Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Die Ursachen der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts - Manfred Schopp - E-Book

Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Die Ursachen der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts E-Book

Manfred Schopp

0,0
29,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Der Erste Weltkrieg war ein radikaler Einschnitt in nahezu alle Aspekte der Entwicklung des 20. Jahrhunderts und prägte den weiteren Verlauf der neueren Geschichte maßgeblich. Doch auch hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind sich die Historiker über die Ursachen und die Verursacher dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nicht einig. Wie kam es dazu, dass 1914 die größten und einflussreichsten Nationen der Welt einen Krieg führten, in dessen Verlauf mehr als 10 Millionen Menschen starben? In diesem Buch werden die kurz- und langfristigen Ursachen beleuchtet, und die Prozesse dargestellt, die durch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 ausgelöst wurden. Aus dem Inhalt: Das Attentat von Sarajewo Die Julikrise Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bis zum 23.Juli 1914 Die langfristigen Ursachen des Ersten Weltkrieges Deutschlands Schuld am Ausbruch des Krieges"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
PDF

Seitenzahl: 281

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © 2014 ScienceFactory

Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH

Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

Coverbild: pixabay.com

Wie kam es zum Ersten Weltkrieg?

Die Ursachen der Ur-Katastrophe

Manfred Schopp: Wie es zum Ersten Weltkrieg kam: Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln

Vorbemerkung

1. Das Spiel beginnt. Der russisch-japanische Krieg von 1904/05

2. Der Vertrag von Björkö 1905

3. Die Ängste des Sir Eyre Crowe 1907

4. Die sogenannte Haldane-Mission von 1912

5. Die militärische Einkreisung Deutschlands (1905-1914)

6. Das Attentat in Sarajewo am 28. Juni 1914

7. Bilanz

M.A. Jochen Lehnhardt: Gründe der serbischen Regierung für die Ablehnung des österreichischen Ultimatums am 25. Juli 1914: Ausbruch des Ersten Weltkriegs

Einleitung

1. Geschichte der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bis zum Ultimatum vom 23. Juli 1914

2. Das österreichische Ultimatum an Serbien

3. Innenpolitische Gründe Serbiens für die Ablehnung

4. Einfluss des Auslandes auf die serbische Entscheidung

Zusammenfassung / Ergebnis:

Literaturverzeichnis

Matti Ostrowski: Julikrise und Kriegsausbruch 1914

1. Einleitung

2. Langfristige Ursachen des Ersten Weltkrieges

3. Julikrise und Kriegsausbruch 1914

4. August 1914

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Jörn Fritsche: Wollte Deutschland den Ersten Weltkrieg? – Die Kontroverse zwischen Fritz Fischer und Egmont Zechlin zur Kriegsschuldfrage

Vorbemerkung

I. Zusammenfassung der zentralen Thesen

II. Bewertung

III. Eigene Bewertung

Manfred Schopp: Wie es zum Ersten Weltkrieg kam: Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln

Vorbemerkung

Noch hundert Jahre nach seinem ‚Ausbruch’ sind sich die Historiker über die tiefer liegenden Ursachen, besser: die Verursacher, dieser ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ nicht einig. Nur in einem Punkte besteht unter den ernstzunehmenden Fachleuten Einigkeit: Der berüchtigte ‚Kriegsschuldparagraph’ 231 des Versailler Vertrags verzerrte die Vorgeschichte des Krieges gewaltig. Es wurde nämlich von der deutschen Regierung verlangt anzuerkennen, „dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten Regierungen…infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben“.

Eine solche Vergewaltigung der geschichtlichen Tatsachen sprach jeder gerechten Wertung der vergangenen Jahre Hohn. Verständlicherweise regte sich zuerst Widerspruch gegen die ‚Kriegsschuldlüge’ in Deutschland, aber auch in den Siegerstaaten selbst kamen allmählich unabhängige, kritische Geister bei ihren Studien zu Ergebnissen die das offizielle Geschichtsbild ihrer Regierungen als Propaganda und Zerrbild entlarvten.

Zu nennen sind hier vor allem zwei US-Historiker, die mit ihren 1926 und 1928 erschienen Werken erstmals der geschichtlichen Wahrheit auch in den Siegerstaaten die Ehre gegeben haben. Es sind dies Harry E. Barnes, mit The Genesis of the World War, New York 1926, und Sidney B. Fay mit dem zweibändigen Werk Origins of the World War, New York 1928. Auf Deutsch erschien Fays Abhandlung 1930 in Berlin.

Diese Werke sind so gründlich in der Auswertung der Quellen, der Klarheit der Analysen und Ausgewogenheit des Urteils, dass sie bis heute unübertroffen sind.

Beide Autoren kannten sich und schätzten einander. Barnes schreibt in seinem Vorwort sogar, er sei durch einen Artikel von Sidney Fay, der bereits 1920 erschien, aus seinem „dogmatischen Schlummer aufgeweckt worden“. Die Lektüre dieses Aufsatzes von Fay sei für ihn „ein Schock“ gewesen, „fast gleichbedeutend mit dem Verlust des Glaubens an den Weihnachtsmann in seiner Kindheit“.

Nach diesem Schlüsselerlebnis habe er begonnen, die „tapferen Traktate der ‚National Security League’ und der ‚American Defense Society’“ kritischer zu lesen, und so sei sein Glaube an „die konventionelle Mythologie“ der US-Propaganda in sich zusammengebrochen. Dies war angesichts der allgegenwärtigen, in ihrer Infamie und Systematik unübertroffenen Verleumdungskampagne, der Deutschland (und jeder US-Bürger deutscher Abstammung) seit 1914 ausgesetzt war, eine intellektuelle Leistung, die von selten anzutreffender geistiger Unabhängigkeit und Urteilskraft zeugt.

Natürlich handelte auch Barnes sich den billigen Vorwurf ein, ein Revisionist und in seinen Ansichten „zu extrem“ zu sein, aber er blieb sich treu, indem er konterte: „Die Tatsachen selbst und dieSchlußfolgerungen, die aus ihnen gerechterweise erwachsen, können nie ‚zu extrem’ sein, und es tut nichts zur Sache, wie weit sie von den populären Ansichten der Provinzler entfernt sind.“ Ein solcher Satz wäre es wert, jedem heutigen Geschichtswerk als Richtschnur vorangestellt zu werden. Barnes wollte nicht politisch sondern historisch korrekt sein, obwohl er wusste, dass er sich damit wenig Freunde machte.

Seither kam an Literatur über den Ersten Weltkrieg zwar manches Neue, aber kaum etwas Gleichwertiges oder gar Besseres hinzu. Unter den Neuerscheinungen ist nur Niall Ferguson mit seinem Buch „Der falsche Krieg“, (Stuttgart 1999) und Christopher Clark mit „Die Schlafwandler“ (München 2013) hervorzuheben; in beiden Werken wird der Nachweis geführt, dass der Erste Weltkrieg weder ‚unvermeidlich’ noch gar ‚notwendig’ war, sondern aus hysterischen und wahnhaften Projektionen, vornehmlich des britischen Auswärtigen Amtes, und den daraus folgenden geheimen Absprachen mit Frankreich und Russland entstanden ist. Ähnlich wertet auch Patrick Buchanan, „Churchill, Hitler und der unnötige Krieg“ (Selent 2008).

In sieben Kapiteln soll hier nun den verschlungenen Pfaden nachgegangen werden, die schließlich in den Ersten Weltkrieg einmündeten.

1. Das Spiel beginnt. Der russisch-japanische Krieg von 1904/05

Als man 1896 in Deutschland das ‚Friedensfest’ zum Gedenken an die Reichsgründung vor 25 Jahren feierlich beging, da gab es wohl kaum einen Zeitgenossen, der ahnte, dass es mit dieser Friedensepoche bald ein Ende haben werde, allen ‚Friedenslinden’ zum Trotz, die in Städten und Dörfern nach 1871 gepflanzt wurden.

Auch noch 1913, als Kaiser Wilhelm II. sein 25-jähriges Thronjubiläum feierte, war viel von Frieden die Rede, obwohl sich der Horizont mittlerweile sehr verfinstert hatte. Zwischen 1896 und 1913 stellte sich nämlich zum Nachteil des Deutschen Reiches die politische Großwetterlage gänzlich um.

Diese Veränderung begann 1898. In diesem Jahr trug der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain der deutschen Regierung ein Bündnis an, was von 1898 bis 1901 zu den später so oft zitierten ‚deutsch-englischen Bündnisverhandlungen’ führte. Da diese ergebnislos im Sande verliefen, bot sich später eine wohlfeile Gelegenheit, das Liedlein „Hätten man doch damals nur…“ anzustimmen, wonach es keinen Weltkrieg und keine deutsche Niederlage gegeben hätte, wenn die deutsche Politik, genauer: der Kaiser und seine unfähigen Berater, nicht so blind oder machtgierig gewesen wären. Die Kritiker warfen der deutschen Politik vor, eine Position des ‚Alles oder Nichts’ vertreten zu haben. Da ‚Alles’ also der Beitritt Englands zum Dreibund (Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien) nicht zu haben war, habe man aus Trotz das ‚Nichts’ in Kauf genommen. Ein Schulbuchautor drückt diesen Tadel, bezogen auf 1901, so aus: Berlin „glaubte, durch Flottenrüstung…England noch gefügiger zu machen und größere Vorteile…aus einem England aufgezwungenen festen Bündnis ziehen zu können“[1]. Das englische Werben aus törichter Selbstüberschätzung schnöde zurückgewiesen! – darauf hat sich die Zunft der Besserwisser verständigt. Allein die Wortwahl ‚gefügig machen, aufzwingen’ verrät, wer die Schuld an dem kommenden Desaster trug.

Schauen wir uns die ‚deutsch-englischen Bündnisgespräche’ genauer an, so bleibt von der Schulbuchweisheit nichts übrig. Denn erstens war das Angebot nicht im Namen der englischen Regierung ergangen, sondern nur vom Kolonialminister Joseph Chamberlain gekommen, und zweitens hatte Premierminister Robert Salisbury (1895-1902) selbst von einem Abkommen mit Deutschland abgeraten mit dem Argument, es sei für England unvorteilhafter als für Deutschland. Denn Deutschland würde, eingekeilt zwischen der Allianz Frankreich und Russland, viel eher der britischen Hilfe bedürfen als das durch seine übermächtige Flotte geschützte Inselreich. Deutschland wäre daher ein ziemlich wertloser Bündnispartner, und überdies würden sich die ohnehin gespannten Beziehungen zu Frankreich und Russland noch verschlechtern, wenn sich England an Deutschland binde. So war Chamberlains Position von vornherein schwach, als er mit Deutschland ins Geschäft kommen wollte.

Salisbury bestätigte absichtslos die deutsche Einschätzung der Situation; nur die Folgerungen beider Regierungen waren entgegengesetzt. Hieß diese für England, (vorläufig?) kein Bündnis mit Deutschland wegen dessen prekärer Lage zu schließen, so legte die deutsche Regierung größten Wert darauf, dass England offiziell dem Dreibund beitrete; nur ein vom britischen Parlament ratifiziertes und somit öffentlich bekanntes und abschreckend wirkendes Bündnis könne die strategisch ungünstige Mittellage zwischen Frankreich und Russland aufwiegen. Ein solcher Beitritt stand für Großbritannien aus dem oben genannten Grunde jedoch außer Frage. Es war also die unterschiedliche Bedrohungslage, die ein deutsch-englisches Bündnis auf Augenhöhe verhinderte.

Aus deutscher Sicht kam ein Weiteres hinzu: die historische Erinnerung. Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) war in Preußen unvergessen, als dieser Staat gegen drei Großmächte (Frankreich, Österreich und Russland) im Felde stand und nur von England mit Subsidien unterstützt wurde. Dies aus dem einfachen Grunde: Preußen beschäftigte die französische Armee auf dem Kontinent, während sich England die französischen Kolonien in Nordamerika einverleibte. Als dieses Ziel erreicht war, schied England aus dem Krieg aus und ließ Preußen fallen. Preußen fühlte sich damals düpiert und als ‚Festlandsdegen Englands’ missbraucht.

Als Kolonialminister Chamberlain sein ominöses Bündnisangebot unterbreitete, dachte man in Berlin sofort an die Geschichte von 1762. Die englische Weigerung, dem Dreibund beizutreten, war nicht dazu angetan, die alten Ressentiments fahren zu lassen, sondern eher sie neu zu beleben. Sollte sich Preußen-Deutschland wieder in einen Krieg gegen Frankreich und Russland stürzen, nur um England leichter koloniale Erwerbungen in Afrika oder dem Mittleren Osten zu verschaffen?

Außerdem pflegte Kaiser Wilhelm II. freundschaftliche Beziehungen zum Zaren Nikolaus II. und dessen deutscher Gemahlin Alexandra Fjodorowna (Alix von Hessen). Mit beiden war Wilhelm verwandt. Warum sollte er sich gegen ein Land stellen, mit dem man seit den Befreiungskriegen 1813 eng verbunden war?

Dass die deutsche Beurteilung des englischen Angebots richtig war, erwies sich sofort. Denn nachdem Deutschland sich zu einem zweifelhaften Zweckbündnis nicht hatte überreden lassen, fand England in Japan den gewünschten Partner. 1902 kam es zu einem englisch-japanischen Pakt, der zwei Jahre später auf drastische Weise ‚mit Leben erfüllt’ wurde. 1904 überfiel Japan, gedeckt von England, die russische Flotte im Hafen Port Arthur am Pazifik und eröffnete damit den russisch-japanischen Krieg von 1904/05.

Deutschland entzog sich dem britischen Werben; nichts beweist besser, dass weder Kaiser Wilhelm noch seine Regierung 1901 auf einen Krieg gegen Russland erpicht waren. Auch 1905, als Russland nach dem japanischen Sieg in ernsten Schwierigkeiten steckte, nutzte man die Gelegenheit zu einem Befreiungsschlag gegen die französisch-russische Umklammerung nicht. Hätte das Deutsche Reich jemals den „Griff nach der Weltmacht“ – so der Titel einer Propagandaschrift von 1961[2] – im Sinn gehabt, dann hätte ein solcher ‚Griff’ 1905 erfolgen müssen und wäre höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen. Er unterblieb aus schlecht gedankter Friedensliebe, wie das folgende Kapitel zeigen wird.

Eine letzte Frage: Warum war Japan zu etwas bereit, wozu man in Deutschland nicht bereit war? Waren die Japaner klüger, die Deutschen dümmer? Die Antwort ist einfach: Japan hatte, anders als Deutschland, keine revanchelüsterne Großmacht im Rücken, als es seine Armee gegen Russland aufmarschieren ließ. Es konnte also gefahrlos mit den Engländern ins Geschäft kommen. Und zweitens besaß es ein handfestes Kriegsziel: die Mandschurei und Korea den Russen wegzuschnappen. Deutschland dagegen hatte Russland gegenüber keine Expansionswünsche. Aus beiden Gründen blieb Deutschland zunächst unbeteiligter Dritter.

Dass und warum Deutschland 1905 doch noch Partei ergriff und was sich daraus ergab, wird im zweiten Kapitel erläutert.

3. Die Ängste des Sir Eyre Crowe 1907

Eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten im britischen Außenministerium während der Amtszeit von Sir Edward Grey (1905-1916) war Sir Eyre Crowe (*1864 in Leipzig +1925). Obwohl (oder: weil?) er in Deutschland geboren war, eine deutsche Mutter und eine deutsche Ehefrau hatte, machte er sich bald einen Namen als „wütender Deutschenhasser“.[6] Im „Britischen Pantheon der Deutschenhasser nahm er den ersten oder einen der ersten Rängeein“, so urteilt heute ein holländischer, in den USA lebender Historiker. Aber bereits 1928 fällte der US-Historiker S. B. Fay über Crowes diplomatische Fähigkeiten ein vernichtendes Urteil. Crowe, der wegen seiner Herkunft als untrüglicher Deutschlandexperte galt, „war stets geneigt, haltloses Geschwätz für die Wahrheit des Evangeliums zu nehmen“, wenn es darum ging, die deutsche Politik anzuschwärzen und deutsche Politiker zu verleumden. Crowe habe, anstatt „intelligente und überzeugende Analysen“ der internationalen Lage zu erstellen, nur „unpassende Schuljungen-Ergüsse von Galle, Wut und Gift produziert“.[7] Das mag sein, aber gerade wegen der perfiden Art seiner ‚Analysen’ war Crowe damals der einflussreichste Beamte im britischen Außenministerium.

Die negativen Einschätzungen Crowes aus heutiger anglo-amerikanischer Sicht lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, aber man fragt sich: Wie konnte ein solcher Mann an die Schalthebel der Macht gelangen? Er wurde zwar nie selbst Außenminister, was er beharrlich anstrebte, aber als Unter-Staatssekretär des Auswärtigen Amtes leitete er dessen Westeuropa-Abteilung und über seinen Schreibtisch liefen alle Botschafter-Papiere. Das gab ihm die Gelegenheit, die eingehenden Berichte mit gehässigen Anmerkungen („hostile dissection“) zu versehen und so seinen Chef, den Außenminister Grey, im gewünschten Sinne zu beeinflussen.

Die Frage muss offen bleiben, ob Grey erst durch Crowes ständige Einflüsterungen auf seinen antideutschen Kurs gebracht wurde oder ob er Crowe gerade wegen seiner bekannten Einstellung zu seinem Unterstaatssekretär machte. Das letztere ist wahrscheinlicher.

Betrachten wir Crowes ‚Analysen’ einmal genauer, so werden wir feststellen, dass Fays Urteil völlig zutrifft: „Verglichen mit Crowe war Herr von Holstein (die ‚graue Eminenz’ im deutschen Auswärtigen Amt, in gewisser Weise ein Gegenspieler von Crowe) ein Sonntagsschullehrer“. Wie infam Crowe zu Werke ging, um die deutsch-englischen Beziehungen nachhaltig zu vergiften, zeigt ein gründlicher Blick in seine berüchtigten ‚Memoranden’.

Zu nennen sind hier vor allem drei Memoranden: eines vom 1.1.1907, ein weiteres vom 20. 10. 1910 und ein drittes vom 14.5.1911.[8] In ihnen stellt Crowe seine Sicht der Weltlage in aller Deutlichkeit vor.

Basis seiner Überlegungen ist das sogenannte ‚Gleichgewicht der Kräfte’, ein Prinzip, das „Englands hundertjährige Politik“ bestimmt habe und daher „fast ein historischer Gemeinplatz“ geworden sei. Dieser Hinweis ist für Crowe insofern nützlich, als bei einem Gemeinplatz der Leser nicht nach den Implikationen dieses schillernden Begriffs fragen wird, insbesondere wird ihm nicht auffallen, dass Großbritannien für sich selbst dieses Gleichgewicht der Macht nicht gelten lässt. Denn Englands Stellung in der Welt ist „untrennbar mit dem Besitz übermächtiger Seeherrschaft verbunden“. Diese Dominanz sollte, wie die Admiralität 1908 verlauten ließ, bei Bedarf so eingesetzt werden, dass „die Räder unserer Seemacht die deutsche Bevölkerung immer kleiner mahlen würden – früher oder später würde auf den Straßen Hamburgs Gras wachsen…“.[9] Ein so famoses ‚Gleichgewicht’ beizubehalten war natürlich aus englischer Sicht erstrebenswert.

Bei einem Gemeinplatz wird der Leser wird auch nicht danach fragen, wie oder von wem dieses ‚Gleichgewicht der Macht’ ermittelt wird. Etwa, ob dieses ominöse ‚Gleichgewicht’ nur die Anzahl der Kanonen, der Panzerkreuzer und Soldaten eines Landes in Rechnung stellt oder auch das wirtschaftliche Potential? Die Menge der geförderten Kohle, des erzeugten Stahls, die Anzahl der Patente und Erfindungen, die Geburtenrate, den Anteil am Welthandel, die Höhe der Exportüberschüsse, die Größe der Handelsflotte, die Länge des Eisenbahnnetzes usw.? Legte man dies alles auf die imaginäre Londoner Waagschale, dann störte in der Tat das Deutsche Reich das ‚Gleichgewicht’ empfindlich, seit es 1871 geeint war und sich wirtschaftlich eindrucksvoll entwickelte, vor allem, wenn man diese Entwicklung mit britischen Augen betrachtete. Die deutsche Volkswirtschaft wuchs, und der Ausweg, deutsche Waren ab 1887 mit dem erzwungenen Etikett ‚Made in Germany’ zu versehen und Deutschland so den Makel eines drittklassigen Ramschproduzenten anzuhängen, schlug ins Gegenteil um: ‚Made in Germany’ wurde weltweit rasch zum Gütesiegel! Mit Diffamierung allein war dem deutschen Aufstieg also nichts anzuhaben.

Was also war zu tun? Sollte man die Deutschen dafür bestrafen, dass sie fleißiger, tüchtiger, einfallsreicher waren als andere? Mit anderen Worten: Dass sie ‚das Gleichgewicht’ störten?

Höchst bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang Äußerungen des britischen Premierministers Arthur Balfour (1902-05) gegen über dem US-Botschafter in Paris Henry White, die dessen Tochter notierte: Sie schreibt: „(Balfour:) Wir sind wahrscheinlich Deppen, weil wir es nicht fertig bringen, einen Grund für eine Kriegserklärung an Deutschland zu finden, bevor es zu viele Schiffe baut und uns den Handel wegnimmt. (White:) In Ihrem Privatleben sind Sie ein Mann mit hohen moralischen Prinzipien. Wie…können Sie etwas so Unmoralisches wie die Anzettelung eines Kriegs gegen ein harmlose Nation in Betracht ziehen…? Wenn Ihr mit dem deutschen Handel konkurrieren wollt, müsst Ihr eben härter arbeiten. (Balfour:) Dies liefe auf eine Senkung unseres Lebensstandards hinaus. Vielleicht wäre ein Krieg für uns einfacher. (White:) Ich bin schockiert, dass ausgerechnet Sie solche Grundsätze vertreten. (Balfour:) Ist das denn eine Frage von Recht oder Unrecht? Vielleicht geht es einfach darum, unsere Überlegenheit zu wahren“.[10]

Ja, nur durch einen Krieg ließe sich die Kraftmaschine in der Mitte Europas noch lahm legen, dies war auch Crowes feste Überzeugung. Aber so deutlich wollte er seinen Ratschlag nicht formulieren. Er musste erst einmal die deutschen Angebote einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit England dem bösen Verdacht arglistiger Täuschung aussetzen. Jede deutsche Geste in dieser Richtung beweise nur, dass Deutschland seine Gegner in Sicherheit wiegen wolle, bis es schließlich in der Lage sei, auch „das britische Reich zu zerstückeln und zu verdrängen“.

Crowes Fazit, das er aber anderen in den Mund legt: „Das ist die Ansicht derer, die in der ganzen Richtung der Politik Deutschlands den schlüssigen Beweis dafür erblicken, daß es bewußt die Errichtung einer deutschen Hegemonie, zuerst in Europa und schließlich in der Welt, anstrebt“. Er selbst konnte diesen ‚schlüssigen Beweis’ natürlich nicht erbringen.

Dieses unersättliche Deutschland wird also, falls man es nicht mit Krieg überzieht, sich alles unterwerfen: „…spanische Inseln, portugiesische Inseln, holländische Inseln, griechische oder türkische Inseln, marokkanische Häfen, ja geradezu jeden denkbaren Stützpunkt“; und Unterstaatssekretär Robertson sekundierte: „Deutschlands Ambitionen, ein Reich zu errichten, das sich über ganz Europa, die Nordsee, die Ostsee, das Schwarze Meer und die Ägäis hinweg sowie möglicherweise sogar bis zum Persischen Golf und zum Indischen Ozean erstreckt, sind seit mindestens 20 Jahren oder mehr bekannt“.[11]

Somit ist geklärt: Frieden und gutes Einvernehmen mit Deutschland darf es nicht geben, sondern es muss zum Krieg kommen! Dieser Krieg muss aber vor der Welt sehr gut gerechtfertigt werden; es darf nicht danach aussehen, als wolle England nur einen lästigen (Wirtschafts-)Konkurrenten ausschalten, nein, man muss vorgeben, Deutschland bedrohe die höchsten Güter und Werte der Menschheit! Denn nur auf diese Weise ist es den eigenen Leuten und dem Rest der Welt zu vermitteln, dass eine friedliche Verständigung mit Deutschland zum Triumph der unerträglichsten Barbarei führen werde und somit völlig ausgeschlossen sei.

Bei Crowe liest sich das dann so: „Eine Vereinbarung, die Enthusiasten ohne große politische Erfahrung sich vielleicht berechtigt fühlen würden als ein Übereinkommen zur Abschaffung des Krieges zwischen den drei Großmächten zu bezeichnen, könnte auf den ersten Blick als ein Triumph der internationalen Gerechtigkeit und des menschlichen Fortschritts erscheinen. Ich glaube, eine solche Schlussfolgerung wäre ein Trugschluß.

Kein Staat hat das Bestreben oder den Wunsch, zum Krieg zu schreiten. Das Bestreben ist darauf gerichtet, gewisse politische Ziele zu erreichen, die unter bestimmten Verhältnissen mit oder ohne Anwendung von Gewalt erreichbar sein mögen. Wenn ohne Anwendung von Gewalt, dann um so besser für den Staat, der das besondere Ziel anstrebt. Jede Macht muß es offensichtlich vorziehen, die Ziele ihrer Politik ohne die übermäßigen Opfer an Gut und Blut und ohne das weitverzweigte übrige Elend zu erreichen, welche ein Krieg zur Folge hat. Wird dies vollbracht, so wird man ohne Zweifel Befriedigung darüber empfinden, daß ein Krieg vermieden wurde.

Wie aber, wenn das angestrebte und ohne Krieg erreichte Ziel eines ist, das an sich schon den Frieden der Welt, die Unabhängigkeit der freien Gemeinschaften, die Rechte und Freiheiten zivilisierter Völker gefährdet? In diesem Fall wirkt sich das Ausbleiben eines Krieges, da es das Ergebnis eines Verbotes kriegerischer Maßnahmen zur Verteidigung von Recht und Gerechtigkeit ist, nicht als Fortschritt der Zivilisation aus, sondern als Aufmunterung zur Eroberung und Unterdrückung. Die Abschaffung des Krieges wäre zu teuer erkauft worden“.

Im Klartext: Die Welt steht vor der Alternative: Entweder wird Deutschland durch Krieg unschädlich gemacht, oder das finstere teutonische Monster versklavt die zivilisierten Völker der Welt und ruiniert die abendländische Kultur! Ohne Krieg gegen Deutschland sind „Recht und Gerechtigkeit“ nicht zu verteidigen.

Bei solch bedrückender Alternative kann es für einen Mann von Ehre kein Zaudern und Bedenken geben. Crowe kommt daher zu dem Schluss: „Großbritannien würde das Gleichgewicht entscheidend an dem Tag umstoßen, an dem es durch Unterschrift das Recht preisgäbe, gegen irgend einen besonderen Staat in der Stellung, die Deutschland zur Zeit einnimmt, Gewalt zu gebrauchen“.[12] Unbeabsichtigt verrät Crowe durch seine Wortwahl nebenbei auch, wie er denkt. Welche höhere Instanz hatte England denn das ‚Recht’ verliehen, gegen Deutschland ‚Gewalt zu gebrauchen’, nur weil es ein imaginäres, von London definiertes Gleichgewicht störte? Crowe setzt ‚Recht’ gleich mit ‚britische Interessen’. Damit fügt er sich gut in die Maximen der britischen Politik ein, die eigenen Interessen stets als Wahrung des Völkerrechts auszugeben.

Dass es in diesem Kriege um nichts Geringeres ginge als um die höchsten Werte der Menschheit, das betonte später die englische Weltkriegspropaganda unablässig und das bezeugen noch heute viele Ehrenmäler in England, auf denen zu lesen steht, die Gefallenen hätten „ihr Leben für die Menschheit hingegeben“ oder sie seien „für die heilige Sache der Gerechtigkeit und die Freiheit der Welt“ gestorben. Schließlich hatte England, wie 1919 die Victory Medal besagt, den Weltkrieg nicht für eigene Interessen, sondern „für die Zivilisation“ geführt.[13]

Heute wissen wir: Die britischen Gefallenen waren die Opfer einer von Crowe und anderen geschürten Wahnvorstellung. Wir verlassen nämlich bei der Betrachtung der Croweschen Memoranden den festen Boden nüchterner Politik und müssen uns auf das schwankende Terrain der Psychologie bzw. Psychopathologie begeben. Crowe und seine Mitstreiter litten an Germanophobie, so wie andere an Platzangst oder Spinnenphobie leiden. Solchen Phobien ist, wie die Erfahrung lehrt, mit Gutzureden und Argumenten nicht beizukommen. Es war demnach auch vergebliche Liebesmüh’, als der deutsche Kaiser höchst selbst den Engländern die Zwangsvorstellung nehmen wollte, die Deutschen planten für den künftigen Krieg bereits eine Invasion Englands. Subjektiv, also im Denken und Planen der deutschen Verantwortlichen in Marine und Politik, finden sich für eine solche Phobie keinerlei Anhaltspunkte, und auch objektiv, also von der materiellen Durchführbarkeit her, war ein solches Vorhaben ein Ding der schieren Unmöglichkeit. Nichtsdestoweniger geisterte die Mär einer tödlichen Bedrohung, die allgegenwärtige ‚German menace’, durch die Londoner Redaktions- und Amtsstuben, und da durften auch die 40000 als Kellner, Gärtner oder Laufburschen getarnten deutschen Spione nicht fehlen, die im Stillen ihr teuflisches Unwesen zum Verderben Großbritanniens trieben.

All dies ist mit dem Instrumentarium der Geschichtswissenschaft nicht mehr zu handhaben. Ohne Crowes Namen zu nennen, brachte es der Historiker Golo Mann im Blick auf die Julikrise 1914 auf den Punkt: „Dadurch, daß ein paar österreichische Divisionen ein paar Monate lang in Belgrad Unfug trieben, um es dann doch wieder zu räumen, konnte das Gleichgewicht nur in der Phantasie dürrer Diplomatenhirne bedroht sein. So weise kann man es nachträglich leicht sehen. Aber so sah man es nicht in der vergifteten, verblödeten Atmosphäre von Anno Domini 1914“.[14]

Zu dieser vergifteten, verblödeten Atmosphäre hat Sir Eyre Crowe, nicht das einzige jener dürren Diplomatenhirne im britischen Außenministerium, nach Kräften das Seine beigesteuert.