zur Welt der Magie hatten die Erwachsenen keinen Zugang. Sie, die sonst alles wussten und bestimmten, hatten keine Erklärung für meine Kunststücke. In diesen Momenten fühlte sich der Keaton Junior stark und mächtig und alles schien möglich zu sein.

Irgendeine geheime Macht zu besitzen, danach sehnen sich ja die meisten Kinder: Sich unsichtbar zu machen. Superstark zu sein. Fliegen zu können. Gemessen an den vielen Kindern mit diesen Sehnsüchten sind es vergleichsweise wenige Menschen, bei denen dieser Traum zur Blaupause des gesamten Lebens wird. Bei Putin manifestiert sich die Sehnsucht nach einer geheimen Macht im festen Wunsch, ein Geheimagent zu werden. Energisch arbeitet er an seinem Ziel. Mit zwölf Jahren fragt er beim KGB an, was es denn brauche, um beim Komitee zu arbeiten. Ein juristisches Studium wäre nicht schlecht, heißt es da. Und Erfahrung im Nahkampf – Mann gegen Mann – wäre auch von Vorteil. Gegen den Willen der Eltern widmet Putin sich also einer russischen Kampfkunst namens Sambo, eine Mischung aus Judo, Karate und Ringkampf. Später konzentriert er sich auf die olympische Kampfsportart Judo. Und er beginnt Jura zu studieren und beendet das Studium mit der Promotion.

Mit 32 Jahren wird sein großer Traum wahr – endlich; er wird an der Spionageschule in Moskau ausgebildet. Wie sein Romanheld aus der Kindheit wird auch er nach Deutschland abkommandiert, als KGB-Major. Über seinen Beruf pflegte Putin zu sagen: „Ich bin Experte für zwischenmenschliche Beziehungen.“7 Seine anfängliche Freude bekommt jedoch einen empfindlichen Dämpfer. Er wird „nur“ in die DDR versetzt und nicht ins feindliche Westdeutschland. Die Agenten werden in der jeweiligen Landeswährung bezahlt. In Westdeutschland wäre sein Verdienst höher gewesen.

Dem jungen Geheimdienst-Offizier wird ein spezielles Weltbild eingetrichtert: Er sieht sich von Feinden umzingelt, wittert Intrigen und wähnt sich im permanenten Krieg. In diesem Kampf sind alle Mittel der Gegenwehr erlaubt. Da nimmt es nicht Wunder, dass Putins später große, innenpolitischen Erfolge auf Kampf und Kriegshandlungen beruhen werden – wie im Zweiten Tschetschenienkrieg und im Ukraine-Konflikt.

Vor seiner Wahl im Jahr 2000 hält sich Putin eisern an die magische Grundregel: Sage niemals vorher, was Du tun wirst. Entsprechend macht er keinerlei politische oder ideologische Andeutungen. Putin nutzt den Umstand, dass sich sein bisheriges Wirken auf die engen Grenzen des Geheimdienstes beschränkte. So kann er die Informationen über seine Person besser steuern als jeder andere moderne Politiker. Er stampft eine neue politische Partei aus dem Boden, „Eintracht“ genannt oder auch „Medwed“, der Bär (finanziell unterstützt von dem engen Vertrauten Jelzins, Boris Beresowskij). Diese Gruppierung war im Dezember 1999 ohne Programm angetreten. Das muss man sich einmal vor Augen halten: Eine neue Partei ohne Wahlprogramm kämpft für den Wahlerfolg von Putin und dieser holt aus dem Stand 52 Prozent der Stimmen. Der Wahlkampf richtete sich in erster Linie nach einem Buch über Putin, in dem er sich als Schläger mit Hang zum Jähzorn darstellt: „Damals habe ich gelernt: Wenn ein Kampf schon unvermeidlich ist, dann musst du wenigstens der Erste sein, der zuschlägt.“8

Das russische Volk hat eine Schwäche für starke Anführer. Im Gegensatz zu Boris Jelzin wirkt Putin jung, dynamisch, „nicht abhängig von Alkohol und dunklen Drahtziehern, entschieden im Kampf gegen Korruption, Verbrechen und ‚die Mafia‘“9. Für Putin passt zu diesem Zeitpunkt alles: Seine Biografie als unberechenbarer Schläger, die Begeisterung für unterschiedliche Formen des Kampfes, die Kraftmeier-Sprüche und eben der Beginn des Krieges gegen das Volk im Nordkaukasus. „Ich muss so sein, wie mein Volk will“, sagt Putin.10 Ein Feindbild hat noch jedem Machthaber geholfen, die Aufmerksamkeit seiner Bürger von eigenen Fehlern abzulenken. Schuld haben immer die anderen (siehe auch das Kapitel Vorsicht Feind! Groß, böse, mächtig!). Die Rivalität mit den USA wird für den russischen Staatschef im Verlauf seiner Präsidentschaft systemerhaltend. Amerika tue alles, so der Kreml-Chef, um „Russland in seiner Entwicklung einzudämmen“11.

Die verdeckte Ermittlung war eine der Lehren, die Putin aus dem Geheimdienst mitbrachte; neben dem offenen Agieren gibt es – wie in der Zauberkunst – auch eine verborgene Ebene. In seinen ersten Amtshandlungen als Staatspräsident kommt dies auch prompt zum Ausdruck: Einige Tage nach Amtseinführung räumt er den 40 Regierungsministern und anderen hohen Amtsträgern das Recht ein, Informationen als geheim einzustufen.12

Wie Putin Dinge verschwinden lässt

Im Jahr 2005 besuchte Putin als Ehrengast das New Yorker Solomon R. Guggenheim Museum. Die Gastgeber zeigen dem Gast im Zuge eines Rundgangs ein Ausstellungsstück: eine mit Wodka gefüllte Glaskopie eines Kalaschnikow-Sturmgewehrs. Putin nickt einem seiner Leibwächter zu, der nimmt das Glasgewehr und trägt es wortlos hinaus. Den Gastgebern verschlägt es angesichts dieser Unverfrorenheit die Sprache.

Das nachfolgende Ereignis im gleichen Jahr hatte in den USA eine Flut von Artikeln zur Folge. Sogar das Weiße Haus schaltete sich ein, um einen Eklat zu verhindern. Der amerikanische Geschäftsmann Robert Kraft (Eigentümer der New England Patriots) zeigte Putin bei einem Besuch in Sankt Petersburg einen besonders wertvollen Ring. Den hatte er nach dem Super-Bowl-Sieg seiner Mannschaft erhalten. Putin bittet darum, den Ring mit der Gravur des Unternehmers einmal ansehen zu dürfen: „Damit könnte ich jemanden umbringen“, sagt er, steckt den Ring in seine Hosentasche und verlässt – umringt von drei KGB-Männern – rasch den Raum.13 Der Ring war mit 124 Diamanten besetzt. Tja, möchte man fast sagen, Putin ist eben ein lupenreiner Demokrat. Er selbst jedenfalls sagt das über sich.14 Und sein Duzfreund Gerhard Schröder sagt das auch.

Putin weiß, was Menschen wollen: 38 Millionen Rentner sind eine große Wählergruppe, die er nicht an die Kommunisten verlieren will. Unmittelbar vor den Parlamentswahlen verordnet er eine für russische Verhältnisse deutliche Erhöhung der Renten von rund acht Euro monatlich – sein Dekret tritt genau einen Tag vor der Wahl in Kraft. Das ist gelungenes Timing! Mich erinnert es an den österreichischen Zauberer Ludwig Döbler, der einst unzählige Blumensträußchen aus seinem Hut zog und sie jeweils mit einem Kompliment an die Damen im Publikum verschenkte. Auch das russische Staatsoberhaupt weiß natürlich, dass Frauen Komplimente lieben: „Ich mag alle russischen Frauen“, erklärt er auf einem Kalenderblatt. „Ich halte russische Frauen für die talentiertesten und schönsten Frauen, die es gibt.“ Ach und es ist doch schön, wenn so große Zuneigung nicht unerwidert bleibt. Dem Präsidenten strömt sehr viel Liebe aus dem Volk entgegen. So singt eine Mädchenband:

„Ich will so einen Mann wie Putin. Einen wie Putin, der so stark ist. Einen wie Putin, der niemals trinkt. Einen wie Putin, der mich nie verletzt. Einen wie Putin, der mich nie versetzt.“

Selbstredend gibt es auf dem russischen Markt ein entsprechendes Ratgeber-Buch: Heirate Putin. Auf einem weiteren Kalenderblatt kuschelt Putin mit einem Bernhardiner-Welpen: „Hunde und ich haben warme Gefühle füreinander“, (sagt er tatsächlich!). Ja, auch die russischen Hunde lieben ihren Staatschef. Sein Arzt bescheinigt Putin, der fitteste Mann in ganz Russland zu sein. Von derartiger Kraft und Potenz kann der normale Bürger nur träumen. Vielleicht haben diese Politiker ja wirklich Zugang zu geheimen Kräften oder magischen Elixieren.

Das Marketing für Putin läuft auf Hochtouren. Das präsidiale Merchandising macht es jetzt klar: Putin ist ein großer Star. Putin auf Kalendern, Putin auf Stickern, Putin auf Taschen, Putin auf T-Shirts, Putin im Mini-U-Boot, Putin im Rennwagen, Putin beim Schwimmen mit Delfinen, Putin im Fitness-Studio, Putin auf der Harley, Putin an der Kletterwand, Putin erlegt einen Sibirischen Tiger, Putin lenkt ein Löschflugzeug zur Brandbekämpfung, Putin geht tauchen – und fördert sogleich antike Amphoren zutage! Putin angelt – und fängt mal eben schnell einen kapitalen Hecht! Putin reitet ganz cool mit nacktem Oberkörper – und, hast du nicht gesehen, es gibt ein Foto davon!

Putin, Putin über alles. Ist schon ein ganzer Kerl, dieser Putin, ein Mann mit besonderen und erstaunlich vielen Fähigkeiten und Kompetenzen. Fast glaube ich, er hat geheime Kräfte.

Bei den erwähnten Fotos mit Putin war eines dabei, das Putin in einem Löschflugzeug zeigt. Das Foto entstand während der extremen russischen Hitzewelle bei den großen Wald- und Torfbränden im Jahr 2010. Kennen Sie das wichtigste Gewürz im Menü eines Zauberers? Es heißt „Als ob“. Wir Zauberer tun ja so, als ob wir zaubern könnten. Der Präsident betreibt im Löschflugzeug Als-ob-Politik. Während der Brände übernahm der Staatschef medienwirksam die Rolle des Kopiloten und drückte auf den Knopf der Wasserkanonen. Warum auch nicht, ein bisschen Symbol-Politik gehört dazu. Allerdings hatte die Putin-Partei „Einiges Russland“15 eher die Rolle einer Brandstifterin inne als die der Waldhüterin. Mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament winkte die Kreml-Partei drei Jahre zuvor ein neues Forstgesetz durch, durch das der Posten des Waldhüters sowie der des Waldläufers ersatzlos gestrichen und die zentrale Einsatzbrigade zur Bekämpfung von Flächenbränden dezentralisiert wurde.16

Wie man mit Putin-Bashing schrecklich berühmt wird

Die Punkrock-Band Pussy Riot hatte 2012 in der größten Kirche Russlands einen spektakulären Auftritt. Die Rockmusikerinnen betraten – als Gläubige getarnt – unauffällig die Kirche und zogen sich dann farbige Sturmhauben über den Kopf. Sie schrien ein Punkgebet gegen Putin und den ersten Kirchenmann im Staat, den Patriarchen Kyrill. Im Lied finden sich Zeilen wie „Mutter Gottes, Jungfrau Maria, vertreibe Putin“ und „Scheiße, Scheiße, Gottesscheiße“ sowie die Beschimpfung des Patriarchen als „Schweinehund“. In Russland stieß die Aktion auf massive Ablehnung. Auch der bekannteste Putin-Gegner, Alexej Nawalny, zeigte sich verärgert über die Aktion. Wegen „Rowdytums“ wurden die Gruppenmitglieder zu einem Freiheitsentzug von zwei Jahren verurteilt (drei Monate vor Ende der Haftstrafe wurden sie begnadigt). Die Menschenrechts-Organisation Amnesty International kritisierte die Festnahme.

Ihren Auftritt hat die Gruppe schlau gefilmt, geschnitten und medienwirksam im Internet veröffentlicht. Das machte die Musikerinnen auf einen Schlag weltweit berühmt. Musiker wie Madonna oder Paul McCartney sympathisierten mit den jungen Frauen. Westliche Politiker wie Obama, Merkel und viele andere kritisierten das unverhältnismäßig harte Urteil gegen die Band.

Wir haben gesehen: Putin gibt sich gerne geheimnisvoll, ist fasziniert von geheimer Macht und er beherrscht die Als-ob-Methode – eben wie ein Zauberkünstler. Ganz konkret versteht er sich auf das Out-To-Lunch-Prinzip, kurz OTL genannt. Das ist eine spezielle Technik in der Kartenzauberei. Und genau diese Strategie wendet Putin an, um seine Amtsdauer zu verlängern. Zunächst beschreibe ich den „Machtwechsel“ in Russland, dann die Parallele zu dem Zauberprinzip OTL.

Wir schreiben das Jahr 2008: Nach zwei Amtszeiten von jeweils vier Jahren muss Putin sein Amt als russischer Präsident abgeben. So will es die Verfassung. Im ganzen Land wird gerätselt, wer sein Nachfolger wird. Was wird das Staatsoberhaupt tun? Wird Putin sich zur Ruhe setzen und darauf hoffen, dass man auch ihm, als Rentner, acht Euro monatlich mehr auszahlt?

Auf dem Parteitag der Kreml-Partei sagte Putin, es sei egal, wer welche Aufgaben übernehme. Das klang, als ob er die Lenkstange anderen übergeben wolle. „Als ob“, denn eigentlich will er von der Macht nicht lassen. Schließlich steht er gerade auf dem Zenit seiner Popularität. Andererseits ist er aber klug genug, die Verfassung nicht zu seinen Gunsten für eine dritte Amtszeit zu ändern. Er weiß, welche Empörung ein solcher Schritt im Westen auslösen würde. Seine internationale Ächtung als Diktator wäre besiegelt. Das wiederum könnte potentielle Investoren abschrecken. Also inszeniert er fürs Fernsehen die Kür eines neuen Kandidaten.

10. Dezember 2007: Vier Parteichefs kommen zu Putin, sie vertreten die Kreml-Partei „Einiges Russland“, die „Agrarpartei“, „Gerechtes Russland“ und die liberale „Bürgerkraft“. „Wir würden Ihnen gerne eine Kandidatur vorschlagen, die wir alle unterstützen“, sagen sie. Sie nennen den Namen Dmitri Anatoljewitsch Medwedew. Putin hört angespannt zu. Dann macht er ein bedächtiges Gesicht: Putin denkt nach. Schließlich kommt er zu einem Entschluss, sagt, dass er diese Kandidatur voll und ganz befürworte. Prompt wird der Nachfolger mit deutlicher Mehrheit gewählt.

Medwedew! Mit dieser Wahl wurde eine Karte ausgespielt, die im Kreml in der Tat etwas völlig Neues war. Ein junger, moderner Mann, der gerade mal knapp über 40 Jahre alt ist. Eine echte Überraschung! Auch gehörte der westlich wirkende Jurist aus Sankt Petersburg nicht zu den „Silowiki“ – der Fraktion der ehemaligen Geheimdienst-, Polizei-, und Armeeangehörigen.

Der Nachfolger ist ganz anders als Putin. Fast wirkt er etwas schüchtern. Er spricht leise und bedächtig. Dennoch ist er mutig: Als Erstes verspricht er, Russland zu einem Rechtsstaat zu machen. Sein Wahlkampf steht unter dem Motto „Freiheit ist besser als Nicht-Freiheit“. Sein erklärtes Ziel ist, dass Russland seinen Bürgern die weltweit besten Lebensbedingungen bietet. Er prangert die Umweltverschmutzung in Russland an. Immer wieder betont er die Bedeutung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dem eigenen Volk verspricht er Modernisierung – und er lebt sie vor. Er ist Russlands erster Präsident mit eigener Website und eigenem Twitter-Account.

Putin selbst begnügt sich mit dem Posten des Ministerpräsidenten unter Medwedew. Als solcher wird er im Weißen Haus an der Moskwa arbeiten (ja, auch in Moskau gibt es ein Weißes Haus!). Überspitzt gesagt ist der Ministerpräsident – jetzt also Putin – der technische Handlanger des russischen Präsidenten. Das neue Staatsoberhaupt kann ihn jederzeit entlassen.

Putin ist freiwillig als mächtiges Staatsoberhaupt abgetreten, um mit Medwedew ein völlig neues Kapitel für Russland aufzuschlagen. Er zeigt wahre Größe. Beeindruckend. Oder sagen wir besser: Es hat den Anschein, als wären wir beeindruckt!

Ein völlig neues Kapitel für Russland? Tatsächlich ist es eine gelungene Illusion. Putin hat nichts dem Zufall überlassen und den Wechsel an der Spitze sorgfältig vorbereitet. Er nimmt einflussreiche Mitarbeiter mit ins Weiße Haus und integriert die mächtigsten Politiker in seinen neuen Regierungsapparat. Natürlich ist die Szene in den TV-Nachrichten inszeniert. Die loyalen Parteichefs präsentieren den Namen Medwedew, als wäre es für Putin etwas Neues.

Mit Medwedew hat Putin sehr geschickt einen Mann als Nachfolger ausgewählt, der ihm treu ergeben ist. Es existieren viele Bilder vom gemeinsamen Sporteln, im Restaurant, auf dem Boot etc. Beide kennen sich seit Jahren, beide sind sie Juristen und beide sind in etwa gleich groß. Medwedew bewundert den 13 Jahre älteren Putin. Sein Intimus hatte sich bereits bei Gazprom bewährt. Dort, in dem größten Unternehmen des Landes, machte Putin Medwedew zum Vorstandsvorsitzenden. Das will etwas heißen: Gazprom als russischer Monopolist besitzt Banken und andere Unternehmen. Das Unternehmen erwirtschaftet den größten Teil der russischen Haushaltseinnahmen und finanziert darüber hinaus Wahlkampagnen.

Aber Putin wäre nicht der wendige, strategisch denkende Politiker, wenn er sich allein darauf verließe, dass der Freund in seiner Schuld steht. Er übernimmt also nicht nur den Posten des Ministerpräsidenten, sondern er führt auch für die nächsten vier Jahre die Kreml-Partei „Geeintes Russland“. Die wiederum kann mit ihrer Zweidrittelmehrheit in der Duma den Präsidenten absetzen. Sicher ist sicher!

Besser könnte ein Zauberer seine Manipulation auch nicht durchziehen. Das trickreiche Vorgehen des Putin-Medwedew-Gespanns erinnert an das Out-To-Lunch-Prinzip. Stellen Sie sich dazu ein Kartenspiel mit Bildern von Politikern vor. Die Karten werden von einem Gummiband zusammengehalten. Das Gummi repräsentiert die Verfassung. Bei ihrer Täuschung bewegen sich Medwedew und Putin ja durchaus auf legalem Boden. Ganz oben auf dem Kartenspiel liegt Präsident Putin, natürlich.

Nach Ablauf seiner Amtszeit kommt eine völlig andere Karte nach oben (Medwedew) – scheinbar. Denn oben liegt nämlich keine neue Karte, sondern lediglich eine halbe. Das fällt nicht auf, weil das Gummiband die verräterische Kante abdeckt. Oberhalb des Gummibands liegt also die halbe Karte mit Medwedews Oberkörper und unten schauen die Beine von Putin hervor. Putin regiert hinter einer Art „Maske“ weiter. Das zeigt sich im Fortgang der Geschichte: Medwedew wird seine acht möglichen Jahre als Präsident nicht ausschöpfen, da er nach vier Jahren auf eine zweite Amtszeit zugunsten von Putin verzichtet.

Die halbe Karte im OTL ist die Maske im Putin-Medwedew-Gespann: Zunächst wird alles getan, um von Medwedews einziger („halber“) Amtszeit und Putins Wirken im Hintergrund abzulenken. Medwedew hält – ganz anders als Putin – schöne Reden über Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Unabhängige Beobachter beklagen nach gut zwei Jahren unter Medwedew mangelnde demokratische Fortschritte. Die Sprecherin von Medwedew lenkt aber geschickt von der halben Karte ab und befeuert Illusionen, er könne 2012 erneut als Präsident kandidieren. Dem englischsprachigen Fernsehsender Russia Today sagte sie, die Ziele auf der Agenda des Präsidenten könnten eben nicht innerhalb von vier Jahren erreicht werden. Sein Modernisierungskurs sei nicht auf eine Legislaturperiode angelegt. Ein guter Grund, die Präsidentschaft auf sechs Jahre zu verlängern, was Medwedew schließlich mit einer Verfassungsänderung auch umsetzt. Ein Schelm, der dabei Böses denkt. Das russische Volk schien sich nicht daran zu stören.

„Das Medwedew-Projekt war ein klarer Deal zwischen Putin und Medwedew, wenn auch so mancher vielleicht romantische Hoffnungen hatte. Medwedew wusste, auf was er sich einlässt. Er hat mitgespielt bei dieser Gaukelei. Es konnte doch niemals wirklich um Liberalisierung oder Modernisierung des Staates gehen.“ (Lilija Schewtsowa, Politologin)

Der Westen und viele Oppositionsgruppen lassen sich blenden. Das, frohlocken sie, sei nun ein „Putinismus mit menschlichem Antlitz“17. Alle, die auf Medwedew hoffen, sitzen einer großen Täuschung auf. Nichts ändert sich. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International rutscht Russland immer weiter ab. Die Zusammenarbeit zwischen Putin und Medwedew verläuft zwischen 2008 und 2011 reibungslos, „bez schuma!“, wie man in Russland sagt – ohne Geräusche zu machen. Am 24. September 2011, kurz vor dem Ende seiner ersten Amtszeit, beendet Medwedew die Maskierung und damit alle Illusionen. Auf dem Parteikongress hat er gerade seinen Vorgänger Putin als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Diesen Vorschlag kommentiert er mit folgendem Satz: „Das ist eine tief durchdachte Entscheidung, die wir seit dem Beginn unserer Kameradschaft besprochen haben. Dass wir das nicht früher bekanntgegeben haben, ist eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit.“18

Am Ende der vier Jahre kann Putin wieder ganz offiziell seine Schlüsselrolle einnehmen, jetzt für eine Amtszeit von zweimal sechs Jahren. Wenn für ihn alles günstig läuft, bleibt Putin also bis zum Jahr 2024 im Amt.

ZAUBERTRICK 2

Das Out-To-Lunch-Prinzip – Eine verblüffende Verwandlung