Wie der Stahl gehärtet wurde - Nikolai Alexejewitsch Ostrowski - E-Book

Wie der Stahl gehärtet wurde E-Book

Nikolai Alexejewitsch Ostrowski

3,0

Beschreibung

Wie der Stahl gehärtet wurde von Nikolai Ostrowski ist ein Klassiker der Weltliteratur und eines der beliebtesten Bücher der sozialistischen Jugend. Der Roman erzählt das Leben von Pawel Kortschagin, das geprägt wird von dem Elend der Zarenzeit, der Oktoberrevolution 1917 und dem Bürgerkrieg in Russland. Seine nie nachlassende Hoff nung und sein unzerstörbares Vertrauen in die Zukunft sind die Quelle von Disziplin und Kraft. Damals wie heute ist das Schicksal des jungen Revolutionärs bewegend – und ein lebendiges Dokument eines weltbewegenden historischen Ereignisses. "Das Kostbarste, das der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und leben soll er so, dass er im Sterben sagen kann: Mein ganzes Leben und all meine Kräfte habe ich hingegeben für das Schönste der Welt – den Kampf um die Befreiung der Menschheit." Nikolai Alexejewitsch Ostrowski (1904 – 1936) war sowjetischer Revolutionär und Schriftsteller. Schon früh sympathisierte er mit der Revolution. Nach der deutschen Besetzung seiner ukrainischen Heimat während des Bürgerkriegs trat er 1919 dem Komsomol bei, dem Kommunistischen Jugendverband. Als Freiwilliger ging er an die Front und kämpfte in Budjonnys Roter Reiterarmee. 1920 wurde Ostrowski schwer verwundet. Er erblindete auf einem Auge und wurde demobilisiert. 1924 trat er 20-jährig der Kommunistischen Partei bei. Seit Ende 1926 konnte Ostrowski das Bett nicht mehr verlassen und verlor das gesamte Augenlicht. Er begann Bücher zu diktieren und nahm das Studium des Marxismus-Leninismus auf. Wie der Stahl gehärtet wurde (Как закалялась сталь) ist sein bekanntester und großteils autobiografischer Roman Vorworte von Peter Sodann und Stefan Engel

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Originaltitel: Как закалялась сmаль, Moskau 1932

Gesamtherausgabe Mai 2017 © Verlag Neuer Wegin der Mediengruppe Neuer Weg GmbH

Alte Bottroper Straße 42, 45356 EssenTelefon +49-(0)-201-25915Fax +49-(0)[email protected]

Gesamtherstellung:Mediengruppe Neuer Weg GmbH

ISBN: 978-3-88021-433-0E-Book ISBN: 978-3-88021-434-7

Nikolai Ostrowski

Wie der Stahl gehärtet wurde

Inhalt

VORWORT

VORWORT

TEIL 1 — KAPITEL 1

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 2 Zweites Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 3 Drittes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 4 Viertes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 5 Fünftes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 6 Sechstes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 7 Siebentes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 8 Achtes Kapitel

TEIL 1 — KAPITEL 9 Neuntes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 1

ZWEITER TEIL

Erstes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 2 Zweites Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 3 Drittes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 4 Viertes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 5 Fünftes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 6 Sechstes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 7 Siebentes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 8 Achtes Kapitel

TEIL 2 — KAPITEL 9 Neuntes Kapitel

VORWORT

von Peter Sodann

Begeben wir uns in das Jahr 2017. Der Frühling macht sich langsam aus dem Feinstaub, der Sommer steht in den Startlöchern. Ich war auf einmal 81 Jahre alt. Wie schnell die Zeit doch vergeht.

Ein junger Mann spricht mich an. Er sagt, er sei 18 Jahre alt — also die gleichen Zahlen, nur in der umgekehrten Abfolge. Und spricht: »Herr S., bitte entschuldigen Sie, ich hätte vielleicht gern mal eine Frage gehabt.« — Ein junger Mann aus Sachsen also.

»Aber gern«, sagte ich, «vielleicht kann ich Ihre Frage beantworten.«

»Ich bin jetzt volljährig«, sagt der junge Mann aus Sachsen, »und darf ab sofort wählen. Nur weiß ich gar nicht wen oder was oder wie. Man könnte sagen, ich bin ratlos. Und Sie haben doch sehr viele Bücher gesammelt und bestimmt auch einige davon gelesen. Geben Sie mir doch bitte einen Rat zu diesem ›wen oder was oder wie‹. Denn die Welt, in der ich lebe, scheint mir doch sehr durcheinander zu sein. Wie soll man sich denn noch zurechtfinden zwischen Werbung, Talkrunden, Kommentaren, zwischen Dokumentationen, Nachrichten, Parteien, Flüchtlingen, Terroristen und Gutmenschen. Guter Rat ist teuer, sagt man.«

Ich mußte tief durchatmen, wo sollte ich denn da anfangen?

Also sprach ich: »Als ich 1950 aus der Schule kam, forderte Dorfpfarrer Leuner mich auf, doch bitte die Bergpredigt von unserem lieben Herrn Jesu zu lesen, bevor ich mich ganz und gar von der Kirche verabschieden würde. Und nach der Lehrausbildung zum Werkzeugmacher ging ich zur Arbeiter- und Bauern-Fakultät, um das Abitur nachzuholen und danach studieren zu können. Und in der ABF sagte mein Geschichtslehrer, Dr. Klaus, zu mir, ich solle doch bitte mal das KOMMUNISTISCHE MANIFEST lesen. Da ich nun die Bergpredigt, obwohl versprochen, immer noch nicht gelesen hatte, nahm ich mir vor, nun beide zu lesen. Das eine mit Gott, das andere ohne Gott. Denn alle Menschen glauben, die einen mit, die anderen ohne.

Aber als junger Mensch hatte ich noch eine Zugabe zu absolvieren. Und die hieß WIE DER STAHL GEHÄRTET WURDE, von Nikolai Ostrowski. Mein Geschichtslehrer meinte: »Lies bitte auch diese Zugabe und laß dich nicht von den vielen russischen Namen erschrecken. Nimm die Mühe auf dich, dann wirst du einen großartigen Gedanken entdecken: Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird … Aber hör da nicht auf zu lesen, lies bis zum Ende, damit du den uralten menschlichen Traum von Gerechtigkeit und Frieden verstehen lernst.«

Der junge Mann aus Sachsen hatte aufmerksam zugehört. Nun fragte er: »Und wenn ich das alles gelesen habe, weiß ich dann, wen oder was oder wie ich wählen kann?«

»Darüber hinaus«, antwortete ich, »mußt du selbst nachdenken und darfst das nicht anderen überlassen. Auf keinen Fall. Und dazu empfehle ich dir noch DAS GÖTTLICHE von Johann Wolfgang von Goethe, sozusagen als Sekundärliteratur.

Wenn du mich jetzt auch noch fragst, wen ich wähle — das werde ich dir nicht verraten, das ist geheim.«

Wir sahen uns in die Augen, gaben uns freundlich die Hand und sagten Auf Wiedersehen. Da schoß mir der Gedanke durch den Kopf: Und wen darf ich jetzt wählen?

August 2017

VORWORT

von Stefan Engel

Das vorliegende Buch erschien erstmals 1932—1934 in der Sowjetunion. Der Autor berichtet hier über seine eigene, ereignisreiche Jugend: über das Elend im Zarenreich, die Stürme der Oktoberrevolution, das zähe Ringen im anschließenden Bürgerkrieg, das Lernen von den Arbeitern, die Kämpfe in der Kommunistischen Partei und bei den Komsomolzen, die vorwärtsstürmende Rolle der Jugend im Aufbau des Sozialismus.

»Der Stahl wird bei großer Wärme und starker Abkühlung gehärtet. So wurde auch unsere Generation in gewaltigen Prüfungen gehärtet und lernte das Leben meistern« — so erklärt Nikolai Alexejewitsch Ostrowski später den Titel des Buches.

Meine Urgroßmutter gab mir dieses Buch zu lesen, als ich mich mit 14 entschied, Revolutionär zu werden. Sie war Kommunistin der ersten Stunde, zunächst in der SPD, dann in der KPD bis zum Verbot 1956. Während des Hitler-Faschismus leistete sie aktiv illegalen Widerstand. Sie legte mir ans Herz, meine Lesefaulheit abzulegen und mir dessen bewusst zu werden, was es heißt, Kommunist zu sein.

Mit diesem Buch fasste ich den Entschluss, Berufsrevolutionär zu werden. Das bestimmte fortan meine Berufswahl, meine Familienplanung, meine Denk- und Lebensweise.

Ostrowski formulierte sein Lebensmotto folgendermaßen:

»Das Kostbarste, das der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und leben soll er so, dass er im Sterben sagen kann:

Mein ganzes Leben und all meine Kräfte habe ich hingegeben für das Schönste der Welt — den Kampf um die Befreiung der Menschheit.«

Besonders allen jungen Menschen lege ich dieses Buch ans Herz. Nicht umsonst war es eins der beliebtesten Bücher der sozialistischen Jugend.

Mai 2017

TEIL 1 - KAPITEL 1

ERSTER TEIL

Alles in Ostrowski ist Flamme der Aktion und des Kampfes — und diese Flamme wuchs und dehnte sich aus, je enger Nacht und Tod ihn umringten. Er strömte von unermüdlichem Lebensmut und Optimismus über. Und diese Freude verband ihn mit allen kämpfenden und vorwärtsschreitenden Völkern der Erde.

Romain Rolland

Erstes Kapitel

Wer von euch war vor den Feiertagen bei mir zu Hause, seine Aufgaben herzusagen? Der soll aufstehen!«

Der schwammige Mann im Priesterrock, mit dem schweren Kreuz am Hals, blickte drohend auf die Schüler.

Seine bösen Äuglein durchbohrten geradezu die sechs Kinder, die sich von den Bänken erhoben hatten — es waren vier Jungen und zwei Mädchen. Ängstlich schauten sie zu ihm empor.

»Ihr könnt euch setzen«, bedeutete der Pope den Mädchen.

Mit einem Seufzer der Erleichterung setzten sie sich rasch.

Die Äuglein Vater Wassilis blieben jetzt an den übrigen vier kleinen Gestalten haften.

»Na, kommt mal her, meine Täubchen!«

Vater Wassili erhob sich, schob den Stuhl zurück und trat dicht an die sich eng aneinanderdrängenden Kinder heran.

»Wer von euch Taugenichtsen raucht?«

Leise erwiderten alle vier: »Wir rauchen nicht, Väterchen.«

Das feiste Gesicht des Popen lief dunkelrot an.

»Ihr Halunken raucht nicht — und wer hat mir Machorka in den Teig gestreut? Ihr raucht nicht? Na, das werden wir ja gleich sehen. Kehrt die Taschen um! Na, wird‘s bald? Was habe ich gesagt? Die Taschen heraus!«

Drei der Kinder begannen sogleich, den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch auszuschütten.

Sorgfältig prüfte der Pope die Taschennähte. Er spähte nach Tabakspuren, doch er fand nichts. Darauf knöpfte er sich den Vierten vor, einen schwarzäugigen Jungen in grauem Hemd und blauer Hose, die an den Knien geflickt war.

»Und du, was stehst du wie ein Ölgötze da?«

Der schwarzäugige Junge sah ihn hasserfüllt an und antwortete dumpf:

»Ich habe keine Taschen!« Er strich mit den Händen über die zugenähten Stellen.

»Ach so, keine Taschen! Du meinst also, ich wüsste nicht, wer zu so einer Gemeinheit fähig ist — den Teig zu verderben? Du meinst wohl, dass man dich auch jetzt noch in der Schule lassen wird? Nein, mein Täubchen, das wird dir nicht geschenkt! Das letzte Mal hat mich nur deine Mutter durch Bitten bewogen, es noch einmal zu versuchen; aber jetzt ist Schluss! Mach, dass du rauskommst!« Er packte den Jungen derb am Ohr, stieß ihn in den Gang hinaus und warf die Tür hinter ihm zu.

Die Klasse schwieg und duckte sich scheu. Niemand begriff, weshalb Pawel Kortschagin aus der Schule gejagt wurde. Nur Serjosha Brusshak, Pawels bester Freund, hatte gesehen, wie Pawel dem Popen eine Handvoll Machorka in den Osterteig gestreut hatte, dort in der Küche, wo die sechs Schüler auf den Popen warteten. Sie waren in seine Wohnung gekommen, um ihre Aufgaben nachträglich herzusagen.

Pawel hockte sich draußen auf die letzte Stufe der Vortreppe nieder. Er überlegte, was er zu Hause der Mutter sagen sollte, seiner Mutter, die immer so besorgt war und die sich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht als Köchin beim Steuerinspektor abrackerte.

Pawel würgten die Tränen.

Was soll ich jetzt bloß machen? Und alles wegen dieses verdammten Popen. Warum, zum Kuckuck, habe ich ihm nur das Zeug hineingestreut? Serjosha ist ja der Anstifter gewesen. »Los«, hat er gesagt, »streuen wir diesem Ekel Machorka in den Teig!« Und da haben wir es gleich so gemacht. Serjosha — dem passiert nichts, aber mich wird man sicher rausschmeißen …

Die Feindschaft zwischen Pawel und Vater Wassili war schon alten Datums. Pawel hatte sich eines Tages mit Mischa Lewtschukow gerauft und musste deshalb nachsitzen. Damit er jedoch im leeren Klassenzimmer keine Dummheiten machte, brachte ihn der Lehrer zu den älteren Schülern in die zweite Klasse. Pawel setzte sich auf die letzte Bank.

Der Lehrer, ein dürres Männlein in schwarzem Rock, erzählte von der Erde und den Gestirnen. Pawel vernahm staunend, mit weit offenem Mund, dass die Erde schon seit vielen Millionen Jahren existierte und dass die Sterne auch so etwas Ähnliches wie die Erde seien. Er war von dem Gehörten derart überrascht, dass er sogar aufstehen und dem Lehrer sagen wollte: In der Bibel steht es aber ganz anders. Er fürchtete jedoch, dass es wieder etwas setzen könnte.

In Religion hatte Pawel vom Popen immer gute Noten bekommen. Alle Choräle, das Neue und das Alte Testament konnte er im Schlafe hersagen. Er wusste genau, was Gott an welchem Tage erschaffen hatte. Pawel beschloss also, sich bei Vater Wassili nach allem zu erkundigen. Gleich in der nächsten Religionsstunde, sobald sich der Pope in seinem Lehnstuhl niedergelassen hatte, meldete sich Pawel, erhielt auch die Erlaubnis zu sprechen und stand auf:

»Väterchen, warum sagt der Lehrer in der oberen Klasse, dass die Erde schon Millionen Jahre existiert, und nicht … fünftausend, wie es in der Bibel steht?« Weiter kam er nicht. Vater Wassilis wütendes Gekreisch unterbrach ihn:

»Was sprichst du da, du Halunke? So also lernst du das Wort des Herrn!«

Ehe Pawel sich‘s versah, hatte ihn der Pope bei den Ohren gepackt und schlug ihn mit dem Kopf gegen die Wand. In der nächsten Minute flog er, verprügelt und erschrocken, auf den Gang hinaus.

Auch bei der Mutter kam Pawel übel an.

Am nächsten Tag ging sie in die Schule und bat Vater Wassili, ihren Sohn wieder aufzunehmen. Von diesem Zeitpunkt an hasste Pawel den Popen aus tiefster Seele. Er hasste und fürchtete ihn zugleich. Er verzieh niemals Kränkungen, die ihm zugefügt wurden; auch dem Popen vergaß er die unverdienten Prügel nicht. Er trug den Groll heimlich in sich.

Der Junge hatte noch vielerlei Schikanen von Vater Wassili zu ertragen: Bald jagte ihn der Pope aus dem Zimmer, bald stellte er ihn wochenlang für nichts und wieder nichts in die Ecke und hörte niemals seine Aufgaben ab. Deshalb musste er auch vor Ostern mit den zurückgebliebenen Schülern in die Wohnung des Popen gehen, um sich prüfen zu lassen. Dort, in der Küche, hatte er ihm Machorka in den Osterteig gestreut.

Niemand hatte es gesehen, und trotzdem hatte der Pope sofort erraten, wessen Werk das gewesen war …

Die Stunde war zu Ende, die Kinder liefen auf den Hof hinaus und umringten Pawel, der düster schwieg. Serjosha Brusshak war in der Klasse geblieben. Er fühlte sich mitschuldig, konnte aber dem Freund nicht helfen.

Aus dem offenen Fenster des Lehrerzimmers beugte sich Jefrem Wassiljewitsch, der Schuldirektor. Sein tiefer Bass ließ Pawel erzittern.

»Kortschagin soll sofort zu mir kommen!«, rief er.

Klopfenden Herzens ging Pawel ins Lehrerzimmer.

Der Besitzer der Bahnhofswirtschaft, ein älterer, blasser Mann mit ausdruckslosen Augen, streifte den etwas abseitsstehenden Pawel mit einem flüchtigen Blick. »Wie alt ist er denn?«

»Zwölf«, antwortete die Mutter.

»Na schön, mag er dableiben. Die Bedingungen sind: acht Rubel monatlich und Essen an den Arbeitstagen. Vierundzwanzig Stunden Dienst, vierundzwanzig Stunden frei, und dass er sich nicht untersteht, zu stehlen.«

»Wo denken Sie hin! Gott bewahre! Stehlen wird er nicht, dafür bürge ich«, sagte die Mutter erschrocken.

»Na, dann soll er gleich heute anfangen«, befahl der Wirt und wandte sich an die Kellnerin, die neben ihm hinter der Theke stand: »Sina, führ den Jungen in den Abwaschraum und sag Frossja, sie soll ihn anstelle von Grischka beschäftigen.«

Die Kellnerin legte das Messer weg, mit dem sie gerade Schinken geschnitten hatte, nickte Pawel zu und ging durch den Saal zu einer Seitentür, die in den Spülraum führte. Pawel folgte ihr. Die Mutter ging neben ihm her und flüsterte ihm hastig zu:

»Gib dir ordentlich Mühe, Pawluschka, und mach mir keine Schande.«

Sie sah dem Sohn traurig nach und ging dann davon.

Im Spülraum herrschte Hochbetrieb. Ein Berg Teller, Gabeln, Messer türmte sich auf dem Tisch, und mehrere Frauen trockneten das Geschirr mit Küchenhandtüchern ab, die ihnen über die Schultern hingen.

Ein rothaariger Junge, mit zerzaustem, ungekämmtem Haar, kaum älter als Pawel, hantierte an zwei riesigen Samowaren. Der Raum, in dem eine große Spülschüssel mit heißem Wasser stand, war voller Dampf. Pawel vermochte anfangs die Gesichter der arbeitenden Frauen nicht zu unterscheiden. Er stand da und wusste weder, was er zu tun hatte, noch an wen er sich wenden sollte.

Die Kellnerin Sina trat an eine der Frauen heran, fasste sie an der Schulter und sagte:

»Hier, Frossja, hast du einen neuen Jungen, er soll anstelle von Grischka arbeiten. Erklär ihm alles, was er zu tun hat.«

Zu Pawel gewandt, deutete Sina auf die Frau, die sie soeben Frossja genannt hatte, und erklärte ihm:

»Sie ist hier die Oberste. Was sie anordnet, musst du tun.« Dann drehte sie sich um und ging zur Theke zurück.

»Schön«, sagte Pawel leise und blickte die vor ihm stehende Frossja fragend an. Diese wischte sich den Schweiß von der Stirn, musterte den Jungen von oben bis unten, als wollte sie ihn abschätzen, krempelte den vom Ellbogen heruntergerutschten Ärmel auf und sagte mit ungewöhnlich angenehm klingender Stimme:

»Na, was ist da schon viel zu erklären, mein Kleiner. Du musst also frühmorgens unter diesem Kessel Feuer machen und dafür sorgen, dass immer kochendes Wasser drin ist. Holz musst du natürlich hacken, und auch die Samoware gehören zu deiner Arbeit. Dann wirst du, wenn‘s nötig ist, Messer und Gabeln putzen und das Abwaschwasser hinaustragen. An Arbeit fehlt‘s nicht, Kleiner, wirst schon schwitzen«, sagte sie in ihrer Kostromaer Mundart mit der Betonung des »a«. Von dieser Mundart und dem frischen Gesicht mit der kleinen Stupsnase wurde es dem Jungen leichter ums Herz.

Das ist offenbar eine ganz nette Tante, entschied er im Stillen und wandte sich schon mutiger an Frossja:

»Und was soll ich jetzt tun, Tantchen?«

Sprach‘s und stockte. Das laute Gelächter der in der Spülküche beschäftigten Frauen verschlang seine letzten Worte.

»Hahaha …! Frossja hat plötzlich einen Neffen gekriegt …«

»Haha!«, lachte Frossja noch herzhafter als alle anderen.

In dem Dunst hatte Pawel ihr Gesicht nicht recht sehen können; Frossja war erst achtzehn Jahre alt.

Ganz und gar verwirrt wandte sich Pawel nun an den Jungen und fragte: »Was soll ich jetzt tun?«

Aber der Junge beantwortete die Frage nur mit einem Gekicher.

»Frag doch die Tante, die wird dir schon alles erklären, ich arbeite hier nur aushilfsweise.« Er wandte sich um und sprang zur Tür hinaus, die in die Küche führte.

»Komm her, hilf die Gabeln abtrocknen«, hörte Pawel eine ältere Geschirrwäscherin sagen.

»Was johlt ihr da? Was hat der Junge schon Besonderes gesagt? Da, greif zu«, sagte sie und hielt Pawel ein Handtuch hin. »Nimm das eine Ende zwischen die Zähne, und das andere zieh straff an. Putz die Gabeln gründlich zwischen den Zinken, damit ja kein Stäubchen mehr dranbleibt. Bei uns wird darauf streng geachtet. Die Herrschaften sehen sich die Gabeln genau an, und wenn sie Schmutz bemerken, ist‘s schlimm, dann jagt einen die Wirtin im Nu davon.«

»Wieso die Wirtin?« Pawel stutzte. »Ihr habt doch einen Wirt. Er hat mich ja eingestellt.«

Die Frau lachte.

»Der Wirt, mein Söhnchen, ist bei uns nur so was wie ein Möbelstück, ein Pantoffelheld ist er. Die Zügel hat hier die Wirtin in der Hand. Heute ist sie nicht da. Wenn du eine Weile bei uns bist, wirst du‘s schon merken.«

Die Tür des Spülraums wurde aufgestoßen, und drei Kellner brachten Stöße schmutzigen Geschirrs herein.

Einer von ihnen, ein breitschultriger, schieläugiger Bursche mit einem derben, viereckigen Gesicht, sagte:

»Sputet euch mal etwas, aber fix! Gleich kommt der Zwölfuhrzug, und ihr vertrödelt hier die Zeit.«

Er sah Pawel an und fragte:

»Was ist denn das für einer?«

»Ein Neuer«, antwortete Frossja.

»Aha, ein Neuer«, sagte er und ließ seine schwere Hand auf Pawels Schulter fallen, wobei er ihn zu den Samowaren hinstieß. »Schau her, die müssen immer fertig sein, aber der eine, siehst du, ist ganz ausgegangen, und auch der andere dampft kaum. Heute wollen wir noch mal ein Auge zudrücken, aber wenn das morgen wieder passiert, kriegst du eine gelangt. Verstanden?«

Pawel machte sich, ohne ein Wort zu erwidern, an den Samowaren zu schaffen.

Und so begann Pawels Werktätigendasein. Noch nie hatte er sich so angestrengt wie an diesem ersten Arbeitstag. Er hatte begriffen, dass es hier nicht wie zu Hause war, wo er der Mutter nicht immer folgte. Der Schieläugige hatte ja klar und deutlich gesagt: Gehorchst du nicht, so bekommst du eine gelangt.

Die Funken sprühten nur so unter den dickbäuchigen, vier Eimer Wasser fassenden Samowaren, als Pawel die Glut anfachte. Er rannte mit den vollen Eimern zur Abfallgrube, heizte den Wasserkessel, trocknete die nassen Handtücher über den heißen Samowaren, kurz, er tat alles, was ihm befohlen wurde. Todmüde ging er spät am Abend hinunter in die Küche. Die ältliche Geschirrwäscherin Anissja sagte mit einem Blick auf die Tür, hinter der Pawel verschwunden war:

»Der Junge ist wohl nicht richtig im Kopf; der schuftet ja wie ein Verrückter. Der hat‘s wohl nötig!«

»Er ist ein tüchtiger Bursche«, meinte Frossja, »so einen braucht man nicht anzutreiben.«

»Der wird sich die Hacken bald ablaufen«, entgegnete Luscha. »Anfangs sind sie alle eifrig.«

Um sieben Uhr morgens übergab Pawel, von der schlaflosen Nacht und der endlosen Rennerei völlig erschöpft, die kochenden Samoware seiner Ablösung, einem blonden, pausbäckigen Kerl.

Nachdem sich der Junge davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war und das Wasser in den Samowaren kochte, steckte er die Hände in die Hosentaschen, spuckte durch die Zähne, blickte Pawel mit seinen wässrigen Augen verächtlich von oben herab an und erklärte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete:

»He, du Schlafmütze! Komm morgen pünktlich um sechs Uhr zur Ablösung.«

»Warum um sechs?«, fragte Pawel. »Schichtwechsel ist doch um sieben Uhr.«

»Mag der Schichtwechsel sein, wann er will, aber du hast um sechs Uhr hier zu sein! Und wenn du noch lange quasselst, werde ich dir mal einen Stempel in die Visage drücken. So ‘ne Null — hat kaum angefangen zu arbeiten und will sich schon mausigmachen!«

Die Geschirrwäscherinnen, die ihre Arbeit der Ablösung übergeben hatten, verfolgten interessiert das Gespräch der beiden Jungen. Der freche Ton und das herausfordernde Benehmen des anderen brachten Pawel auf. Er ging einen Schritt auf seinen Arbeitskollegen zu und schickte sich an, dem Jungen einen gehörigen Denkzettel zu versetzen; jedoch die Furcht, gleich am ersten Tage von der Arbeitsstelle gejagt zu werden, ließ ihn einhalten. Ganz rot vor Zorn sagte er:

»Ein bisschen sachte, tu dich nicht so dicke, sonst könnte es was setzen. Ich komme morgen um sieben Uhr, und raufen kann ich nicht schlechter als du. Wenn du‘s probieren willst — bitte sehr!«

Der Gegner trat einen Schritt zurück und schaute den erbosten Pawel erstaunt an. So einen entschiedenen Widerstand hatte er nicht erwartet. Er stutzte ein wenig.

»Na schön, wir werden schon sehen«, brummte er.

Der erste Tag war glücklich vorüber; mit dem Gefühl eines Menschen, der sich seine Ruhe ehrlich verdient hat, stiefelte Pawel heim. Jetzt arbeitete auch er, und niemand würde ihm sagen können, dass er ein Schmarotzer sei.

Hinter dem Koloss des Sägewerkes stieg träge die Morgensonne empor. Bald wird auch Kortschagins Häuschen zu sehen sein. Da ist es, gleich hinter dem Herrenhaus der Leszczynskis.

Die Mutter ist sicher schon aufgestanden, und ich komme von der Arbeit zurück, dachte Pawel, begann zu pfeifen und beschleunigte seine Schritte. Gar nicht so übel, dass man mich aus der Schule hinausgeschmissen hat. Der verfluchte Pope hätte mir sowieso das Leben sauer gemacht, und jetzt spucke ich auf ihn, überlegte Pawel, während er sich zufrieden dem Haus näherte. Als er das Pförtchen öffnete, ging ihm der Gedanke durch den Kopf: Dem Semmelblonden werde ich bestimmt noch ein paar in die Fresse hauen, ganz bestimmt.

Die Mutter war im Hof mit dem Samowar beschäftigt. Als sie den Sohn erblickte, fragte sie besorgt:

»Na, wie ist‘s gegangen?«

»Ganz gut«, erwiderte Pawel.

Die Mutter wollte ihm irgendetwas mitteilen, aber Pawel hatte bereits gesehen, was los war; durch das offene Fenster bemerkte er den breiten Rücken seines Bruders Artjom.

»Was, Artjom ist gekommen?«, fragte er bestürzt.

»Ja, gestern, und er will hierbleiben. Er wird im Depot arbeiten.«

Etwas unsicher öffnete Pawel die Zimmertür.

Die riesige Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm am Tisch saß, wandte sich um, und unter dichten schwarzen Brauen blickten Pawel die strengen Augen seines Bruders an.

»Aha, da ist er, unser Machorkamann. Na also, guten Tag!«

Die Worte des heimgekehrten Bruders ließen Pawel nichts Gutes erwarten.

Artjom weiß schon alles, dachte Pawel. Er wird mich sicher ausschimpfen oder sogar verprügeln.

Pawel hatte Angst vor seinem großen Bruder.

Artjom aber hatte offenbar nicht die Absicht, ihn zu verprügeln. Er saß auf einem Schemel, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und schaute Pawel unverwandt an, halb spöttisch, halb verächtlich.

»Also du meinst, dass du die Universität schon hinter dir hast und alle Wissenschaften aus dem Effeff kennst; da hast du dich also ans Geschirrabwaschen gemacht?«, sagte Artjom.

Pawel hatte den Blick auf ein lockeres Dielenbrett geheftet und studierte aufmerksam einen daraus hervorragenden Nagel. Artjom aber stand auf und ging in die Küche.

Diesmal schien es wohl noch ohne Abreibung abzugehen. Pawel seufzte erleichtert auf.

Beim Teetrinken fragte Artjom den Bruder ruhig über den Vorfall in der Klasse aus.

Pawel legte los.

»Und was soll weiter aus dir werden, wenn du so ein Strolch bleibst?«, fragte die Mutter bekümmert. »Was fangen wir nur mit ihm an? Nach wem ist er so geraten? Ach, du lieber Gott, was habe ich nur mit diesem Jungen auszustehen!«

Artjom schob die leere Tasse beiseite und wandte sich an Pawel:

»Na also, Brüderchen, wenn‘s schon mal so weit gekommen ist, können wir‘s nicht mehr ändern. Aber nimm dich von nun an in Acht, mach auf der Arbeit keine Faxen und tu alles, wie sich‘s gehört. Schmeißt man dich dort auch raus, versohl ich dich so, dass du dein Lebtag dran denken wirst. Merk dir das! Hör jetzt auf, der Mutter Kummer zu machen. Wo du nur hinkommst, gibt es Unannehmlichkeiten, überall stellst du was an. Aber jetzt Schluss damit! Wenn du dort ein Jährchen gearbeitet hast, werde ich darum bitten, dass man dich im Depot als Lehrling einstellt, denn beim Geschirrabwaschen wird ja doch nichts Rechtes aus dir werden. Musst ein Handwerk erlernen. Jetzt bist du noch zu klein, aber in einem Jahr werd ich mal anfragen — vielleicht nimmt man dich dann. Ich hab mich hierher versetzen lassen und werde hier arbeiten. Mutter wird sich nicht mehr bei fremden Leuten abrackern müssen. Hat genug vor dem Pack den Buckel krumm gemacht. Du aber sei vernünftig, Pawka, und benimm dich wie ein anständiger Mensch.«

Er erhob sich zu seiner ganzen ungeheuren Größe, zog den über der Stuhllehne hängenden Rock an und rief der Mutter zu:

»Ich geh auf ein Stündchen weg, muss noch was erledigen.« Damit ging er hinaus, wobei er sich im Türrahmen bücken musste.

Als er am Fenster vorüberkam, rief er von draußen herein:

»Ich hab dir da Stiefel und ein Taschenmesser mitgebracht, lass dir‘s von Mutter geben.«

Die Bahnhofswirtschaft war Tag und Nacht ununterbrochen geöffnet.

Auf dem Eisenbahnknotenpunkt Schepetowka kreuzten sich sechs Linien. Bis auf zwei, drei Stunden in der Nacht, wo der Verkehr ein wenig abflaute, war der Bahnhof immer voller Menschen. Hunderte von Truppentransporten begegneten sich hier und brausten dann wieder in verschiedenen Richtungen davon. Von der Front wieder zur Front. Verstümmelte, zerschundene Menschen trafen ein — und Männer in einförmigen grauen Soldatenmänteln fuhren ab.

Zwei Jahre war Pawel bereits auf dieser Arbeitsstelle. Küche und Spülraum — das war alles, was er in dieser Zeit zu Gesicht bekommen hatte. In der riesigen Küche unten im Keller wurde fieberhaft gearbeitet. Über zwanzig Menschen waren dort beschäftigt. Zehn Kellner liefen zwischen Theke und Küche hin und her.

Pawel verdiente nicht mehr acht, sondern zehn Rubel monatlich. Er war in den vergangenen zwei Jahren gewachsen und kräftiger geworden. Viel Plackerei hatte er in der letzten Zeit gehabt. Ein halbes Jahr war er als Küchenjunge tätig gewesen und dann wieder in den Spülraum abgeschoben worden. Er hatte dem allmächtigen Chef missfallen, dieser widerspenstige Junge, von dem man jeden Moment erwarten konnte, dass er einem wegen einer Backpfeife mit dem Messer an die Kehle fahren würde. Er wäre längst weggejagt worden, aber sein unverwüstlicher Arbeitseifer rettete ihn immer wieder. Arbeiten konnte Pawel mehr als alle anderen, darin war er unermüdlich.

In den Stunden, in denen es besonders heiß herging, rannte er wie ein Besessener, das Tablett in der Hand, vier, fünf Stufen auf einmal nehmend, in die Küche hinunter und wieder zurück.

Nachts, wenn der Andrang in beiden Sälen der Wirtschaft nachgelassen hatte, versammelten sich die Kellner unten in den Vorratskammern neben der Küche. Hier ging es bei Siebzehn und Vier und anderen Glücksspielen hoch her. Pawel hatte mehr als einmal Geld haufenweise auf dem Tisch liegen sehen. Er wunderte sich nicht über das viele Geld, wusste er doch, dass jeder Kellner während seines vierundzwanzigstündigen Dienstes an die dreißig bis vierzig Rubel Trinkgeld einsteckte. Fünfzigkopekenweise, rubelweise sammelten sie das Geld ein und vertranken und verspielten es dann. Pawel verabscheute sie aus ganzem Herzen.

Diese verfluchten Hunde, dachte er. Artjom ist einer der besten Schlosser im Betrieb und verdient nur achtundvierzig Rubel, und ich zehn. Und die stecken so viel Geld an einem Tag ein. Wofür eigentlich? Tragen auf und räumen weg. Und nachher versaufen und verspielen sie alles. Diese Schufte laufen hier als Lakaien umher. Aber ihre Frauen und Söhnchen leben in den Städten wie die Herrschaften.

Die Kellner brachten zuweilen ihre in Gymnasiastenuniform gekleideten Söhne und ihre vor lauter Wohlleben immer fetter werdenden Frauen mit. Die haben sicher mehr Geld als die Herren, um die sie herumtanzen, dachte Pawel.

Er wunderte sich auch nicht über das, was nachts in den Winkeln der Küche und in den Lagerräumen vor sich ging. Er wusste sehr gut, dass kein Küchenmädchen, keine Kellnerin lange auf ihrer Arbeitsstelle bleiben konnte, wenn sie sich nicht jedem, der hier ein Wort zu sagen hatte, für ein paar Rubel verkaufte.

Begierig nach allem Neuen und Unbekannten, lernte Pawel hier die Abgründe des Lebens kennen und in ihre morastigen Tiefen schauen, aus denen ihn Moder und Fäulnis anwehten.

Artjom war es nicht gelungen, den Bruder als Lehrling beim Depot unterzubringen: Jugendliche unter fünfzehn Jahren wurden nicht eingestellt.

Pawel erwartete sehnlichst den Tag, an dem er von hier weggehen könnte. Es zog ihn nach dem riesigen, verrußten Steingebäude, oft war er dort bei Artjom, kontrollierte mit ihm die Waggons und war bemüht, ihm behilflich zu sein.

Besonders öde wurde es, als Frossja die Stelle verlassen hatte.

Das lachende, fröhliche Mädchen fehlte Pawel, und er fühlte mehr denn je, wie sehr er an ihr gehangen hatte. Wenn er morgens den Spülraum betrat und das zänkische Geschrei der Frauen vernahm, empfand er Leere und Einsamkeit.

Während einer nächtlichen Pause hockte Pawel beim Heizen des Wasserkessels vor dem geöffneten Ofentürchen, kniff die Augen zusammen und schaute blinzelnd ins Feuer. Der Ofen verbreitete eine wohltuende Wärme. Pawel war ganz allein im Spülraum, und unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu dem zurück, was er vor Kurzem erlebt hatte, zu Frossja. Noch heute stand alles deutlich vor seinen Augen.

Es war an einem Sonnabend gewesen. Pawel war während der nächtlichen Pause die Treppe hinunter in die Küche gegangen. Im Treppenwinkel war er aus Neugier auf den dort gelagerten Holzstapel geklettert, um in den Lagerraum hineinzuschauen, in dem sich die Kartenspieler zu versammeln pflegten. Das Spiel war dort in vollem Gange. Die Bank hielt Saliwanow, der vor Aufregung dunkel angelaufen war.

Plötzlich hörte Pawel Schritte auf der Treppe. Der Junge wandte sich um: Prochoschka kam herunter. Pawel kroch unter die Treppe, um abzuwarten, bis der andere in die Küche gehen würde. Unter der Treppe war es dunkel, sodass Prochoschka ihn nicht sehen konnte. Pawel jedoch konnte seinen breiten Rücken und seinen großen Kopf erkennen.

Behänden, leichten Schrittes eilte noch jemand die Treppe herunter, und Pawel vernahm eine bekannte Stimme:

»Prochoschka, warte einen Augenblick!«

Prochoschka blieb stehen, drehte sich um und schaute hinauf.

»Was gibt‘s?«, brummte er.

Die Schritte auf der Treppe kamen näher, und Pawel erkannte Frossja.

Sie packte den Kellner am Ärmel und sagte mit stockender, gepresster Stimme:

»Prochoschka, wo ist denn das Geld, das dir der Leutnant gegeben hat?«

Prochor riss sich heftig los. »Was für Geld? Hast du vielleicht keins von mir gekriegt?«, versetzte er gereizt und scharf.

»Aber er hat dir doch dreihundert Rubel gegeben.« Frossja unterdrückte krampfhaft ein Schluchzen.

»Dreihundert Rubel, sagst du?«, erwiderte Prochoschka giftig. »Und du willst sie also haben? Sind Sie vielleicht nicht gar zu teuer, gnädiges Fräulein aus der Spülküche? Ich denke, die fünfzig Rubel, die ich dir gegeben habe, genügen auch. Was denkst du dir eigentlich? Es gibt nettere Fräuleins, gebildetere, und selbst die nehmen nicht einmal so viel Geld. Sollst dich lieber schön bedanken — für eine Nacht volle fünfzig Rubel. Bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Einen Zehner oder zwei werde ich dir noch geben, aber damit basta! Und wenn du dich nicht blöd anstellst, wirst du noch genug verdienen. Ich werde dir schon wieder was verschaffen.« Mit diesen Worten drehte sich Prochoschka um und verschwand in der Küche.

»Schuft, du niederträchtiger!«, schrie ihm Frossja nach und begann, an den Holzstapel gelehnt, dumpf zu schluchzen.

Es lässt sich nur schwer schildern, was Pawel, im Dunkeln unter der Treppe hockend, empfand, als er dieses Gespräch hörte und sah, wie Frossja, die am ganzen Körper bebte, den Kopf auf den Holzstapel fallen ließ. Pawel machte sich nicht bemerkbar. Krampfhaft hielt er das eiserne Treppengeländer umklammert, und in seinem Kopf hämmerte es klar und deutlich: Auch die haben sie also verschachert, dies verfluchte Gesindel. Ach, Frossja, Frossja …!

So wurde sein Hass gegen Prochoschka noch tiefer und heftiger, seine gesamte Umgebung wurde ihm noch widerwärtiger und verhasster. Ja, wenn ich stark genug wäre, ich würde diesen Schuft zu Tode prügeln! Warum bin ich nicht so groß und stark wie Artjom?

Die Flammen im Ofen flackerten auf und verlöschten, ihre roten Zungen bebten und verflochten sich zu einer langen bläulichen Spirale. Pawel schien es, als mache sich jemand über ihn lustig und streckte ihm höhnisch die Zunge heraus.

Im Raum war es still, nur das Holz knisterte, und vom Wasserhahn her war das Geräusch gleichmäßig fallender Tropfen zu hören.

Klimka stellte den letzten blank geputzten Kochtopf auf das Wandbrett und trocknete sich die Hände ab. Die Küche war leer. Der diensttuende Koch und die Küchenmädchen schliefen in der Garderobe. Nachts herrschte in der Küche immer drei Stunden lang Ruhe, und diese Stunden verbrachte Klimka stets oben bei Pawel. Der Küchenjunge und der schwarzäugige Bursche vom Wasserkessel hatten sich gut angefreundet. Als Klimka heraufkam, sah er Pawel vor dem offenen Ofen kauern. Pawka bemerkte den Schatten der wohlbekannten wuschelköp-figen Gestalt an der Wand und sagte, ohne sich umzuschauen:

»Setz dich, Klimka.«

Der Küchenjunge kletterte auf die aufgestapelten Holzscheite, streckte sich auf ihnen aus, blickte den stumm zusammengekauerten Pawel an und sagte lächelnd:

»Was machst du denn da, zauberst wohl vor dem Feuer?«

Pawel riss nur mühsam den Blick von den Flammenzungen los. Ein paar große, glänzende Augen richteten sich auf Klimka. In diesen Augen las Klimka unsagbaren Kummer. Zum ersten Mal sah er in den Augen seines Freundes eine solche Traurigkeit.

»Du bist heute so komisch, Pawka«, sagte er verwundert, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ist etwas passiert?«

Pawel stand auf und setzte sich neben Klimka.

»Gar nichts ist passiert«, erwiderte er mit dumpfer Stimme. »Aber es fällt mir schwer, hier auszuhalten, Klimka.« Seine auf den Knien ruhenden Hände ballten sich zu Fäusten.

»Was ist heute mit dir los?«, fragte Klimka wieder und stützte sich auf den Ellbogen.

»Heute, sagst du? Immer schon war das Gleiche los, seitdem ich hier bin. Schau nur, was sich hier tut! Wir schuften wie die Viecher, und zum Dank haut dir jeder, der Lust dazu hat, eine runter, und niemand steht dir bei. Die Wirtsleute haben uns angestellt, damit wir für sie arbeiten, aber uns prügeln, das darf jeder, der nur kräftig genug dazu ist. Du kannst dich in Stücke reißen, aber allen kannst du‘s doch nicht recht machen, und wem du‘s eben nicht recht machst, der langt dir eine. Man gibt sich doch schon solche Mühe, um alles zu machen, wie sich‘s gehört, damit keiner etwas auszusetzen hat; man rast hin und her, und doch, hat man mal jemandem etwas nicht rechtzeitig gebracht — gleich kriegst du eins ins Genick …«

Klimka unterbrach ihn erschrocken:

»Schrei doch nicht so, sonst kommt noch jemand und hört‘s.« Pawel sprang auf.

»Sollen sie‘s doch hören. Ich geh sowieso weg von hier. Selbst Schneeschippen an der Bahnlinie ist noch besser, als hier zu arbeiten … hier geht man zugrunde, hier sind alle durch die Bank Gauner. Wie viel Geld die haben! Und uns behandeln sie wie die Tiere. Mit den Mädchen machen sie, was sie wollen. Gibt ein anständiges Mädchen nicht nach, so wird sie eins, zwei, drei rausgeschmissen. Und wo soll sie hin? Obdachlose, Flüchtlinge, Hungernde werden angestellt. Die bleiben schon wegen des Brotes. Hier haben sie doch wenigstens was zu essen, und vor Hunger gehen sie auf alles ein!«

Er sprach mit einer derartigen Erbitterung, dass Klimka aus Angst, jemand könnte ihr Gespräch mit anhören, plötzlich aufsprang und die zur Küche führende Tür verschloss, aber Pawel machte seinem Herzen noch weiter Luft.

»Ja, du, Klimka, du hältst immer den Mund, wenn man dich prügelt. Warum eigentlich?«

Pawel ließ sich auf einen Schemel fallen und stützte müde den Kopf in die Hand. Klimka schob Holz in den Ofen und setzte sich dann zu ihm.

»Wollen wir heute nicht lesen?«, fragte er Pawel.

»Ich habe kein Buch«, antwortete dieser, »der Bücherstand ist geschlossen.«

»Wieso verkauft er denn heute nicht?«, fragte Klimka verwundert.

»Die Gendarmen haben den Verkäufer geholt. Haben wohl irgendetwas bei ihm gefunden.«

»Was denn?«

»Man sagt, etwas mit Politik.«

Klimka schaute Pawel verständnislos an.

»Was bedeutet das — Politik?«

Pawka zuckte die Achseln.

»Weiß der Teufel! Man sagt, wenn jemand gegen den Zaren ist, dann heißt das Politik.«

Klimka fuhr erschrocken zusammen.

»Gibt‘s denn solche Leute?«

»Weiß nicht«, antwortete Pawel.

Die Tür ging auf, und die verschlafene Glaschka trat ein.

»Warum schlaft ihr nicht, Jungs? Auf eine Stunde könnt ihr noch einnicken, bis die Züge ankommen. Geh, Pawka, ich werde auf den Kessel achtgeben.«

Pawel sollte seine Stelle schneller verlassen, als er es geahnt hatte, und auf ganz unerwartete Weise.

An einem frostigen Januartag hatte Pawel seine Schicht beendet und machte sich zum Heimgehen fertig; doch der Bursche, der ihn ablösen sollte, war nicht erschienen. Pawel ging zur Wirtin und erklärte ihr, er werde nach Hause gehen, aber sie ließ ihn nicht weg. Der todmüde Junge musste nun weitere vierundzwanzig Stunden schuften, und als die Nacht kam, war er völlig erschöpft. In der Pause hatte er die Wasserkessel zu füllen, um bis zum Dreiuhrzug kochendes Wasser zu haben.

Pawel drehte den Hahn auf — aber es kam kein Wasser. Das Pumpwerk versagte offenbar. Er ließ den Hahn offen, streckte sich auf dem Holzstapel aus und schlief ein; die Müdigkeit hatte ihn übermannt.

Nach einigen Minuten schon gluckste und rauschte es im Hahn. Wasser strömte in den Kessel, füllte ihn bis an den Rand und floss über die Kacheln auf den Fußboden des Spülraums, in dem, wie gewöhnlich, niemand mehr war. Das Wasser rann und sickerte unter der Tür hindurch in den Wartesaal.

Wasserbäche rieselten unter das Gepäck und die Koffer der schlafenden Reisenden. Niemand merkte es, und erst als das Wasser einen auf dem Boden liegenden Fahrgast erreichte und dieser aufsprang und zu schreien begann, stürzte alles zum Gepäck.

Es entstand ein heilloses Durcheinander.

Das Wasser aber stieg und stieg.

Prochoschka, der einen Tisch im zweiten Saal abräumte, kam auf das Geschrei der Reisenden herbeigestürzt, sprang über die Pfützen zur Tür und riss sie gewaltsam auf. Das Wasser flutete nun in Strömen in den Saal.

Das Geschrei wurde lauter. Die diensttuenden Kellner eilten in den Spülraum. Prochoschka warf sich auf den schlafenden Pawel.

Ein Schlag nach dem andern hagelte auf den Kopf des vor Schmerz völlig benommenen Jungen nieder. In seiner Schlaftrunkenheit verstand er gar nicht, was los war. Grelle Blitze flackerten vor seinen Augen. Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper.

Übel zugerichtet, schleppte er sich mit Mühe und Not nach Hause.

Am Morgen befragte ihn Artjom mit finsterer, zorniger Miene über das Vorgefallene.

Pawel erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte.

»Wer hat dich geschlagen?«, fragte Artjom mit gepresster Stimme.

»Prochoschka.«

»Schön, kannst liegen bleiben.«

Artjom zog seinen Schafpelz an und verließ das Haus, ohne ein Wort zu sagen.

»Kann ich den Kellner Prochor sprechen?«, erkundigte sich ein unbekannter Arbeiter bei Glaschka.

»Er wird gleich hier sein, warten Sie einen Augenblick«, erwiderte sie.

Die riesige Gestalt lehnte sich an den Türrahmen.

»Schön, ich werde warten.«

Das Tablett voller Geschirr in den Händen, stieß Prochor mit dem Fuß die Tür auf und trat ein.

»Das ist er«, sagte Glaschka und wies auf Prochor.

Artjom schritt auf ihn zu, ließ seine Hand wuchtig auf die Schulter des Kellners fallen und fragte ihn unverblümt:

»Warum hast du meinen Bruder Pawka verprügelt?«

Prochor versuchte, seine Schulter frei zu machen, aber ein furchtbarer Faustschlag warf ihn zu Boden. Er wollte aufstehen, aber ein zweiter, schrecklicher als der erste, nagelte ihn förmlich am Fußboden fest.

Die erschrockenen Frauen sprangen zur Seite.

Artjom drehte sich um und ging von dannen.

Mit blutig geschlagenem Gesicht wälzte sich Prochoschka auf dem Fußboden.

Abends kehrte Artjom nicht aus dem Depot zurück.

Die Mutter brachte in Erfahrung, dass man ihn in der Gendarmerie festhielt.

Am Abend des sechsten Tages kam Artjom nach Hause. Die Mutter schlief bereits. Er trat zu dem auf dem Bett sitzenden Pawel und fragte ihn freundlich: »Geht‘s besser, Brüderchen?«, und setzte sich neben ihn auf den Bettrand. »Na, es gibt Schlimmeres.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Macht nichts, fängst jetzt im Elektrizitätswerk an. Ich habe dort schon von dir gesprochen. Dort wirst du wenigstens was Vernünftiges lernen.«

Pawel drückte mit beiden Händen heftig die riesige Hand des Bruders.

TEIL 1 - KAPITEL 2

Zweites Kapitel

Wie ein Sturmwind brauste durch das Städtchen die erschütternde Nachricht: »Der Zar ist gestürzt!«

Niemand wollte es glauben.

Einem im Schneegestöber langsam herankeuchenden Zug entstiegen zwei Studenten, die Gewehre über den Mänteln, und eine Abteilung revolutionärer Soldaten mit roten Armbinden. Sie verhafteten die Bahnhofsgendarmen, einen alten Oberst und den Chef der Garnison. Jetzt endlich glaubte man es im Städtchen. Tausende von Menschen wälzten sich durch die verschneiten Straßen zum Marktplatz.

Gierig lauschten sie den neuen Worten: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«

Die unruhigen Tage voller Lärm, Aufregung und Begeisterung vergingen. Im Städtchen trat wieder Ruhe ein, und nur die rote Fahne auf dem Gebäude der Stadtverwaltung, in dem sich die Menschewiki und Sozialrevolutionäre festgesetzt hatten, zeugte von der eingetretenen Veränderung. Alles Übrige war beim Alten geblieben.

Gegen Ende des Winters wurde ein Gardekavallerieregiment in dem Städtchen einquartiert. Allmorgendlich ritt die Truppe schwadronsweise zum Bahnhof, um die von der Südfront geflüchteten Deserteure abzufangen.

Die Gardekavalleristen waren alle große, baumstarke Kerle mit satten Gesichtern. Die Offiziere, zumeist Grafen und Fürsten, hatten goldene Epauletten, silberne Biesen an den Reithosen, alles genauso, wie es unter dem Zaren gewesen war — als hätte es nie eine Revolution gegeben.

So verging das Jahr neunzehnhundertsiebzehn.

Für Pawel, Klimka und Serjosha Brusshak hatte sich nichts geändert. Ihre Herren waren die gleichen geblieben. Erst im regnerischen Monat November schien irgendetwas Ungewöhnliches vor sich zu gehen. Neue Leute tauchten auf dem Bahnhof auf, zumeist Soldaten aus den Schützengräben; sie trugen den seltsamen Namen »Bolschewiki«.

Woher dieser hart und gewichtig klingende Name kam, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen.

Den Gardekavalleristen fiel es immer schwerer, den Strom der Deserteure zu stoppen. Immer häufiger zersplitterten die Scheiben der Bahnhofsfenster bei den Schießereien. Viele Gruppen rückten von der Front aus und setzten sich, wenn man sie anhalten wollte, mit Bajonetten zur Wehr. Anfang Dezember strömten schon ganze Truppenverbände zurück.

Die Gardekavalleristen riegelten den Bahnhof ab. Sie glaubten, auf diese Weise die Deserteure aufhalten zu können, aber das Maschinengewehrgeknatter belehrte sie bald eines anderen. Es waren mit dem Tod vertraute Menschen, die aus den Eisenbahnwagen herausstürzten. Die grauen Frontsoldaten jagten die Kavalleristen in die Stadt hinein, vertrieben sie und kehrten zum Bahnhof zurück; und wieder passierten Truppentransporte das Städtchen.

An einem Frühlingstag des Jahres neunzehnhundertachtzehn verließen die drei Freunde Serjosha Brusshaks Wohnung, in der sie Sechsundsechzig gespielt hatten. Unterwegs machten sie beim Gärtchen der Kortschagins halt und legten sich dort ins Gras. Sie langweilten sich redlich, hatten zu keiner ihrer üblichen Beschäftigungen Lust und dachten darüber nach, wie sie den Tag am besten verbringen könnten. Plötzlich hörten sie hinter sich Pferdegetrappel. Ein Reiter kam angesprengt. Mit einem Sprung setzte das Pferd über den Graben, der die Chaussee von dem niedrigen Gartenzaun trennte. Der Reiter winkte den im Gras Liegenden mit der Peitsche.

»Heda, Jungs, kommt mal her!«

Die drei sprangen auf und rannten zum Zaun. Der Reiter war völlig in Staub gehüllt; die in den Nacken geschobene Mütze, die graue Hose und die Feldbluse waren mit einer dicken Schicht grauen Straßenstaubs bedeckt. Am Koppel baumelten ein Revolver und zwei deutsche Handgranaten.

»Bringt mir Wasser zum Trinken, Jungs!«, bat er, und während Pawel ins Haus lief, um Wasser zu holen, wandte sich der Reiter Serjosha zu, der ihn unverwandt anstarrte: »Sag mal, Junge, wer ist jetzt bei euch in der Stadt an der Macht?«

Hastig teilte Serjosha dem Fremden alle Neuigkeiten mit.

»Seit zwei Wochen ist bei uns niemand an der Macht. Hier herrscht der Selbstschutz. Alle Einwohner halten nachts der Reihe nach Wache. — Aber was sind Sie denn für einer?«, fragte er nun seinerseits.

»Merk dir, wer zu viel weiß, wird bald alt«, erwiderte der Reiter mit einem Lächeln.

Pawel kam mit einem Krug Wasser aus dem Haus gelaufen.

Gierig trank der Reiter das Wasser in einem Zug bis auf den letzten Tropfen aus, gab Pawel den Krug zurück, zog die Zügel an und sprengte im Galopp zu dem nahen Tannenwäldchen.

»Wer war das?«, wandte sich Pawel verständnislos an Klimka.

»Woher soll ich denn das wissen?«, erwiderte dieser achselzuckend.

»Wahrscheinlich wird wieder eine andere Macht kommen. Deshalb haben sich auch gestern Leszczynskis verduftet, und wenn die Reichen ausrücken, so bedeutet das: die Partisanen kommen«, entschied Serjosha mit Bestimmtheit diese höchst politische Frage.

Seine Schlussfolgerungen waren so einleuchtend, dass Pawel und Klimka sofort zustimmten.

Noch hatten sich die drei Jungen über das eben Geschehene nicht richtig aussprechen können, als auf der Chaussee abermals Pferdegetrappel zu hören war. Alle drei rannten zum Gartenzaun.

Vom Wald her, von dort, wo kaum sichtbar das Försterhaus lag, kamen Menschen und Fuhrwerke, und bereits ganz nahe sprengten auf der Chaussee ungefähr fünfzehn Berittene heran, die Gewehre quer über dem Sattel. Zwei ritten voran: der eine ein älterer Mann in feldgrauem Rock mit Offizierskoppel und einem Feldstecher auf der Brust; neben ihm der Reiter, mit dem die Jungen soeben gesprochen hatten. Am Rock des Älteren leuchtete ein rotes Band.

»Was hab ich gesagt!«, rief Serjosha und puffte Pawel mit dem Ellbogen in die Seite. »Siehst du, ein rotes Band. Partisanen! Ich will mich totschlagen lassen, wenn das nicht Partisanen sind …« Er jauchzte vor Freude auf und schwang sich über den Zaun auf die Straße.

Die beiden Freunde folgten seinem Beispiel. Alle drei standen jetzt am Rande der Chaussee und blickten auf die Näherkommenden.

Die Männer ritten dicht heran. Der Reiter, mit dem die Jungen schon bekannt geworden waren, nickte ihnen zu und wies mit der Peitsche auf das Haus der Leszczynskis.

»Wer wohnt dort?«

Pawel, bemüht, mit dem Pferd des Reiters Schritt zu halten, erzählte:

»Das ist das Haus vom Rechtsanwalt Leszczynski. Gestern ist er ausgerückt. Hat wahrscheinlich Angst vor euch gekriegt …«

»Woher weißt du denn, wer wir sind?«, erkundigte sich der andere Reiter lächelnd.

Pawka zeigte auf das rote Band und erwiderte:

»Und was ist das da? Man sieht‘s doch gleich …«

Die Einwohner strömten auf die Straße und bestaunten neugierig die in die Stadt einrückende Abteilung. Unsere drei Freunde standen an der Chaussee und wandten kein Auge von den vorüberziehenden müden, staubbedeckten Rotgardisten. Als das einzige Geschütz der Abteilung und die Karren mit den Maschinengewehren über das Pflaster geholpert waren, gingen die Jungen den Partisanen nach und kehrten erst nach Hause zurück, als die Truppe im Zentrum der Stadt haltgemacht hatte und in den Wohnungen Quartier bezog.

In dem geräumigen Esszimmer des Leszczynski‘schen Hauses, in dem sich der Stab einquartiert hatte, saßen am Abend vier Männer an einem großen Tisch mit gedrechselten Beinen; es waren der Abteilungskommandeur, Genosse Bulgakow, ein älterer Mann mit grau meliertem Haar, und drei Stabsmitglieder.

Bulgakow hatte die Karte des Gouvernements auf dem Tisch ausgebreitet, fuhr mit dem Finger über sie hinweg, indem er wichtige Linien mit dem Nagel nachzog, und sprach auf einen Mann mit hervorstehenden Backenknochen und kräftigen Zähnen ein, der ihm gegenübersaß.

»Du meinst also, Genosse Jermatschenko, dass wir hier den Kampf aufnehmen sollen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir morgen früh von hier abrücken müssen. Besser wäre sogar, es noch in der Nacht zu tun, aber die Leute sind müde. Wir haben die Aufgabe, schnellstens Kasatin zu erreichen, damit die Deutschen uns nicht zuvorkommen. Mit unseren Kräften Widerstand zu leisten, wäre ja lächerlich … Ein einziges Geschütz mit etwa dreißig Geschossen, zweihundert Bajonette und sechzig Säbel — was für eine kolossale Streitmacht …! Die Deutschen rücken wie eine eiserne Lawine vor … Ein Gefecht können wir erst aufnehmen, wenn wir uns mit anderen abziehenden Roten Abteilungen vereinigt haben. Wir müssen doch im Auge behalten, Genosse, dass wir, außer mit den Deutschen, unterwegs noch mit den verschiedenen konterrevolutionären Banden zu tun haben werden. Meine Meinung ist die: Morgen früh ziehen wir los und sprengen beim Abmarsch die Eisenbahnbrücke hinter der Station. Bis die Deutschen sie wieder instand gesetzt haben, werden zwei, drei Tage vergehen. Der Weitertransport ihrer Truppen auf der Bahnstrecke wird somit aufgehalten. Was meint ihr dazu, Genossen? Fassen wir also einen Beschluss!«

Strushkow, der Bulgakow schräg gegenübersaß, bewegte die Lippen, schaute auf die Karte, dann auf Bulgakow und presste schließlich mühsam die Worte hervor:

»Ich … unter… stütze Bulgakow.«

Der jüngste der Anwesenden, ein Bursche in einem Arbeitskittel, erklärte sich ebenfalls einverstanden:

»Bulgakow hat recht.«

Nur Jermatschenko, derjenige, der am Tag mit den Jungen gesprochen hatte, schüttelte den Kopf.

»Wozu, zum Teufel, haben wir denn die Abteilung aufgestellt? Um vor den Deutschen kampflos zurückzuweichen? Meiner Ansicht nach soll man es hier mit ihnen aufnehmen. Ich hab es satt, ewig zu türmen. Wenn es nach mir ginge, würde ich hier kämpfen — unbedingt …« Heftig rückte er den Stuhl vom Tisch weg, erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab.

Bulgakow betrachtete ihn missbilligend.

»Kämpfen muss man mit Verstand, Jermatschenko. Wir können die Leute nicht dem sicheren Untergang und der Vernichtung preisgeben. Und außerdem wäre es einfach lächerlich, denn eine ganze Division rückt uns nach, mit schwerer Artillerie und Panzerautos … Sei doch kein Kind, Genosse Jermatschenko …« Und schon an die Übrigen gewandt, fügte er hinzu: »Es ist also beschlossene Sache — morgen früh rücken wir ab … Die nächste Frage betrifft die Verbindung«, fuhr Bulgakow fort. »Da wir zuletzt abrücken, haben wir die Arbeit im Hinterland der Deutschen zu organisieren. Hier ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, das Städtchen hat zwei Bahnhöfe. Wir müssen dafür sorgen, dass ein zuverlässiger Genosse auf der Bahnstation arbeitet. Wir werden sofort entscheiden, wen wir von den Unsern zur Organisierung der Arbeit hierlassen können. Schlagt Kandidaten vor.«

»Ich denke, man sollte den Matrosen Shuchrai dazu bestimmen«, sagte Jermatschenko und trat an den Tisch. »Erstens stammt Shuchrai aus dieser Gegend. Zweitens ist er Schlosser und Monteur, kann also Arbeit auf der Station bekommen. Drittens ist er von niemandem bei unserer Abteilung gesehen worden — er trifft erst nachts hier ein. Er hat Grütze im Kopf und wird seine Sache schon machen. Ich denke, das ist der geeignetste Mann.«

Bulgakow nickte.

»Richtig, ich bin mit dir einverstanden, Jermatschenko. Habt ihr etwas einzuwenden, Genossen?«, wandte er sich an die Übrigen. »Nein? Die Frage ist also erledigt. Wir geben Shuchrai Geld und ein Mandat für die Arbeit … Und jetzt noch die dritte und letzte Frage, Genossen. Es handelt sich um die Waffen, die sich in der Stadt befinden. Wie wir erfahren haben, ist hier ein ganzes Waffenlager vorhanden — zwanzigtausend Gewehre, die noch vom zaristischen Krieg stammen. Sie liegen in einer Scheune. Das Lager ist von allen vergessen worden. Mir hat der Bauer, dem die Scheune gehört, davon Mitteilung gemacht. Er möchte die Gewehre loswerden … Wir dürfen dieses Lager natürlich keineswegs in die Hände der Deutschen fallen lassen. Ich denke, dass man es in Brand setzen sollte, und zwar gleich, damit bis zum Morgen alles vorbei ist. Die Sache hat aber einen Haken. Die Scheune steht am Rande der Stadt, inmitten armseliger Bauernhöfe, die Feuer fangen könnten.«

Strushkow, ein Mann von kräftiger Gestalt, mit einem schon seit Langem unrasierten Gesicht, erhob sich:

»Wo… wo… wozu … verbrennen? Ich d… denke, wir sollten die Waffen unter die Be… Bevölkerung ver… verteilen.«

Bulgakow wandte sich ihm sofort zu: »Verteilen, sagst du?«

»Richtig! Das ist eine Idee!«, rief Jermatschenko begeistert aus. »Man muss sie an die Arbeiter und an die übrige Bevölkerung ausgeben, an alle, die Waffen wollen. Dann werden sie wenigstens etwas haben, womit sie den Deutschen auf die Finger klopfen können, wenn die es zu toll treiben. Und das werden sie bestimmt. Wenn‘s nicht mehr zum Aushalten ist, werden die Jungen schon zu den Waffen greifen. Strushkow hat recht: Die Waffen müssen verteilt werden. Es wäre sogar gut, sie hinaus aufs Land zu schaffen. Die Bauern werden sie ganz tief einbuddeln, und wenn die Deutschen kommen, um alles zu requirieren, wird man diese Dinger recht gut brauchen können.«

Bulgakow lachte auf.

»Ja, aber die Deutschen werden befehlen, alle Waffen abzuliefern, und da wird man alles angeschleppt bringen.«

Jermatschenko protestierte: »Nicht alle werden das tun, manche ja, andere nicht.«

Bulgakow streifte die Anwesenden mit einem fragenden Blick.

»Wir müssen die Gewehre verteilen, unbedingt verteilen«, unterstützte der junge Arbeiter Jermatschenko und Strushkow.

»Also gut, verteilen wir sie«, willigte Bulgakow ein. »So, das wäre nun alles«, sagte er und stand auf. »Wir können uns jetzt bis zum Morgen ausruhen. Wenn Shuchrai kommt, schickt ihn zu mir. Ich will mit ihm sprechen. Und du, Jermatschenko, geh und kontrolliere die Posten.«

Nachdem die drei ihn verlassen hatten, ging Bulgakow in das Schlafzimmer der Hauseigentümer, breitete auf der Matratze seinen Soldatenmantel aus und legte sich nieder.

Am nächsten Morgen ging Pawel vom Elektrizitätswerk nach Hause. Seit einem Jahr arbeitete er dort bereits als Hilfsheizer.

Im Städtchen herrschte ein ungewöhnliches Treiben. Das fiel ihm sofort auf. Man sah immer mehr Leute, die ein, zwei, sogar drei Gewehre trugen. Pawel eilte heim, ohne zu verstehen, was da vor sich ging. Vor der Leszczynski‘schen Villa sattelten seine neuen Freunde die Pferde.

Er rannte heim, wusch sich hastig und erfuhr von der Mutter, dass Artjom noch nicht nach Hause gekommen war. Darauf lief Pawka zu Serjosha Brusshak, der am anderen Ende der Stadt wohnte.

Serjosha war der Sohn eines Lokomotivführergehilfen. Sein Vater hatte ein Häuschen und eine kleine Wirtschaft. Serjosha war nicht zu Hause. Seine Mutter, eine rundliche Frau mit sehr weißer Haut, schaute Pawel mit unzufriedener Miene an.

»Der Teufel mag wissen, wo der steckt! Sprang in aller Herrgottsfrühe aus den Federn und treibt sich weiß Gott wo herum. Man sagt, dass irgendwo Waffen verteilt werden. Dort wird er sicher auch nicht fehlen. Die Hosen stramm ziehen sollte man euch Rotznasen. Seid schon ganz außer Rand und Band geraten. Seine liebe Müh und Not hat man mit euch. Noch nicht trocken hinter den Ohren, und schon Waffen in den Händen. Sag dem Bengel, dass ich ihm den Kopf abreißen werde, wenn er mir nur eine einzige Patrone ins Haus bringt. Jeden Dreck schleppt er heran, und dann soll man auch noch die Verantwortung dafür tragen. Und du, du rennst wohl auch dahin?«

Aber Pawel hörte nicht mehr auf das Geschimpfe von Serjoshas Mutter, sondern war schon wieder auf und davon.

Auf der Chaussee kam ihm ein Mann entgegen, der über jeder Schulter ein Gewehr trug.

Pawel stürzte auf ihn zu.

»Onkelchen, woher hast du die?«

»Dort oben in der Werchowina werden sie verteilt.«

So schnell ihn nur seine Beine trugen, rannte Pawel in die genannte Richtung.

Nachdem er zwei Straßen durchquert hatte, stieß er auf einen Jungen, der ein schweres Infanteriegewehr mit Bajonett schleppte.

»Woher hast du das?« Pawel hielt den Jungen an.

»Gegenüber der Schule geben die Soldaten Waffen aus, aber jetzt ist schon alles verteilt. Die ganze Nacht ging es. Bloß leere Kisten sind geblieben. Das ist schon das Zweite, das ich erwischt habe«, schloss der Junge stolz.

Diese Nachricht war ein schwerer Schlag für Pawel.

Ach, zum Teufel, wäre ich doch gleich hingerannt und nicht erst nach Hause gegangen, dachte er verzweifelt. Wie konnte ich das nur verpassen?

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er drehte sich jäh um, holte mit drei Sprüngen den Jungen ein und riss ihm mit aller Kraft das Gewehr aus den Händen.

»Du hast schon eins — das reicht für dich. Und das hier nehme ich!«, erklärte Pawka in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Außer sich über diesen Raub am helllichten Tag, warf sich der Junge auf Pawka. Dieser sprang jedoch einen Schritt zurück und hielt ihm das Bajonett entgegen:

»Weg, oder du wirst aufgespießt!«, schrie er.

Der Junge heulte vor Ärger los und lief schimpfend in ohnmächtiger Wut davon. Pawka aber ging befriedigt nach Haus. Er setzte über den Zaun und eilte in den kleinen Schuppen, versteckte das eroberte Gewehr unter einem Dachbalken und ging dann, vergnügt vor sich her pfeifend, ins Haus.

Schön sind die Sommerabende in solchen ukrainischen Städtchen wie Schepetowka, die bis auf einige wenige Straßen im Stadtinnern ganz ländlich anmuten.

An diesen stillen Sommerabenden ist die gesamte Jugend auf der Straße. Die Mädchen und Burschen versammeln sich vor ihren Haustüren, in den Gärten und Vorgärten, oder sie sitzen gruppen- und paarweise auf dem geschichteten Bauholz auf der Straße.

Ringsum Lachen und Gesang.

Die Luft ist erfüllt von berauschendem Blumenduft. Hoch am Himmel flimmern die Sterne, kleinen Leuchtkäfern gleich, und der Klang der Stimme ist weithin vernehmbar …

Pawkas große Leidenschaft ist seine Ziehharmonika. Liebevoll hält er das klangvolle Instrument mit den zwei Tastenreihen auf den Knien. Die geschmeidigen Finger berühren kaum die Tasten, behänd gleiten sie von oben nach unten. Tief seufzen die Bässe auf, und plötzlich erklingt hellstimmig und übermütig ein Lied …

Der Balg der Ziehharmonika krümmt und dehnt sich — wer will da nicht tanzen? Das junge Volk hält es kaum auf den Plätzen, die Beine bewegen sich von selbst.

Heute Abend geht es besonders fröhlich zu. Es ist ein lustiges Völkchen, das sich bei den aufgestapelten Balken vor Pawels Haus zusammengefunden hat. Und am lautesten tönt das herzliche Lachen von Galotschka, der Nachbarin. Die Tochter des Steinmetzen liebt Tanz und Gesang sehr. Sie hat eine tiefe Altstimme, weich wie Samt.

Pawel fürchtet sich ein wenig vor der Zunge Galotschkas. Sie setzt sich neben ihn auf die Balken, drückt ihn fest an sich und lacht.

»Ach, du mein unübertrefflicher Musikant! Schade, bist noch ein bisschen zu jung, sonst wärst du gerade der passende Mann für mich. Ich liebe die Harmonikaspieler, das Herz schmilzt mir jedes Mal, wenn ich sie höre.«

Pawel errötete bis an die Haarwurzeln — nur gut, dass man das am Abend nicht sehen kann. Er rückt ab von Galotschka, sie aber hält ihn fest und lässt ihn nicht weg.

»Wohin willst du denn, mein Lieber? Bist ein schöner Freier«, neckt sie ihn.

Pawka fühlt ihre prallen Brüste an seiner Schulter. Eine unerklärliche Unruhe erfüllt sein Herz. Und ringsum erschüttert Gelächter die sonst so ruhige Straße.

Pawka stemmt seine Hand gegen Galotschkas Schulter und sagt:

»Stör mich nicht. Rück ein wenig beiseite.«

Und wieder lautes Lachen, Necken und Scherze.

Marussja mischt sich ein:

»Pawka, spiel doch etwas Trauriges, was einem so richtig zu Herzen geht.«

Langsam dehnt sich die Harmonika, langsam gleiten die Finger; eine allen bekannte, von allen geliebte Melodie. Galotschka greift sie als Erste auf, nach ihr Marussja und alle anderen.

In der heimischen Hütte,

da versammeln sich die Treidler.

Lieb und schön ist‘s hier.

Von unserem traurig Los

woll‘n ein Lied wir singen.

»Pawka!« Das ist Artjoms Stimme.

Pawel packt die Ziehharmonika zusammen.

»Ich muss jetzt gehen. Artjom ruft mich.«

Marussja bittet:

»Bleib noch ein Weilchen, spiel noch eins. Kommst noch früh genug nach Haus.«

Aber Pawel hat es eilig.

»Nein, morgen ist auch noch ein Tag. Da können wir wieder spielen. Jetzt muss ich gehen.« Und schon eilt er über die Straße und ist im Haus verschwunden.

Er öffnet die Zimmertür und sieht: Am Tisch sitzen Roman, ein Arbeitskollege von Artjom, und noch ein anderer Mann, den er nicht kennt.

»Du hast mich gerufen?«, fragt Pawel.

Artjom nickt und sagt dann zu dem Unbekannten:

»Das ist er also, mein Brüderchen.«

Der Fremde streckt Pawel seine schwielige Hand entgegen.

»Hör mal zu, Pawka«, wendet sich Artjom an den Bruder. »Du hast mir doch gesagt, dass bei euch im Elektrizitätswerk der Monteur krank geworden ist. Erkundige dich morgen, ob sie nicht einen einstellen wollen, der was von der Sache versteht. Wenn sie jemanden brauchen, gib mir sofort Bescheid.«

Der Unbekannte mischt sich ins Gespräch.

»Nein, ich geh lieber mit ihm zusammen hin. Will selbst mit dem Chef reden.«

»Natürlich brauchen wir einen. Das Werk stand doch heute still, weil Stankowitsch krank geworden ist. Unser Chef ist zweimal gegangen, um Ersatz zu finden, aber vergebens. Er wollte nicht riskieren, das Werk mit nur einem Heizer in Gang zu setzen.«

»Na also, dann ist die Sache schon so gut wie gemacht«, sagte der Unbekannte. »Ich hole dich morgen früh ab und gehe mit dir zusammen hin«, wendet er sich an Pawel.

»Schön.«

Pawels Blick begegnet den ruhigen grauen Augen des Unbekannten, die ihn aufmerksam mustern. Der feste, unverwandte Blick verwirrt Pawel ein wenig. Die von oben bis unten zugeknöpfte graue Jacke spannt etwas über dem breiten Rücken. Schultern und Kopf sind durch einen kräftigen Nacken verbunden, und der ganze Mensch strotzt vor Kraft wie eine alte, knorrige Eiche.

Beim Abschied sagt Artjom:

»Einstweilen alles Gute, Shuchrai. Morgen gehst du mit meinem Bruder hin und regelst die Sache.«

Die Deutschen marschierten drei Tage nach dem Abzug der Rotgardisten in die Stadt ein. Das Pfeifen der Lokomotive auf dem in den letzten Tagen verwaisten Bahnhof verkündete ihre Ankunft. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht im Städtchen:

»Die Deutschen sind da!«