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Der neue Roman der Bestsellerautorin über die Chancen, die im Älterwerden liegen. Zwei Dinge hat Karl seiner Tochter Johanna hinterlassen: Den geliebten, verwilderten Garten – und eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn, die einfach nicht mehr weggehen will. Den Garten möchte Johanna behalten, aber die Sorgenfalte soll weg: Sie lässt das erste Mal in ihrem Leben »etwas machen« und ist fasziniert, wie scheinbar einfach sich die Erschütterungen eines vierzigjährigen Lebens ausradieren lassen. Mit dem Verschwinden der Falte treten allerdings neue Fragen auf: Warum ist Johanna ihr Aussehen überhaupt so wichtig? Wie erklärt sie die Sache ihrer Tochter, der sie immer gepredigt hat, sich selbst bedingungslos schön zu finden? Und kann das Älterwerden für Johanna nicht auch eine große Freiheit bedeuten? »Eine kluge Erzählerin und genaue Beobachterin.« NDR Kultur
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Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Zwei Dinge hat Karl seiner Tochter Johanna hinterlassen: Den geliebten, verwilderten Garten – und eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn, die einfach nicht mehr weggehen will. Den Garten möchte Johanna behalten, aber die Sorgenfalte soll weg: Sie lässt das erste Mal in ihrem Leben »etwas machen« und ist fasziniert, wie scheinbar einfach sich die Erschütterungen eines vierzigjährigen Lebens ausradieren lassen. Mit dem Verschwinden der Falte treten allerdings neue Fragen auf: Warum ist Johanna ihr Aussehen überhaupt so wichtig? Wie erklärt sie die Sache ihrer Tochter, der sie immer gepredigt hat, sich selbst bedingungslos schön zu finden? Und kann das Älterwerden für Johanna nicht auch eine große Freiheit bedeuten?
Die Autorin
EVA LOHMANN, Jahrgang 1981, lebt als freie Autorin in Hamburg und hat eine Tochter. Wenn Eva Lohmann nicht gerade schreibt, berät sie in der Agentur I.do Mütter beim Wiedereinstieg in den Job. Wie du mich ansiehst ist ihr neuer Roman nach dem großen Erfolg von Das leise Platzen unserer Träume.
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www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-263-5
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagillustration: © Jennifer Wright. All Rights Reserved 2024 / Bridgeman Images
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Zitat
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Danke.
EMPFEHLUNGEN
Cover
Inhalt
Textbeginn
You are a woman with a man inside watching a woman.You are your own voyeur.
Margaret Atwood
Das hier ist ein erstes Mal.
Hier und jetzt vor dem großen Badezimmerspiegel wird es Johanna bewusst.
Sie wischt sich mit einem ölgetränkten Wattepad über die Augen, kurz verschwimmt alles, sie blinzelt, dann werden Rosas Umrisse wieder klar.
Rosa benutzt ein winziges bisschen Rouge und beginnt dann, sich die Wimpern zu tuschen. Sie hält kurz inne, als sie Johannas Blick bemerkt. Eine fünfzehnjährige Tochter, die ihr Make-up für den Abend aufträgt – und ihre vierzigjährige Mutter, die das Gegenteil tut. Die beiden lächeln sich im Spiegel an, es ist eine ungewohnte Situation.
Es ist ein erstes Mal.
»Darf ich dein Deo benutzen?«
»Klar.«
Johanna beugt sich übers Waschbecken, wartet, bis das Wasser warm aus dem Hahn kommt, wäscht sich das Gesicht. Sie greift nach dem Handtuch und trocknet sich ab, langsam, so dass sie Rosa noch ein bisschen beobachten kann.
Ihre Tochter trägt Jeans und einen Kapuzenpullover, die blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Party findet im Volleyballverein statt, vielleicht werden die Mädchen vorher noch eine Runde spielen.
Als Rosa fertig ist, betrachtet sie sich lange und prüfend im Spiegel.
»Hübsch«, findet Johanna.
»Na ja.«
Ein Mädchen, das aussieht wie ein lebendig gewordener Instagram-Filter, und so kritisch mit sich selbst. Johanna schaut in ihr eigenes, abgeschminktes Gesicht im Spiegel und schnell wieder weg.
Als Rosa zwei Jahre alt war, hat Johanna ihr vor diesem Spiegel das Zähneputzen beigebracht, damals konnte man das Kind zu diesem Zweck noch ins Waschbecken setzen. Später die vielen Wochenenden, an denen ihre Tochter die Kinderschminke hervorholte und sie sich gegenseitig angemalt haben. Rosa und Johanna im Spiegel als Tiger, als Schmetterlinge, als Rehe.
Und dann die unzähligen Morgen vor der Schule, an denen sie hier hinter ihrer Tochter gestanden und Zöpfe geflochten hat.
Es muss auch Momente gegeben haben, in denen sie zu dritt vor dem Spiegel standen, aber Johanna kann sich an keinen von ihnen erinnern.
Als Johanna vor fünfzehn Jahren Mutter wurde, hat sie ziemlich schnell verstanden, dass man sehr oft weiß, wann man etwas zum ersten Mal tut, aber nur selten, wann zum letzten Mal.
Am Anfang hat es nur erste Male gegeben.
Das erste Mal eine Bewegung des Kindes im eigenen Bauch spüren. Das erste Mal einen winzigen, frisch gewaschenen Babybody auf die Wäscheleine hängen. Das erste Mal das kleine Bündel in einen Kinderwagen legen und sich rauswagen.
Zwei Wochen nach Rosas Geburt war Johanna das erste Mal mit ihr im Kinderwagen nach draußen gegangen. Sie war mit dem Wagen ziellos durch die Straßen gewandert und hatte sich gewundert. Das war jetzt also sie, eine Mutter mit Kind – und anscheinend dachten alle Menschen, die an ihr vorbeigingen, das sei eine völlig normale Sache. Niemand hielt sie an und fragte, ob sie einen Führerschein für Mutterschaft gemacht habe oder ob in dem Wagen auch wirklich ein Kind liege und keine Puppe. Am seltsamsten aber war es, wenn Johanna anderen Frauen mit Kinderwagen begegnete. Dann musste sie – zumindest in der Anfangszeit – das starke Bedürfnis unterdrücken, im Vorbeigehen die Hand zu heben, um der anderen ein High Five anzubieten. Waren sie jetzt nicht alle im selben Team? Mit der Geburt des Kindes hatte jede von ihnen die gleiche Brücke überquert, ohne zu ahnen, was da eigentlich vor ihnen lag. Dass es keinen Weg zurück gab, hatten sie zwar gewusst – aber was das wirklich bedeutete, sickerte erst langsam ein.
»Ich habe übrigens noch eine Überraschung für dich«, holt Rosa sie aus ihren Gedanken.
»Ach, ja?« Johanna hängt das Handtuch über die Stange und folgt ihr aus dem Badezimmer in die offene Küche.
»Hier.« Rosa zeigt auf die Arbeitsplatte.
Im Chaos der dort angesammelten Dinge sieht Johanna nicht sofort, was ihre Tochter meint. Rosa greift nach etwas Rundem, Silbrigen und hält es ihrer Mutter hin.
Karls Wecker. Der Wecker von Johannas Vater. Deswegen hat sie heute Nachmittag so lange auf dem Dachboden herumgewühlt.
»Das ist die perfekte Lösung, Mama. Wir stellen ihn genau vor deine Schlafzimmertür und den Alarm auf dreiundzwanzig Uhr.«
Johanna starrt den Wecker an, erinnert sich gut an das fleißig-klappernde Geräusch, das er beim Losgehen macht. Ein Geräusch aus einer anderen Zeit.
Sie sieht ihrer Tochter dabei zu, wie die den Minutenzeiger des Weckers akribisch genau einstellt.
»Du kannst in Ruhe schlafen gehen und dich darauf verlassen, dass du dir erst dann Sorgen machen musst, wenn der Wecker tatsächlich klingelt. Das wird aber gar nicht erst passieren, weil ich um kurz vor elf nach Hause komme und ihn ausschalte.«
»Guter Plan.«
Rosa nickt zufrieden.
»Willst du kontrollieren?« Sie gluckst ein bisschen. In ihrer Stimme liegt schon jetzt die Vorfreude auf den kommenden Abend.
Als Baby hat Rosa auch auf diese Weise gegluckst. Stück für Stück pendelten sie und ihre Mutter sich damals im Alltag ein. Irgendwann zählte Johanna das Alter des Kindes nicht mehr in Tagen, schon kurz darauf auch nicht mehr in Wochen. Das Bedürfnis, Müttern auf der Straße ein High Five anbieten zu wollen, legte sich mit der Zeit.
Ein paar Jahre später wurde der Kinderwagen nicht mehr gebraucht, Rosa lief an Johannas Hand durchs Viertel. Und noch später, als ihre Tochter im Kindergarten war und Johanna wieder ohne Kind unterwegs, musste sie einen anderen, neuen Impuls unterdrücken: Müttern mit Kinderwagen und Kind entgegenzurufen: »Ich habe auch so eins, ich bin auch Mutter, das Kind ist nur gerade nicht bei mir, aber ich gehöre immer noch zu euch.«
Irgendwann wurde ihr bewusst, dass die allermeisten Frauen über vierzig, die ohne Kinder auf der Straße unterwegs waren, mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls Mütter waren – auch wenn sie ihre Kinder gerade nicht bei sich hatten.
Nachdem Rosa gegangen ist, wirken die Zimmer auf eine neue, merkwürdige Art still. Die Idee mit dem Wecker ist tatsächlich nicht schlecht, findet Johanna. Natürlich könnte sie wach bleiben, bis Rosa von der Party nach Hause kommt, aber morgen früh will sie um sechs auf dem Großmarkt sein und deswegen so früh wie möglich ins Bett. Die Sache ist also definitiv einen Versuch wert – auch wenn Johanna den Verdacht hat, dass sie später trotzdem auf jedes Geräusch in der Wohnung lauschen wird.
Es ist erst acht, Johanna könnte einen Film schauen, sie könnte die Buchhaltung für den Laden machen, ein bisschen aufräumen. Sie tut nichts davon, ignoriert sogar die Pizzakartons vom Abendessen, die immer noch auf dem großen Esstisch liegen.
Sie läuft lediglich noch einmal durch alle Zimmer, um eine Spur aus Licht anzuknipsen, die Rosa später ein heimeliges Gefühl geben wird, wenn sie zurück in die Wohnung kommt.
Die Sonne ist schon lange untergegangen, aber die großzügig geschnittene Altbauwohnung wird nie ganz dunkel. Mit Blick auf den Hafen und seine ewig blinkenden Lichter muss man normalerweise keine Lampe einschalten, um sich nachts in den Räumen zu orientieren. Johanna legt die Lichtspur trotzdem, knipst Rosas Nachttischlampe an, in der offenen Küche schaltet sie die Vitrinenbeleuchtung ein.
Sie kontrolliert den Wecker nun doch noch einmal, schließt die Schlafzimmertür hinter sich, zieht sich um und legt sich mit einem Buch ins Bett.
Es ist ein breites, luxuriöses Bett, und an den allermeisten Tagen ist es ungemacht. Manchmal legt sich Rosa am Wochenende mit einem Buch auf die andere Bettseite und liest, zwischen Mutter und Tochter eine Schale mit Croissants, deren buttrige Splitter sich allmählich auf den weißen Laken verteilen. Johanna streicht danach niemals die Kissen glatt, und sie versucht auch nicht ernsthaft, die Reste zu beseitigen.
»Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieksen«, hat Karl immer gesagt. Jedes Mal, wenn Johanna einen Croissantkrümel unter ihrem Rücken hervorholt, muss sie an den Spruch ihres Vaters denken. Und unweigerlich auch an ihre Mutter: »Wie man sich bettet, so liegt man.« Ein Satz von Betty, in dem immer ein leichter Vorwurf mitschwang. Beide Sprüche spiegeln ziemlich exakt die unterschiedlichen Sichtweisen ihrer Eltern auf diese Welt. Karl jedoch schaut, wenn überhaupt, nur noch von oben auf diese Welt, vier Monate ist er nun tot.
Als er im Krankenhaus lag und beide schon wussten, dass es vorbeiging, hat sie so oft es ging seine Hand gehalten. Sie hat daran gedacht, dass es auch diese Berührung ein erstes Mal gegeben haben muss. Johannas kleine Babyhand in der Hand ihres Vaters. Und plötzlich, viele Jahre, aber eigentlich nur einen Wimpernschlag später – Johannas erwachsene Hand, die die Hand ihres todkranken Vaters hält. Ein letztes Mal.
Johanna schlägt ihr Buch auf. Das Lesen hat sie sich erst wieder antrainiert, früher konnte sie es stundenlang, heute muss sie sich sehr zusammennehmen, nicht alle zehn Minuten zum Handy zu greifen. An diesem Abend ist es aber nicht das Handy, das sie ablenkt. Immer wieder bleibt Johannas Blick zwischen den Zeilen hängen, während sie darüber nachdenkt, was ihre Tochter jetzt gerade macht, mit wem sie zusammen ist, wie es ihr geht. Rosa, wie sie gemeinsam mit den Freundinnen durch die um diese Jahreszeit noch so kalten Straßen radelt, Rosa im furchtbar dünnen Mantel, den sie sich nicht ausreden lässt. Wie sich die Mädchen im Dunkeln Dinge zurufen, übertrieben laut lachen und Insider austauschen, von denen Johanna schon lange nichts mehr versteht.
Sie legt das Buch weg und schreibt Hendrik eine Nachricht.
Es ist so weit: Unsere Tochter ist ausgegangen und ich liege schon im Bett.
Sie drückt auf »Senden«. Dann legt sie das Handy aus der Hand, ohne zu wissen, wann er ihre Nachricht lesen wird.
Das Geräusch von Rosas Schlüssel in der Haustür reicht, um Johanna zu wecken. Sie muss tatsächlich eingeschlafen sein, das Nachtlicht ist an, das Buch liegt noch auf ihrem Bauch. Sie schaut auf ihr Handy. Viertel vor elf. Sie schließt die Augen und lauscht ihrer Tochter, wie sie ihre Schuhe auszieht, auf Socken bis vor die Schlafzimmertür schleicht, den Wecker ausschaltet. Dann ein bisschen Gerumpel in der Wohnung, später die Dusche.
Langsam driftet Johanna zurück in den Schlaf, wundert sich noch ein bisschen über die Dusche, aber vielleicht haben die Mädchen tatsächlich mehr Volleyball gespielt als gefeiert. Sie döst weg, wird kurze Zeit später wieder wach, die Dusche läuft immer noch, es ist mittlerweile Viertel nach elf.
Einen Moment lang liegt sie unentschlossen da, dann schlägt Johanna die Decke zurück und läuft auf nackten Füßen durchs Schlafzimmer, die Altbaudielen kalt unter den Sohlen. Vor der Badezimmertür zögert sie noch einmal kurz, ihre Tochter wird ein Klopfen nicht hören können, wenn sie unter der Dusche steht. Also öffnet Johanna die Tür. Heißer Dampf schlägt ihr entgegen.
»Rosa?«, fragt sie mit lauter Stimme in die weißen Wolken hinein.
»Mama …«
Nur ein einziges Wort. Johanna hört trotzdem alle Schattierungen raus.
Erleichterung, Verzweiflung, Bedürftigkeit.
Sie betritt den Raum, stolpert fast über Rosas Sachen auf den Badezimmerkacheln, schiebt vorsichtig den Duschvorhang beiseite, der die Badewanne verdeckt. Rosa sitzt da, nackt, mit angewinkelten Beinen, das Duschwasser prasselt auf sie herunter und von dort aus weiter in den Abfluss, ihre Tochter hebt den Kopf.
»Ich glaube, ich bin betrunken.«
Tatsächlich spricht Rosa schleppend. Johanna kniet sich hin, um auf einer Höhe mit ihr zu sein, streichelt der Tochter die Wange.
»Sonst ist nichts passiert?«
»Nein.«
Johanna atmet aus. Das Kind ist an einem sicheren Ort, es ist nichts passiert außer ein bisschen zu viel Alkohol.
»Und was machst du hier?«
Rosa lehnt den Kopf an den Badewannenrand. Sie sieht erschöpft aus, das blonde Haar, jetzt offen, hängt ihr triefend über die Schultern. Johanna, die ihre Tochter schon eine Weile nicht mehr nackt gesehen hat, betrachtet fasziniert das feste, junge Fleisch, an dem die Wasserbäche hinablaufen wie an der Haut eines Delfins.
»Es hat sich alles gedreht. Ich konnte nicht schlafen. Ich wollte, dass dieses Gefühl weggeht.« Sie hickst. »Ich bin so müde.«
Johanna lächelt. »Und jetzt versuchst du, den Alkohol wegzuduschen?«
Wann war sie selbst das letzte Mal so betrunken, dass sich die Welt um sie herum gedreht hat? Es muss lange vor Rosas Geburt gewesen sein. Aber sie erinnert sich an das Gefühl. Im Bett zu liegen, unendlich müde und erschöpft von einer langen Nacht, und gleichzeitig nicht einschlafen zu können, weil sich alles dreht. Sie erinnert sich auch, was dagegen geholfen hat.
Johanna beugt sich über die Wanne und stellt die Dusche ab. Ihr T-Shirt wird nass, und kurz muss sie daran denken, was für ein Kampf es früher war, die dreijährige Rosa einmal in der Woche zu baden, dem Kind die Haare zu waschen, das Shampoo auszuspülen. Dieses empörte, markerschütternde Schreien. Damals waren Johannas Klamotten auch jedes Mal klatschnass gewesen.
Rosa fängt an zu zittern, sobald die Dusche ausgestellt ist.
»Kannst du aufstehen?«
Das kann Rosa, schafft es sogar, aus der Wanne zu klettern, steht dann aber da mit hängenden Armen. Johanna stockt kurz, fängt an, die Fünfzehnjährige abzurubbeln. Sie bindet Rosas Haare in einen Turban und wickelt ihren leicht taumelnden Körper ein.
»Ich hole dir frische Sachen.«
Rosa nickt und lässt ihre Mutter machen. Lässt sich die Haare föhnen und zu einem Dutt wickeln. Lässt sich aus den Handtüchern schälen und anziehen, Unterhose, Jogginghose, T-Shirt und Pullover. Johanna schwitzt, während sie versucht, Rosas Arme und Beine durch die Ärmel zu drücken, es ist gar nicht so einfach, einen schlappen Teenager anzuziehen. Aber ein bisschen ist es auch schön, sie fühlt sich gebraucht wie schon lange nicht mehr. Ihr Kind lässt sich anstandslos von ihr versorgen und betüddeln wie früher. Nur dass Johanna währenddessen kein Kinderlied singt. Und Rosa eine leichte, aber nicht zu ignorierende Fahne hat.
»Mach mal die Augen zu«, sagt Johanna. »Dreht es sich dann immer noch?«
Rosa sitzt auf dem Klodeckel, schließt die Augen, öffnet sie sofort wieder, nickt verzweifelt.
»Okay. Warte hier. Augen offen lassen.«
Sie geht zur Garderobe im Flur und holt zwei Paar Stiefel und ihre Winterjacke. Kurz reibt sie den lächerlich dünnen Stoff von Rosas Mantel zwischen den Fingern, lässt ihn dann hängen und holt aus dem Kleiderschrank Hendriks Marineparker. Obwohl jahrzehntealt und abgetragen, spürt man noch immer seine Qualität. Wasserdicht und warm, perfekt verarbeitet für kalte, nasse Tage auf dem Meer. Wenn die Marine eines kann, dann sind das praktische Kleidungsstücke.
Johanna ruft ihre Tochter in die Küche vor die Terrassentür.
»Wir versuchen es jetzt mal mit frischer Luft. Das hat mir immer geholfen.«
Rosa nickt.
»Was ist, wenn ich mich übergeben muss?«
»Das wäre vielleicht nicht mal das schlechteste. Wir gehen nur auf die Terrasse, dann hast du es nicht weit.«
Sie zieht erst sich selbst an, dann mummelt sie Rosa in Hendriks Parker, schließt den Reißverschluss, öffnet die Terrassentür. Eiskalte Luft schlägt den beiden entgegen, nachts herrschen fast noch Minusgrade. Johanna hakt Rosa unter, dann treten sie hinaus.
Die Terrasse mit Blick auf den Hafen ist verhältnismäßig groß, aber auch vollgestellt mit Kübelpflanzen, einem Esstisch und Stühlen. Um den Esstisch herum beginnt Johanna, ihre Tochter zu führen, immer im Kreis, in kleinen, schwankenden Schritten.
Rosa erzählt, wie sie nach dem Spiel anstoßen wollten und wie sie getrunken haben, Shots, und wie sie am Anfang noch das Gefühl hatte, gar nichts zu merken, und mehr getrunken hat, bis sich dann doch die Wirkung einstellte, schnell und unerwartet. Wie sie ihre Freundinnen bitten musste, sie nach Hause zu bringen, und wie seltsam schwierig es plötzlich gewesen war, die Treppe hochzusteigen.
Die beiden drehen ihre Runden. Zehn Minuten, zwanzig. Johanna spürt die Müdigkeit in sich aufsteigen. Versucht, ihrer Tochter ein paar Tipps zu geben, fürs nächste Mal, erinnert sich aber auch daran, wie schwer es für sie selbst war, den Umgang mit Alkohol zu lernen, und dass diese eine Erfahrung Rosa wahrscheinlich nicht davor bewahren wird, noch weitere, ähnliche Erfahrungen zu machen.
Plötzlich bleibt Rosa stehen.
»Musst du dich übergeben?«
Die beiden sehen sich an. Rosa schüttelt den Kopf.
»Danke, dass du das mit mir machst, Mama.«
Johanna lächelt in die Dunkelheit. Rosa hatte schon als kleines Kind die Angewohnheit, sich für Dinge zu bedanken, die für Johanna absolut selbstverständlicher Teil des Elternseins bedeuteten.
Sie streicht ihrer Tochter eine Strähne aus dem Gesicht.
»Du weißt aber schon, dass ich das hier nicht die nächsten drei Jahre lang mit dir machen werde, wenn du in Zukunft öfter betrunken nach Hause kommst?«
Verwundert, fast empört antwortet Rosa: »Ich werde in Zukunft nicht öfter betrunken nach Hause kommen.«
Stimmt ja. Ebenso wie Johanna vergessen hat, wie fürchterlich es sich anfühlt, zu viel getrunken zu haben, so hat sie auch vergessen, wie sicher man sich ist, seinem Körper so etwas nie wieder anzutun.
Rosa löst sich von Johannas Arm.
»Ist noch Pizza übrig?«
Als am nächsten Morgen um fünf Uhr der Handyalarm losgeht, hat Johanna nur wenige Stunden geschlafen. Blind tastet sie nach dem Gerät, schaltet es aus. Ihr Kopf fühlt sich neblig an, als sie sich aufsetzt, kommt ein dumpfer Schmerz hinter der Stirn hinzu. Es ist, als hätte nicht Rosa gestern Abend die Shots getrunken, sondern Johanna. Aber der Kater kommt lediglich vom unterbrochenen Schlaf – und vielleicht noch von den Pizzaresten, die die beiden sich dann kurz vorm Schlafengehen noch geteilt haben. Ein paar Sekunden bleibt Johanna so sitzen, ringt mit sich, aber nur kurz. Dann lässt sie sich zurück in die Kissen fallen, wird heute nicht zum Großmarkt fahren, später im Geschäft zu wenig Blumen haben. Für diesen Moment ist es ihr egal.
Johanna bindet leuchtend pinke Nelken mit hellrosa Gladiolen und lila Löwenmäulchen zu zwei bombastischen Sträußen, wöchentlich bestellt vom immer gleichen Café. Die neu erwachte Liebe der Menschen zu Nelken ist etwas, an das Johanna sich noch nicht ganz gewöhnt hat. Sie selbst erinnert diese pinke Blüte an die alten Damen, die in Johannas Ausbildungszeit bei Blumen Schröder furchtbar spießige Sträuße bestellt haben. Sträuße, die dann mit einem dicken Kranz aus Blattgrün umrandet wurden, im schlimmsten Fall noch zusätzlich mit einer Biedermeiermanschette aus Papier.
Heute werden Nelken anders kombiniert, mit Disteln und Amarant oder eben Gladiolen. Wenn kleine Mädchen im Laden sind, zeigen sie oft zielsicher auf die leuchtendste Blume im Laden. Die Nelke hat eine Renaissance erlebt – und das hat auch sein Gutes, weil sie mit der richtigen Behandlung ewig haltbar bleibt.
Im Geschäft ist es noch ruhig, Johanna hat nur den neongelben Leuchtstab angeknipst, der sich durch den Raum windet wie eine leuchtende Schlange durch den Dschungel. Der Leuchtstab ist eine Anschaffung von Ruby. Johannas Laden hat sich verändert, seit sie hier arbeitet. Zwischen den Pflanzen hängen neuerdings kleine geschliffene Glaskugeln. Sobald in ein paar Stunden die Sonne darauf scheinen wird, tauchen tanzende Lichtpunkte überall im Raum auf. Ihre neue Mitarbeiterin stapelt und inszeniert die Pflanzen zu einer Art Traumwelt, einem funkelnden Urwald – und Johanna lässt sie machen.
Immer mal wieder in den vergangenen Jahren hat Johanna an ihrem Beruf gezweifelt. Manchmal fand sie es schwierig, dass all die Schönheit, mit der sie täglich hantiert, eigentlich schon tot ist. Manchmal kam der Job ihr auch vergleichsweise sinnlos vor, sie bindet Blumen, während andere Menschen Leben retten oder Kinder unterrichten oder zumindest Nachrichten produzieren. In den letzten Jahren ist ihr auch immer bewusster geworden, wie wenig nachhaltig der Handel mit Blumen ist. Vor allem in den Wintermonaten ist ein gut gefüllter Blumenladen zwar hübsch anzusehen, dahinter stecken allerdings lange Transportwege und Unmengen an Pestiziden.
Dann wieder, wenn eine junge Lehrerin in den Laden kommt und freudestrahlend dreißig Sonnenblumen für ihre Erstklässler bestellt, macht die Arbeit Johanna froh. Oder wenn die alte und wahrscheinlich ziemlich einsame Frau Strohmeyer vorbeischaut und sich alle zwei Wochen einen Strauß binden lässt, der ein bisschen Me-Time-Luxus in das Leben der alten Dame bringt, auch wenn Frau Strohmeyer das natürlich nicht so nennt. Schon mehrmals hat Johanna mit dem Gedanken gespielt, den Laden aufzugeben. Die letzten Jahre waren hart, an Blumen sparen die Menschen als Erstes, wenn das Geld knapp wird.
Und doch gibt es ihn noch. Er hat schon vieles überlebt. Die Monate, nachdem sie ihn von den Schröders übernommen hatte und vor allem die Stammkunden wegblieben, als sie merkten, dass die beiden altbekannten Eigentümer nicht mehr hinter der Theke standen. Die Zeit kurz bevor und ziemlich lange nachdem Rosa geboren wurde und Johanna den Laden nicht ordentlich führen konnte, weil ihr die Kraft fehlte, morgens um fünf aufzustehen, um zum Großmarkt zu fahren.
Als Rosa in den Kindergarten kam, wurde es eine Zeitlang besser. Dann kam Corona.
Johanna sieht nicht ein, dass sie den Laden gerade jetzt schließen soll, wo Rosa immer größer wird und sie selbst endlich wieder mehr Zeit hat.
Außerdem ist da eben neuerdings noch Ruby.
Ruby, die vor fast zwei Monaten in den Laden geschneit kam, wortwörtlich, die roten Locken voller winziger weißer Kristalle. Johanna hatte die Frau im pinken Schneeanzug auf ungefähr dreißig geschätzt, und dann vielleicht sogar noch etwas jünger. Denn als Ruby ihren Schal lockerte, war darunter ein extravagantes Halstattoo zum Vorschein gekommen. Ein riesiger Pumakopf. Tiefschwarze Tinte, zwei scharfe, geschwungene Eckzähne. Irgendwo zwischen Knast und Kunst. Johanna hat daran denken müssen, wie sie selbst sich als Jugendliche ein Piercing gewünscht hatte und damals an ihrer Mutter Betty gescheitert war, die ihr glaubhaft versicherte, dass sie niemals im Leben einen Arbeitgeber finden würde, wenn sie sich »dermaßen verunstaltete«.
Vielleicht war es dieser Satz ihrer Mutter, der alles, was danach passierte, überhaupt möglich machte. Als Ruby erzählte, sie sei neu in der Gegend und suche einen Job, sagte Johanna jedenfalls nicht sofort Nein. Tatsächlich konnte sie jemanden für die Wochenenden gebrauchen und jemanden, der ab und zu Sträuße durch die Gegend fuhr.
Es stellte sich heraus, dass niemand dafür weniger hätte geeignet sein können als Ruby. Das erste Mal musste Johanna schlucken, als sie erfuhr, dass Ruby nur einen Motorradführerschein besaß. Das zweite Mal, als sie völlig selbstbewusst erzählte, nicht einmal eine Floristenausbildung gemacht zu haben.
Johanna stellte sich kurz vor, sie selbst wäre vor über zwanzig Jahren bei Blumen Schröder auf diese Weise aufgetaucht, im pinken Schneeanzug, ohne Ausbildung, mit riesigem Puma-Tattoo. Bei dem Gedanken musste sie lachen – und Ruby stimmte mit ein.
Aus dem gemeinsamen Lachen wurde ein Praktikum und zwei Wochen später ein Job. Johanna hat noch nie jemanden gesehen, der derart furcht-, ja fast respektlos mit Farben und Formen umgeht. Ruby arbeitet Disteln in Grabkränze und sprüht Brautsträuße neonfarben ein. Sie hat eine ganze Straußkollektion entwickelt, die sie »Frozen Beauty« nennt, komplett aus Trockenblumen gebundene Kunstwerke mit winzigen eingeknoteten LEDs. Die Kunden sind begeistert. Und auch Johanna hat ihr Herz an Ruby verloren. Sie bringt jeden Tag neue Ideen in den Laden.
Eines Morgens brachte sie einen kleinen Jungen mit.
»Was ist das denn?«, hatte Johanna irritiert gefragt.
»Ein Kind.«
Ruby stellte den Jungen in der Ladenmitte ab. »Die Kita streikt, und sein Vater hat heute leider keine Zeit. Er heißt Bo.«
Bo verbrachte den Vormittag hinter der Ladentheke, und das klappte zu Johannas Erstaunen sehr viel besser als mit Rosa damals. Seitdem kann Ruby sich im Laden eigentlich alles erlauben.
Als ihre Mitarbeiterin an diesem Morgen erscheint, sieht sie noch zotteliger und wilder aus als sonst. Johanna registriert einen niedlichen Kissenabdruck auf ihrer prallen Wange.
»Ich muss dir gleich was im Internet zeigen, ich hatte heute Nacht viel Zeit« sagt Ruby, die ihre Fingerhandschuhe anbehalten hat und den Kaffee gegen das von der Kälte gerötete Gesicht drückt. »Bo ist viermal zu uns ins Bett geklettert, ich habe so gut wie gar nicht geschlafen.« Sie sieht Johanna fast flehend an: »Bin ich froh, wenn das irgendwann besser wird.«
»Ja, dann kannst du ihn endlich betrunken aus der Badewanne pflücken, so wie ich Rosa heute Nacht.«
»Oh je.«
Johanna nickt. »Ich war so müde heute Morgen, dass ich es nicht auf den Großmarkt geschafft habe.«
Ruby sieht sich um. »Deswegen sieht das hier so leer aus. Aber dann können wir ja vielleicht früh Feierabend machen. Ich kann an nichts anderes denken als an mein Bett.«
Auch daran muss sich Johanna gewöhnen. Dass Ruby zwar eine fantastische Mitarbeiterin ist, aber offensichtlich zu der Generation gehört, die es nicht einsieht, sinnlos im Laden herumzustehen – und das auch offen sagt.
Johanna betrachtet Ruby. Sie sieht einfach überhaupt nicht müde aus. Sie selbst hat heute Morgen sehr bewusst ihr Bild im Spiegel vermieden, so gut es ging. Und auch als sie noch so alt war wie Ruby jetzt, hat sie nach einer durchwachten Nacht mit der kleinen Rosa verquollen ausgesehen, Augenringe, fahle Haut.
Sie sieht der jungen Frau ins Gesicht. Der Kissenabdruck auf Rubys Wange verschwindet langsam. Obwohl Ruby die halbe Nacht mit Kind durchgemacht hat, ist ihre Haut drall und glatt, keine Falte in Sicht.
»Du siehst gar nicht so fertig aus«, sagt Johanna.
Ruby stellt ihren Kaffee auf den Tresen und grinst.
»Botox, Baby.«
Johanna starrt sie an. »Wirklich?«
»Und ein bisschen Hyaluron in den Wangen. Was dachtest du denn?!«
Wenn Johanna ehrlich ist, hat sie sich gar nichts gedacht. Oder einfach, dass Ruby eben eine ungewöhnlich hübsche, immer frisch aussehende junge Mutter ist.
»Was ich dir zeigen wollte …«
Ruby wechselt das Thema, als hätte sich für Johanna nicht gerade unmerklich ein kleines Stück Welt verschoben.
Sie holt ihr Handy raus. »Hier. Habe ich heute Nacht gefunden, als ich nicht wieder einschlafen konnte. Blumenwolken. Oder Flowerclouds. Riesige Wolken aus getrockneten Blumen.« Johanna wirft einen kurzen Blick auf Rubys Handy. Sie sieht bunte Blüten und Trockenblumen, zusammengesteckt zu zarten Skulpturen.
»Was soll das sein?«
Ruby zuckt mit den Schultern, scrollt mit leuchtenden Augen durch die Bilder. »Kunst, würde ich sagen. Auf jeden Fall ist es cool.« Sie sieht Johanna an. »Wir machen immer nur Sträuße und Kränze. Man kann mit Blumen aber noch so viel anderes machen.« Es schwingt kein Vorwurf in Rubys Worten mit, eher Verwunderung darüber, dass sie nicht mehr ausprobieren. Johanna fühlt sich trotzdem auf eine merkwürdige Weise kritisiert. In Rubys Rücken warten die beiden Sträuße, die noch an das Café geliefert werden müssen. Und in Johannas Kopf ist gerade kein Platz für neue Ideen. »Es tut mir leid, aber ich hab da jetzt nicht die Geduld zu. Und wir haben zu tun.« Sie zeigt auf die beiden Sträuße.
»Die müssen ausgeliefert werden. Der Fahrradanhänger steht hinten.« Johanna hat ihn wohl oder übel kaufen müssen, denn Ruby kann die Sträuße ja nun nicht auf ihrem Motorrad ausliefern, auch wenn sie es mit Sicherheit täte, wenn Johanna sie ließe. Stattdessen strampelt sie sich tapfer durch die halbe Stadt, es scheint ihr nichts auszumachen und ist – wenn Johanna ehrlich ist – ja auch viel ökologischer, als wie bisher die Fahrten mit dem Mietauto zu machen. Nur manchmal leihen sie sich nun noch einen Lieferwagen, für die Touren zum Großmarkt.
Ruby steckt das Handy weg und seufzt. »Na gut. Und sonst?«
»Es wäre toll, wenn du später schon mal mit den Grabkränzen anfangen könntest, Material habe ich dir rausgelegt.« Selber binden kann Johanna noch nicht wieder. Seit Karls Tod ist sie erst mal dazu übergegangen, die Gestecke für Beerdigungen Ruby zu überlassen. Dabei hat es für Karl damals gar keinen Kranz gegeben, im Friedwald waren keine Blumen erlaubt, eine Regel, deren Sinn Johanna einleuchtete, trotzdem war es ihr schwergefallen, nicht eine einzige Blume an die Stelle legen zu dürfen, an der Karls Urne im Wald verschwunden war.
Ruby lächelt mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Mit oder ohne Experimente?«
Johanna hat mit den alten Frauen nur am Telefon gesprochen, beide haben Kränze für ihre Ehemänner bestellt – und sich nicht nach Experimenten angehört.
»Ganz klassisch, bitte.«